2012. Die Eigensprache in Forschung und Praxis

Idiolekta Die Eigensprache in Forschung und Praxis Sonderausgabe zum Leben und Werk von Doris F. Jonas H U T T E N S C H E R V E R L A G 5 0 7 · 1/20...
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Idiolekta Die Eigensprache in Forschung und Praxis

Sonderausgabe zum Leben und Werk von Doris F. Jonas H U T T E N S C H E R V E R L A G 5 0 7 · 1/2012 · ISSN 0947-1731

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Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Beiträge Peter Winkler

Doris F. Jonas Pionierin der evolutionären Anthropologie,



Psychologie und Medizin – ein geschichtlicher Beitrag . . . . . . . . . 2

Kommentare Reinhold Becker

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Dean Falk

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Wolfgang Ittner

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Sven Karsten Peters

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Joachim Schaffer-Suchomel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Gunther Schmidt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Wenda Trevathan

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Luzie Verbeek

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Günther Witzany

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Hans Hermann Ehrat

Archaische Relikte in der Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Aktuelles Neuigkeiten Termine Ankündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Magdalena Bork: Arts & Sciences in Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Tilman Rentel: Selbstheilungskräfte im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Horst Poimanns

little-brain-corner

Zur Evolution des Gehirns – motio et emotio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Impressum

© 2012 by Huttenscher Verlag 507 www.huttenscherverlag507.de Redaktion Michaela Geiberger, Peter Winkler Christopherus Kapogiannatos V.i.S.d.P. G  esellschaft für Idiolektik® und Gesprächsführung (GIG) www.idiolektik.org

Layout und Satz Elstersatz, Wildflecken Herstellung Huttenscher Verlag 507 Adresse der Redaktion [email protected] GIG, Huttenstraße 15, 97072 Würzburg Adresse des Verlags Huttenscher Verlag 507, Huttenstraße 15, 97072 Würzburg

Editorial

Editorial

Eine neue Idiolekta, die erste in 2012. A. D. Jonas wäre in diesem Jahr 99 Jahre alt geworden, was uns erlaubt und auch etwas angeregt hat, über die Abschnitte seines Lebensweges hinausgehend den Fokus weiter zu fassen. Und hieraus entstand die Beschäftigung mit einer wichtigen Person, deren Beitrag und Bedeutung für die GIG bisher schmählich unterschätzt wurde: Doris F. Jonas. Cherchez la femme! Frauen, insbesondere wenn sie wissenschaftlich tätig sind, finden kaum die öffentliche Würdigung, die Männer mit vergleichbarer Leistung erleben. Dean Falk hat es in eigenen Artikeln gut herausgearbeitet, in welcher Form z. B. hervorragende Frauen überhaupt keinen öffentlichen Nachruf ihres Werkes in der wissenschaftlichen Szene erhalten und somit viele Frauen, etwas sarkastisch formuliert, „unsterblich“ werden. Mehr dazu finden Sie in einigen Kommentaren zur Arbeit von Peter Winkler, der, auf seine Recherchen zu A. D. Jonas aufbauend, den Lebensweg von Doris Jonas und deren Beitrag zur Idiolektik und insbesondere zu den Erklärungsmodellen der archaischen Relikte aufzeigt. Es fällt dadurch auch mehr und anderes Licht auf A. D. Jonas, was einer ganzheitlichen Rezeption nur gut tun kann. Insgesamt ist das Erscheinen dieser IdiolektaAusgabe im Wesentlichen auf das Betreiben und die Beharrlichkeit von Peter Winkler zurückzuführen, dem hiermit herzlich gedankt sei. Hans Hermann Ehrat führt das evolutionär psychotherapeutische Konzept der archaischen Relikte, bei denen Doris F. Jonas einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, sowohl theoretisch als auch praktisch ein. In diesem Zusammenhang herzlichen Dank an den Carl-Auer Verlag für die freundliche Überlassung der Abdruckrechte für die Ausgabe dieser Zeitschrift! Zum Thema „Evolution“ finden sich einige Überlegungen und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, inwieweit sich grundlegende Strukturen und Systeme des Gehirns im Laufe der Idiolekta 1/2012

letzten 600 Millionen Jahre entwickelt haben, um unser reichhaltiges Repertoire zum Ausdruck von Emotionen – sowohl beim Menschen als auch bei Tieren – zur Schau und ans Tageslicht zu bringen. Zudem finden Sie Hinweise auf unsere Jahrestagung und die Sommerwerkstatt. Die 27. Jahrestagung der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung widmet sich dem Thema „Idiolektik und Pädagogik“. Dazu ist es uns gelungen, nicht nur aus dem reichhaltigen Angebot der idiolektikeigenen Pädagogen und Pädagoginnen zu schöpfen, sondern auch neue Impulse aus dem Lager der Reformpädagogik und des JenaplanAnsatzes zu gewinnen. Ich möchte Sie herzlich einladen, im Mai 2012 in Würzburg neue Aspekte der Kommunikation und der Möglichkeit sich zu entwickeln und einen etwas vielleicht anderen Schulalltag zu erleben, zu erleben. Die 10. Sommerwerkstatt bietet die Möglichkeit, in wunderschöner Landschaft und – wie wir das häufig antreffen –, bei geeignetem Wetter den Einklang von Natur, Geist und Begegnung im Zentrum der idiolektischen Methode zu erleben und neue Erfahrungen und Erkenntnisse mit nach Hause zu nehmen. Im Abschnitt „Neuigkeiten“ gibt es Berichte von Veranstaltungen von Magdalena Bork und Tilman Rentel. Ich hoffe, Sie haben mit dem neuen Heft, wie mit den Vorausgegangenen, viel Freude und können es auch nutzen als Informationsmaterial zu unserer Methode, unserer Gesellschaft und unseren Veranstaltungen sowie zum Weitergeben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim Lesen, diskutieren und vielleicht auch beim Schreiben eines kurzen Kommentars oder einer Rezension. Mit den besten Grüßen aus Würzburg verbleibe ich Ihr Horst Poimann 1

Peter Winkler

Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin – ein geschichtlicher Beitrag

Abb. 1 Doris F. Jonas

Vorläufer der aktuellen Evolutionären Psychologie und Evolutionären Medizin Wer sich heute über innovative Forschungszweige in der Psychologie, Anthropologie und Medizin informiert, kommt an evolutionären Ideen nicht vorbei. Kurz vor der Jahrtausendwende trat ein sehr kreativer, origineller und fundamentaler Bereich der Humanwissenschaften in das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit: der evolutionäre Ansatz in der Medizin und Psychologie. Basierend auf der Evolutionstheorie von Charles Darwin (1858) und moderner Weiterentwicklungen in der Soziobiologie durch Wilson (1975) und Dawkins (1976) entstanden revolutionierende Sichtweisen auf das Geschehen in unserem Körper und unserer Psyche in Idiolekta 1/2012

der Evolutionären Medizin (Nesse, Williams 1996) und der Evolutionären Psychologie (Buss 2005). Publikationen zur Evolutionären Medizin im deutschsprachigen Bereich siehe z. B. Ganten (2008) und Verbeek (2008). Bei diesem Ansatz wird die unmittelbare evolutionäre Wirksamkeit von Eigenschaften unseres Körpers und unseres Verhaltens (bzw. der hierfür prädisponierenden Gene) erforscht. Typische Fragestellungen sind hierbei: Wie halten sich die Entwicklung von Parasiten bakterieller und viraler Art und die Anpassung unseres Immunsystems im Gleichgewicht? Oder: Welchen Einfluss haben Attraktivitätsmerkmale bei der Partnerwerbung auf Gesundheitsmerkmale der Nachkommen? Im Zuge dieser neuen wissenschaftlichen Entwicklung entstand eine Flut von Veröffentlichungen sowohl im wissenschaftlichen wie im populärwissenschaftlichen Bereich, bezogen auf die verschiedensten Gebiete, sei es beispielsweise in Bezug auf unser Ernährungsverhalten (Worm 2000), unser Konsumverhalten (Miller 2009), ja selbst in Bezug auf evolutionäre Grundmuster in literarischen Werken (Barrash, Barrash 2005). Gleichwohl ist dieser neue Forschungszweig (wie es bei evolutionärem Denken nahe liegt) kaum aus dem Nichts entstanden. Es gab eine Menge Pioniere, Vormütter und Vorväter dieser heute sehr aktuellen Forschungsrichtung, die leider selten Erwähnung finden. Zum einen ist dies der Forschungszweig der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie, wie sie von Heinroth (1910) eingeführt wurde, durch Schüler wie Tinbergen (1953) und Lorenz (1978) fortgeführt wurde und heute noch durch prominente „Urgesteine“ wie Morris (1968), EiblEibesfeldt (1984) und Goodall (2006) vertreten 2

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

werden. Die Bedeutung des ethologischen Beitrags für evolutionäre Bereiche der Wissenschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, gerade zu biologischen Überlegungen bzgl. Funktionen und Wesen des Menschen. Leider werden ethologische Arbeiten in der aktuellen Literatur zur evolutionären Psychologie und Medizin nur selten zitiert. Ein Phänomen, das sich beim Entdecken einer „neuen“ Forschungsrichtung leider sehr oft beobachten lässt, ist, dass die unmittelbaren Vorgänger und auch Wurzeln eines neuen Ansatzes vernachlässigt oder gar als veraltet angesehen werden – eine Vernachlässigung, die umso schmerzlicher ist, als die Methodologie der neuen, an der Soziobiologie orientierten evolutionären Ansätze zwar auf den ersten Blick oft ungleich präziser ist und mit sicherer vorhersagbaren Ergebnissen aufwartet als ethologische beobachtungsorientierte Methoden. Auf den zweiten Blick verzeichnet die ethologische Methodik aber gerade durch die Beobachtung von Verhalten in komplexen Umwelten (siehe hierzu auch die Arbeiten von J. v. Uexküll 1934) und anhand einer Vielzahl sorgfältig recherchierter Einzelstudien eine Art der ganzheitlichen Orientierung, die unverzichtbar ist und moderne Methoden neuerer evolutionärer Ansätze ergänzt. Weitere Wurzeln der evolutionären Psychologie und Medizin lassen sich direkt in der Medizingeschichte finden, angefangen mit W.B. Cannon, dem amerikanischen Physiologen und Entdecker der homöostatischen Regelkreise in Biologie und Medizin, der in Bezug auf alle Lebewesen evolutionär begründete Notfallmechanismen entdeckte (Cannon 1915), die ihren Sinn im Zusammenhang mit Schmerz, Hunger, Angriff und Flucht haben. Ein weiterer bekannter Vertreter medizinisch relevanter Forschungen war der österreichisch-kanadische Mediziner Hans Selye, der im Zusammenhang mit der Anpassung von Lebewesen an Veränderungen den Mechanismus „Stress“ entdeckte und ein „„Allgemeines Anpassungssyndrom““ im Krankheitsgeschehen daraus identifizierte (Selye 1956). Der deutsche Mediziner Rudolf Bilz, der von Idiolekta 1/2012

der Umweltlehre Jakob von Uexkülls beeinflusst war, ging in seiner Beschreibung paläoanthropologischer Mechanismen noch differenzierter vor und erarbeitete eine ganze Reihe von biologisch begründeten Verhaltensmechanismen, die für die Psychiatrie relevant sind (Bilz 1973, 1974). Stichworte hierzu sind z. B. „allgemeine sensorische Über- oder Unterempfindlichkeit“, „abnorme Schreckhaftigkeit“, das „Anstoßnehmen“ gegenüber fremden und potentiell feindlichen Personen sowie der „Subjektzentrismus“ von Lebewesen in einem spezifischen Erregungszustand.

Der Beitrag von Doris F. Jonas für den evolutionär orientierten wissenschaftlichen Diskurs In dem vorliegenden Artikel soll auf den Beitrag und die Biografie der Anthropologin Doris F. Jonas eingegangen werden, die gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem evolutionär orientierten Arzt, Psychiater und Psychotherapeuten A. D. Jonas* ein sehr umfassendes Lebenswerk zur Evolu­tion des menschlichen Verhaltens und speziell zu psychosomatischen Phänomenen vorlegte. Gemeinsam mit A. D. Jonas und auch in Einzelpublikationen schuf sie in ihrer nur vierzehnjährigen wissenschaftlichen Hauptschaffenszeit (vorwiegend in den 1970er Jahren) ein beachtliches wissenschaftliches Werk von über zehn Monografien und über siebzig Fachartikeln und Fachbeiträgen. Der biografische Aspekt des vorliegenden Artikels wurde erst ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Tochter von Doris F. Jonas, Jill Elise Grant, Juristin und juristische Vertreterin einiger Ureinwohnerstämme in den USA, zu der im Jahr 2010 eine Kontaktaufnahme gelang und der an dieser Stelle für ihre Unterstützung *  Sicher gebührt auch A. D. Jonas ein Artikel über seinen Beitrag als Pionier der evolutionären Medizin und Psychologie. Es fehlen aber derzeit noch zu viele Bausteine aus seiner persönlichen wissenschaftlichen Biographie (auf die er in seiner Zeit in Europa nie ausführlich Bezug nahm), um ein solches Projekt möglich zu machen. 3

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

ein herzlicher Dank ausgesprochen werden soll. Ebenfalls ein herzlicher Dank gebührt der jüngeren Tochter von A. D. Jonas, Pamela Pouchot, die Informationen zu einigen persönlichen Details aus dem Leben ihres Vaters beisteuerte. Das Themenspektrum, das Doris F. Jonas und A. D. Jonas in ihrem gemeinsamen Wirken bearbeiteten, ist gewaltig. Anbei eine Auswahl der Themen von Artikeln und Fachbeiträgen, die Doris F. Jonas gemeinsam mit A. D. Jonas oder allein herausgab und der Bandbreite, die darin zum Ausdruck kommt: ■■ Die Rolle evolutionär orientierter psychologischer Anthropologie für die Humanwissenschaften ■■ evolutionäre Wurzeln psychosomatischer Symptome ■■ die evolutionäre „Verkindlichung“ des Menschen ■■ Gewaltprävention und evolutionär orientierte Erziehungsmaßnahmen ■■ der evolutionäre Sinn des Alterns ■■ mentale Aktivität im Alter und Schlussfolgerungen für gesellschaftliche Fragestellungen ■■ der Beitrag alternder Ärzte für Gesundheitsversorgung und Gesellschaft ■■ Leben, Tod, Bewusstsein und Sorgeverhalten ■■ der evolutionäre Sinn sexuellen Verhaltens und sexueller Störungen ■■ Suchtmittelkonsum, Spiritualität, und geistliche sowie heilerische Rituale ■■ Essprobleme und herbivore vs. carnivore Ernährungsmuster ■■ entstehungsgeschichtliche Aspekte der Schizophrenie ■■ archaische Hintergründe neurotischen Verhaltens ■■ Anthropologie der symbolischen Heilung ■■ Ethologie als biologische Basis des ÖdipusKomplexes ■■ Stressverhalten und frühkindliche Erziehung ■■ die biologische Basis von Gewissen und so­ zialem Verhalten ■■ neurophysiologische und evolutionäre Aspekte des Phänomens außersinnlicher Wahrnehmung Idiolekta 1/2012

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Konflikte und Terrorismus und evolutionär basiertes Verhaltensrepertoire Anthropologie und Paläoanthropologie von Machtrolle und Machtverhalten bei Frauen menschliche Sprachentstehung interdisziplinäre Forschung auf anthropologischer und evolutionärer Basis entwicklungsgeschichtlich orientierte Ansätze wissenschaftlicher Klassifikationen.

Die Monografien, die Doris F. Jonas als Mither­ ausgeberin oder allein verfasste, beschäftigten sich mit: ■■ Verjugendlichung und Verkindlichung des Menschen als anthropologische Grundmuster ■■ Anthropologie ursprünglich lebender Stammesvölker ■■ Altersforschung und Nutzen neotener Muster und Neugierde für die persönliche Vitalität und gesellschaftliche Herausforderungen ■■ Sexualität, sexuelle Probleme und Status­aspekte ■■ Stolz, Statusmuster, Konflikte und Erkrankungen ■■ die Abhängigkeit der Lebenskonzepte ganzer Kulturen von der Realitätskonstruktion durch die Sinne eine übergreifende Vergleichsstudie über Spezies und potentielle kosmische Welten ■■ archaische evolutionäre Mechanismen in körperlichen und seelischen Erkrankungen ■■ die Sprachentstehung und die besondere Rolle von Bindung und geschlechtspezifischem Verhalten ■■ Rituale, Religion, Spiritualität und urzeitliche Wurzeln ■■ gesellschaftliche Mythen der männlichen Überlegenheit und evolutionäre sowie anthro­ pologische Fakten.

Biografie und wissenschaftlicher Werdegang von Doris F. Jonas Doris F. Jonas wurde am 21. Mai 1916 als Doris F. Warshaw in London geboren. Sie war mütterlicherseits Mitglied einer jüdischen Familie, 4

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

die über mehrere Generationen in London lebte. Ihre Mutter, Gertrude Warshaw, war eine engagierte Schlüsselfigur der „Federation of Women Zionists“ (FWZ) und über 16 Jahre deren Schatzmeisterin und spätere Ehrenvorsitzende.

Abb. 2: Nachruf des FWZ anlässlich des Todes von Gertrude Warshaw im März 1983, in dem ihrer Verdienste in der Vereinigung zionistischer Frauen sowie ihres gesellschaftlichen Engagements während des Krieges gedacht wurde

Der Vater von Doris war als Kind mit seiner Familie von Russland nach London emigriert. Er war sehr erfolgreich, besaß eine Glasfabrik und war einige Jahre lang Mitglied des Stadtrats von London.

Abb. 3: Doris im Alter von 4–5 Jahren, mit ihren ca. 1–2 jährigen Brüdern, den Zwillingen Aubrey und Marcel Idiolekta 1/2012

Als Jugendliche lebte sie ca. ein Jahr bei einer Familie in Köln, wo sie gut deutsch lernte. Im Alter von 20 Jahren heiratete sie Adolph Horner, der (soweit sich Jill E. Grant erinnert) aus Ostpreußen stammte. Die Ehe hielt nur sehr kurz und wurde annulliert. Doris war Mitglied einer englischen zionistischen Organisation und wirkte auch während des zweiten Weltkrieges an verschiedenen zionistischen Aktivitäten mit. Doris hatte Freunde in der englischen Botschaft Palästinas/Israels und bekam schließlich über diese Kontakte die Gelegenheit, London mit einem Transportflugzeug nach New York zu verlassen. Allerdings floh sie nicht vor dem Krieg, sie blieb während der Bombenangriffe auf England in London, während ihre Familie sich auf dem Lande aufhielt. Ihren zweiten Ehemann, Frank (als Tscheche eigentlich Franticek) Klein hatte Doris bereits während des Krieges in London kennengelernt. Er war Bankier in Prag und unternahm Geschäftsreisen nach London. Er sprach als GeschäftsAbb. 4: Doris 1939, im mann, der viel auf Reisen Alter von 23 Jahren war, gut deutsch und englisch insoweit, wie es für seine Geschäftsbelange erforderlich war. Zunächst emigrierte er mit seiner ersten Frau und seinen zwei kleinen Kindern 1939 von Prag nach London, nach den deutschen Luftangriffen auf London kamen ihm jedoch Zweifel, ob der Aufenthalt in London zukünftig sicher sei. Dies führte ihn und seine Familie zu einem sechsmonatigen Aufenthalt in Havanna, Kuba, und schließlich bekam die Familie ein Visum nach New York. Dort verließ er seine Frau und seine Kinder, um Doris zu heiraten. Frank hatte neben seiner Familie auch zahlreiche Verwandte und Bekannte aus Prag heraus geschafft, unter anderem den früheren Freund seiner Frau, den diese später heiratete. 5

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Nach ihrer Eheschließung lebte Doris das typische Leben einer „50-er Jahre Hausfrau“, was sie laut Jill E. Grant wohl ausgesprochen wenig inspirierend fand. Ihr Sohn Francis kam 1949 zur Welt, ihre Tochter Jill im Jahre 1955. (Es gab auch noch ein Kind dazwischen, das aber kurz nach der Geburt starb).

Abb. 5: Doris 1959, im Alter von 43 Jahren mit Ehemann Frank (61), Tochter Jill (4) und Sohn Francis (10)

Die wissenschaftliche Ausbildung von Doris startete bereits weit vor ihrer universitären Qualifikation. Sie verfügte über einen unstillbaren Wissensdurst, liebte wissenschaftliche Literatur, Diskussionen und das Reisen. Sie hatte sich bereits vor ihrem Studium der Anthropologie, das sie erst in ihrer zweiten Lebenshälfte absolvierte, über verschiedene Publikationen und ihre lebhafte Teilnahme an vielfältigen wissenschaftlichen Diskussionen einen Namen in wissenschaftlichen Kreisen gemacht. Tatsächlich führten sie ihre Publikationen und die Anerkennung als „Privatgelehrte“ in verschiedenen Wissensgebieten erst zu dem Wunsch, zu studieren und offizielle wissenschaftliche Grade zu erwerben. Ihr Anthropologiestudium und ihre wissenschaftlichen Grade erwarb sie erst, als sie sich bereits von David getrennt hatte und ihre gemeinsame Schaffenszeit mit ihm vorüber war. Wie Jill berichtet, wurde Doris nach der Veröffentlichung von „Manchild“ und anderen Büchern häufig in Zitaten und Publikationen als Dr. Jonas bezeichnet, was sie zu dieser Zeit Idiolekta 1/2012

nicht war. Wissenschaftler und Herausgeber, die sie zitierten, konnten sich wohl nicht vorstellen, dass ein solches Werk von einer Privatgelehrten stammte. Wie Jane Goodall erwarb sie ihre wissenschaftlichen Grade also erst, als ein Gutteil ihrer Forschungen schon abgeschlossen war. Einerseits amüsierte es sie, als Dr. Jonas zitiert zu werden, andererseits gab es ihr ein ungutes Gefühl, was wohl schließlich dazu führte, dass sie ihr offizielles Anthropologiestudium schließlich doch noch nachholte. Viele Teile ihrer frühen wissenschaftlichen Biographie sind leider nicht mehr zu rekonstruieren, da ihre Tochter Jill Elise Grant, die Quelle der hier wiedergegebenen Informationen, in der Zeit, als vieles stattfand, recht jung war. Es ist zumindest bekannt, dass Doris auch mit Dan Casriel, dem Begründer der „Bonding“-Therapie (einer Körperpsychotherapie-Methode), bei verschiedenen Fachartikeln zusammenarbeitete und wohl auch den evolutionären Teil von dessen Arbeit mit prägte. (Casriel 1972) Doris traf David (A. D. Jonas) 1967 oder 1968, und ihr Leben begann auf einmal wieder aufregend zu werden. Sie fing an, mit David zusammenzuarbeiten. A. D. Jonas hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf das Gebiet evolutionärer Grundlagen von Medizin und Psychologie spezialisiert, und er hatte schon zahlreiche Artikel sowie zwei Monografien veröffentlicht. Sein erstes Buch handelte von dem Ausdruck nicht erkannter „stummer“ konvulsiver nervöser Entladungen und Unregelmäßigkeiten in Gehirnfunktionen in einer signifikanten Anzahl von Fällen neurotischer Symptome (Jonas 1959). Sein zweites, viel beachtetes Buch „Irritation and Counterirritation“ (Jonas 1962) beeinflusste den bekannten Kommunikationsforscher McLuhan wesentlich in seinem Medienkonzept. Eschenhagen (2002) schreibt dazu: McLuhan sieht Medien als Ausweitungen von Körperfunktionen, über die der Mensch eigentlich auch ohne technische Hilfsmittel verfügt. Diese Ausweitung betäubt die Sinne. McLuhan führt die Ansicht der 6

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Forscher Hans Selye und Adolphe Jonas an, die diese Betäubung als eine Art »Selbstamputation« betrachten, zu der der Körper greift, wenn das Wahrnehmungsvermögen den Grund einer Reizung nicht orten oder sie umgehen kann. Unter körperlichem »Stress« oder bei Überreizung schützt sich das Zentralnervensystem selbst aktiv mit der Waffe der Amputation oder der Absonderung des »kränkenden« Organs, Sinnes oder der gestörten Funktion. So ist also die Belastung durch Beschleunigung des Tempos oder die größere Last der Anreiz zu neuen Erfindungen. McLuhan nennt das Rad als Ausweitung des Fußes als Beispiel. Auf Grund des beschleunigten Austausches durch die Medien Geld und Schrift war z. B. der Fuß der steigenden Belastung nicht mehr gewachsen. Das Rad wurde zur Entlastung »amputiert«. So hat sich laut Jonas die Ausweitung der Fähigkeit zur Abspaltung und Nach-Außen-Projizierung auch auf körper- und ich-fremde Objekte (heute z. B. Automobile, Häuser) und abstrakte Konzepte (Ideen wie z. B. von Ehrlichkeit, Stolz etc.) als Ich-Erweiterung entwickelt, die nun als virtuelle Kunstprodukte ein psychologisches und kulturelles Eigenleben führten. Aufgrund der größeren Popularität von Selye schrieb McLuhan diese Konzepte Jonas und Selye zu, tatsächlich stammten sie aber ausschließlich von Jonas. Auch David Jonas war bereits verheiratet und hatte zwei Töchter. Ob er zum Zeitpunkt des Kennenlernens von Doris noch mit seiner Familie zusammen lebte, wird bei den Töchtern Pamela und Jill unterschiedlich berichtet. Laut Aussage seiner Tochter Pamela hatte er sich jedoch schon seit langer Zeit emotional von seiner Familie entfernt und sei sehr auf seine Arbeit fokussiert und viel in seine Gedanken vertieft gewesen. Das Zusammentreffen von David und Doris erfolgte über gemeinsame Freunde. Vonseiten der jüngeren Tochter von David Jonas, Pamela, gibt es den Hinweis, dass sie zudem in persönlichen Dingen den Rat von Jonas gesucht habe. Doris und David beschlossen, an einem gemeinsamen Buchprojekt zu arbeiten: „Manchild“, eine Studie über die Verjugendlichung und Verkindlichung des Menschen im Zuge der MenschheitsIdiolekta 1/2012

entwicklung (Neotenie). Dieses Werk beschäftigt sich mit den weitreichenden Folgen dieser Entwicklung hin zur Neotenie, von den höchsten kulturellen Errungenschaften bis zu den niedrigsten menschlichen Beweggründen. Darüber hinaus werden verschiedene körperliche, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und daraus ableitbare Ansätze zu deren Behandlung beleuchtet. Doris hatte eigene literarische Qualitäten, die sich ideal mit denen von David ergänzten. Bücher, an denen Doris mitwirkte, haben einen klareren Aufbau, eine deutlichere Struktur und setzen sich fundierter mit den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Fachliteratur zu dem jeweiligen Zeitpunkt auseinander. 1968 ließ sich Doris von ihrem Ehemann Frank Klein scheiden, der 1969 wieder heiratete. Im Zuge ihrer Zusammenarbeit wurden Doris und David auch privat ein Paar und heirateten schließlich.



Abb. 6: David und Doris Jonas

Methodologisch standen Jonas und Jonas in der Tradition der Ethologie und der Interdisziplinarität. Das heißt, sie suchten in menschlichem Verhalten und Physiologie, in parallelem Verhalten und Physiologie aus dem Tierreich, in Er7

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

gebnissen aus eigenen klinischen Erfahrungen und Forschungen sowie aus Ergebnissen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen nach Grundmustern, deren gemeinsamer Nenner und Erklärungsansatz die Evolution des Menschen darstellt. Die bevorzugte Methodik der heutigen evolutionären Ansätze über die Untersuchung genetisch identifizierbarer Einzelmerkmale und deren evolutionäre Wirksamkeit ist induktiv geprägt. Im Vergleich dazu erscheint der abduktiv geprägte Ansatz von Jonas und Jonas, der detektivistisch nach gemeinsamen Grundmustern sucht, ein Ansatz zu sein, der weniger exakt anmutet. Aus einer anderen Perspektive betrachtet ergänzt aber dieser Ansatz das induktive Vorgehen und hat von daher durchaus das Potential, bei Erhärtung durch verschiedene Fakten Einzelergebnisse wieder zu einem komplexen Gesamtzusammenhang zusammenzufügen. David (eigentlich Adolphe Desiderius Jonas), der am 12. 4. 1913 als Sohn jüdisch-polnischer Eltern in Zemun, Jugoslawien geboren wurde, studierte Medizin in Wien (wie er berichtete u. a. bei Freud). Er machte dort 1936 seinen Abschluss. Seine praktische ärztliche Ausbildung absolvierte er im Universitätsklinikum von Catania, Italien. Während des Krieges ging er zum Abschluß seiner medizinischen Ausbildung nach Amerika – wie ihm dies als Jude gelang, ist nicht bekannt. Seine Eltern und seinen jüngeren Bruder Jules holte er nach. Er arbeitete zunächst als Assistenzarzt im Riverside Hospital, Virginia; in Virginia lernte er auch seine erste Frau kennen. Schließlich ließ er sich in New York nach Berichten seiner jüngeren Tochter Pamela, zunächst als Allgemeinarzt, später als Liaisonpsychiater und Psychotherapeut nieder. In den 1960er Jahren arbeitete er als Research Fellow für Neurologie und Psychiatrie im Mt. Sinai Hospital, New York. Er hegte zu der Zeit, als er Doris kennenlernte, wohl bereits den Wunsch, mit seiner Praxis in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen und sich schwerpunktmäßig der Forschungs- und Publikationstätigkeit zu widmen. Nach einigen JahIdiolekta 1/2012

ren der gemeinsamen Tätigkeit im „Institute for Theoretical Medicine“ mit D ­ oris F. Jonas war er mit der wissenschaftlichen Resonanz seiner Arbeiten in den Staaten wohl nicht ganz zufrieden und strebte eine exponiertere Rolle in Europa an, sei es als Leitfigur des evolutionären Ansatzes oder als Begründer einer neuen psychotherapeutischen Methode. Zudem hegte er wohl den Wunsch, zurück zu seinen persönlichen Wurzeln nach Europa zu gehen und dort den Kreis seiner wissenschaftlichen und persönlichen Laufbahn zu schließen. Im Zuge dieses Bestrebens war ihm eine gewisse Rastlosigkeit zu eigen, die Doris wohl anfangs anzog und faszinierte, andererseits nach ca. zehn Jahren wohl auch das Ende ihrer Beziehung einläuten sollte. (Häufig sind es ja die kontrastierenden, „kontrapunktischen“ Eigenschaften von Partnern, die einerseits den besonderen Reiz zu Beginn einer Beziehung ausmachen, andererseits im Verlaufe der Beziehung die Herausforderung und schließlich auch die Zerreißprobe darstellen.) In ihrer vierzehnjährigen Ehe schufen beide ein beachtliches gemeinsames wissenschaftliches Werk von über zehn Monografien und über siebzig Fachartikeln. Nach einer gemeinsamen Zeit in New York, wo sie Ende der 1960er Jahre das „Institute for Theoretical Medicine“ gemeinsam leiteten, das David 1963 gegründet hatte, verließen sie auf Davids Wunsch im Sommer 1972 New York und gingen nach London. Im Herbst 1972 reisten sie – ebenfalls auf Davids Wunsch – nach Marrakesch, um in der Berberregion in Marokko anthropologische Forschungen zu betreiben. Mitte der 1970er lebten sie ein paar Jahre in Würzburg, wo David Konsultationspsychiater der amerikanischen Armee und später Gastdozent am Psychologischen Institut der Universität Würzburg war. Zudem betrieb er eine psychotherapeutische Privatpraxis. Ende der 1970er Jahre gingen sie gemeinsam wieder nach London und gründeten dort das „„Institute of Sociobiological Medicine“. 1979 wollte David wieder zurück nach Würzburg, Doris jedoch nicht, was schließ8

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Abb. 7: Doris und David Jonas

lich zur Trennung des Paares führte. Die Trennung erfolgte wohl im Unfrieden. Doris wollte in London bleiben, von wo sie stammte und wo ihre Familie lebte, einschließlich ihrer Mutter. Doris nahm ihr Anthropologiestudium auf und arbeitete für die Royal Anthropological Society. Davids Schwerpunkt wandte sich nach der Trennung der beiden von evolutionären Themen, zu denen er weiterhin regelmäßig publizierte, mehr und mehr der Lehre einer von ihm begründeten, vor allem im Bereich der Psychosomatik und der Zwangserkrankungen wirksamen Psychotherapiemethode zu, die an der individuellen Sprache, dem Idiolekt des Patienten ansetzt: der „Idiolektik. In Kombination mit den evolutionären Erkenntnissen aus Doris’‘ und seinem Lebenswerk schuf er damit einen Psychotherapieansatz, der sich einerseits sehr einfach und konsequent an den sprachlichen sowie non- und paraverbalen Signalen des Gesprächspartners also dessen Eigensprache, orientiert und andererseits einen evolutionären und neurophysiologisch orientierten Ansatz in das praktische therapeutische Geschehen auf didaktisch sehr elegante Weise integrierte. Der bahnbrechende Erfolg blieb ihm aber mit diesem Ansatz verwehrt. Es entwickelte sich aus seinem Betreiben eine vielversprechende „„Ge­ sellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung“ die dieses Werk weiter führte, methodisch und theoretisch weiter verfeinerte und untermauerte sowie in den Anwendungsmöglichkeiten ausweiIdiolekta 1/2012

tete. Nach wie vor ist diese Methodik aber eher als – wenn auch expandierender – Geheimtipp anzusehen. Erst kürzlich erschien mit „Eigensprache“ ein Werk, das posthum diese Kombination aus eleganter psychotherapeutischer Methode mit dem Ansatz der evolutionären Psychosomatik im Rahmen der Seminartätigkeit von A. D. Jonas dokumentiert (Winkler 2010). Ein Literaturüberblick zur Begründung dieser neuen Methode im weiteren Wirken von A. D. Jonas nach der Trennung von Doris F. Jonas (Jonas 1981, 1985, Jonas, Daniels 1985) findet sich im Literaturanhang. 1985 erhielt A. D. Jonas schließlich einen Ruf an einen Lehrstuhl bei Erwin Ringel in Wien, worauf David mit der Aussicht, seinen wissenschaft­ lichen Kreis vollends zu schließen und die „vierte Wiener psychotherapeutische Schule“ zu begründen, euphorisch nach Wien aufbrach. Der Kreis schloss sich, die Hoffnung auf eine vierte „Wiener Schule“ erfüllte sich aber nicht. Ende 1985 verstarb David Jonas auf dem Wege zu seiner letzten Vorlesung im Alter von 72 Jahren.

Abb. 8: Nachruf auf A. D. Jonas 9

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Doris studierte und arbeitete nach der Trennung zunächst weiter in London. Ihren Master in sozialer Anthropologie erhielt sie im November 1982. Einen Bachelor-Grad hatte sie nicht erworben, anscheinend vergab die Londoner Universität gleich einen Master Grad für all ihre wissenschaftlichen Arbeiten. Die Verleihung eines weiteren Grades erfolgte 1984, zu der sie dann bereits aus den USA anreiste. Nach dem Tode ihrer Mutter im September 1981 zog Doris 1983 zurück nach New York zur Familie ihrer Tochter. Dort arbeitete sie nicht weiter an ihren wissenschaftlichen Projekten. Es verstärkte sich in diesen Jahren bei ihr wohl auch das Empfinden, dass ihre Arbeit in der wissenschaftlichen Diskussion zu wenig zur Kenntnis genommen wurde, sowie, dass David viele Ideen ihres gemeinsamen Werkes als die seinen ausgab bzw. sie für ihren Anteil daran nicht würdigte. Zudem fand sie wohl, dass das Leben als Autorin ein zu einsames sei und widmete sich nun lieber ihren familiären Kontakten.

Abb. 9: Doris F. Jonas 1984 im Alter von 68 Jahren mit ihrer Tochter Jill Elise Grant und ihrem Enkel Matthew. Sie verstarb im Jahr 2002 im Alter von 85 Jahren in Chevy Chase MD, USA.

Ein Ausschnitt aus ihrer Todesanzeige in der New York Times: Jonas, Doris F., geb. Warshaw, starb am 20. 1. 2002 in Chevy Chase MD, früher in London, England und New York City. Geliebte Mutter von Francis C. Klein und Jill E. Grant, [...] Mitglied des ­Royal Anthropology Institute, Autorin und Weltreisende. Idiolekta 1/2012

Abb. 10: Online Todesanzeige New York Times, Doris F. Jonas

Ein Werk von ihr und A. D. Jonas, das bis heute noch Verbreitung findet und eine wesentliche wissenschaftliche Grundlage der GIG e.V. (Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung) darstellt, und das nach Aussagen von Jill E. Grant für Doris auch ihr liebstes Werk war, ist das Buch Signale der Urzeit – Archaische Mechanismen in Medizin und Psychologie, (Jonas, Jonas, 1977), das im Darwin-Jahr 2009 im neuen Layout beim Huttenschen Verlag 507 wieder aufgelegt wurde. In ihm legen Jonas und Jonas in der Tradition von W.B. Cannon eine ganze Reihe archaischer Reaktionsmechanismen unseres Körpers dar, die von großer Bedeutung für die Entstehung psychosomatischer Symptome und auch für deren Behandlung sind. Sie gehen dabei über die Cannonschen Grundmuster „Flucht“, „Hunger“ und „Angriff “ hinaus und leiten die Mechanismen der „Evolutionären Psychosomatik“ aus der ganzen Palette der Ethologie unter Zuhilfenahme einer Vielzahl interdisziplinärer Erkenntnisse her. Interessant dabei ist, dass hier auch eine Brücke zur Linguistik geschlagen wird, in dem in körperbezogenen Redewendungen nicht nur Hinweise auf eine psychosomatische Dynamik gesehen werden, sondern in diesen auch evolutionär bedeutsame archaische Mechanismen identifiziert werden, die aus der menschlichen Urzeit und teilweise aus artübergreifenden Mechanismen und Reflexen stammen. (Vgl. Abb. 11) 10

Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Signale der Urzeit ist auch in englischer Sprache erschienen, zunächst, wie Jill E. Grant sich erinnert, in Amerika unter The Past Within Us und schließlich in England unter Primeval Mechanisms (Jonas, Jonas 1979). Es wäre sicher mit seinem originellen Ansatz auch heute in der amerikanischen und englischen Szene der evolutionären Psychologie und Medizin wieder aktuell und interessant. Leider sind die englischsprachigen Versionen antiquarisch komplett vergriffen und ließen sich bisher auch über Bibliotheksdatenbanken nicht finden. Das Buch harrt also noch seiner Wiederentdeckung im englischen Sprachraum.

Methode geschaffen habe, gern Kontakt aufbauen wolle. Sie lehnte ab mit der Begründung, nie wieder direkt oder indirekt etwas mit David zu tun haben zu wollen. Ob ein intensiveres Bemühen um sie und die nachhaltige Würdigung ihres Werkes zum Erfolg geführt hätten, muss leider offenbleiben. Wir hätten sicher noch vieles von ihr lernen können.

Nach dem Tode von A. D. Jonas 1985 versuchten Mitglieder der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG) in Verbindung mit Doris F. Jonas zu treten. Sie begründeten dieses Anliegen damit, dass die GIG das Werk von A. D. Jonas fort führe und zu ihr, da sie mit ihrem evolutionären Ansatz eine wichtige Grundlage der Idiolekta 1/2012

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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Literatur aus dem Text Barash, D. P., Barash, N.R. (2005): Madame Bovary’s Ovaries: A Darwinian Look at Literature, New York: Delacorte Press. Bilz, R. (1973): Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bilz, R. (1974): Studien über Angst und Schmerz. Paläoanthropologie. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Buss, D.M., (2005): The Handbook of Evolutionary Psychology. Hoboken, N.J.: Wiley. Cannon, W.B. (1905): Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage: An Account of Recent Researches into the Function of Emotional Excitement, New York: Appleton. Casriel, D. (1972): A Scream Away From Happiness, New York: Grosset & Dunlap. Darwin, C. (1859): On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. London: John Murray. Dawkins, R. (1976): The Selfish Gene. Oxford: Oxford University Press. Eibl-Eibesfeldt, I. (1984): Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, München: Piper. Eschenhagen, P. (2002): McLuhan – Die Theorie von der Temperatur der Medien, Das heiße Kino im Vergleich zum kühlen Fernsehen. Paderborn. Ganten, D. (2008): Evolutionäre Medizin – Evolution der Medizin, Göttingen: Wallstein Goodall, J., Berman, P. (2006): Grund zur Hoffnung. Autobiografie, München: Riemann Heinroth, O. (1910): Beiträge zur Biologie, namentlich Ethologie und Psychologie der Anatiden. In: Berichte des V. Int. Ornithologen Kongresses Berlin 1910, S. 559 ff. Jonas, A. D., 1959: Ictal and Subictal Neurosis – Diagnosis and Treatment, Springfield:, C.C. Thomas. Jonas, A. D., 1962: Irritation and Counterirritation – A Hypothesis about the Autoamputative Property of the Nervous System, New York: Vantage Press. Jonas A. D., 1981: Kurzpsychotherapie in der Allge­ mein­ praxis–Das gezielte Interview, Neuauflage 2008: Würzburg: Huttenscher Verlag 507. Jonas, A. D., 1985: Orientierungshilfen zur Psychotherapie in der Allgemeinpraxis – archaische Relikte in psychosomat. Symptomen, Gräfelfing: Socio-medico. Jonas, A. D., Daniels, A., 1985: Was Alltagsgespräche verraten – verstehen Sie limbisch?, Wien: Hannibal, Neuauflage 2008: Würzburg: Huttenscher Verlag 507. Lorenz, K. (1978): Vergleichende Verhaltensforschung

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oder Grundlagen der Ethologie. Wien / New York: Springer. Miller, G. (2009): Spent: Sex, Evolution, and Consumer Behavior, New York: Viking Adult. Morris, D. (1967): The Naked Ape – A Zoologist’s Study of the Human Animal, London: Cape, New York, McGraw-Hill Nesse, R. M., Williams, G. C. (1995). Why We Get Sick. New York: Times Books. Selye, H. (1956): The Stress of life. New York: McGraw-Hill. Tinbergen, N. (1953): Social behaviour in animals. London: Methuen. v. Uexküll, J. (1934): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Berlin: J. Springer. Verbeek, L. (2008): Darwinische Medizin – Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft, Hamburg: Kovač Wilson, E. O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge, Mass: The Belknap. Winkler, P., (2010): Eigensprache –Körpersymptome verstehen mit Evolutionärer Psychosomatik und Idiolektik® – Seminare mit A. D. Jonas, Würzburg, Huttenscher Verlag 507. Worm, N. (2000): Syndrom X oder Ein Mammut auf den Teller! Mit Steinzeitdiät aus der Wohlstandsfalle, Lünen: Systemed.

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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Bibliografie der Artikel und Fachbeiträge von Doris F. Jonas und A. D. Jonas während ihrer gemeinsamen Schaffenszeit*: 1. Jonas, A. D., Klein, D. F., (1970): The Logic of ESP (Extrasensory Perception), Am J Psychiatry, Feb;126(8):1173–7. 2. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): Primordial Elements in Man, Am J. Psychiatry. Jan; 127(7):974–5 3. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): Evolutionary Roots of some Psychosomatic Ailments, Proceedings of the 1st World Congress of the International College for Psychosomatic Medicine, Gudalajara, Mexico 4. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1971): The Protean Nature of Man’s Immaturity and its Evolutionary Roots, Proc. V, World Congress of Psychiatry, Mexico City, Excerpta Medica 5. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Evolutionary Mechanisms of Neurotic Behavior, Am J Psychiatry, Jun; 131(6):636–40 6. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Place of Ethology and Evolutionary Anthropology in Psychiatry, Brit. Journ. Psychiatry, 131,6, 636–640 7. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): Ethology’s Importance to Medicine, World Medicine, 9,23, 83–93 8. Jonas, A. D., (1974): Letter: Skull Transillumination, Br Med J. Jun 22; 2(5920):671–2 9. Jonas, A. D., Jonas, D. F., Count, E.W. (1974): More on “Assumption and Inference on Human Origins”, Current Anthropology, 15, 4, 457–461 10. Jonas, A. D., (1974): Letter: Ethology, anthropology, and psychiatry, Am J. Psychiatry. Nov; 131(11):1290–1 11. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): An Evolutionary Context for Schizophrenia, Schizophr Bull. Spring; (12):33–41 12. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): The Influence of Early Training on the Varieties of Stress Responses – an Ethological Approach, J Psychosom. Res.; 19(5–6):325–35

* Einige Literaturangaben stammen aus dem handschriftlichen Nachlass von Doris F. Jonas über Jill E. Grant, es ist aus ihnen meist nicht zu ersehen, ob es sich um gemeinsame Artikel mit David oder um Artikel nur von Doris handelt. Sie konnten aus Literaturdatenbanken nicht nachrecherchiert werden, aus diesem Grunde sind bei diesen Artikeln die Autorenangaben weitgehend weggelassen. Idiolekta 1/2012

13. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): A Biological Basis for the Oedipus Complex: an Evolutionary and Ethological Approach, Am J Psychiatry. Jun;132(6):602–6 14. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1975): Gender Differences in Mental Function: A Clue to the Origin of Language, Current Anthropology, 16,4 , 626–630 15. Jonas, A. D., Jonas, Cowan, H.K.J., Glick, B.S., Zukin, B.,Heiman, B., Richman, P., Smith, K.., Velo, J. (1976): On Gender Differences and the Origin of Language, Current Anthropology, 17, 3, 521–526 16. Jonas, A. D., Jonas, D. F., Dibble H.L., Swartz, J.D., Olson, J.N., Wind, J., (1976): More on Gender Differences and the Origin of Language, Current Anthropology, 17,4; Dec.:744–749 17. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): A Bioanthropological Overview of Addiction, Perspect Biol Med. Spring; 20(3):345–54 18. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): The Self-as-We and the Self-as-I: An Investigation of the Biological Base of the Divergence between Human Individual and Group Responses, Proc. VI, Intern. Forum of Psychoanalysis, Berlin 19. Jonas, A. D., (1977): “Vegetative-neurotic” Disorders in the German Federal Republic. �������� Observations of an American Liaison Psychiatrist, Dtsch Med Wochenschr. Jun 3; 102(22):847–8. German 20. Jonas, A. D., (1977): Ictal and Subictal Neurosis, Am J Psychiatry. Sep; 134(9):1051–2 21. Jonas, A. D., (1978): Anthropological Cross-Fertilization, Am J Psychiatry. Sep; 135(9):1113–4 22. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1978): Using Phylogenetic Mechanisms in Classification, Am J Psychiatry. Oct;135(10):1250 23. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1979): Just How Does Psychological Intervention Modify Behavior?, Med Times. Jan; 107(1):(106) 16d (106– 24d 24. Jonas, A. D., (1979): Was war und was noch ist – eine biopsychologische Übersicht, 203–242 in: Fester, R, König, M.E.P., Jonas, D. F., Jonas, D., 1979: Weib und Macht – fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau, Frankfurt am Main, Fischer 25. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1980): A Bioanthropological Overview of Addiction, NIDA Res Monogr. Mar;30:269–77 26. Jonas, A. D., (1980) (Institute of Sociobiological Medicine, London): Section I: Introduction, in: Studies in Conflict & Terrorism 1980, Volume 3, Issue 3&4, pages 257–264

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Peter Winkler: Doris F. Jonas – Pionierin der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin

Zusätzliche Literaturliste über Doris F. Jonas von Jill E. Grant: 27. Acupuncture as a Counterirritant, Modern Medicine, 39, 22:16-? 28. The Role of Words in Sexual Relationships, Human Sexuality, 7,1:199. 29. Jonas, A. D., Jonas, D.F., (1972): The Evolutionary Infantilization of Man: A Significant Factor in Violence, published in Pawlowski: Path to Permanent Peace, Vol. 11, NY: Vantage Press 30. Is Impotence Increasing? Medical Aspects of Human Sexuality, 5, 10, October 1972. 31. The Fundamental Nature of Man’s Infantilization, Proceedings of the Medical Assoc. For the Prevention of War, vol. 2, part 8, Dec. 14, 1973. (Seminar on Childhood Origins of Group) Aggression at Needham College, Cambridge, July 1973. 32. The Mask of Neurotic Behavior, Interface (London), Aug. 1973, pp. 21–25. 33. The Subterranean, Interface (London), Oct. 1973, pp. 20–22. 34. Planning for the Elderly, Interface (London), Nov. 1974, also in German translation in Medizin, Oct. 19, 1977; re-titled Why People Get Old, Modern Medicine (NY), Apr. 1977, 45, 7:63–68. 35. Mental Activity as a Factor in Longevity, World Medicine (London), 9, 7:75–82, Dec. 19, 19? 36. Don’t Talk to the Animals – Listen, Physician’s World (NY), 11, 2:35–40, Feb. 1974. 37. The Aging Physician, Physician’s World (NY), 11, 5:78–87, May 1974. 38. Hasan M. El-Shamy; Doris F. Jonas; Jerome H. Barkow: Comment on Darwinian Psychological Anthropology, Current Anthropology, 15, 1, March 1974. 39. Fluctuations in Status: An Element in Illness, Interface (London), June 1974, pp. 11–15. 40. Life, Death, Awareness and Concern, in Life After Death, with Toynbee, Koestler, and others, Weidenfeld & Nicolson, London, May 1976. 41. Ejaculation, Premature for Whom? Physician’s World (NY), 11, 7:72–98, July 1975. 42. Is Premature Ejaculation a Dysfunction by Decree? Forum (London), 1975. 43. The Nature of Psychological Symptoms, World Medicine, 9, 27:83–93, Oct. 9, 1974, also published by Hippokrates Verlag. 44. Doris F. Jonas: Book review: E.W. Count, Being and Becoming Human, Man, 9,4: 656, Dec. 1974. Page 1 of 3 45. Doris F. Jonas: Book review: S. Zuckerman, ed., Idiolekta 1/2012

The Concepts of Human Evolution, Man, 9, 3: 494–95, Sept. 1974. 46. Doris F. Jonas; A. David Jonas; Earl W. Count, 1975: More on “Assumption and Inference on Human Origins” Current Anthropology, Dec., 1975, vol. 16, no. 4, p. 626–630 47. The Coach, the Priest, and the Social Drinker, World Medicine (London), 10, 3:99–105, Nov. 20, 1974. 48. Abnormal Brainwaves and Neurotic Behavior, World Medicine, 10, 10:85–89, Feb. 26, 1975. 49. Abstract of The Evolutionary Mechanisms of Neurotic Behavior in Dokumentation, Inst. für Dokumentation und Information über Sozialmedizin und Öffentliches Gesundheitswesen 50. Answer to Dr. Abraham Freedman on Evolutionary Mechanisms, Amer Journal of Psychiatry 131, 12:1412, Dec. 1974. 51. The Phoenix Cycle, Interface, July/Aug. 1975. 52. Answer to Dr. Leon Sloman on Evolutionary Mechanisms, Amer Journal of Psychiatry 132, 1:84, Jan. 1975. 53. A Method to Encourage Field-Grade Officers to Seek Psychiatric Consultation, Medical Bulletin of the U.S. Army, Europe, 3, 5, June 1975. 54. Abstract of A Biological Basis for the Oedipus Complex: An Evolutionary and Ethological Approach, Digest of Neurology 55. Digest of An Evolutionary Context for Schizophrenia, published in Digest of Neurology and Psychiatry, Series XLIII, p. 371, Oct. 1975. Inst. of Living, Hartford, Conn. 56. Answer to Dr. Virginia Abernethy on Biological Basis for the Oedipus Cycle, Amer. Journal of Psychiatry 132, 12:1330–31, Dec. 1975. 57. Doris F. Jonas: An Alternative Paleobiology Supports the Concept of a Scavenging Phase, Current Anthropology, 17, 1:144–45, March 1976. 58. Reply to Comments on An Alternative Paleobiology, Current Anthropology, 17, 4:774–75, Dec. 1976. 59. The Stranger in our Midst: An Anthropological Essay on Schizophrenia, delivered in German at Wurzburg Univ. School of Medicine, July 6, 1976, published in Current Concepts in Psychiatry, 3, 1:2–6, Jan./Feb. 1977. Page 2 of 3 60. Digest of The Influence of Early Training on the Varieties of Stress Response, in Psychological Abstracts 56, 1:115–16, July 1976. 61. Obesity: Separating the Herbivores from the Carnivores, Modern Medicine, 44, 10:84–90, May 15, 1976; Nursing Digest, Vol. 1:91–92, Spring 1977; Better Homes & Gardens, Physical Fitness Book. 14

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62. Reply to Prof. Dr. Reimer on Der Fremde in unserer Mitte , Psycho 3, 4, 77: 216–17, April 1977. 63. Coping with Stress, published in Better Homes & Gardens Physical Fitness Book, Arno Karlen, ed., Des Moines, Iowa, 1978. 64. Inertia, published in Better Homes & Gardens Physical Fitness Book, Arno Karlen, ed., Des Moines, Iowa, 1978. 65. Nibblers and Feasters, published in Better Homes & Gardens Physical Fitness Book, Arno Karlen, ed., Des Moines, Iowa, 1978. 66. Letter re Overview: Foundations of Cultural Psychiatry (Armando R. Fevezza and Mary Orman), Amer. Journal of Psychiatry 135, 9:1113–14, Sept. 1978. 67. The Rise and Fall of the Power of Woman, published in The Power of Woman by R. Fester, D.F., Jonas, A. D. Jonas, and M. König, Weib und Macht, S. Fischer Verlag (Frankfurt), March 1979. 68. Comment on Anthropology of Symbolic Healing, (Daniel E Moerman) Current Anthropology, 20, 1:70, March 1979. p. 59–80 69. Letter on Phylogenetic Aspects of Schizophrenia, Psychiatric News (Washington, DC), XIV, 19:2, Oct. 5, 1979. 70. A Bioanthropological Overview of Addiction, printed in Theories of Drug Abuse, Dan J. Lettieri, ed., published by The National Institute of Drug Abuse, U.S. Dept. of Health & Human Services, Washington, D.C., 1980. 71. Comment on Sapienization and Speech (Grover S. Krantz), Current Anthropology, 21, 6:782–83, Dec. 1980. 72. Encyclopedia of Psychology, Prof. Arnold and Hans Eysenck, eds.

Bücher von und mit Doris F. Jonas 1. Doris F. Jonas, (1969): Untersuchungen zu den Komödien von Philippe Néricault Destouches, Dissertation: Phil.Fak. d. Univ.Köln, 344 S., OCLC Nummer: 604624580, Köln: Kleikamp 2. Jonas, A. D., Klein, D. F. (1970): Man-child, A study of the infantilization of man, – New York, Düsseldorf: McGraw-Hill, in japanisch 1984: Man chairudo: ningen yōchika no kōzō, Tokyo : Takeuchi Shoten Shinsha. 3. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1973): Alpha Eridani, unveröffentlichtes Manuskript über anthropologische Studien in der Berberregion in Marokko

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4. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1973): Young Till We Die, London: Hodder and Stoughton 5. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): Sex and Status, London: Hodder and Stoughton, auch: (1982): Das Leittier – Sex u. Status im Geschäfts- u. Gesellschaftsleben, Zürich: Schweizer Verlagshaus, in spanisch (1977): Sexo y status : influencia de la sexualidad en la jerarquia social, Barcelona, Luis de Caralt 6. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1974): The Price of Pride – Medical Dimensions, New York 7. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1976): Other Senses, Other Worlds, New York: Stein and Day, deutsch (1977): Die Außerirdischen – Intelligenz auf fremden Sternen, Zürich: Schweizer Verl.-Haus 8. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): Signale der Urzeit – Archaische Mechanismen in Medizin u. Psychologie, Stuttgart: Hippokrates-Verl., Neuauflage 2008: Würzburg, Huttenscher Verlag 507 9. Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1979): Das erste Wort – wie die Menschen sprechen lernten, Hamburg: Hoffmann und Campe 10. Fester, R., König, M.E.P., Jonas, D.F., Jonas A. D. (1980): Weib und Macht – Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau, Frankfurt a.M.: Fischer 11. Jonas, A. D., Jonas, D. F., Fester, R., (1980): Kinder der Höhle – Die steinzeitl. Prägung d. Menschen, München: Kösel 12. Jonas, D.F. (1980): Der überschätzte Mann. München: Kösel Der Autor: Peter Winkler, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor (BDP). Verheiratet, zwei Kinder. Lebt in Stuttgart. Studium der Psychologie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg, seit 1989 tätig an einer innerbetrieblichen psychosozialen Beratungsstelle für Mitarbeiter und Führungskräfte. Therapeutische und beraterische Ausbildungen in Idiolektischer Kurzzeittherapie, systemischer Therapie, Positiver Psychotherapie, Weiterbildungen zum Organisationsberater, Konfliktberater und ADS-Coach und in Psychotraumatologie. Seit 1998 Vorstands- (– 2010), Dozenten- und Supervisorentätigkeit bei der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung (GIG), Dozenten- und Supervisorentätigkeit bei der Internationalen Akademie für positive Psychotherapie (IAPP). Themenschwerpunkte: Psychosomatik, Konfliktmoderation, Coaching/Supervision, Ressourcenorientierte Arbeit mit Sucht und psychischen Erkrankungen, Betriebliche Ansätze zu psychosozialen und Gesundheitsthemen, Interventionsmethodik und Therapieforschung, Evolutionäre Ansätze in den Humanwissenschaften, verschiedene Veröffentlichungen und Konferenzbeiträge.

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Dean Falk

Reinhold Becker

Gedanken zum inspirierenden Leben der Evolutionsforscherin Doris F. Jonas (1916–2002)

Ja, ja, die Vergessenen! Winkler bringt eine Fülle von bisher unbekannt gebliebenem biographischen Material über die also Erinnerte (1916–2002) und zu ihrem Mann, A. D. Jonas (1913–1985), der in Wien studierte und im deutschen Sprachraum, gemeinsam mit seiner Frau, dort und in Würzburg Spuren hinterließ. Beider Anliegen: Der evolutionäre Ansatz in der Psychologie und der Medizin. Das Ergebnis: Eine Fülle von Monographien und wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema, vorwiegend in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts! Beider Früchte kulminierten in dem evolutionären psychotherapeutischen Ansatz von A. D. Jonas, der in dem erst kürzlich von Winkler (2010) herausgegebenen Werk Eigensprache seinen posthumen Niederschlag fand. Eine Parallele: Der deutsche Nervenarzt Hans Lungwitz (1881–1967), dessen fundamentales psychologisches Werk (Lehrbuch der Psychobiologie) ebenfalls den evolutionären Ansatz in der Psychologie und der Medizin verfolgt („Erkenntnistheorie für Nervöse“, Erstauflage 1932) und dessen sprachbiologisches Hauptwerk erst jüngst erstmals in geschlossener Form erschienen ist (H. Lungwitz: Die Psychobiologie der Sprache, 3. Auflage, Thieme 2010). Winklers Verdienst: ein Stück Erinnerungskultur auf dem Fachgebiet neu herausgegeben zu haben! Doch das ist mehr als nur ein geschichtlicher Beitrag. Dr. Reinhold Becker Herausgeber von H. Lungwitz: Die Psychobiologie der Sprache

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Nur wenige Frauen haben bisher Anerkennung als Vorreiterinnen auf dem Gebiet der evolutionären Wissenschaften gefunden. So ist zum Beispiel Mary Anning (1799–1847) mit ihrer Sammlung von Fossilien die einzige Frau, die in modernen Lehrbüchern der biologischen Anthropologie in den Kapiteln über die Anfänge der Evolutionstheorie regelmäßig Erwähnung findet (siehe z. B. Jurmain, Kilgore und Trevathan, 2011). Aus diesem Grund ist es sehr inspirierend, etwas über das Leben und den Werdegang von Doris F. Jonas zu erfahren, die gemeinsam mit ihrem Mann David Jonas zahlreiche bahnbrechende Ansätze auf dem Gebiet der evolutionären Anthropologie, Psychologie und Medizin veröffentlichte (Winkler, 2012). (Für eine Aufstellung der verschiedenen Publikationen von Doris und David Jonas siehe Winkler [2012]). Unter anderem forschte und schrieb Doris Jonas über die Anthropologie und Evolution des Alterns, menschliches Sexualverhalten, psychische und psychosomatische Krankheiten, Wachstum und Entwicklung und die Entstehung von Sprache. Was dieses letztgenannte Thema betrifft, war sie mit ihren Beobachtungen hinsichtlich der Rolle der Mutter-Kind-Bindung bei der Sprachentstehung ihrer Zeit weit voraus. Offensichtlich zeichnete Doris Jonas ein auffallend lebhaftes Interesse an der Natur aus, dem sie nachging und über das sie schrieb, ohne eine entsprechende Ausbildung zu haben. Erst nachdem sie als Autorin wissenschaftlicher Arbeiten wahrgenommen wurde, erhielt sie 1982 einen Magistergrad in sozialer Anthropologie an der Universität von London, der ihr verliehen wurde, ohne dass sie zuvor einen Bachelor-Grad erhalten hatte (Winkler 2012). Ihre leidenschaftlich verfolgten intellektuellen Interessen waren der Ausgleich für mehrere Ehen und das Mutterdasein. Wie Winkler schreibt, versuchte „Doris 16

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das typische Leben einer 50er Jahre Hausfrau“ zu führen. Genau zu dieser Zeit zeigte „The Adventures of Ozzie and Harriet“ (eine amerikanische Kult-Sitcom der 50er und 60er Jahre) was Frauen vom Leben zu erwarten hatte – nämlich Hausfrau und Mutter zu werden, die ihre Befriedigung aus dem beruflichen Erfolg ihres Ehemannes und der Kindererziehung bezog. Ganz sicher verfolgten sie keine eigenen intellektuellen Interessen und strebten keine wissenschaftliche Karriere an. Dass Doris Jonas unter diesen Umständen als akademische Forscherin und Autorin erfolgreich war, ist umso bemerkenswerter. Die Tatsache, dass sie in ihren späteren Jahren immer häufiger das Gefühl hatte, ihre Arbeit sei nicht ausreichend gewürdigt worden und dass (ihr Exmann) David ihre gemeinsamen Ideen als „die seinen ausgegeben“ hatte (Winkler 2012), ist traurig, aber nicht überraschend. Zweifellos war Doris Jonas eine außergewöhnliche Frau und eine Evolutionswissenschaftlerin. Es ist, nebenbei bemerkt, interessant, dass eine weitere Wissenschaftlerin, die weniger als zwei Jahrzehnte nach Doris Jonas geboren wurde, die weltberühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall (*1934), bei der leidenschaftlichen Verfolgung ihrer wissenschaftlichen Interessen auf dem Gebiet der Zoologie und der Evolution einen ähnlichen Weg nahm und einen hohen akademischen Grad einer britischen Universität erhielt, nachdem ihre Veröffentlichungen Anerkennung gefunden hatten und zwar ohne dass ihr zuvor ein Bachelor­grad verliehen worden war (nämlich der Doktortitel, verliehen von der Universität Cambridge 1965). Auch sie war mehrmals verheiratet und hat ein Kind. Für alle angehenden Forscherinnen sollten Frauen wie Doris Jonas und Jane Goodall daher eine Inspiration sein. Sie verfolgten ihre intellektuellen Interessen äußerst zielstrebig, wobei sie sich ihr Wissen zu einem großen Teil selbst aneigneten, wurden schließlich verdientermaßen mit akademischen Graden ausgezeichnet und schafften es dabei auch noch, sich um ihre Familien zu kümmern. Also, dann können Sie das auch! Idiolekta 1/2012

Literatur: Jurmain, R., Kilgore, L., Trevathan, W. (2011): Essentials of Physical Anthropology, 8th edition. United States: Wadsworth CENGAGE Learning. Winkler, P. (2012): Doris F. Jonas – a pioneer of evolutionary anthropology, psychology and medicine – A historical contribution. Englischsprachiger Original-Kommentar von Dean Falk auf: http://deanfalk.com/human-brain-evolution-what-fossils-tell-as/ Prof. Dean Falk ist Professorin für Anthropologie an der Hale G. Smith Florida State Universität und Senior Scholar an der School for Advanced Research, Santa Fe, New Mexico. U. a. Autorin von: „Finding Our Tongues: Mothers, Infants, and the Origins of Language“ deutsch: „Wie die Menschheit zur Sprache fand: Mütter, Kinder und der Ursprung des Sprechens“

Wolfgang Ittner Als direkter Schüler von A. D. Jonas arbeite ich tagtäglich in meiner Beratungspraxis mit dem Themenschwerpunkt „Coaching bei Beziehungsschwierigkeiten“, mit den Konzepten der archaischen Relikte von Doris F. und A. D. Jonas. Vor allem die Verknüpfungen, die Jonas und Jonas zwischen dem Faktor Status und Sex/Attraktivität untersucht haben (siehe Jonas, Jonas Sex und Status), werfen ein erhellendes Licht auf die Beziehungsdynamik und die notwendigen Schritte, die man (Mann) machen muss, um für den Partner wieder attraktiv zu erscheinen. Viele Paar- und Beziehungsforscher übersehen die Relevanz, die diese archaischen Mechanismen auch in modernen Zeiten immer noch haben. Jonas und Jonas waren im wahrsten Sinne Pioniere des evolutionären Ansatzes in Psychologie und Medizin. Von daher freue ich mich, dass an dieser Stelle die Bedeutung auch von Doris F. Jonas für ihren lange vernachlässigten Anteil an dem Konzept der archaischen Relikte gewürdigt wird. Wolfgang Ittner (Dipl.-Biologe) Autor des Online-Buchs „Partner weg“, http://www.beziehungsdoktor.de

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Sven Karsten Peters

Gunther Schmidt

Die heutige Arbeit – und gerade die Vorgaben aus Politik und Kassen – bewirkt bei Spezialisten für Gesundheit, wie bei mir als Kardiologen im Krankenhaus, sich von der Kunst der menschlichen Gesprächsführung weg mehr und mehr in die technokratische Richtung drängen zu lassen. Ich halte es für wichtig, gerade durch „alte“ wissenschaftliche Arbeiten, die durch die Zeitlosigkeit ihrer Erkenntnisse frischer und aktueller wirken als manche neue Studie, auf elementare Bestandteile des ärztlichen Tuns, der Gesprächsführung hinzuweisen. Ohne dieses Wissen, wo ich als Arzt meinen Patienten als Individuum abzuholen habe – und wie ich mich auch selbst verhalte – werde ich nicht erleben, dass sich ein Patient seine kardiale Krankheit „zu Herzen nimmt“.

Ich freue mich sehr, dass mit diesem Artikel den aus meiner Sicht so außerordentlich verdienstvollen und wichtigen Arbeiten von Doris F. Jonas und A. David Jonas eine längst überfällige und sehr angemessene Würdigung erteilt wird. Sehr erfreulich finde ich dabei auch, dass gerade die Arbeit von Doris F. Jonas eigenständige Anerkennung findet.

Dr. Sven Karsten Peters, Autor von „Rudolf Bilz (1898– 1976): Leben und Wirken in der Medizinischen Psychologie“

Joachim Schaffer-Suchomel In einer höchst spannenden Grafik werden die von Jonas und Jonas entdeckten archaische Relikte und deren Entsprechungen in organsprachlichen Redewendungen aufgezeigt. Wir greifen z. B. in Notsituationen auf Reflexe zurück: Wenn wir „Schiss bekommen“, entleeren wir uns zur besseren Flucht. Oder „wir erstarren“, wenn eine Flucht nicht mehr möglich ist. In diesem Fall werden muskuläre Fluchtimpulse gehemmt. Solche Schlüsselworte und Schlüsselsätze sind aufschlussreich, sie öffnen die Sicht auf die Befindlichkeit eines Menschen. Einem Patienten, der dank seiner Sprache in seiner Befindlichkeit vom Therapeuten gefunden wird, kann durch diese Ortung überhaupt erst geholfen werden. Joachim Schaffer-Suchomel, Autor u. a. von „Du bist was Du sagst” www.brainfresh.net

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Die Arbeiten von beiden haben – gerade auch für das Feld der Psychotherapie – viele wichtige und sehr wertvolle neue Perspektiven erbracht, die leider noch immer in ihrer grundlegenden Bedeutung oft viel zu wenig verstanden und beachtet werden. Ich halte ihre evolutions- und sozio-biologisch orientierten Forschungen für sehr bedeutsame Pionierleistungen, die viele Chancen für Kompetenz-aktivierende und Ressourcenorientierte Psychotherapie eröffnen, die es ohne sie so nicht gäbe. Sie ermöglichen, dass endlich viele Phänomene so z. B. auch Symptome, die in unserem üblichen psycho- und sozio-kulturellen Kontext und in den traditionellen MainstreamPsychotherapie-Konzepten als sinnlos, krank, als Zeichen ausschließlicher Inkompetenz angesehen werden, in ihren ursprünglichen SinnKontext gestellt werden können. So kann endlich verstanden werden, in welch oft faszinierender Weise sie als in ihrem relevanten Kontext kluge Leistungen wirken und welch kompetente und effektive Lösungsversuche im Verlauf der Evolution sie darstellen. Durch diese sehr differenzierten Betrachtungen evolutionärer Zusammenhänge konnten sie entscheidende Querverbindungen schaffen, um bisher meist abgewertete Aspekte des Erlebens und Verhaltens von Menschen in neue, hilfreiche Bewertungs-und BedeutungsRahmen stellen zu können. Die außerordentlich wichtige Bereicherung, die sich dadurch gerade für die Bereiche der Psychotherapie, der Psychosomatik und Beratung ergeben, kann man nicht hoch genug einschätzen. Denn sie 18

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tragen so zu Kraft gebenden und ermutigenden Chancen bei, um Klienten wieder ein Erleben von mehr Würde und Kompetenz zu ermöglichen und die wertvollen Bedürfnisse, die sich selbst hinter noch so bizarr anmutenden Reaktionen verbergen, verstehbar zu machen und gesunde Erfolgsstrategien zu entwickeln, um diesen Bedürfnissen besser gerecht zu werden. Und darüber hinaus sind alle ihre Arbeiten geprägt von immer achtungsvoller Neugier und dem Respekt vor der Einzigartigkeit der jeweiligen Eigenwelt von Individuen. So tragen sie in wohltuender Weise zu einer Haltung multikultureller Toleranz und bereichernder KoExistenz bei, die fundamentalistischen „Normen-Imperialismus“ transzendiert und die wir gerade in unserer Zeit als notwendige Basis konstruktiven Zusammenlebens im „global village“ unbedingt brauchen. Insofern sind die Arbeiten sowohl von Doris Jonas als auch von A. David Jonas vielleicht aktueller als je. Dr. med. Dipl. rer. pol. Gunther Schmidt, Ärztlicher Direktor der SysTelios-Klinik für psychosomatische Gesundheit Siedelsbrunn und Leiter des Milton-Erickson-Instituts Heidelberg. Autor u. a. von „Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten“

Wenda Trevathan Da ich bereits zahlreiche geschichtliche Über­ blicke auf dem Gebiet der Evolutionären Medizin aus anthropologischer Sicht verfasst habe, war es mir eine Freude, Doris Jonas und ihren Beitrag auf diesem Gebiet kennenzulernen, wenngleich ich ein wenig beschämt bin, dass ich bisher nicht mit ihrer Arbeit vertraut war. Es ist durchaus möglich, dass es noch weitere Wissenschaftler gibt, die, wie Doris, Arbeiten zu dem verfasst haben, was wir heute als Evolutionäre Medizin bezeichnen, deren Schriften aber nicht für uns zugänglich sind. Dank Peter Winklers sorgfältiger Recherche können wir Doris Jonas nun in die Reihen der „Mütter“ der EvolutionäIdiolekta 1/2012

ren Medizin aufnehmen, deren Werk wir nicht länger ignorieren können. Dr. Wenda Trevathan ist biologische Antropologin an der Universität von Colorado-Boulder, Autorin u.  a. von “Evolu­ tionary Medicine and Health: New Perspectives”. (Trevathan, W. R., E. O. Smith, J. J. McKenna (Eds.) )

Luzie Verbeek Frauen als Wissenschaftlerinnen finden zunehmend die Aufmerksamkeit in geschichtlichen Beiträgen. Den Mehrwert sehe ich weniger in einer „posthumen Gerechtigkeit“ als in einer veränderten Perspektive, Erkenntnisse und deren Entwicklung neu zu betrachten. Die Reflektion darüber, wie Ideen entstehen, könnte mit solchen Beiträgen auch das Bild über derzeitige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beeinflussen. Meilensteine in der Wissenschaft wurden zum Teil durch Frauen ermöglicht, ohne dass dies explizit Erwähnung fand (vergl. z. B. auch Lück: Geschichte der Psychologie). Peter Winkler stellt in diesem Artikel den Werdegang von Doris F. Jonas dar. Ihre Beiträge für den evolutionär wissenschaftlichen Diskurs werden aufgezählt und machen neugierig auf eine Vertiefung; detailliert beschrieben wird ihre akademische Laufbahn im familiären und geschichtlichen Kontext. In dieser „Kasuistik“ nimmt Peter Winkler auch Bezug auf Jane Goodall. Beide Frauen leisteten bereits einen Großteil ihrer Forschungsarbeit vor ihrer formalen akademischen Ausbildung. Die zu vermutende sehr hohe intrinsische Motivation sowie die fehlende klassische universitäre Bildung wirkten in dieser Kombination vielleicht sogar begünstigend auf die Erkenntnisgewinne dieser Frauen. Die autodidaktische oder unkonventionelle Ausbildung verschonte sie weitgehend von vorgefertigten Wahrheiten (Dogmen) und vor den Denkschranken einer „scientific community“. Von Frauen erwartet(e) man tendenziell weniger wissenschaftliche Beiträge. Sie waren daher zunächst auch keinem hohen Erwar19

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tungsdruck ausgesetzt. Möglicherweise lässt sich hieraus eine Konstellation erkennen, die innovative Ideen regelhaft begünstigte. Diese fragliche Form der „Begünstigung“ soll jedoch nicht über die Tragik in Doris Jonas Leben hinwegtäuschen, die Peter Winkler mehrfach hervorhebt. Die Ablehnung trotz Nachfrage seitens der Gesellschaft für Idiolektik und Gesprächsführung, weiter wissenschaftlich zu arbeiten, deutet darauf hin, dass sich Doris Jonas der akademischen Welt nicht zugehörig fühlte und mit ihrem Werdegang haderte. An anderer Stelle schreibt Peter Winkler: „Zudem fand sie wohl, dass das Leben als Autorin ein zu einsames sei und widmete sich nun lieber ihren familiären Kontakten“. Ich finde bedauerlich, dass es immer noch bemerkenswert ist, wenn auch Frauen sowohl ein akademisches und berufliches Zuhause als auch ein erfülltes Familienleben verwirklichen. Geschichtliche Beiträge in Form von Fallbeispielen wie der von Peter Winkler gehen über einen informativen Charakter hinaus, da sich mit der Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen von Frauen und „Titellosen“ in der Vergangenheit auch die Anerkennung in der Gegenwart ändern könnte. Dr. med. Luzie Verbeek, Autorin von „Darwinische Medizin – Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft“

Günther Witzany Das Lebenswerk der vorgestellten Autorin Doris Jonas beschäftigt sich mit evolutionärer Anthropologie, Psychologie und Medizin. Bei Termini wie „Evolutionäre Psychologie“ und „Evolutionäre Medizin“ stellt sich die Frage nach dem dahinter liegenden Evolutionsbegriff. Ist es die darwinistische Evolution (Variation und Selektion) oder eine neo-darwinistische Evolution (Mutation als Ursache von Variation) oder eine post-darwinistische Evolution (Variation als Ergebnis natürlicher Gentechnik bzw. als Ergebnis kompetenter genetischer Textbearbeitung). Der Rekurs des Artikels auf die frühe VerhaltensIdiolekta 1/2012

forschung (bei einigen Vertretern in der Nähe zur nationalsozialistischen Rassenideologie) stellt die Frage, ob diese Zweige auch evolutionistisch bzw. biologistisch konzipiert sind, oder aber mechanistisch bzw. reduktionistisch. Die Frage ist auch: haben diese Richtungen etwas mit der evolutionären Erkenntnistheorie zu tun? Die Untersuchungen zur Menschwerdung durch das Ehepaar Jonas kommen zur Sprache, aber auch die Gründung der Idiolektik. Hierbei tut sich die Frage auf, wie diese Methode bei Gehörlosen und ihrer Muttersprache, der Gebärdensprache, zur Anwendung kommen würde. Jedenfalls dürfte diese Methode sehr effizient sein, sonst hätte nicht Erwin Ringel A. D. Jonas nach Wien geholt. Ich kannte Erwin Ringel und schätze ihn sehr. Vielleicht hätte am Anfang des Beitrages eine klare und kurze Definition, was man heute unter evolutionärem Ansatz versteht, gut getan. Die Erwähnung von R. Dawkins ist da nicht hilfreich, weil man seine Schriften weniger als wissenschaftlich denn als ideologisch bezeichnen muss. Die Evolution von den großen Menschenaffen zum Menschen war ja auch nicht das Ergebnis von zufälligen Mutationen, sondern von massiven retroviralen Besiedelungsschüben, so wie das ganze menschliche Genom durch zig-tausende sesshafte Retroviren besiedelt ist, die die Ablesung der Gene regulieren. Nicht anders ist das anpassbare Immunsystem (zuerst bei den Knorpelfischen) entstanden oder die Evolution der Säugetiere (das retroviral codierte Syncytin schützt den Embryo vor dem Immunsystem der Mutter). Dies führt zu der zentralen Rolle von Viren bei der Evolution praktisch aller Lebewesen sowie zu den Folgen, die eintreten, wenn diese sesshaften viralen Genregulatoren außer Gleichgewicht geraten und zu Krankheiten führen (z. B. bei Schizophrenie). Dr. Günther Witzany studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Moraltheologie in Salzburg und München. Er begründete den biokommunikativen Ansatz in der Biologie, der Kommunikationsprozesse zwischen Zellen, Geweben, Organen und Organismen untersucht und genetische Prozesse als Ergebnis kompetenter Textbearbeitung betrachtet. Autor von „Biokommunikation und natürliche Bearbeitung genetischer Texte: Die Anwendung der sprachpragmatischen Philosophie der Biologie“ 20

Hans Hermann Ehrat

Archaische Relikte in der Psychosomatik

Die* von D. F. Jonas und A. D. Jonas beschriebenen „archaischen Relikte“ sind Paradebeispiele für Störungen, die wir als psychosomatisch bezeichnen. Bei diesen archaischen Relikten handelt es sich um körperliche Phänomene (Symptome), die in früherer evolutionärer Zeit eine adaptive Funktion hatten und heute von uns – ohne Kenntnis der Zusammenhänge – als Erkrankungen bezeichnet werden. Diese körperlichen Phänomene werden von einem Generatorsystem im Mittelhirn gesteuert. Auf gegebenen neuronalen Bahnen werden Impulse von dort zu den Zielorganen geleitet, die in adaptiver Weise – im Sinne einer Überlebenssicherung – eine entsprechende Reak­tion zeigen. Die entstehenden „Erkrankungen“ sind im wahrsten Sinne des Wortes eben keine Erkrankungen, sondern sinnvolle und überlebenssichernde körperliche Maßnahmen. Unter diesem Aspekt fallen Verstehen von und Verständnis für ganz bestimmte körperliche oder psychosomatische Symptome leicht. Wird in der Behandlungssituation für den betroffenen Patienten deutlich, dass der Arzt die zugrunde liegenden Zusammenhänge versteht, ist der wichtigste therapeutische Schritt bereits erfolgt. Anerkennung und Würdigung körperlicher Phänomene als eine Leistung des Organismus entspricht einem Paradigmenwechsel, in dem die „vorgetragenen körperlichen Phänomene“ (Symptome) als sinnvoll und auch notwendig verstanden werden. Insofern gilt:

*  Der Abdruck des vorliegenden Textes, der aus dem Buch Schlüsselworte entnommen ist, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Auer Verlages, bei dem wir uns herzlich bedanken. Alle Rechte dieses Textes liegen beim Carl Auer Verlag. (RED) Idiolekta 1/2012

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Ist die „körperliche Botschaft“ verstanden worden, braucht sie nicht wiederholt zu werden. Ist eine „verbale Botschaft“ verstanden worden, braucht sie nicht wiederholt zu werden. Körperliche und verbale Mitteilungen sind – so betrachtet – als gleichwertige zu bezeichnen.

Bei psychogenen somatischen Erkrankungen, die sich nicht im Katalog der archaischen Relikte befinden, sind die Zusammenhänge zwischen auslösenden Faktoren und der „somatischen Antwort“ oftmals nicht so leicht zu erkennen. Hier kann zukünftige Forschung noch hilfreiche Beiträge leisten, um den bestehenden Katalog archaischer Relikte zu erweitern. In Kenntnis der Mechanismen der archaischen Relikte fällt es aber leicht, den Patienten zu vermitteln, dass ihr Organismus „gute Gründe“ hat, so und nicht anders zu reagieren. In der praktischen Arbeit ist genau dieser Hinweis oft schon ausreichend dafür, eine Entlastung zu erzielen. Mit einem solchen Hinweis wird quasi ohne genaue Kenntnis der Zusammenhänge deutlich gemacht, dass Verstehen und Verständnis das Leitmotiv der Begegnung mit betroffenen Patienten ist. Häufig lässt sich beobachten, dass der Patient auf die provokative Äußerung, dass sein Körper bzw. er selber sicher gute Gründe habe, sich so und nicht anders zu verhalten, die Zusammenhänge zwischen auslösenden Momenten und den beklagten körperlichen Phänomenen selbst herstellt. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass der Zielorgankatalog und damit auch das Repertoire archaischer Relikte umfassender sein muss als von Doris F. Jonas und A. D. Jonas beschrieben. Diese Erkenntnisse sind gewissermaßen der biologische Hintergrund eines einschneidenden Paradigmenwechsels, indem psychosomatische Erkrankungen primär keine Störungen, sondern 21

Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik

Ausdrucksformen unseres Organismus im Sinne der Überlebenssicherung sind. Bei dieser Art und Weise der Betrachtung körperlicher Phänomene (Symptome) wird leicht verständlich, dass Bekämpfung dieser Symptome im konventionellen Sinne ein grandioses Verwirrspiel der Wahrnehmungen anrichten kann. Dies wiederum führt dann auch oft zu einer deutlicheren Ausprägung der vorhandenen Symptome. Zum Beispiel Patienten mit Herzrasen, die nach einer eingehenden klinischen Untersuchung erfahren, es fehle ihnen nichts, antworten sehr oft mit einem um ein Mehrfaches ausgeprägten „Krankheitsbild“. Die logische, medizinisch nicht widerlegbare und vermeintlich „beste“ Auskunft nimmt der betroffene Organismus als Abwertung und als maximale Verständnislosigkeit auf. Es bleibt nur eine Möglichkeit, nämlich lauter zu schreien – das heißt, die Symptome zu verstärken. In diesem Kapitel geht es um die Frage, welche Bedeutung der „idiolektischen Gesprächsführung“ im Verständnis und in der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen zuzuschreiben ist. Ärzte – ausgebildet in Technik und Methodik dieser Gesprächsführungsform – haben eine andere Art des Zugangs zu Patienten. Hinausgehend über logisch-abstrakte Erklärungen, Messwerte und andere objektivierbare Daten, tritt hier eine besondere Anamneseform in den Vordergrund, die am ehesten mit einer dialogischen Begegnung verglichen werden kann. Allererste Voraussetzung zu dialogischem Verhalten ist die Bereitschaft, sich auf das Hier und Jetzt des Gesprächspartners, auf seine Einzigartigkeit einzulassen. In einem solchen Setting sind für jeden Gesprächsleiter plötzlich ganz bestimmte, vom Gesprächspartner benutzte Begriffe hörbar, die er für sich dann als Schlüsselworte bezeichnet. Diese Schlüsselworte, die nach ganz bestimmten Vorgaben ausgewählt werden, sind die Eingangspforte zu einem ganz wesentlichen Phänomen menschlicher Beziehung. Sie ermöglichen die Entstehung eines sogenannten Resonanzphänomens – nach A. D. Jonas der entscheidende Faktor eines Gespräches an sich. Idiolekta 1/2012

Resonanz drückt Beziehung aus, und Beziehung besteht deswegen, weil die benutzten Schlüsselworte für beide Gesprächspartner in direkter Beziehung zu ihrem jeweiligen Kontext stehen. Schlüsselworte sind also gewissermaßen „Zauberworte, die die Welt zum Klingen bringen“. Resonanz hat also mit der besonderen Art der sprachlichen Klangwelt zu tun, die oft festgefahrene, meist intellektuelle Konzepte zu lockern vermag, um sie im besten Sinne infrage zu stellen. Die Klangwelt der Sprache und die entstandene Resonanz berühren Stellen der Individualität. Sie bringen Freude über und Stolz auf das Selbst ans Licht – eine vitalisierende Form des Selbstbewusstseins. Die Beteiligten – Kranke und Behandler – stehen gleichermaßen im Kraftfeld solcher Interaktion. Beide sind unterwegs und machen Erfahrungen, die angedeutet und umschrieben werden können mit der Erfahrung zweier Bergwanderer. Die Worte, die auf einer Bergwanderung gewechselt werden, sind nur wenige, und oft sind sie banal, die transportierte Kraft und Qualität heißt: „Auf diesem Wege ist es für mich wichtig, dass du mit mir bist und ich deine Zuverlässigkeit bei jedem neuen Schritt wieder erfahre.“ Wenn man am Gipfel angekommen ist, stellt sich eine Empfindung von unbeschreiblicher Intensität ein – die Nachwirkungen sind körperliche Leichtigkeit und ein fröhliches Herz. Unter dieser Voraussetzung werden Einblicke in eine heile Welt möglich – der Betroffene als Experte seiner Situation spürt, wo eigene Kräfte vorhanden und wie sie einzusetzen sind. Dieses Spüren bezeichnet ein Etwas, das vom inneren Leben, dem ganz Eigenen eines Menschen entgegenkommt und eine Ahnung weckt, wie viel mehr es geben muss als das, was wir mit unseren Sinnen wahrzunehmen vermögen und auf das die Sehnsucht des Menschen gerichtet ist. Diese beschriebene Denkweise ist eine ganz besondere Form der Salutogenese, eine Möglichkeit für den Organismus zur Selbsthilfe. Diese Denkweise ermöglicht auch auf besondere Weise das Verständnis für die Thematik der Salutogenese 22

Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik

schlechthin – ein viel benutzter Begriff wird plötzlich verständlich und greifbar. Sie nimmt den Behandler (Berater) in einer ganz besonderen Art und Weise in die Pflicht, weckt seinen Respekt vor jedem einzelnen Individuum, ist lehrreich für Kenntnis und Wissen über Verantwortung. Wie weitab eine solche Art und Weise des Zugangs zum Leiden eines Menschen von der aktuell praktizierten liegt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Zur praktischen Erläuterung dieses „neuen“ medizinischen Denkens und Handelns soll der aufgeführte Symptomenkatalog Orientierungshilfe für die praktische Arbeit sein. Es würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem überschreiten, wenn sämtliche, z. B. auch bei Jonas und Jonas beschriebenen archaischen Relikte, als Grundlage für Adaptationsprozesse hier abgehandelt würden. Der vorliegende Katalog bietet eine Auswahl häufig anzutreffender Phänomene. Für das weitere Studium werden vor allem die Arbeiten von Jonas und Jonas (1971, 1974a, 1974b, 1977, 1985) empfohlen. Symptomenkatalog im Bereich verschiedener Organsysteme 1. Sinnesorgane 2. Herz-Kreislauf-Organe 3. Atemorgane 4. Verdauungsorgane 5. Bewegungsapparat 6. Hauterkrankungen 7. einige psychiatrische Krankheitsbilder und ihre archaischen Wurzeln.

Sinnesorgane Der Vestibularapparat (Gleichgewichts­ apparat) In der Praxis des niedergelassenen Allgemeinarztes sind sehr oft Patienten anzutreffen, die über hartnäckige Schwindelanfälle klagen. Die körperlichen Untersuchungen zeigen in über 50 % der Fälle keine Hinweise zur Erklärung der beklagIdiolekta 1/2012

ten Beschwerden. Das bekannte Menière-Syndrom – wohl das bestbeschriebene Krankheitsbild aller „Schwindelerkrankungen“, bestehend aus der Symptomtrilogie: 1. akut auftretende Hörminderung, 2. Schwindel, 3. Ohrgeräusch (Tinnitus) – entsteht durch eine Reizung des Innenohrs, das sich aus dem Bogengangsystem (Gleichgewicht) und der Schnecke (Hörfähigkeit) zusammensetzt. Es existieren nur angedeutet Vorstellungen, wie es zu diesem Reizzustand kommen kann. Die Gleichgewichtssicherung, die wesentliche Leistung des Vestibularapparates, wird einerseits durch optische Impulse und andererseits durch Impulsvermittlung aus den Bogengängen erreicht. Primaten, bei ihrer Vorwärtsbewegung oft von Baum zu Baum springend, schätzen (optisch) vor jedem Sprung die zu überwindende Distanz ein. Wird diese Distanz als unüberwindlich oder fraglich überwindlich eingeschätzt, setzt als Warnsignal Schwindel ein, der beabsichtigte Sprung wird durch ein eindringliches Körpersignal (Schwindel) verhindert, d. h., der Schwindelanfall ist also gewissermaßen eine überlebenssichernde Maßnahme des Organismus. Dieser Schwindel ist für viele Menschen eindrücklich nachvollziehbar, wenn sie sich an hoch gelegenen Orten, z. B. auf hohen Brücken oder Türmen, aufhalten und hinunterblicken. Im idiolektischen Gespräch wird bei betroffenen Patienten oft und rasch deutlich, dass sie sich aktuellerweise in einer Situation befinden, die „unübersichtlich“, „unüberschaubar“ ist. Worte wie die genannten tragen als Hinweise das Distanzthema in sich und weisen auf eine direkte Anlehnung an die phylogenetisch (entwicklungsgeschichtlich) bekannte Situation von Patienten, die eine Vorwärtsbewegung intendieren. Dieser Symptomenkomplex tritt immer wieder bei Menschen auf, die sich in Übergangssituationen befinden. Am ausgeprägtesten sind solche Schwindelerkrankungen bei Studenten, die, vor belastenden Examenssituationen stehend, wegen starker Schwindelanfälle nicht mehr in der Lage sind, vernünftig zu arbeiten und sinnvoll 23

Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik

zu reagieren. (Phylogenetisch gesprochen, hat der Organismus wahrgenommen, dass vor ihm eine nicht sicher überwindbare Distanz liegt, so dass das Alarmsystem „Schwindel“ aktiviert wurde.) Das vorhandene „Krankheitsbild“ ist unter diesem Aspekt keine Krankheit, sondern unter der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung eine Fähigkeit des Organismus, auf eine ganz bestimmte bedrohliche Situation angemessen und sinnvoll zu reagieren. In Kenntnis solcher Zusammenhänge ist Verständnis für die vorhandenen körperlichen Phänomene ein Leichtes, wird doch schon in der Eigensprache des Patienten auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Das vermeintliche Defizit ist also eine präformierte, überlebenssichernde Ressource und nicht, wie ursprünglich angenommen, eine Erkrankung. Die Nase, Nasenschleimhaut Ein anderes sehr beeindruckendes Sinnesorgan ist die Nase bzw. die Nasenschleimhaut. Menschen, die in klimatisch kalten Zonen leben, sind mit dem Phänomen der verstopften Nase vertraut. Die phylogenetische Bedeutung dieser Verlegung der oberen Atemwege dient der Regulation des Wärmehaushalts der Organismen. Die Nasenschleimhaut ist mit einem dichten Geflecht von Blutgefäßen ausgestattet. Bei niedrigen Umgebungstemperaturen schwillt die Schleimhaut im Sinne einer vermehrten Durchblutung an, die ihrerseits die eintretende kühle Luft intensiver anwärmt, um möglichst wenig kalte Luft in die Lungen eintreten zu lassen. Interessanterweise findet sich das gleiche Phänomen bei Menschen, die – psychologisch gesprochen – einem kalten menschlichen Klima ausgesetzt sind. Dieses Sinnesorgan unterscheidet also nicht zwischen klimatisch bedingter Kaltluft und psychisch bedingter Kälte. In Kenntnis dieser Tatsache wird auch dieses körperliche, automatisierte Phänomen zu einer phylogenetisch begründbaren „Begabung“. Dass bei der Behandlung solcher „Krankheiten“ neuartige Therapieformen notwendig sind, braucht Idiolekta 1/2012

in diesem Zusammenhang nicht mehr gesondert ausgesprochen werden. Herz-Kreislauf-Organe Ängste sind letztlich immer verknüpft mit der Furcht, das Leben zu verlieren. Ängste sind also auch „Impulsgeber“ für ganz bestimmte körperliche, meist vegetative Phänomene. Im Mittelpunkt des Lebens steht das „Zentralorgan Herz“. Seine Tätigkeit ist bekanntermaßen sehr eng verknüpft mit unseren Empfindungen und unseren Ängsten. Nicht von ungefähr kommt dies in der Sprache – in der Eigensprache, im Idiolekt der Menschen – zum Ausdruck. Wie oft hören wir die Aussage: „Das habe ich mir zu Herzen genommen.“ Dieser Satz schließt nahtlos an die Verbindung zwischen Empfindungen (z. B. Ängsten) und dem Herzen an. Unter der oben dargestellten Betrachtungsweise wird ein in der Allgemeinpraxis häufiges „Krankheitsbild“ sehr rasch verständlich: Besteht Furcht, das Leben zu verlieren, werden aus überlebenssichernden Gründen diejenigen Organsysteme aktiviert, die für eine allfällige Flucht dringend gebraucht werden. Dieses Fliehen ist eine Kardinalmöglichkeit für Lebewesen, die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Die wesentlichen körperlichen Voraussetzungen für Flucht sind Blutdrucksteigerung und Erhöhung der Herzfrequenz. Im Extremfall stellt sich eine Phänomenologie ein, die wir üblicherweise als Panikattacke umschreiben. Wird ein solcher vegetativer und vor allem automatisierter Vorgang mit logischen Argumenten kommentiert, fühlt sich der angesprochene Organismus nicht verstanden – es entsteht ein Verwirrspiel, bei dem dem Organismus meist keine Wahl bleibt, als seine Aussagen lauter vorzubringen, das heißt, die „Symptome“ treten verstärkt in Erscheinung. Dies geschieht sehr oft dann, wenn Patienten mit Panikattacken von den behandelnden Ärzten erfahren, es fehle ihnen nichts, alle elektrokardiographischen Resultate sowie alle Laborwerte seien unauffällig bzw. zeigten Normalwerte. Auch die Vorstel24

Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik

lung, die als pathologisch angesehene Herzfrequenzsteigerung könnte mit der gemessenen Blutdruckerhöhung zusammenhängen, ist sehr unbefriedigend, weil sehr wahrscheinlich auch diese Blutdruckerhöhung eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Flucht ist. Das Wissen über die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge dieser beschriebenen Mechanismen befähigt den Behandler, diesen körperlichen Phänomenen in echt respektvoller Haltung zu begegnen, sie zu würdigen und damit Verständnis zu vermitteln. Herzinfarkt als Totstellreflex Der Totstellreflex ist bei einigen Tierarten verbreitet. Er wird dann ausgelöst, wenn für das Beutetier keine Möglichkeit der Flucht vor der Bedrohung des Fressfeindes mehr bleibt. Das Tier erscheint leblos, selbst wenn es vom Fressfeind untersucht und angeknabbert wird (die meisten Raubtiere fressen kein Aas). Dieser Totstellreflex ist dann möglich, wenn die Blutzufuhr zum Zentralorgan des Lebens, zum Herzen, abrupt gedrosselt werden kann. Anatomisch ist dies gewährleistet durch eine ganz bestimmte – nur im Herzen und im Gehirn vorkommende – Kreislaufkonstellation. Bei diesen beiden Organsystemen befinden sich sogenannte Endarterien. Dabei handelt es sich um eine Kreislaufform, die ohne Kollateralen ausgestattet ist. Kollateralen sind Gefäße, die im Falle von Veränderungen der Durchblutung (Blutmehranforderung, Durchblutungshindernisse usw.) einen Umgehungskreislauf z. B. zu unterversorgten Gewebebereichen vornehmen können. Herz und Hirn sind Organe, die erstaunlicherweise trotz ihrer zentralen Bedeutung nicht über die erwähnten Kollateralen verfügen. Der Sinn des endarteriellen Kreislaufs im Gehirn ist nicht bekannt. Hingegen wird am Herzen deutlich, dass diese Kreislaufanatomie der Funktion der Totstellreaktion dient. Totstellen – im Tierreich ein umkehrbarer Prozess (z. B. beim Opossum) – kann beim Menschen zum Herzinfarkt oder zum Sekundenherztod führen. Ein an sich Idiolekta 1/2012

sinnvoller, dem Überleben dienender Mechanismus kann zu einer lebensgefährdenden Reaktion werden. Die Einsicht in diese Dynamik kann bei einem überlebten Herzinfarkt in einer therapeutischen und präventiven Nachbearbeitung zu einem Verständnis der körperlichen Reaktion in bedrohlichen Situationen helfen. Flucht als Ausdruck „innerer Weisheit“ – ein Resultat des Wirkens eines selbst organisierenden Prinzips – wird somit zu einem verständlichen, selbstverständlichen Phänomen. Damit ist auch der notwendige Respekt – die notwendige Würdigung körperlicher „Aussagen“ – gewonnen. Aus diesen Darstellungen wird selbstredend auch einleuchtend, dass eine medikamentöse Behandlung von Panik­attacken nur eine Linderung der Symptome erzielen kann – der Weg ins Rezidiv ist gewissermaßen vorgezeichnet. Die innovative, avantgardistische Interviewform des idiolektischen Gespräches kann in idealer Weise die Rezidivhäufigkeit verringern, „weil sein darf (muss), was ist“. Patienten werden somit die Kenner ihrer aktuellen Situation, die Experten – sie sind für logische Argumente nicht erreichbar (immun). Asthma bronchiale Hierbei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das an den Behandelnden große Anforderungen stellt und gleichzeitig in der Praxis des Allgemeinarztes eine häufige Erkrankung darstellt. Die Unterteilung in allergische, also extrinsisch Formen einerseits und in intrinsische Formen andererseits ist für das Anliegen der Psycho­ somatik hilfreich. Bei beiden Formen handelt es sich um obstruktive Atemwegserkrankungen, die durch eine eingeschränkte Luftströmung in den Atemwegen definiert ist. Eine familiäre Häufung ist bekannt. Mischformen zwischen extrinsischen und intrinsischen Formen sind sehr viel häufiger als rein extrinsische bzw. intrinsische Formen. Die Atmungsbehinderung macht sich insbesondere beim Ausatmen bemerkbar, da der Atemwegsquerschnitt bei der Exspiration geringer ist als bei der Inspiration. Bei der aller25

Hans Hermann Ehrat: Archaische Relikte in der Psychosomatik

gischen (exogenen) Form des Asthma bronchiale ist es sinnvoll, nach den auslösenden Faktoren zu suchen, wie z. B. Pflanzenpollen, Medikamentenunverträglichkeit, Folgen von körperlicher Anstrengung, Refluxkrankheit usw. Die Allergene lösen eine Entzündung der Bronchialschleimhaut aus. Es entwickeln sich Ödeme sowie eine Störung der Schleimproduktion in den Bronchien. In der Folge solcher exogen ausgelösten Bronchialerkrankungen kann eine spastische Verengung der Bronchien beobachtet werden. Dieses Symptom ist sowohl dem extrinsischen wie auch dem intrinsischen Asthma bronchiale eigen. Das intrinsische, funktionelle, nicht allergische Asthma bronchiale beruht sehr oft auf teils bewussten, teils unbewussten Angstsituationen, in denen die betroffene Person wenig Chancen erkennt, die belastende, auslösende Umgebung verlassen zu können. Kasuistik: Eine junge Italienerin, die seit vielen Jahren und zunehmend an invalidisierendem Asthma bronchiale leidet, erzählt über ihre häusliche Situation: Der Ehemann – wesensverändert nach der Entfernung eines Hirntumors sowie aus seiner Grundhaltung als eher despotischer Mensch heraus – lässt seine Frau kaum zu Wort kommen. Vielmehr deckt er sie mit Vorwürfen und Beleidigungen ein. Die Patientin berichtet, wie sie sich immer mehr in sich zurückzieht und immer weniger Gelegenheit findet, ihre Sicht der Dinge darstellen zu können. Der Hinweis seitens des Behandlers, sie habe immer viel mehr hinnehmen müssen, als sie habe von sich geben können, lässt die Patientin im wahrsten Sinne des Wortes »aufatmen«. Dieser Hinweis würdigt und respektiert ihre Situation – in der Folge kann eine Abnahme der Asthmaanfälle beobachtet werden. Sie ahnt, dass „funktionell“ in ihrem Körper nachgeahmt wird, was ihrer äußeren Situation entspricht (nämlich nehmen und nehmen und nehmen und ganz wenig ab- bzw. zurückgeben). Sie ahnt, dass sie unter den gegebenen Umständen die Notwendigkeit des Ausatmens vernachlässigt. Sie freut sich über die Tatsache, dass ihre prekäre Situation so deutlich gesehen wird. In der Idiolekta 1/2012

Folge findet eine Trennung vom Ehemann statt – ein Vorgang, der für konventionell denkende Italiener außerordentlich ist. Das Beschwerdebild ändert sich. Es ist anzunehmen, dass die von mir im Gespräch eingeführte Metapher, nämlich das Sinnbild des immerwährenden Aufnehmens und des wenigen Weggebens, einen hilfreichen AhaEffekt ausgelöst hat. Das Ziel eines eigensprachlich geführten Interviews ist damit vollumfänglich erreicht, zumal der Aha-Effekt eine Zugangspforte zum „selbst organisierenden Prinzip“, zur „inneren Weisheit“ ist. Dieses selbst organisierende Prinzip ist, gemäß den Axiomen zur idiolektischen Gesprächsführung, die einzige Kraft, die Veränderung ermöglicht. Die Begegnung mit der Sinnhaftigkeit eines körperlichen Phänomens hat eine initiatische Wirkung, weil gewürdigt wird, was die körperliche Phänomenologie auszudrücken versucht, weil sie gehört und auch verstanden wird. Verdauungsorgane Bei der vorliegenden Betrachtung wird der gesamte Verdauungsapparat als eine zusammenhängende Einheit betrachtet. Der Beschwerdekatalog umfasst – von oben nach unten beschrieben – einige körperliche Phänomene, die zum Teil bekannt und verständlich sind, und andere, bei denen sich ein weites Feld der Spekulationen öffnet. Schlingbeschwerden Schlingbeschwerden sind in der Praxis des Allgemeinarztes ein häufig anzutreffendes Krankheitsbild – eine Erkrankung, bei der eine eingehende körperliche Untersuchung eine Conditio sine qua non (eine unerlässliche Voraussetzung) ist. Oft sind aber die radiologischen Informationen nichtssagend, hingegen findet sich im idiolektischen Anamnesegespräch eine Mehrzahl von Hinweisen auf die „Pathogenese“ der beklagten Beschwerden. Das Verschlingen von zu großen Brocken löst einen nachhaltigen Schmerz in der 26

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Speiseröhre (Ösophagus) aus, der oft über Tage bis Wochen anhalten kann. Die genau gleiche Symptomatologie findet sich ab und zu bei Patienten, die eben daran sind, einen zu großen Brocken im übertragenen Sinne zu verschlucken. Es entsteht eine Verkrampfung der Speiseröhrenmuskulatur, die derjenigen beim realen Verschlucken von zu großen Brocken gleicht und vor allem auch eine höchst sinnvolle Schutzreaktion darstellt, da sowohl die Ösophagusschleimhaut als auch das Organ an sich eine nicht zu unterschätzende Verletzlichkeit aufweisen. Besonders bei diesem „Krankheitsbild“ verwenden die Patienten sehr oft eine auffällige Organsprache, indem sie von einem sehr großen, nicht hinunterzubringenden Brocken sprechen. Schmerzhafte Schließmuskelkrämpfe Eine ähnliche Phänomenologie wie die oben genannte Verschließungsreaktion der Nasenschleimhäute bei Kälte begegnet uns im Analbereich im Zusammenhang mit wahrgenommenen Bedrohungen. Die Analmuskulatur verschließt anfallsweise und krampfartig den Ausgang des Enddarmes. Dieses Körperphänomen wird als Proctalgia nocturna bezeichnet – eine vor allem nachts auftretende sehr schmerzhafte Beschwerde. Diese Reaktion des Enddarmes ist bei Menschen zu beobachten, die unter großer Anspannung und Druck oder unter unterdrückten inneren Aggressionen leben müssen. Nach A. D. Jonas ist dieses krampfartige und anfallsweise Verschließen des Enddarms vergleichbar mit dem „Luken schließen“ eines Ozeandampfers bei herannahendem Sturm. Es stellt sich dann sofort die Frage, woher der Sturm kommt – wobei es sich als sinnvoll erwiesen hat, die Betroffenen zu fragen, woher der Sturm kommt. Diese idiolektische Explorationsform wird von A. D. Jonas als die metaphorische bezeichnet. Eine solche Anamneseform verlangt vom Behandler die Fähigkeit, „angemessene“ Bilder einführen zu können. Erstaunlicherweise wird von den meisten Patienten die Metapher des sturmbedrohten Idiolekta 1/2012

Dampfers aufgenommen, und wir hören die Erklärung, was dieser Sturm im Leben des Patienten darstellt. Erkrankungen der Magen- und Duodenalschleimhaut „Meine derzeitige Situation liegt mir wie ein Stein im Magen“ ist eine Äußerung, die allen Ärzten vertraut ist. Soll unser Magen und auch unser Zwölffingerdarm „Steine“ verdauen, wird eine sehr große Menge von Magensäure benötigt. Gerade die beiden erwähnten Organsysteme übernehmen eine solche Aufgabe mit Hingabe, ohne darauf zu achten, ob realiter ein Verdauungsprozess angesagt ist oder nicht. Ihre automatisierten, autonomen Steuerungssysteme funktionieren bei der bloßen Vorstellung einer solchen Aufgabe adäquat – es wird „sinnvollerweise“ eine überschießende Menge von Verdauungssäften produziert. Gleichzeitig findet in dieser Situation kein reales Angebot von Speisen statt, dadurch werden die eigenen Organstrukturen in den Verdauungsprozess miteinbezogen – und entsprechend geschädigt. Das eigensprachlich geführte Interview wird sich mit Vorteil der Beschreibung des erwähnten Steines zuwenden – es werden dadurch für den Betroffenen Einsichten in Zusammenhänge eröffnet, die die Sinnhaftigkeit der beklagten Beschwerden deutlich macht. Der Magen oder das Duodenum des Patienten verhalten sich – unter dem Aspekt dieser Einsicht – vollkommen adäquat, und es wird auch verständlich, dass sie sich so und nicht anders verhalten müssen. Die Eigensprache – der Idiolekt – des Patienten zeigt von Anfang an auf, was in seinem Organismus ablaufen muss, und sie weist auf die Unumgänglichkeit beschriebener Phänomene hin. Diese Einsicht entspricht einem echten Verständnis, das, wie schon in anderem Zusammenhang aufgezeigt, für eine sehr unangenehme und belastende Körperreaktion eine ganz „neue“ Erklärungsmöglichkeit bietet. Der „Stein im Magen“ wird sich dabei zunächst 27

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nicht verändern. Verändern wird sich die Vorstellung davon, welche Reaktionen ein Stein im Magen auslösen muss. Bewegungsapparat Alle unsere Bewegungen kommen durch das Zusammenspiel von Nervensystem und Muskulatur zustande. Am Bewegungsablauf sind neben Muskulatur und Nervensystem auch Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder beteiligt. Stützgerüst des Bewegungsapparates ist die Wirbelsäule, die das zentrale Stützorgan des Skelettes überhaupt darstellt. Wesentliche Bausteine der Wirbelsäule sind die Wirbelkörper, die Zwischenwirbelscheiben sowie Bandapparat und Wirbelgelenke. Die Wirbelsäule ermöglicht: 1. den aufrechten Gang, 2. optimale Beweglichkeit der oberen Extremitäten, 3. das Auffangen von Erschütterungen durch Elastizität und 4. durch entsprechende Krümmungen der Wirbelsäule = Lordosen, Kyphosen und Skoliosen. Der ganze Apparat der Bewegungen wird durch willkürliche – bewusst gesteuerte – Muskelbewegungen ermöglicht. Alle Skelettmuskeln stehen unter einem Spannungszustand, Tonus genannt, der durch abwechselnde Kontraktionen einzelner Muskelfasern entsteht. Auch dieser Muskeltonus unterliegt der nervlichen Steuerung. Störungen des Muskeltonus sind bekannt, wobei sowohl ein verminderter wie auch gesteigerter Muskeltonus als kennzeichnend für bestimmte Erkrankungen gilt. In der folgenden Betrachtung geht es um muskuläre Phänomene, die – unbewusst – willkürliche Muskulatur aktivieren und die vor dem Hintergrund von „echten“ oder auch „vermeintlich echten“ Aufgabenstellungen entstehen. Die Organsprache des Bewegungsapparates ist eine sehr deutliche, und sie weist direkt auf die aktiven – auch überaktiven – Muskelgruppen, die für die intendierte Leistung unabdingbar benöIdiolekta 1/2012

tigt werden. Spricht ein Patient über seine Eigenschaft, bei allen Dingen hartnäckig zu sein und auch immer wieder zu versuchen, „mit dem Kopf durch die Wand“ gehen zu wollen, sind zwei Hinweise auf die zurzeit aktivierte Nackenmuskulatur gegeben worden. Die klinische Untersuchung solcher Patienten – meist in Behandlung wegen Spannungskopfschmerz, Tinnitus, Druck hinter den Augen u. v. a. m. – zeigt in vielen Fallen eine „Verspannung“ der paravertebralen Muskulatur im Nacken- und Halsbereich, also jener Muskelstränge, die seitlich und längs der Wirbelsäule verlaufen. Im eigensprachlichen Interview wird oft und rasch deutlich, dass es für den Patienten wichtig, lebenswichtig, vielleicht überlebenswichtig ist, ein solch hartnäckiges Verhalten zur Verfügung zu haben: Er hat für sein Verhalten Gründe, „gute Gründe“, d. h., bei der Bewältigung der Anforderungen seines Lebensweges hat es sich als hilfreich erwiesen, hartnäckig zu sein – und nur dieses Verhalten hat sich als überlebenssichernd erwiesen. Fatalerweise wird dann oft und ohne Würdigung der Bedeutung eines solchen Verhaltens eine Entspannungsbehandlung eingeleitet. Einem archaisch begründeten, automatisierten Verhalten der betroffenen Muskelgruppe wird damit bedeutet, dass die vorliegende Leistung nicht sinnvoll und auch schädigend ist. Dabei ist es unbestritten, dass eine organische Schädigung aufgrund solcher „hypertoner“ Muskelaktivierung eintreten kann. Dies geschieht aber im „Auftrag“ einer ganz anderen, bedeutungsvollen Aktion. Hauterkrankungen Hauterkrankungen sind in der allgemeinärztlichen Tätigkeit sehr häufig anzutreffen. Ebenso häufig bleibt die Klärung der Entstehungszusammenhänge solcher Erkrankungen verborgen. Nach einer Hypothese von A. D. Jonas (Seminar in Bad Grönenbach, 1985) sind entlang den zentripetalen, sensiblen Bahnen auch antidromale Phänomene zu beobachten. Diese antidromal 28

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verlaufenden Erregungsleitungen transportieren nach seiner Erkenntnis „Abfallprodukte“ des ZNS an die Körperoberfläche und verursachen dort verschiedenartigste Exanthemformen. Kasuistik: Eine 70-jährige Patientin, die vor zwei Jahren zu einem Dermatologen überwiesen wurde, erscheint zur Blutdruckkontrolle in meiner Sprechstunde. Auf meine Frage, wie es mit ihrem Hautausschlag stehe, sagt sie resigniert, der Hautarzt versuche schon seit langer Zeit verschiedenste Medikamente und Salben, es sei aber nie eine Abnahme der Beschwerden eingetreten. Ohne Aufforderung beginnt sie dann, von ihrer Herkunftsfamilie zu erzählen. Am meisten habe sie immer unter ihrem Stiefvater gelitten, und es sei für sie sehr schmerzlich, sich vorzustellen, wie schwer das ganze Leben für ihre Mutter gewesen sein musste. Zwei Wochen nach diesem „Erstgespräch“ meldet mir die Patientin eine deutliche Besserung ihres Hautausschlages. Im eigensprachlichen Interview wird dieser Aspekt noch einmal deutlich herausgearbeitet. In einer anschließenden systemischen Betrachtung in der Form einer Familienaufstellung ergibt sich folgende Szene: Stellvertreterin der Mutter sagt zum Stellvertreter des Stiefvaters: „Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich gar nicht leben können.“ Diese „Szene“ ist für die Patientin eine ganz große Überraschung: „So habe ich mir das nicht vorgestellt“, ist ihr Kommentar, „so habe ich das ganze Leben unter einer falschen Annahme verbracht.“ In der Folge kann ein deutlicher Rückgang des Exanthems festgestellt werden, nach zwei Wochen erzählt mir die Patientin – übrigens ohne sich zu wundern –, das Exanthem sei jetzt vollständig verschwunden. In diesem Fallbeispiel ist nicht nur der aufgetretene Effekt bemerkenswert, sondern vor allem die Tatsache, dass es ätiologisch für einen Arzt, für einen Therapeuten unmöglich ist, ohne das Instrument der Eigensprache den Patienten zu einem Aha-Erlebnis bezüglich seines Beschwerdebildes zu führen. Die Öffnung des Tores zum Verstehen und zum Verständnis kann nur durch Idiolekta 1/2012

die Betroffenen selbst erfolgen: „Medicus curat, natura sanat – der Arzt sorgt [der Arzt benutzt eine ganz umschriebene Interviewtechnik], die Natur heilt [durch das idiolektische Interview wird es den Menschen ermöglicht, ihrer inneren Weisheit, ihrem selbst organisierenden Prinzip zu begegnen].“ An diesem Beispiel wird sehr deutlich, was mit dem Expertentum der Patienten gemeint ist. Nach einer gängigen Definition sind Experten Menschen, die eine ganz eigene Sprache sprechen. Diese Sprache ist nur denjenigen verständlich, die diese Sprache gelernt haben. Die Eigensprache ist nur denjenigen verständlich, die gelernt haben, wie diese eigene Sprache jedes Menschen verstanden werden kann.

Einige psychiatrische Krankheitsbilder und ihre archaischen Wurzeln Angsterkrankungen Angst ist das Phänomen menschlichen Seins, das als „Signal“ vor Gefahren generell warnt – es ist gewissermaßen ein „normales Grundgefühl“ und jedem Menschen bekannt. Unsere Sinnesorgane nehmen Signale auf, die Angst mehr oder weniger ausgeprägt evozieren. Lebewesen haben grundsätzlich drei Möglichkeiten, auf Bedrohungen zu reagieren, nämlich durch: 1. Flucht, 2. Kampf, 3. Schreckstarre. Flucht ist nur möglich, wenn der Organismus entsprechende und adaptive Körperreaktionen aktiviert. Dazu gehören: Blutdruckerhöhung, Anstieg der Pulsfrequenz, Schweißproduk­ tion, zunehmende Muskelspannung, eventuell Entleerung des Magen-Darm-Traktes. In der gleichen Weise werden zur Vorbereitung einer Kampfhandlung körperliche Reserven entsprechend mobilisiert. Hierbei kann es zu reflektorischen Verkrampfungen der Rippenmuskulatur kommen, die sich bemüht, den Brustkorb zu 29

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verfestigen, um darin befindliche lebenswichtige Organe zu schützen. In der Praxis berichten Menschen dann oftmals über Schmerzen in der Brustregion, die so massiv sein können, dass man sie mit einem Herzinfarkt verwechselt; sie müssen natürlich dahin gehend abgeklärt werden. Interessanterweise liefert das eigensprachliche Interview in vielen Fällen bereits die wichtigsten Hinweise. Die Schreckstarre stellt eine „mildere“ Form des im Zusammenhang mit dem Herzen geschilderten Totstellreflexes dar: in bedrohlichen Situationen zu erstarren, um vom Fressfeind übersehen zu werden. Patienten berichten im Zusammenhang mit Angsterleben davon, „wie gelähmt zu sein“, oder von verschiedenen Verkrampfungen der Extremitäten und des Brustraums (sowie Einschränkung der freien Atmung), die die Mobilität und somit das durch-Bewegung-erkannt-Werden verhindern. Phobische Erkrankungen Dazu zwei Beispiele für Klaustrophobie und Agoraphobie. Klaustrophobie Die Klaustrophobie – Angst in engen Räumen – ist archaischerweise ein überlebenssicherndes Phänomen, weil für Lebewesen in der freien Wildbahn das Fehlen von Fluchtmöglichkeiten eine lebensbedrohliche Situation darstellt. In dieser Lage des Eingeschlossenseins werden alle vegetativen Phänomene, die Flucht ermöglichen, sofort in Gang gesetzt. Es handelt sich also bei den „Symptomen“ der Klaustrophobie um Körperphänomene, die Flucht erst ermöglichen. Die Symptome sind also sinnvoll, notwendig und automatisiert. „Was ist das Gute daran, wenn Sie sich in offenen Räumen befinden“ lautet eine klassische und ressourcengerichtete Frage im eigensprachlichen Interview. Idiolekta 1/2012

„Ich kann dann jederzeit an einen anderen Ort gehen, das ist für mich erleichternd und hilfreich.“ Diese Antwort des „Klaustrophobiepatienten“ ist für ihn selber einleuchtend und stellt die beklagten Symptome in ein anderes „Licht“. Er zeigt sich gewissermaßen selber – ein sogenannter AhaEffekt –, wie wichtig es für ihn ist, „weite Räume“ aufzusuchen. Die Erklärung des Behandlers, wie physiologisch richtig, sinnvoll und automatisiert seine Körperreaktionen in engen Räumen sind, ist eine Würdigung der Symptome, eine Würdigung, die Verständnis ermöglicht. Wie in vielen Fällen wirkt auch hier wieder das Verständnis im Sinne eines Von-sich-selber-verstanden-wordenSeins. Agoraphobie Agoraphobie – Angst vor offenen Plätzen – ist wie die Klaustrophobie unter die archaischen Relikte einzuordnen. Patienten, die unter solchen Ängsten leiden, beschreiben sehr deutlich, wie sie große, offene Platze immer den Rändern nachgehend „überqueren“. „In der freien Wildbahn überqueren nur unkluge Lebewesen eine Lichtung auf dem direkten Wege“, ist meine Bemerkung gegenüber dem Patienten, und er erkennt, dass er, einem biologischen Sinn folgend, etwas Richtiges tut, wenn er große Plätze immer indirekt überquert. Dieser Hinweis ist sowohl eine Würdigung des Verhaltens wie auch eine Würdigung der Körperreaktionen, die sich zeigen, wenn die „Gefährlichkeit“ einer „Direktüberquerung“ einer Lichtung bzw. eines großen Platzes missachtet wird. Auch in diesen Fällen wird nach derartigen Gesprächen oft eine Abnahme der Symptomatologie beobachtet, während dem Betroffenen klar wird, wie richtig sein Organismus funktioniert. Die idiolektische Gesprächsführung, die von der Sinnhaftigkeit der Körperphänomene ausgeht, bewirkt vor allem durch die veränderte Eigenbeurteilung der störenden Körperphänomene eine Erleichterung. Anstelle von „Defiziten“ erleben betroffene Patienten die Bedeutung und die Sinn30

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haftigkeit von primär unverständlichen körperlichen Phänomenen. Die posttraumatische Belastungsstörung Der Umgang mit diesem Krankheitsbild ist neuerdings zur täglichen Herausforderung für Behandler geworden. Das idiolektische, eigensprachliche Interview ermöglicht Einsichten in ein Zustandsbild, das im konventionellen Gespräch oft unverständlich ist. Ein Mazedonier, der auf einer Baustelle von einem Albaner in mörderischer Absicht angeschossen wurde, leidet in der Folge unter diesem vielgestaltigen und prima vista schwer verständlichen Krankheitsbild, das folgende Kardinalsymptome aufweist: 1. depressive Verstimmung 2. Unfähigkeit, einer geregelten Arbeit nachzugehen 3. Atemnot 4. praecordiale Schmerzzustände 5. Abdominalschmerzen 6. Muskelschwäche etc. Im idiolektischen Interview erwähnt der Patient ein Bild, „Angeln am See“, dem das Gespräch folgt. Vordergründig handelt es sich bei einer solchen Tätigkeit um eine entspannende, erholsame Betätigung, die dem betroffenen Patienten bis dato viel Freude machte. Jetzt fällt ihm selber auf, dass sich diese Freude und Entspannung nicht mehr einstellen. Im Gegenteil, bei dem von ihm so sehr geschätzten Sport fühlt er sich aufs Äußerste angespannt, und er bemerkt, dass seine Aufmerksamkeit maximal eingesetzt wird. Er beschreibt, dass allein schon das Rascheln eines herunterfallenden Blattes ihn in Panik versetzt, es treten Schweißausbrüche auf, und gleichzeitig bemerkt er ein sehr unangenehmes Herzrasen. Später stellen sich praecordiale Schmerzen ein, oft begleitet von sehr störenden Bauchschmerzen. Sein intrapersoneller Dialog zielt auf Beruhigung und auf eine Argumentation, die einer Verurteilung seiner Befindlichkeit gleichIdiolekta 1/2012

kommt, vor allem mit dem Hinweis, es bestehe doch absolut keine Notwendigkeit für solche übertriebenen Reaktionen. Auffallend an dieser Symptomatologie ist, dass alle körperlichen „Botschaften“ zum Katalog der archaischen Relikte gehören. Überlebenssichernde körperliche Phänomene sind absolut und verständlicherweise im Vordergrund – anamnestisch bestand ohne Zweifel eine lebensbedrohliche Situation. Anlässlich meiner psychotherapeutischen idiolektischen Gespräche zeigt sich immer das gleiche Phänomen. Der Patient berichtet über die große Erleichterung, die sich einstellt, wenn er verspürt, wie verständnisvoll ich, im Gegensatz zu ihm selber, mit seinen „körperlichen Aussagen“ umgehe. Alle von ihm beklagten Beschwerden sind körperlich präformierte und automatisierte Reaktionen seines Organismus auf das unbewältigte und nicht zu bewältigende Ereignis, das zu dem umfassenden Beschwerdebild geführt hat. Im konventionellen Behandlungsgespräch wird immer wieder versucht, dem Patienten klarzumachen, dass das zurückliegende Ereignis jetzt keine oder nur wenig Bedeutung habe. Er selber bringt sich immer wieder dazu, mit neuem Impetus eine ihm gestellte, oft sehr kleine Aufgabe zu bewältigen. „Ich bin absolut in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen – das kann doch für mich gar keine Schwierigkeit sein“ sind die regelmäßigen Aussagen des Patienten zu sich selber. Seine organische Reaktion zeigt aber das absolute Gegenteil. Anstelle des erhofften Resultates, anstelle eines Erfolgserlebnisses treten körperliche Beschwerden, wie oben beschrieben, auf, und es stellt sich eine eigenartige Reaktion ein, die einem beginnenden Winterschlaf gleicht. (Der Patient benennt diesen Zustand: Ruhestand.) Auch dieses Phänomen gehört wiederum zu den archaischen Relikten. Die permanente Forderung, wenigstens eine Teilleistung zu erbringen, ist einem psychischen „Kälteeinbruch“ vergleichbar – in der phylogenetischen Betrachtung eine für gewisse Lebewesen zwingende Situation, den „Winterschlaf “ einzuleiten. Es ist äußerst hilfreich, zu realisieren, dass Menschen 31

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die Fähigkeit, einen „Winterschlaf “ auszulösen, nicht verloren haben, sie erleben einen Zustand, der logischem Denken nicht zugänglich ist.

Zusammenfassung Die hier geschilderte Erkenntnis bezüglich archaischer Relikte und Sinnzusammenhängen in Verbindung mit der Symptomatik ist eine unabdingbare Voraussetzung beim Umgang mit betroffenen Patienten, weil die Phänomenologie aller „Beschwerden“ ein Ausdruck der „inneren Weisheit“ des Organismus im Hinblick auf sein Überleben ist. Der repetitive Versuch, solche Patienten mit logischen und absolut verständlichen Argumenten zu „rehabilitieren“, kann nachhaltig schädigend sein, während die hier beschriebene Vorgehensweise einen innovativen Einblick in psychogen induzierte Verhaltensmuster phylogenetischer Herkunft vermittelt.

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Es ist anzunehmen, dass der Katalog archaischer Relikte weit umfassender ist, als bisher von Jonas und Jonas (1977, 1985) beschrieben. Für Ärzte und Psychotherapeuten, die psychosomatisch Kranke betreuen, ist die Kenntnis archaischer Relikte oft hilfreich beim Verstehen unverständlicher somatischer Phänomene. Die Kenntnis dieses Spektrums archaischer Reaktionen ist notwendig, will man verstehen, wie oft körperliche Phänomene nicht pathologisch, nicht defizitär, sondern in Wahrheit somatische Fähigkeiten sind, die es ermöglichen, ganz bestimmte Situationen eben auch ganz umschrieben körperlich zu „beantworten“. Literatur: Jonas, A. D., Jonas, D. F., (1977): Signale der Urzeit – Archaische Mechanismen in Medizin u. Psychologie, 2008: Würzburg, Huttenscher Verlag 507 Jonas, A. D., 1985: Orientierungshilfen zur Psychotherapie in der Allgemeinpraxis - archaische Relikte in psychosomatischen Symptomen, Gräfelfing: Sociomedico

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Unsere nächsten beiden großen Veranstaltungen: Jahrestagung am 17.–19. 5. 2012 in Würzburg Sommerwerkstatt am 11.–14.07.2012 in Gupf-Stein/AR

Vorankündigung

Jahrestagung 2013 „Evolutionäre Psychosomatik“ und 100. Geburtstag A. D. Jonas A. D. Jonas war sicher einer der ersten Psychotherapeuten, der evolutionäre Aspekte des psychosomatischen Geschehens aufgenommen und zahlreiche Publikationen und Lehrvideos hinterlassen hat. Die Gesellschaft für Idiolektik® und Gesprächsführung hat die Tradition von A. D. Jonas fortgeführt: Psychosomatik spielt eine äußerst wichtige Rolle und bildet ein wesentliches Fundament der Idiolektik. Es gab bisher keine Jahrestagung ohne psychosomatische Seminare und Bezüge zur evolutionären Psychosomatik. Der 100. Geburtstag von A. D. Jonas ist ein willkommener Anlass, das Thema in den Fokus zu setzen und die Komponenten der Idiolektik und

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der Evolution in Bezug auf Psychosomatik besonders darzustellen und zu würdigen. Wir haben eine Reihe wichtiger internationaler und nationaler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu diesem Thema eingeladen und hoffen, Ihnen einige präsentieren zu können. Ich möchte Sie alle auffordern, sich diesen Termin vorzumerken, um ein wichtiges Ereignis im Jahr 2013 nicht zu versäumen: die 28. Jahrestagung der Gesellschaft für Idiolektik® und Gesprächsführung zum Thema „Psychosomatik“ vom 9.–11. 5. 2013. Horst Poimann

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Magdalena Bork

Arts & Sciences in Action

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Abschluss-Symposium: „Arts & Sciences in Action!“

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27. / 28. Januar 2012 Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Anton-von-Webern Platz 1, 1030 Wien, Clara Wieck-Schumann-Saal

Denn nur scheinbar gut eingebettet in die Wiege der klassischen abendländischen Musik, fühlte sich die Ausbildung für viele MusikerInnen im Kontext heute veränderter Marktbedingungen aber tatsächlich eher wie eine harte Pritsche an: Leistungsstreben, Konkurrenzdenken, Perfek­ tionismus, Versagensangst – nicht gerade Stoff, aus dem sich Berufsträume gut weben l­assen. Und so zog Quo-Vadis aus, Freiräume zu kreieren, in denen die eigene Musik zum Sprechen und die eigene Sprache zum Klingen gebracht werden konnte: mit den Methoden des freien kreativen Spiels (Freie Improvisation) und der idiolektischen Gesprächsführung.

freiTAg 27. JAnuAr 2012 14:00 uhr Beginn EinführungSpErformAncE (Bork/ehrat/gagel/gstättner/Mütter/röbke) 15:00–18:00 uhr

fünf SpiELrÄumE improviSATion und inSpirATion (gstättner/Preisl/Weinhuber) EnSEmBLE improviSATion (gagel) idioLEKTiK pur (ehrat/Poimann) EigEnSprAchE im SprEchEn und muSiZiErEn (Bork/Cincera/Krüger) frEirAum (Badura/Cruz)

19:30–22:30 uhr

ÖffEnTLichES KonZErT Joseph Haydn-saal Axis-duo * osojnik/flunger * Lava * pago Libre/Shilkloper

sAMsTAg 28. JAnuAr 2012 10:00 uhr

drEi dEnKrÄumE (Badura&gstättner/Bork/gagel)

12:00 uhr

pETiTE mATinÉE Musikbeitrag vom Quo Vadis-Projektensemble

14:00 uhr

ÖffEnTLichE ABSchLuSSprÄSEnTATion Das Quo Vadis-Projektteam performt die forschungsergebnisse

15:30 uhr

ZuKunfTSrAum impulse für die Ausbildung einer neuen generation von Musikerinnen

modErATion:

Peter rÖBKE

miT:

Magdalena BorK * Helena gAunT * Barbara giSLEr * urban mÄdEr * leonhard pAuL * lorenz rAAB * rineke SmiLdE * Petra STump * ulrike Sych

Bild 1: Bertl Mütter/Einführungsperformance

WEiTErE informATionEn: www.quovadisteufelsgeiger.at AnmELdung (begrenzte Teilnehmerinnenzahl): www.musiceducation.at/termine miTvErAnSTALTEr: plattform für künstlerische forschung Österreich (pArA) Quo vadis, Teufelsgeiger? is funded by the Austrian science fund (fWf): Ar 8-g21

Künste und Wissenschaften sind an einem schönkalten Januar-Wochenende an der altehrwürdigen Wiener Musikuniversität gehörig und hörbar in Bewegung geraten: Mit viel Spiel, Klang, Raum, Geist und Gefühl, Eigensprache und Musik beging das Forschungsprojekt „Quo vadis, Teufelsgeiger?“ sein Abschluss-Symposium. Dutzende neugierige Menschen mit bunten fachlichen Hintergründen kamen zusammen, um zwei Tage lang zu schauen, zu hören, zu erfahren und miteinander zu erleben, was das Quo-Vadis-Labor zwei Jahre lang jungen MusikerInnen angeboten hat, um die Suche nach ihrem eigenen Ton, nach ihrer musikalischen Eigensprache zu unterstützen. Idiolekta 1/2012

Bild 2: Hans Hermann Ehrat/SpielRaum „Idiolektik Pur“

Unsere Leitidee war, mit eigenem Beispiel voranzugehen – wir (das Projektteam Reinhard Gagel, Maria Gstättner und ich) haben niemanden beforscht, niemanden unterrichtet, niemandem etwas beigebracht, sondern haben gemeinsam Er35

Aktuelles · Neuigkeiten · Termine fahrungen gesammelt, Gestalten kreiert und uns gegenseitig Fragen gestellt – so oft, kurz, einfach und konkret wie möglich. Dabei legten wir den Fokus auf das Selbst, die eigene Zuwendung, den eigenen Körper als Ressource und vor allem auf all das, was man schon kann. Unser „Arbeitsmaterial“ war stets das Können der MusikerInnen und das, was da ist und uns hier und jetzt Rückenwind geben kann für einen neuen, anderen, vielleicht gar tänzerischen Schritt.

und dabei vielleicht etwas zu entdecken, was einen anzieht und anspricht – und möglicherweise das wieder in der Hand zu spüren, was einem Mut, Kraft und Zuversicht gibt.

Bild 5: Horst Poimann / SpielRaum „Idiolektik Pur“

Bild 3: Magdalena Bork / SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“

wir haben getan und tun lassen wieder Kind sein lassen: spielen, staunen sich einlassen sich mitreißen lassen den Körper spüren und tanzen lassen den Moment spielend fassen

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht – im Projekt wie im Symposium – Raum und Räume zu schaffen, in denen der Funke überspringen kann – von Idee zur Kreation, vom Instrument zu seiner Spielerin, von Inspiration zur Begeisterung am eigenen Schaffen. Dafür war es oft hilfreich, das angestammte – mit Erwartungen und Ansprüchen gepflasterte, durch über Jahre eingebläute (vermeintliche) Qualitätsstandards beschränkte, von Enttäuschung und Kränkung gesäumte – Terrain zu verlassen, um in andere Welten, andere künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten einzutauchen: Wir ließen die MusikerInnen tanzen, malen und darstellen, also sinnliche Erfahrungen machen, die erst jenseits des Bewertungsschemas gut oder schlecht ihre Wirkung entfalten konnten. Künstlerische Erfahrungen, in denen sich zeigt, was (s)ich mitteilen will.

Bild 4: Andreas Cincera und Magdalena Bork / SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“

Im Quo-Vadis-Projekt ging es darum, Potentiale zu entfalten, die eigene Spur (wieder) zu finden Idiolekta 1/2012

Bild 6: SpielRaum „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Am ersten Tag des Symposiums standen den Besuchern fünf Erfahrungsräume – SpielRäume – zur eigenen Auswahl, in denen es um Ensemble-Improvisation, Inspiration und Sinnlichkeit (Malen, Tanzen und Spielen), Freiheit (das Entfalten aus dem puren Sein) und Eigensprache ging. Das Interesse an der Eigensprache war besonders groß, in beiden SpielRäumen zu diesem Thema funkelten viele Augenpaare einander an, und schlackerten viele Ohren ob der Wirkung eines kurzen Gesprächs über … Schuhe (!) oder eines sphärisch über den Raum schwebenden, gerade eben von der Gruppe selbst erfundenen Klangs. Der erste Tag endete mit einem vielfältigen Improvisationskonzert, in dem vor allem die vier u. a. Alphorn blasenden MusikerInnen der Gruppe Pago Libre nicht nur die Herzen der alpenländisch-affinen ZuhörerInnen im Nu zu erobern vermochten. Am zweiten Tag, an dem die Erfahrungen des Freitags in den DenkRäumen gemeinsam reflektiert werden konnten, schienen die Wörter Eigensprache und Idiolektik zum Grundvokabular der BesucherInnen geworden zu sein. Nach einer aufwühlenden Abschluss-Performance über die Projekt-Erkenntnisse ging das Symposium mit einem Visions-Podium, das nicht mehr zögern musste, für Ermutigung, Angstfreies Studieren und Ganzheitliche MusikerInnen-Ausbildung die richtigen Worte zu finden, zu Ende. Es war unüberhörbar und bleibt unübersehbar: in Wien hatten die IdiolektikerInnen gut lachen.

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Bild 7: Horst Poimann und Hans Hermann Ehrat / SpielRaum „Idiolektik Pur“

Ich danke allen IdiolektikerInnen, die mich inspiriert haben, die zu sein, die ich bin und das zu tun, was ich tue. Ich danke vor allem Hans Hermann Ehrat, Horst Poimann und Andreas Cincera für das Leiten der SpielRäume „Idiolektik Pur“ und „Eigensprache im Sprechen und Musizieren“ und der gesamten Graduierten-Gruppe für ihr mich und die Idiolektik wunderbar unterstützendes Da-Sein an diesem besonderen Wochenende in Wien. Einen eigen-sprechenden und eigen-klingenden Abschluss-Film und ein kleines und feines WDR3 Interview zum Symposium wie auch alle weiteren Informationen über das abgeschlossene Projekt finden Sie unter: www.quovadisteufelsgeiger.at Das Projekt wurde gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF).

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Tilman Rentel

Selbstheilungskräfte im Gespräch – Eigensprache. Ressourcen. Resilienz Bericht von der Idiolektik-Veranstaltung im Klinikum Nürnberg im Februar 2012

Und jedem Menschen wohnt ein Zauber inne, der ihn beschützt und der ihm hilft, zu leben. frei nach Hermann Hesse

Am 17./18. Februar 2012 fand am Klinikum Nürnberg inzwischen zum siebten Mal eine Veranstaltung zum Kennenlernen und Vertiefen der idiolektischen Gesprächsführung statt. Als Organisator dieser Veranstaltung habe ich mich sehr gefreut, dass im Herbst letzten Jahres spontan 6 Dozent/innen zugesagt hatten. Denn es kamen dieses Mal am Freitag Abend für den Einführungsvortrag und die anschließenden Übungsrunden ca. 100 Teilnehmer/innen, so dass nach einer Einführung und zwei kommentierten Beispielgesprächen im Plenum Christa Olbrich, Anna Karin Engels zusammen mit Kerstin Happich, Peter Winkler, Daniel Bindernagel, Horst Poimann und ich alle „Ohren voll“ zu tun hatten, die TeilnehmerInnen in ersten und hoffentlich nicht letzten Übungsgesprächen zu begleiten. Besonders erfreulich war, dass ca. ein Drittel der Idiolekta 1/2012

TeilnehmerInnen Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen des Klinikums waren, so dass auf diesem Wege das achtsame Wahrnehmen der Eigensprache im Umgang mit Patienten und Angehörigen gefördert werden konnte. Etwa 50 TeilnehmerInnen nutzten dann am Samstag die Gelegenheit, einen ganzen Tag bei zwei weiteren Dozenten Erfahrungen mit der Methode in der Praxis zu sammeln. Insbesondere der supervidierte Praxisanteil der Fortbildung wurde von den TeilnehmerInnen sehr positiv aufgenommen. In den Seminargruppen und in den Pausen herrschte ein angeregter Austausch und die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen im Abschlussplenum waren sehr ermutigend, diese Veranstaltung auch in den kommenden Jahren fortzusetzen. Inhaltlich möchte ich ein paar Gedanken zum Titel der Veranstaltung teilen, mit der die TeilnehmerInnen am Freitag Abend in das Thema eingeführt wurden. Hätte der Mensch den ihm innewohnenden „Zauber“ der eigenen Selbstheilungskräfte nicht immer wieder unterstützt von einer beschützenden menschlichen Gemeinschaft erlebt, wäre er längst ausgestorben. Diese Tatsache in umgekehrter Richtung gedacht würde nahelegen, Menschen, die um ihr (Über)-leben kämpfen, im Gespräch beizustehen und zu versuchen, ihnen diese Kräfte wieder zugänglich zu machen.

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Ein Beispiel aus meiner derzeitigen Tätigkeit auf einer internistischen Krebsstation, wo wir eine Gruppe schwer körperlich erkrankter Menschen, die zusätzlich an Ängsten, Depressionen oder chronischen Schmerzen leiden, intensiv psychotherapeutisch begleiten: Frau S. (75 Jahre) litt seit einem Jahr unter täglichen Schmerzen im Bereich des Enddarms verbunden mit häufigem Stuhldrang. Dies habe dazu geführt, dass die früher aktive Patientin kaum mehr von zuhause fortgegangen war und soziale Kontakte stark eingeschränkt habe. Begonnen habe die Schmerzsymptomatik, als sie vor einem Jahr wegen plötzlich aufgetretener stechender Schmerzen im Bereich des Enddarms zur stationären Diagnostik ins Krankenhaus eingeliefert worden war und bei der anschließenden Diagnostik ein Rezidiv ihrer vor 8 Jahren erfolgreich behandelten Brustkrebserkrankung festgestellt wurde, und zwar mit Metastasen in Leber, Kleinhirn und Wirbelkörpern. Dies sei für die Patientin ein Schock gewesen. Seitdem seien die Schmerzen nicht mehr zurückgegangen, obwohl die inzwischen durchgeführte ausführliche medizinische Diagnostik keine organischen Ursachen für die Symptomatik benennen konnte. Die Patientin war hierüber verständlicherweise sehr verzweifelt, da sie große Hoffnung hatte, dass die Ärzte ihr die Schmerzen würden nehmen können. Sie war zunächst einer psychotherapeutischen Behandlung ihres Leidens sehr skeptisch gegenübergestanden, da sie sich nicht vorstellen konnte, wie Gespräche einen Einfluss auf die täglichen schwerwiegenden Schmerzen haben könnten. In einer der ersten Kontakte ergab sich folgendes Gespräch (welches ich sinngemäß aus der Erinnerung niedergeschrieben habe): Wie kann ich mir Ihre Schmerzen vorstellen? Das ist so ein Druckgefühl. Was könnte so ein Druckgefühl hervorrufen?

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Das weiß ich ja selbst nicht! Wenn wir uns das versuchen würden bildlich vorzustellen, diesen Druck, wäre der eher von innen nach außen oder von außen nach innen, oder wie ist das? Naja, das wäre so als wenn da zwei Balken etwas Weiches in der Mitte zusammenpressen. Wie geht das? Es ist so ähnlich, als würden diese Balken mit so Schraubzwingen zusammengepresst. Solche nimmt mein Mann immer, wenn er Bilderrahmen klebt. Was müsste geschehen mit den Zwingen, damit es erträglicher wird? Man müsste sie andersherum aufdrehen, dass die Spannung nachlässt. Wie weit? Bis zu einer gemütlichen Spannung, das ist eigentlich nicht das richtige Wort, aber so würde ich das beschreiben (gebraucht ihre Hände um diesen gemütlichen Druck darzustellen) Was verbinden Sie mit so was Gemütlichem? (schaut weich und versonnen) Da fällt mir der Sessel in meinem Wohnzimmer ein, auf dem ich es liebe zu sitzen … mit meiner Katze auf dem Schoß. Was spüren sie da? Da geht’s mir gut, ich bin ganz entspannt, die Katze ist warm und weich. … Was geht Ihnen durch den Sinn? Ich muss an die Jacobson-Entspannungsübung denken, die wir gestern in der Gruppe gelernt haben, so mit den Händen und Beinen anspannen und entspannen. Meinen Sie, ich könnte so was auch „da unten“ probieren, würde ja keiner sehen, wenn ich’s mache.

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Aktuelles · Neuigkeiten · Termine Sie beschließt daraufhin, mit ihrer Beckenbodenmuskulatur und den Schließmuskeln eine solche Art von Übungen zu machen und kombiniert das Ganze noch mit der Vorstellung eines Abendrots, was ihr in einem früheren Gespräch spontan einfiel auf der Suche nach einem Licht in einer heilsamen Farbe (Lichtstromübung). Sie imaginierte sich bei den Übungen auf dem Sessel sitzend und von dort aus ins Abendrot schauend, was die Entspannungsreaktion unterstützte. Nach einigen Tagen berichtete sie erstmals von einem schmerzfreien Wochenende und fragte, ob das mit ihren „Übungen“ zusammenhängen könne. Sie wurde darin ermutigt, ihre eigenen Lösungsansätze weiterzuverfolgen. Nach einem kurzzeitigen erneuten Auftreten der Schmerzen über ein paar Tage blieb die Patienten dann nach ca. drei Wochen Behandlungszeit weitgehend schmerzfrei und nahm ihre sozialen Aktivitäten wieder auf. Insbesondere fand sie nun die Kraft, mit ihrem Mann über ihre Ängste vor dem Sterben durch die Metastasierung der Krebserkrankung zu sprechen und hörte einen ebenso verängstigten Mann, der erleichtert war, dass er nun auch seine Angst vorm Verlust seiner Frau ansprechen konnte. So konnte diese Patientin im idiolektischen Gespräch Verständnis für ihre Symptome und damit Orientierung gewinnen und über das ihr zugetraute Selbstheilungswissen und -potential wieder eigenständig werden in der Unterstützung ihres Heilungsprozesses. Dieser Zugewinn an Autonomie und Handlungsfähigkeit mündete in die Erfüllung grundlegender Bindungsbedürfnisse über den emotionalen Austausch mit ihrem Partner. Der Teufelskreis aus Schmerz, Hilflosigkeit und Angst/Depression konnte so über eine Distanzierung und Symbolisierung über das Nutzen des „Spielraums“ der Eigensprache in einen sich selbst verstärkenden Kreisprozess der Handlungsfähigkeit – Selbstwirksamkeit – des Wohlbefindens und der Lebensfreude umgewandelt werden. Idiolekta 1/2012

Psychosomatische Erkrankungen sind Bedürfnismangelerkrankungen: Insbesondere das idiolektische Gespräch kann hier primäre Bindungsbedürfnisse über empathische Präsenz ebenso unterstützen wie sie in der Lage ist, die Autonomie und Eigenständigkeit des Gegenübers über die Würdigung seiner Eigensprache zu respektieren und zu fördern. So kann eine Rebalancierung von Bindungs- und Autonomiebedürfnissen jenseits der von außen kommenden handlungs- und verstandesorientierten Lösungssuche des klassischen medizinischen Settings geschehen. Das idiolektische Gespräch gibt Raum, dass das Gegenüber gesehen und gehört werden kann, vor jedem Ratschlag und schnellen Lösungsangebot. Kreativ werden heißt hier, mit dem sein was ist. Innehalten, mit sich selbst in Verbindung gehen, in Resonanz mit sich sein. Dasein. Und das Ganze nicht alleine! Darüber hinaus wird das Grundbedürfnis nach Selbstwert gefördert, z.B. durch die Unterstützung beim Finden eigener Bilder und Lösungen. Eine Teilnehmerin des Seminars fasste diese Erfahrung so in Worte: „Es macht glücklich, wenn man selbst drauf kommt“. Dies kann bei nicht ausreichend organisch begründbaren Symptomen in deutlichem Kontrast stehen zur vorhergehenden Expertensuche und der damit häufig verbundenen Frustration. Das Grundbedürfnis nach körperlichem Wohlbefinden kann im Gespräch direkt gefördert werden durch Beachtung nonverbaler Signale und die über die Spiegelneurone vermittelten physiologischen Entspannungsreaktionen bzw. Spannungsregulationen, wie bei dieser Patientin über 40

Aktuelles · Neuigkeiten · Termine die Schlüsselworte und –Erfahrungen des Lieblingssessels inklusive Tier und des Abendrots. Auch das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Sinn kann durch das Einbeziehen eben solcher Erfahrungen von Halt und Erfüllung beachtet werden. In den so geöffneten Räumen kann eben ein eigener Sinn (ein Eigensinn im besten Sinne) auftauchen. Dass dies nicht immer so einfach funktioniert, liegt nicht zuletzt auch daran, dass es sich bei diesen Prozessen eben nicht um lineare Abfolgen des „ich tu was und das wirkt und dann ist gut“ handelt, sondern um komplexe, auf sich selbst zurückbezogene kreisförmige systemische Prozesse. In meiner Übungsgruppe wurde mir das schmerzhaft bewusst, als ich in einem Gespräch über Bauchschmerzen die Wirksamkeit einer idiolektischen Intervention demonstrieren wollte und damit den Kontakt mit dem Gegenüber verlor. Wie gut war es, von der Gruppe der Beobachter darauf hingewiesen zu werden, dass es eben nicht um richtige Interventionen geht, sondern um Resonanz im jeweiligen Augenblick des Gesprächs.

worten stellen als Anregung, eigene Erfahrungen damit in Verbindung zu bringen. Selbstheilungskräfte In jedem Menschen existieren Erfahrungen und Kräfte, die ihm helfen zu leben. Ressourcen Jeder Mensch verfügt über gute Erfahrungen, Fähigkeiten und Vorstellungen. Resilienz Jeder Mensch verfügt über Fähigkeiten, mit Schwierigkeiten umzugehen und sie zu bewältigen. Eigensprache In der individuellen Art und Weise, wie ein Mensch Sprache benutzt, finden sich Hinweise auf diese Erfahrungen und Kräfte.

Wenn es also um das Fördern von seelischer und körperlicher Gesundheit geht, kann der achtsame Umgang mit der Eigensprache der Betroffenen im Gespräch Zugang ermöglichen zu den faszinierenden Landschaften der Selbstheilungskräfte mit den einzigartigen Orten der Ressourcenund Resilienzerfahrungen.

An den Schluss meiner Gedanken zu dieser Veranstaltung möchte ich die Thesen zu den Titel-

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Winkler, P. (Hg.) Eigensprache Seminare zur Evolutionären Psychosomatik und Idiolektik mit A. D. Jonas 490 Seiten | 23,– Euro ISBN 978-3-930823-00-0

A. D. Jonas Kurzpsychotherapie in der Allgemeinmedizin Das gezielte Interview 414 Seiten | 23,– Euro ISBN 978-3-930823-22-2

D. F. Jonas / A. D. Jonas Signale der Urzeit Archaische Mechanismen in Medizin und Psychologie 347 Seiten | 23,– Euro ISBN 978-3-930823-21-5

Horst Poimanns

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Zur Evolution des Gehirns – motio et emotio

Abb. 1

Gehirn. Nicht so ein großes Gehirn wie unseres, aber die Anlagen bis hin zur DNA, die es aufbaut, waren in diesem Lebewesen bereits vorhanden. Die Säugetiere kamen circa 162 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung auf die Welt, parallel dazu lebten die Dinosaurier bis 65 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung. Unsere Alpen entstanden vor 10 Mio. Jahren, nur so ganz nebenbei. Vor 6 bis 5 Mio. Jahren gab es die letzten gemeinsamen Vorfahren und es entwickelte sich die Gruppe der Lebewesen, die über den Homo erectus, den Urmenschen, vor ca. 2 Mio. Jahren über den archaischen Homo sapiens vor 500 000 Jahren bis zum modernen Menschen der Neuzeit führte.

Erdentstehung und neurologische Evolution der Arten Damit das Gehirn entstehen konnte war der Beginn unserer Erde notwendig. Vor ca. 4,6 Mrd. Jahren entstand die Erde und es dauerte knapp 1 Mrd. Jahre, bis die ersten einfachen Lebensformen entstanden. Diese ersten Zellen, einfache Hefezellen, die in der Lage waren, sich zu vermehren, haben mit uns Menschen noch immer 1/3 ihrer genetischen Ausstattung gemeinsam, wenngleich ihr Gehirn zugegebenermaßen noch etwas sehr rudimentär ausgebildet war. Es dauerte fast noch einmal 2 Mrd. Jahre, bevor sich mehrzellige Lebewesen bildeten, wobei ab dem Jahr 680 Mio. vor Christus eine rasche Entwicklung im Meer stattfand. Die Besiedlung des Landes begann ca. 375 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung. Im Jahr 2004 fand Neil Shubin in der kanadischen Arktis wohl einen gemeinsamen Vorfahren, der diese Besiedlung des Landes startete. Dieses Lebewesen hatte bereits alles, was für uns später wichtig war, Schultern, Ellenbogen, Beine, Nacken, Handgelenk und natürlich auch ein Idiolekta 1/2012

Abb. 2

Wir zeigen üblicherweise die Entwicklung des menschlichen Gehirns gerne im Vergleich zu anderen Säugetieren (s. Abb. 2) die in der Größendimension zwischen Ratte und Kaninchen und Mensch dargestellt werden, ab und zu befindet sich auch noch ein Schaf dazwischen. Dabei wer43

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den in der Regel größere Gehirne, auch von jetzt lebenden Säugetieren, wie von Pferden oder von Elefanten, aus unergründlichen Überlegungen heraus selten in solchen Reihen dargestellt. Diese Darstellung bildet auch keinen Nachweis der Entwicklung unseres Gehirns, weil all diese Gehirne zur jetzigen Zeit für ihre Lebewesen optimal gestaltet sind und es ihnen erlaubt, in dieser ihrer Welt gut zu überleben. Die Gehirne unserer gemeinsamen Vorfahren lassen sich aufgrund der speziellen Konsistenz des Gehirns mit Nerven, Stützzellen, Bindegewebe und Blutgefäßen nicht in irgendwelchen Gesteinsschichten konservieren. Wenn man von Gehirngrößen spricht, spricht man gerne vom Enzephalisationsquotienten, der beim Menschen 7 beträgt, beim Schimpansen 2,4 und beim Gorilla nur 1,14, wenn man relativ nahe „Verwandte“ sucht. Dieser EQ gibt die Relation von Gehirnvolumen zu Körpervolumen an und soll die Komplexität des jeweiligen Gehirnes ausweisen. In weniger als 4 Mio. Jahren, einer relativ kurzen Zeit, wenn man in evolutionären Zeiträumen denkt, wurde das Hominidengehirn dreimal so groß, wie es Primaten in 60 Mio. Jahren davor erreicht hatten. Dieses Gehirn (s. Abb. 3) wurde eingesetzt, um genauere motorische Fertigkeiten zu entwickeln, sowie das Gedächtnis und die Möglichkeit zu planen, was durch die Anfertigung von Werkzeugen notwendig gemacht wurde. Das größere Gedächtnis machte es einfacher, Tiere zu jagen, wenn man wusste, wie man sie aufspürte und ihre Bewegungsräume kannte. Man war leichter in der Lage, den komplexen Regeln der jeweiligen Gesellschaften zu folgen und sich anzupassen. Was letztlich immer angeführt wird, wenn man von der reinen Größe des Gehirns absieht, ist die Entwicklung der Sprache als typisch menschliche Errungenschaft. Doch lassen Sie mich jetzt nicht in wenig bewiesene, spekulative, nur vielleicht Idiolekta 1/2012

Abb. 3

begründete Hypothesen verfallen, sondern auf einen speziellen Aspekt der Gehirnentwicklung eingehen.

Das dreigeteilte Gehirn McLean entwickelte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Konzept vom tri-une-brain. Das Gehirn der Reptilien kam zunächst – vor ungefähr 500 Mio. Jahren – in Fischen vor und erreichte – um 250 Mio. Jahre vor unserer Zeitrechnung – nach kontinuierlicher Entwicklung (mit der Zwischenstufe der Amphibien) seinen am weitesten entwickelten Zustand. Das sogenannte limbische System, das sich vor ca. 180 Mio. Jahren entwickelte, kam zunächst in kleinen Säugetieren vor. Danach entwickelte sich – als Lage über dem limbischen System – vor ungefähr 60 Mio. Jahren in den Primaten der sogenannte Neocortex mit seiner un44

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glaublichen Wachstumsrate. Das Reptiliengehirn, das unsere für das Leben notwendigen Basisfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur und Gleichgewichtssinn erfüllt, ist dem Hirnstamm und dem Kleinhirn in wesentlichen Teilen angelagert. Obwohl es äußerst verlässlich arbeitet, ist es manchmal wenig flexibel und etwas zwanghaft. Das limbische System ist mit seinen wesentlichen Strukturen des Hippocampus, der Amygdala und des Hypothalamus der Sitz von Bewertungen, die wir oft unbewusst machen und welche einen starken Einfluss auf unser Verhalten ausüben. Das limbische System ist in der Lage, Erinnerungen an Verhaltensweisen aufzuzeichnen, die entweder sehr angenehme oder sehr unangenehme Erfahrungen beinhalten. Es ist sozusagen die Grundlage unserer Emotionen. Der Neocortex hat letztlich in einer dünnen Schicht mit den grauen Zellen in beiden Hemisphären Vorstellung, Bewusstsein, abstraktes Denken und Sprache ermöglicht. Der Neocortex ist äußerst flexibel und hat ein nahezu unbegrenztes Lernvermögen. Das Nervensystem der Invertebraten hingegen, die ca. 99% der Tiere auf der Welt ausmachen, ist nicht phylogenetisch aufeinander aufbauend, sondern je nach spezifischer Notwendigkeit und Körperbau ausgeprägt: von einfachen Lichtrezeptoren bei Euglena zu einem Nervennetz bei der Hydra, welche bereits durch Synapsen verknüpft sind. Der Plattwurm hat bereits eine Längsverbindung der einzelnen Ganglien, Schnecken und Seeschnecken haben mehrere Ganglien mit zum Teil langen Nervenverbindungen, einige Insekten, wie z. B. der Grashüpfer, haben ein kleines Gehirn zwischen den Augen, der Oktopus hat ein Gehirn mit mindestens 300 Mio. Nervenzellen.

Gehirn und Emotionen Ganz klar ist das menschliche Gehirn sowohl ein intentionales Werkzeug als auch ein Werkzeug für Intersubjektivität, bevor es ein sprachliches Idiolekta 1/2012

Werkzeug wird. Und emotionale Ausdrücke, die sowohl das Bewegen als auch das Bewegt-werden im zwischenmenschlichen Kontakt und direkten Austausch regulieren, sind das primäre Medium der Kommunikation. Kinder nutzen Emotionen über gemeinsam affektiv geladene Aufmerksamkeit zur Regulation gemeinsamer Aktivitäten. Das Zusammenspiel von gemeinsamen Interessen und emotionalen Werten, die in einem gemeinsamen Bewegungsspiel ausgedrückt werden, führen zu kooperativer Bewusstheit und gemeinsamen Unternehmungen. Diese Aktivitäten bilden einen gemeinsamen Sinn in sich selbst. Verbundene Aufmerksamkeit auf auswärtige Abläufe ist nicht genug und Worte sind nicht notwendig, um Sinn zu erhalten. Alle Anpassungshandlungen, d. h. die Bewegungen des Lebens, operieren auf einer verschiedenen Zeitskala und in verschiedenen Zeitperioden gefühlter, vorgestellter oder erinnerter Erfahrungen, die jeweils auf Aktivitäten angeborener neuronaler Netzwerke gründen, die durch motorische Handlungen einen körperbezogenen Raum-Zeit-Raum schaffen. Diese neuronalen Netzwerke regulieren diese motorischen Ak­tionen durch sensible Reaktionen in Bezug auf interne und externe Veränderungen im Sinne von Perturbation sensu Maturana und Varela (Trevarthen 1999 und 2008). Wenn wir – selbst auf Entfernung – in der Gegenwart von Anderen sind oder wenn wir in der Öffentlichkeit sind, können wir deren Zustand bzgl. Interesse, Motivation und Selbstregulation aus ihrer Haltung und ihren Gesten in Relation zum Kontext fühlen, z. B. anhand des Tempos und der Modulation ihrer Bewegungen, und wenn sie Laute von sich geben, anhand von Rhythmus, Tonhöhe, Intensität und Qualität ihrer Stimmen. Wir müssen dabei nicht hören, was sie inhaltlich sagen. Wir verfolgen, wie und wohin ihre Augen schauen, die Veränderung ihrer Ausdruckshaltung im Gesicht, die feinen 45

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Variationen von Handbewegungen, genauso wie Veränderungen in ihrer Vokalisation und Rede. Ganz besonders beobachten wir aufmerksam, wie diese Verhaltensweisen zu unseren eigenen Motiven und Gefühlen in Bezug stehen. In sehr intimem Kontakt fühlen wir die Zartheit einer Berührung, die Andeutung von Spannung, wir spüren die Körperhaltungen, nehmen die Atmung wahr und die leiseste Veränderung in der Stimmausdruckslage. Wir gewinnen dynamische Informationen über ihre Motive und kognitives Verhalten, sowohl aus ihren Bewegungen des Körpers im Raum oder von den Veränderungen der inneren Körperwahrnehmung und Bauchgefühlen, welche sich in ihrem Ausdruck und Gesten zeigen. Ethologen beschreiben emotionale Signalinventare von Tieren, die wesentliche Informationen z. B. im Jagdverhalten vermitteln, sowohl zwischen Jäger und Beute, als auch in der Koordination von Gruppenjagd. Oder sie verdeutlichen, wie das Werbungsverhalten durchgeführt wird, ebenso wie Partnerschaft und elterliche Sorge: alles, um die kooperative Gesellschaft einer Art zu erhalten. Jede Art hat ein feines Vokabular von „„emotionalen Signalen“, welche über Körperbewegungen weiter vermittelt werden, und bei vielen Tierarten gibt es Hinweise, dass diese Konventionen des emotionalen Ausdrucks gelernt werden können. Primäre Emotionen, die wir durch die Evolution mit vielen Tieren teilen, sind neurodynamisch sehr ähnlich und zusammenhängende neurobiologische Prozesse, die weit in der Entwicklung des Gehirns und des Bewusstseins verankert sind. Weil wir relativ homogene alte Erlebnissysteme mit vielen anderen Lebewesen dieser Welt teilen, haben wir auch die Möglichkeit, emotionalen Kontakt zu Tieren aufzubauen bzw. von diesen

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angerührt zu werden. Vermutlich liegen diese primitiven Strukturen konzentriert in zentralen Mittelhirnregionen, wie z. B. dem PAG (periaquäduktales Grau). (Wade und Panksepp 1998 B.) Emotionen sind überkommene, evolutionäre Werkzeuge für die jeweilige Lebensgestaltung. Ein besseres Verständnis dieser alten emotionalen Energien kann uns heute helfen, den Alltag zu meistern.

Der Anteil tiefer neurologischer Strukturen an mentalen Prozessen Die Basalganglien und deren Anteile an Hirnstamm, Kleinhirn, Thalamuskernen, Striatum und Pallidum werden für alle Aspekte größerer muskulärer Aktivitäten wie Stoßen, Schlagen, Rennen, Gehen, Schwimmen und sogar Lächeln benötigt. Die Basalganglien, insbesondere das limbische Striatum, spielen eine besondere Rolle in emotionalen und motivationalen Abläufen, indem sie affektive Zustände in Bewegung umsetzen. Verletzungen der Basalganglien können so zu einer Vielzahl von affektiven Störungen führen. Das Striatum und Teile des Thalamus sind dem Vorhirn zuzurechnen und agieren als Verbindungsstück oder Interface zwischen den neueren neokortikalen motorischen Zentren im Frontallappen und den älteren motorischen Regionen, die im Hirnstamm angesiedelt sind. Wichtige Komponenten des Striatums umfassen den Nucleus caudatus, Putamen, den Globus pallidus und die Amygdala. Für die längste Zeit der Entwicklung im Bereich der Wirbeltiere kam die Motorik aus dem Rückenmark, dem Hirnstamm, dem Kleinhirn und dem limbischen Striatum, wie wir es noch im modernen Menschen finden können. Für den größten Teil der Evolution bestand das Vorderhirn aus dem olfaktorischen System, der Amygdala, Hy-

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pothalamus und Hippocampus. Das Striatum war von der Amygdala dominiert und ursprünglich sogar ein Teil der Amygdala. Das ganze Vorderhirn, wie auch Amygdala, Hypothalamus und Hippocampus standen unter großem Einfluss des olfaktorischen Systems und reagierte auf Geruchsimpulse, indem es das Füttern, das Kämpfen, das Fliehen oder sexuelle Aktivitäten veranlasste. Deswegen wird dieser Teil des Gehirns manchmal auch als Rhinencephalon oder Nasenhirn bezeichnet. In der Frühgeschichte der Evolution bildeten die Amygdala und das Striatum einen gemeinsamen Komplex, das dorsovent- Abb. 4 rale Amygdalastriatum. Dieses dorsoventrale Amygdalastriatum war durch das olfaktorische System dominiert. Das striatoamygdaloide Grau oder auch dorsales Pallidum führte Motoraktivitäten aus, die in gewisser Weise ein Spiegelbild zum Hirnstamm bildeten, der über das vestibuläre System und – mit etwas weniger Ausprägung – durch das visuelle System dominiert wurde. Einer der entscheidenden Unterschiede war, dass das olfaktorische System die Möglichkeit bot, kurz inne zu halten, bevor eine Antwort notwendig wurde. Dies machte es möglich, dass es zu einer Art „Denkmaschine“ wurde, während der Hirnstamm rein reflexiv blieb. Das Amygdala- Striatum-Konglomerat wurde im Verlauf der Evolution langsam auseinander gepresst und auseinander geschoben, was sich anhand verschiedener Fische, Amphibien und Reptilien gut aufzeigen lässt (s. Abb. 4). Dies lässt sich heute noch am Beispiel des Hai nachvollziehen, der seit 450 Mio. Jahren exisIdiolekta 1/2012

tiert. Aber noch beim Menschen ist die Amygdala mit dem Striatum aufs Engste verknüpft, so dass der Schweif des Nucleus caudatus unmittelbar in die Amygdala mündet oder umgekehrt die Amygdala einen starken Strang in den Kopf des Nucleus caudatus über dessen Schweif schickt. Aus diesem Grund wird dieser Teil des Striatums auch das „limbische Striatum“ oder die „ausgedehnte Amygdala“ genannt. Zusätzlich zu den Basalganglien sind der Thalamus, die primären, sekundären und supplementären motorischen Hirnareale des Frontallappens wichtige Zentren, die die Bewegung mit bestimmen. Das limbische Striatum und die Basalganglien in ihrer Verknüpfung, welche die frontalmotorischen Zentren mit einbezieht, sind eng verbunden und funktionieren als ein integriertes System, welches alle Aspekte emotional getriggerter Bewegungsverhalten in Abstimmung mit dem Hirnstamm, dem Kleinhirn, dem 47

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Rückenmark und den Kernen der Hirnnerven beinhaltet. Alle diese Teile sind eng verknüpft und funktionieren als ein integriertes System der Hervorbringung von Bewegung, z. B. schicken die Basalganglien Input in den Hirnstamm über die extrapyramidalen motorischen Systeme und gleichzeitig in die motorischen Areale des Thalamus und die motorische Areale des Neocortex, der ebenso Projektionen in den Hirnstamm und in das Rückenmark schickt (Parent and Hazrati 2005). Die Basalganglien, insbesondere das Corpus, das limbische Striatum und der Globus pallidus, entwickeln sich aus olfaktorischem System und Amygdala und können deshalb in vielerlei Hinsicht als Teil des limbischen Systems betrachtet werden. Sehr eng verbunden, und damit ebenfalls ein Teil der Basalganglien, sind die Substantia nigra, die Formatio reticularis und das Tegmentum im Mittelhirn, welches Dopamin in den Corpus und das limbische Striatum schickt. Insbesondere die nigrostriatale bilaterale Dopamin-Zellgruppe (A9) schickt Dopamin von der Substantia nigra in das dorsale Caudatum und Putamen und den medialen Frontalhirnlappen, wobei gleichwohl einige Fasern ebenso das limbische Striatum erreichen. Das mesolimbische Dopaminsystem entspringt in den Zellgruppen A10 im ventralen Mittelhirn-Tegmentum und schickt seine Fasern die Amygdala, in das Septum, in den Hippocampus, in frontale kortikale Gebiete, ebenso wie in das ventrale Caudatum und Putamen, den Nucleus accumbens und die Substantia innominata, z­ usätzlich auch in das dorsale Striatum. Das m ­ esolimbische Dopaminsystem ist in Verbindung zu bringen mit Emotionen, Stimmungen, Gedächtnis, Belohnung sowie motorischen Überlebensaktivitäten wie Rennen und Galoppieren. Idiolekta 1/2012

Artübergreifende Basisemotionen Es ist eine wissenschaftliche Tatsache – und nicht nur eine Schlussfolgerung –, dass durch die Forschung an den Gehirnen von Tieren eine Reihe gleicher und daher vergleichbarer emotionaler Systeme über alle Säugetiere hinweg aufgezeigt werden kann. Diese emotionalen Systeme sind schwerpunktmäßig in den medialen Strukturen des Gehirns zu finden, vom periaquäduktalen Grau des Mittelhirns über die medialen Regionen des Zwischenhirns zu den basalen Kerngebieten des Vorderhirns. Sie reichen von den Kerngebieten der Stria terminalis, der präoptischen Regionen, dem Septum und der Basalganglien, das heißt dem Nucleus accumbens, hoch bis zur Amygdala, zur Insel und einigen Strukturen des medialen Frontalhirnes. Dies schließt das anteriore Cingulum, den orbitofrontalen Cortex und den medialen präfrontalen Cortex ein.

Abb. 5

Die sieben Basisemotionen oder die emotionalen Systeme, die sich konsistent und immer wieder in den Neurowissenschaften in der Forschung an verschiedenen Tierarten zeigen lassen, sind 1. Suchen und Orientieren, 2. Angst, 3. Wut, 4. Lust, 5. Sorgeverhalten, 6. Panik und 7. Spielverhalten. Diese emotionalen Grundsysteme sind notwendig für das entsprechende emotionale Verhalten, aber bei wei48

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tem nicht ausreichend für die höher angesiedelten kognitiv-emotionalen Äußerungen, die aus diesen Systemen hervorgehen und im Alltag aufscheinen. Diese sieben Basissysteme lassen aber die Organismen als aktive Betreiber in der Welt erscheinen: Tiere, die sich engagieren und Vorgänge in der Welt über Emotionen verstehen, im Gegensatz zu nur einfach passiv auf Stimuli reagierenden oder informationsverarbeitenden Verhaltensrobotern. Ohne die einzelnen Systeme, ihre Verbindungen und grundlegenden biochemischen Substrate weiter auszuführen, sollten zwei dieser Systeme kurz angesprochen werden. Einmal das Orientierungssystem, weil es für fast alle anderen emotionalen Basissysteme grundlegend ist, sowie das Spielverhalten, weil es als genereller Faktor für Wohlbefinden und auch für Heilungskräfte bei Disfigurationen im emotionalen Bereich eingesetzt werden kann – und dies über die Arten hinweg. Spielverhalten ist eine üblicherweise wenig benutzte Ressource, mit der erwachsene Lebensformen wieder in eine positiv-affektive Spur zurückgebracht werden können. Es wird zunehmend klar, dass körperliche Aktivität so gut wirkt wie Antidepressiva oder jede Form von Medizin, die Emotionalität dämpft (Wade und Panksepp 2009). Zudem ist es wahrscheinlich, dass der Drang zum Spielen in Erwachsenen wieder reaktiviert werden kann durch verschiedene Formen von körperlicher Aktivität. Vieles wird erleichtert durch eine künstlerische Begleitkomponente, wie Musik oder Tanz, die ja zum Teil um rhythmische motorische Impulse des Körpers entworfen wurden. (Panksepp und Trevarthen 2008).

einer flexiblen Art und Weise in motorische Ausführhandlungen umgesetzt werden konnten. Diese Funktionen der Basalganglien, insbesondere des limbischen Striatums, funktionieren im Menschen noch genau so wie in anderen Lebewesen. So sind die Basalganglien noch außerordentlich wichtig in stereotypisierten und artspezifischen motorischen Ausdrucksverhalten von sozialen oder emotionalen Zuständen, welche sich im Wegrennen bei Angstzuständen, im Beißen in defensiven Situationen oder im Abwehrverhalten durch ballistische Bewegungen, wie Schlagen oder mit dem Fuß stoßen, zeigen oder aber auch durch Gesichtsausdruck, Haltung, Muskeltonus oder Gesten. Da Menschen grundsätzlich die gleichen Basalganglien und das gleiche limbische System besitzen, egal ob sie glücklich, traurig, ärgerlich usw. sind, zeigt ihre Gesichts- und Körpermuskulatur die gleiche, sofort identifizierbare emotionale Haltung und das gleiche Ausdrucksverhalten, unabhängig von Kultur oder ethnischer Herkunft. Im Gegensatz zum Hirnstamm und zum Kleinhirn, welches nur reflektiv arbeitet und stereotypisierte Motorprogramme zur Verfügung stellt, die ohne weiteres Denken ausgeführt werden, zeigen die Basalganglien eine außerordentliche Flexibilität in Bezug auf die emotional motorischen Ausdrucksaktivitäten und können außerordentlich gut auf die motivationalen und emotionalen Zustände des Organismus reagieren, da eine extensive Verbindung mit dem limbischen System vorliegt.

Sowohl die Amygdala als auch das anteriore Cingulum, der laterale Thalamus und der Hippocampus sind so in der Lage, einen beachtlichen Einfluss auf die Basalganglien zu gestalten, welche sich aus der Amygdala heraus entwickelt hatten, um als eine Schaltstation zwischen Emotionen und motorischen Aktivitäten zu dienen, so dass die Bedürfnisse und Impulse der Amygdala in

Veränderungen der Funktion des autonomen Nervensystems im Laufe der Evolution

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Wenn wir dem Weg der Evolution folgen und betrachten, in welcher Form sich das autonome Nervensystem entwickelt hat – zum Beispiel von alten Knorpelfischarten hin zu Fischen mit 49

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Geräten, Amphibien, Reptilien und Säugetieren – erfahren wir nicht nur, dass das Gehirn wächst und der Cortex an Komplexität zunimmt, sondern auch, dass es darüber hinaus eine Veränderung in der Zusammensetzung und der Funktion des autonomen Nervensystems gibt. Bei den Säugetieren arbeitet das autonome Nervensystem in einem hierarchischen System, dem phylogenetische Zustände in umgekehrter Reihenfolge entsprechen. Porges entwickelt dies in seiner polyvagalen Theorie. Zunächst, so meint er, gab es drei Antwortsysteme: 1. Die cranialen Nerven, die in der Lage sind, die Gesichtsmuskulatur zu regulieren und in Ruhe ablaufende automatische und behaviorale Zustände zu vermitteln. 2. Das sympathischadrenale System, das in der Lage ist, den metabolischen Output zu steigern. 3. Das inhibitorische vagale System, das in der Lage ist, den metabolischen Umsatz zu verringern, das Freezing von Muskeln zu fördern und auch die Defäkation. Diese drei Strategien als Antwort auf Herausforderungen der Umwelt sind das Ergebnis differenzierter neurophysiologischer Systeme. Diese Systeme zeigen eine aufeinander aufbauende phylogenetische Abhängigkeit. Die cranialen Nerven als Regulator der Gesichtsmuskulatur und des Ausdrucksverhaltens tauchen erst bei Säugetieren auf. Das sympathisch-adrenale System ist mit anderen Wirbeltieren, inklusive Reptilien, gemeinsam verfügbar. Und zuletzt teilen wir das inhibitorische vagale System bereits mit primitiven Wirbeltieren, einschließlich der Amphibien und der einfachsten Fischarten. Diese drei Systeme repräsentieren verschiedene evolutionäre phylogenetische Abschnitte der neuronalen Entwicklung. Zunächst entstanden im Verlauf der Evolution einfache inhibitorische Systeme des Verhaltens, die sich zu einem Flucht-Kampf-System entwickelten und sich letztlich beim Menschen und anderen Primaten zu komplexen mimischen, Idiolekta 1/2012

gestischen und tonalen Ausdruckssystemen entwickelten. Nur durchschnittlich 20 Millisekunden vor einem Bewegungsbeginn beginnen die Neuronen, ins Striatum zu feuern. Ihre Rate steigert sich beim Start einer spezifischen Bewegung und hört nach dem Enden der Bewegung auf. Zusätzlich sind die Nervenzellen somatotopisch angelegt, so dass sie Arm-, Gesichts- oder Beinbewegungen repräsentieren und als Cluster im Striatum anzutreffen sind. Die Nervenzellen steigern ihre Aktivität auch vor und während einer Bewegung des Beines, des Gesichts oder des Armes. Die Inselregion zeigt sich in funktionellen Aufnahmen (z. B. fMRI) in einer Rolle, in der sowohl Schmerz als auch verschiedene andere emotionale Qualitäten, wie Ärger, Angst, Ekel, Freude und Traurigkeit verarbeitet werden. Über die Inselregion werden diffuse Rückmeldungen aus den Bauchorganen in die Bewusstseinsebene transferiert. Kretschy und andere (204) meinen, dass Körperzustände in der Inselregion des Gehirns repräsentiert werden und für subjektive Erfahrungen und Gefühle ihren Beitrag leisten.

Zusammenfassung Die Geschichte der Gehirnentwicklung, insbesondere der Gehirnentwicklung des Menschen, ist nicht nur eine Geschichte der Entwicklung der äußeren Hirnrinde oder einer Volumenzunahme des Gehirns, so erstaunlich und unbegreiflich dies auch in den letzten Mio. Jahren gewesen sein mag. Die grundlegenden Voraussetzungen für uns Menschen sind jedoch auch in tieferen Hirnstrukturen im Verlauf der Evolution einer kontinuierlichen Wandlung und Entwicklung unterworfen worden. So weiß man nun, dass es grundemotionale Strukturen gibt, die für die 50

Horst Poimanns

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Verarbeitung von bestimmten körperlichen Signalen und Außenweltsignalen eine Rolle spielen, indem sie die Bedeutung dieser Signale für uns als ganzheitlichen Organismus bewerten, um daraufhin eine sofortige oder – mehr oder weniger überlegte – verzögerte Reaktion zu produzieren. Während vor vielen Mio. Jahren die Wahrnehmung, Bewertung und körperliche, motorische Reaktion nicht nur im Gehirn, sondern auch im Verhalten eine Einheit bildeten, und so wenig Zeit für Nachdenklichkeit bestand, kam es durch eine vermehrte motorische Möglichkeit beim Übergang der Meerestiere zu den Landtieren im Gehirn aufgrund von zunehmenden Leitungsbahnen zu einer langsamen Trennung der Bewertungsanteile und der Anteile im Gehirn, die für die motorische Reaktion zuständig sind. Dadurch gelang es, Zeit zu schaffen, um nachdenken zu können, ggf. auch, um bestimmte Reaktionen dann qua Entscheidung nicht durchzuführen. All diese Abläufe finden tief in unserem Gehirn statt

Idiolekta 1/2012

und sind unserem Bewusstsein nicht zugänglich. Das macht es vielleicht erklärlich, dass bestimmte mimische Reaktionen oder motorische Reaktionen oder Gesten oder Körperhaltungen auf unmittelbare Eindrücke hin so schwer zu kontrollieren oder nicht zu spielen sind. Auf der anderen Seite hat diese Entwicklung den entscheidenden Schritt dazu gelegt, dass wir unseren Gefühlen nicht mehr ausgeliefert sind, sondern sie auch beeinflussen können.

Bildnachweise

Abb. 1: Mod. Nach Walter Schneider, 2012 Abb. 2: Mod. Nach www.thebrain.mcgill.ca, 2009 Abb. 3: Mod. Nach Uni-Jena, 2009 Abb. 4: Mod. Nach R. Joseph, 2011 Abb. 5: Mod. Nach Zina Deretsky, 2004 Literatur beim Verfasser

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© Julia Marten

Schlüsselworte Psychologie und Beratung im Carl-Auer Verlag

Bestseller

288 Seiten, 24 Abb., Kt, 2010 € (D) 29,95/€ (A) 30,80 ISBN 978-3-89670-748-2

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144 Seiten, 23 Abb., Kt, 5. Aufl. 2011 € (D) 19,95/€ (A) 20,60 ISBN 978-3-89670-444-3 Es sind kreative Bilder, Symbole und Metaphern, die bleibenden Eindruck (= Impact) bei Klienten hinterlassen. Danie Beaulieu setzt in ihrer therapeutischen Arbeit darauf, ihren Klienten neue Sichtweisen auf mehreren Sinneskanälen zu präsentieren: auditiv, visuell, kinästhetisch.

208 Seiten, Kt, 3. Aufl. 2011 € (D) 21,95/€ (A) 22,60 ISBN 978-3-89670-624-9

Wer richtig fragt, bringt Bewegung ins Gespräch. Gut gestellte Fragen wecken die Neugier der Befragten, erhalten ihre Aufmerksamkeit und können Ressourcen erschließen. Carmen Kindl-Beilfuß fasst in diesem Werkstattbuch zusammen, was man als Therapeut, Coach oder Berater über diese zentrale Technik wissen muss: Wie baut man gute Fragen auf? Wie findet man die richtigen Formulierungen?

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