2000 Jahre Espace Mittelland

2000 Jahre Espace Mittelland REFERAT VOM 5. DEZEMBER 2005 Referent: Claude Longchamp, Politikwissenschafter, Institutsleiter gfs.bern Bern, den 1. D...
Author: Silke Feld
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2000 Jahre Espace Mittelland REFERAT VOM 5. DEZEMBER 2005

Referent: Claude Longchamp, Politikwissenschafter, Institutsleiter gfs.bern

Bern, den 1. Dezember 2005 Copyright by 1 gfs.bern

Einleitung Konstrukte wie der Espace Mittelland haben keine Geschichte. Sie entspringen den gegenwärtigen Bedürfnissen der Statistiker. Sie inspirieren PolitikerInnen. und sie finden sich in den Werken der ökonomischen Think Tanks, die urbane Zentren, ihre Umländer und die Peripherien die wichtigste Differenzierung des heutigen Wirtschaftsraums sehen. Wie weit dabei der Espace Mitteland reicht, ist nicht ganz klar. Die Definitionen variieren von den Kantonen Bern, Solothurn, Freiburg und Jura bis hin zu Waadt, Wallis und Aargau. Ich bin deshalb für eine offene Definition: die Landschaft der Westschweiz.

Ob dieser Raum mit gemeinsamen Projekten gefüllt wird, ist fast ebenso unklar. Beim öffentlichen Verkehr scheint es zu klappen, bei der Kooperation zwischen Universitäten ergeben sich mehr Probleme. Immerhin, der Raum lebt, die Menschen handeln, und sie produzieren oder reproduzieren so Kultur. Diese Kultur interessiert mich hier. Denn sie hat eine bewegte Geschichte. 2

Teilmobile Kulturen und ihre Herrschaftsräume Die ersten Menschen, die sich im Espace Mittelland niederliessen, sind in Chiètres nachgewiesen. Das ist heute noch so etwas wie die Schnittstelle von Wegen im Espace Mittelland. Schienen aus Norden und Süden, Osten und Westen kreuzen sich im Bahnhof Kerzers. Den Bahnhof gibt es noch nicht lange, Einheimische aber seit rund 5500 Jahren. Sie waren mitten im Seeland Gemüsebäuerinnen, und sie züchteten Vieh.

Mehrere tausend Jahre lang waren die Menschen in der Westschweiz mit dem Übergang von der permanenten Wanderung zur permanenten Sesshaftigkeit beschäftigt. Sie alle waren Bauern- und Hirtengesellschaften, zuerst einfachere, dann entwickeltere. Zu letzteren zählen die keltischen Stämme. Für ihre Dörfer war typisch, dass sie einen Schmied hatten. Das zeichnet die keltische Kultur aus, denn sie war im Gegensatz zu den früheren in der Lage, hartes Metall wie Eisen für Pflüge und Schwerter zu verarbeiten, und aus weichem Metall wie Gold Kunsthandwerk herzustellen. Die Tiguriner, der älteste namentlich bekannte Stamm im Espace Mittelland, galten als die unerschrockensten Gallier. Gallier war das Wort der Römer für Kelten. Und sie waren ihre Gegner, denn die keltischen Stämme drohten immer wieder nach Süden auswandern oder Raubzüge zu unternehmen. Das machten sie nicht freiwillig, denn sie hatten noch einen zweiten Gegner: die germanischen Stämme im Norden, die immer wieder darauf erpicht waren, im Süden ein besseres Leben führen zu können. Ein solcher Auswanderungsversuch 58 vor Christus führte zum Gallischen Krieg. Die Kelten links des Rheins wurden danach römisch, und der Germanen wurden in ihrer Ausdehnung auf das Gebiet rechts des Rheins verwiesen. Im gefährlichsten Einfallstor, der direkten Verbindung zwischen und Rhein und Rhone, siedelten die Römer die von ihnen besiegten keltischen Helvetier als Puffer an. 3

Erste römische Hauptstadt Helvetiens wird Aventicum. Kaiser Vespasian, erhob diese Stadt, wo er eine Zeit gelebt hatte, zur führenden römischen Kolonie in Helvetien. Rund 10 Mal grösser war sie als das heutige Avenches. 20'000 feste Bewohner hatte sie in den besten Zeiten. Hier blühte der Handel, und hier stand die erste Akademie im gallorömischen Gebiet. Man erschloss Aventicum durch einen Kanal mit dem Murtensee, von dem aus es einen direkten Wasserweg über Aare und Rhein ins germanische Meer gab. Aventicum war eine Art neues Rom, die Metropole jenseits der Alpen, die den Verkehr nach Norden koordinierte.

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Das bleibt während fast 200 Jahren so. Die umstrittene Grenze zu den Germanen wurde sukzessive nach Norden verlegt und mit dem Limes zwischen Rhein und Donau geschützt. Doch dann stürzte das römische Kaiserreich in seine tiefste Krise: Der Kaiser wurde im Krieg im Osten gefangen genommen, und überall kam es zu Aufständen. Die gallorömische Bevölkerung erhob sich unter General Posthumus flächendeckend, auch im Mitteland. Man bildete ab 260 das gallische Sonderreich, und man betrachtete den Rhein als Grenze. Doch das war ein Fehler: Die Germanen überschritten den trockenen und den nassen Limes. Sie zerstören alles, was ihnen in den Weg kam, so auch Aventicum. Ohne sein Zentrum verarmte Helvetien. Es wurde vom Nachbarn abhängig, dessen Zentrum Vesontio, dem heutigen Besançon, war. Man gehörte jetzt zur Maxima Sequania, und die umfasste die Durchgangsgebiete von Norden nach Süden beidseits des Juras. Gerade weil es sich um ein Durchgangsgebiet handelte, blieb Grossequanien anfällig. Und so schauten sich die Römer nach neuen Verbündeten um. Sie fanden sie im germanischen Stamm der Burgunder.

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Die Burgunder sind vielerorts die letzten kollektiven Einwanderer in dieses Gebiet, und sie gaben nach germanischer Sitte ihren Orten Namen, die bis heute nachwirken. Heutige Ortsnamen, die auf –ens enden, haben häufig einen burgundischen Hintergrund. Das Hauptwort verweist auf den Sippenführer, die Endung auf seine Siedlung. Das Meiste ist aber ins Französische übertragen worden, und vergleichbares geschah im 5. Jahrhundert auch mit den Burgundern. Sie wurden romanisiert. Nach dem Zerfall des weströmischen Kaiserreiches 476 stiegen die Burgunder zu einem der drei germanischen Königreiche auf, das in Gallien und Italien entstand: Ihre Nachbarn im Süden waren die eingewanderten Goten, die die Mittelmeerküsten beherrschten, im Norden stiess ihr Gebiet an jenes ebenfalls eingedrungenen Franken. Die Burgunder wurden jetzt Christen, und ihr religiöses Zentrum war das von ihrem König Sigismund gegründete Kloster St. Maurice. Das sicherte ihnen die Anerkennung des oströmischen Kaisers, der ihr Gebiet Burgundia nannte. Dieses reichte nun über das ganze Rhone- und Saonetal von Avignon im Süden bis Nevers im Westen, über Langres im Norden, und Wimmis im Osten. Die Burgunder sicherten ihre Herrschaft als erster Germanenstamm, indem sie ihr Recht schriftlich aufzeichneten, und es für das römische Recht öffneten. Doch sollte die Burgundia nicht lange überdauern, denn die Franken im Norden eroberten es nach rund 60 Jahren Eigenständigkeit. Nun verdrängten die Franken einen Teil der Alemannen aus dem Schwarzwald nach Süden, und siedelten auch im Mittelland. Die Aare bildete ab 561 die Grenze zwischen beiden Stämmen. Krasser hätten die Gegensätze nicht sein können, denn die Alemannen passten sich gar nicht an; sie blieben widerborstige Germanen. Sie behielten ihre alemannischen Dialekte und Kleider bei, und siedelten ausserhalb der zerfallenden römischen Städte. Die ersten christlichen Missionare, die man ihnen im 6. Jahrhundert von Säckingen aus schickte, erschlugen sie. So löste sich der einheitliche galloromanische Raum, zudem die ganze heutige Schweiz gehört hatte, unwiderruflich auf. Zwischen Burgundern und Alemannen kam es 610 zum Krieg. Das ist für den Espace Mitteland einer der folgenschwersten, bis heute nachwirkenden Brüche. Denn es siegten die Alemannen, und sie zerstörten den burgundischen Teil im Mitteland weitgehend. Der Krieg beschränkte sich nicht nur auf das Mittelland, sondern weitete sich auf das ganze fränkische Reich mit gemischter Bevölkerung aus. Von der ersten fränkischen Königssippe überlebte nur König Chlotar, und der legte die Macht 614 in neue Hände: Jetzt, wo die regelmässigen Wanderungen der Stämme abgeschlossen waren, sollten die Bischöfe in den alten römischen Zentren zu Stadtherren mit Umland aufsteigen.

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Die sesshafte Bevölkerung ihr ihre Regionen Mit der Sesshaftigkeit löste sich die halbmobile Stammesgesellschaft auf. Es entstanden regional definierbare Völkerschaften von Bistümern. Der wichtigste Bischof für das burgundische Mitteland, der Erzbischof sass wiederum in Besançon, und seine Stellvertreter waren nun in Basel und Lausanne. Avenches wurden als Zentrum ganz aufgegeben. Weitere Bischöfe gab es in Genf, in Sitten, in Chur und in Konstanz. Sie alle gehörten zu anderen Erzbistümern.

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Die Aare war wiederum die Grenze zwischen dem Bistum Konstanz und jenem von Lausanne resp. Basel. Der Bischof durfte nur noch aus der Region selber kommen, womit man die Bildung lokaler Eliten förderte. Die Herrschaft, die jetzt entstand, liess die Völkerschaften unterschiedliche Lebensweisen annehmen. In Lausanne und Konstanz galten verschiedene Kalender, und die Menschen redeten nicht mehr grenzüberschreitende miteinander. Es war die hohe Zeit der geschlossenen Regionen. Im 9. Jahrhundert war es dann soweit, dass man sich im ganzen fränkischen Reich nicht mehr verstand. Es brauchte Dolmetscher, die zwischen dem Osten und Westen vermittelten. Die tiefe Trennlinie entspricht heute noch weitgehend der Sprachgrenze zwischen Französisch und Deutsch. Und an dieser Ethnisierung sollte das fränkische Reich schliesslich ganz zerfallen.

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Da setzte der burgundische Abt von St. Maurice zum grossen Coup an. Er machte sich zum burgundischen König. Er suchte die Gebiete, denen er als Abt vorgestanden hatte, jetzt in einem katholischen Königreich zu vereinen. So nannte er sich König von Hochburgund. Niederburgund war ebenfalls ein Königreich, das das Rhonetal von Genf aus abwärts umfasste, und das Saonetal machte sich nun als Herzogtum Burgund zu einem Vasallen der westfränkischen Könige. Hochburgund sollte zu einer neuen Blüte auferstehen. Rudolfs Sohn, König Rudolf II., griff zuerst nach der Königskrone im Süden und wurde vorübergehend auch lombardischer König. Dem Herzog von Schwaben, wie sich sein östlicher Nachbar jetzt nannte, setzte er militärisch zu. Schliesslich einigte man sich, heiratete untereinander, teilte die Ländereien unter sich auf, und lebte in Frieden. Die schwäbische Prinzessin Berta wurde Rudolfs Frau, und die Grenze zwischen Burgund und Schwaben zog man entlang der Reuss. Die Westschweiz ist geht jetzt ganz in Hochburgund auf, die ethnischen Konflikte durch die adelige Konkordanz befriedet. Rudolf und Berta waren das eigentliche Powercouple des 10. Jahrhunderts in Hochburgund. Als Berta 962 wirklich starb, wurde sie an ihrem Lieblingsort Payerne begraben. Über ihrem Grab errichtete ihre Tochter, Adelheid, das Kloster Payerne, dem zweiten religiösen Zentrum Hochburgunds.

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Adelheid war eine besondere Person. Sie war zuerst Königin der Lombardei gewesen und wurde dort reich. Als sie schon mit 19 verwitwete, war sie die Partie des Jahrhunderts. Zugeschlagen hat Otto I., König von Sachsen und Franken. Zusammen begründeten sie ein Reich, das von der Nordsee bis vor die Tore Roms reichte. Und das liess den Papst nicht mehr zögern. Er krönte beide zu Kaiser und Kaiserin, und mit ihnen entstand das römische Reich von neuem. Burgund gehörte jedoch noch nicht zum Kaiserreich, denn hier regierte Adelheids Bruder Konrad. Er residierte nicht mehr wie seine Väter in Wimmis, Bümpliz, Murten oder Orbe, sondern in Aix-les-Bains, denn ihm gelang es Hoch- und Niederburgund zu vereinen. Kaiserin Adelheid war es aber, die nach Konrads Tod merkte, dass Konrads Sohn, Rudolf III., das burgundische Königreich nicht mehr zusammenhalten würde. Zu stark waren die Grafen geworden, als sie ihre Titel erblich machen konnten. Sie vertrieben Rudolf III. Er zog sich ins Mittelland zurück, gründete Neuenburg und förderte mit dem benachbarten Kloster Bevaix den Weinbau an den goldigen Küsten seines Sees. Adelheid selber vermachte ihre wichtigsten persönlichen Besitzung in Burgund, die Klöster St. Maurice und Moutier-Grandval den Bischöfen von Sitten und Basel. Kloster Payerne schenkte sie dem Kloster Cluny im Herzogtum Burgund.

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Die sonderbare Stellung der Bischöfe als christliche Kirchenführer und reiche Grundherren im untergegangenen Burgunderreich sollte im 11. Jahrhundert auch zum Eklat führen. Ganz Burgund kam jetzt zum römischen Kaiserreich, doch dieses verschluckte sich daran fast. Es stritten sich der Papst und der Kaiser um die Vorherrschaft im deutsch-römischen Kaiserreich. Beide beanspruchten, die Bischöfe als wichtigste Regionalfürsten einsetzen zu können. Im Süden setzte sich der Papst durch, im Norden der Kaiser, und in Burgund kam es zu einem Patt, sodass die beiden Streithähne Verbündete suchten. Der Kaiser förderte eine Strassenverbindung nach Burgund von Basel über Nidau, Neuenburg bis Lausanne und Genf. Auf dem Weg dazwischen unterstütze er die Grafen von Fenis, dem heutigen Vinelz am Bielersee. Das war dem Papst zu viel. Er förderte im Gegenzug die Herzöge von Zähringen, eigentliche Schwaben, die jedoch wegen ihrer Papsttreue vom Kaiser verdrängt wurden. Sie bauten eine Gegenstrasse, von Freiburg im Breisgau über Rheinfelden, nach Buchsee, das sie Herzogenbuchsee nannten. Von herzöglichen Kloster aus ging es nach Burgdorf, Bern, Murten, Thun und Freiburg. Ueberall gründeten die Zähringer neue Städte oder bauten untergegangene auf. Dann allerdings war es fertig. Das grosse Ziel, bis nach Lausanne, Sitten und Genf zu gelangen, erreichten die Zähringer nie. Immerhin, erstmals seit römischen Zeiten hatte man so wieder Städte gegründet, und den Charakter des Landes mit diesen mittelalterlichen Zentren erheblich veränderte. Die feudale Entwicklung verlief nicht überall so zersplittert wie im Espace Mittelland. Normal war es, dass ein Grafengeschlecht über längere Zeit herrschte, Bischöfe und Klöster als kirchliche Zentren, Burgen und Städte als weltliche überragten. Das war jenseits des Juras so, wo die Freigrafschaft Burgund entstand, die eine weitgehende Einheit bildete, was man bis heute sieht. Im Mittelland herrschte dagegen das Theater der Adeligen, die über Kleinstreiche verfügten, ohne dass sich ein mächtiges Grafengeschlecht wirklich durchgesetzt hätte.

Die Herrschaft der verschiedenen Eidgenossenschaften Die Kleinräumigkeit der Herrschaftsgebiete kam 1250 umso deutlicher zum Ausdruck, als der Papst den Kaiser aus der katholischen Kirche ausschloss und die faktische Spaltung zwischen deutschem Kaiserreich und italienischem Kirchenstaat bewirkte. Das Kaisertum zerfiel für fast 100 Jahre. Die neu gegründeten Städte, die vom lokalen über regionalen Handel lebten, mussten sich im Vakuum, das dazwischen entstand, selber organisieren. Sie gründeten im Aare- und Rheingebiet Schwurgemeinschaften auf Zeit, mit denen man das Faustrecht bekämpfte, solange es keinen König oder Kaiser gab.

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Die wichtigste dieser Eidgenossenschaften war die burgundische mit der Stadt Bern an der Spitze. Sie reichte zuerst nur nach Murten und Freiburg, später im ganzen Espace Mittelland. 1294 verfügte der deutsche König Adolf Bern eine neue Verfassung. Er anerkannte die Stadt als seinen Stellvertreter in der Region, und er verlieh ihr königliche Rechte. Bern stieg nun zum Stadtstaat auf. 1339 wurde das nochmals in Frage gestellt, doch Bern setzte sich in Laupen gegen den burgundischen Kleinadel militärisch durch. Das sicherte ihr die Anerkennung der Habsburger, und 1350 arrangierte man sich vertraglich auch mit den Savoyern. Die regionale Befriedung erlaubte es, dass Bern 1353 auch in die ehemals schwäbische Innerschweiz, wo in den Waldstädten auch eine Eidgenossenschaft entstanden war, bestehende Kontakte vertraglich regeln konnte.

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1415 wurde Bern sogar zum königlichen Stand erhoben. Es war jetzt wirtschaftlich, politisch und juristischer selbständiger Teil des deutschen Königreiches. Sein wichtigster Verbündeter war Solothurn, das Perspektiven nach Basel und an den Rhein eröffnete. König Sigismund stachelte die Berner jedoch an, gegen seinen stärksten Rivalen, die Habsburgerherzöge anzutreten und ihnen ihr Stammland im Aargau abzunehmen. Die Berner liessen sich nicht zweimal bitten und griffen bis zur Reuss aus. Das setzte die Luzern und Zürich unter Zugzwang, und auch sie eroberten habsburgische Gebiete auf der anderen Seite der Reuss. Und so vertrieb man die Habsburger aus dem Wasserschloss. Die Verwaltung diese Eroberungen war die erst gesamteidgenössische Aktion, und zu ihrer Verwaltung setzte man die Tagsatzung ein, dem Vorläufergremium des heutigen Ständerates. Erstmals seit den Zeiten der Helvetier wächst das Mitteland zusammen. Die Aare oder Reuss als Grenze zwischen Sprachregionen und Herrschaftsgebieten beginnt zu verschwinden. Schrittweise war so ein spätmittelalterliches staatliches Gebilde entstanden, das aber zwischen dem alten Königreich Burgund und dem alten Herzogtum Schwaben stand. Es gehörte aber immer noch zum deutschen Königreich. Die Bedrohung des Espace Mittellandes kam aus dem Herzogtum Burgund. Diese strebte danach, das burgundische Königreich erneut auferstehen zu lassen. Die mächtigen Herzöge von Burgund residierten in Dijon, waren durch Heirat in Flandern und den Niederlanden reich geworden und paktierten mit den Herzögen von Mailand. Nun organisierte Bern den Espace Mittelland als Kampfverband. Gemeinsam mit den Wallisern, den Freiburgern und den Solothurner griff man Savoyen als Vorposten Burgunds im Pays de Vaud an. Das forderte die Burgunderherzöge heraus, und so kam es in Grandson und Murten zu den bekannten Schlachten. Karl der Kühne bezahlte das mit dem Leben. Die Westschweiz hatte sich behauptet, letztlich aber nur mit der Unterstützung des Franzosenkönigs, der mit den Bernern gegen seine abtrünnigen Herzöge paktiert hatte, und der viel französisches Geld nach Bern fliessen liess.

Möglichkeiten und Grenzen der alten Eidgenossenschaft Die Eidgenossenschaft war um 1500 ein gefürchteter Kriegerstaat geworden, jedoch ohne einheitliche politische Führung. Nach dem Burgunderkrieg hatten die Verbündeten aus der Innerschweiz, durchgesetzt, dass die Kriegsbeute nicht nach der Zahl der Personen, die jeder Ort entsandt hatte, sondern unter allen Orten gleichmässig aufgeteilt worden. Eine Nation war das nicht, es war ein Staatenbund.

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Bern beeindruckte das nicht, es verhielt sich unvermindert wie eine regionale Grossmacht. Man griff in den französisch-habsburgischen Krieg um Italien ein, eroberte mit den Wallisern die oberitalienische Stadt Novarra, und man stand in Dijon siegreich mitten in der Stadt. Da hätte ein Herzogtum Bern als europäischer Gliedstaat entstehen können! Man entschied sich anders, liess sich den Abzug aus Dijon und Novarra vom Franzosenkönig mit gutem Geld bezahlen, verteilte das Geld im Espace Mittelland und liess die Innerschweizer in Marignano gegen die Franzosen untergehen.

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Bern war drauf und dran, mit Frankreich einen militärischen Pakt zu schliessen. Gegen den erhob ein Zürcher Opposition. Huldrich Zwingli, ein politisierender Pfarrer, der aus der katholischen Kirche ausgeschlossen worden war, reformierte dort Kirche und Staat. Und er fand in Bern bei den Gegnern des Söldnerwesens Unterstützung. Zwingli exportierte seine Reformation nach Bern, und das reformierte Bern exportiert Johannes Calvin nach Genf, um auch dort, die Reformation durchzuführen. Das war 1536 möglich, weil der Franzosenkönig unvermindert die Grafen von Savoyen schwächen wollte, und Berns Vorstoss in die Waadt sanktionierte. Der Bischof von Lausanne flüchtete nach Freiburg, der Basler Bischof ging nach Pruntrut und jener von Genf setzte sich nach Annecy ab.

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Doch jetzt war Bern zu stark. Solothurn, Freiburg und Wallis setzten sich ihnen ab, blieben katholisch und verbündeten sich ihrerseits mit der katholischen Innerschweiz. Damit komplizierten sich die territorialen Spaltungen. Die jungen Eidgenossenschaft zwar jetzt nicht nur sprachlich, sondern auch konfessionell geteilt. Denn Zürich, Basel, Bern, Lausanne und Genf waren reformiert, und der Rest des Landes blieb katholisch. Dennoch blieb die reformierte Schweiz abhängig. Militärisch siegten die Innerschweizer, und sie majorisierten die reformierten Städte bis 1712. Bern verfolgte unbeirrt seine pro-französische Politik. Der französische Ambassadeur bevorzugte als Sitz das katholische Solothurn, doch bei den Lieferungen schaute man nicht auf Konfessionen. Wichtigstes Exportgut aus dem Espace Mittelland waren die Söldner, welche die Landvögte in den Untertanengebieten von Reuss bis Lac Léman rekrutierten und nach Frankreich verkauften. Dafür vernachlässigte man in den aristokratischen Zentren die Förderung der Bildung. Gegen diese Politik regte sich im 18. Jahrhundert der Widerstand der Aufklärer. Die Menschenwürde wurde zum grossen Thema der Zeit, und das aristokratische Leben der Städter zum Gespött. Das blühte vor allem in den Untertanengebieten Berns, wo Jean-Jacques Rousseau zum intellektuellen Star aufstieg. Gestürzt wurde das Patriziat schliesslich durch die französischen Truppen, die 1798 einmarschieren, und aus der alten, 1513 entstanden 13örtigen Eidgenossenschaft einen Einheitsstaat formten.

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Zu stark waren damals jedoch die beharrenden Kräfte, sodass Napoléon in der Helvetischen Republik auf halbem Weg aufgab. Er machte aus der Schweiz wieder 19 Kantone, jetzt aber gleichberechtigte. Die Untertanenverhältnisse sollten aufgehoben werden. Bern wurde verkleinert. Die Vorherrschaft der deutschen Sprache im Staat wurde verboten, und man bekannte sich zur mehrsprachigen Schweiz. Auf Napoleon geht auch die erste Nationalversammlung, das Vorläuferparlament des Nationalrates, zurück. Die Helvetische Revolution, die er von oben angestrebt hatte, blieb aber aus. Erst 1833, mit der zweiten französischen Revolution sprang der liberale Funke auf die Schweiz über, und erst jetzt gelang der Durchbruch zum Bundesstaat.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft und ihre Herausforderung Die Schweizerische Eidgenossenschaft ist ein föderalistischer Staat. Sie bestand lange aus 22 Kantonen, mit der Trennung von Bern und Jura 1978 bilden 23 Kantone den Bundesstaat. Die Kantone sind Gliedstaaten mit erheblichen Mitsprachrechten. Das sind Kräfte, die man nicht einfach negieren kann. Ihre Alternative, die Schweiz der wenigen Regionen, liess sich 1798 nicht richtig durchsetzen. Die Regionen waren in fränkischer Zeit die massgebliche Grösse. Sie waren aber nie politische Gebilde, denn die Gaue waren stets Verwaltungseinheiten der Königreiche. Man war streng zentralistisch in den wichtigen Fragen, erlaubte der ansässigen Bevölkerung nur, nach altem Recht Urteile über Gesetzesbrecher zu fällen. Als die ehemaligen Beamten, Grafen, ihre Titel erben konnten und zu politisieren begannen, zerfielen die Regionen. Daraus ist kein neues Königreich, 17

sondern die Eidgenossenschaft gewachsen. Das Europa der Regionen ist heute ein Produkt der Europäischen Union. Diese ist aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, um den grossen Krieg Mitten in Europa inskünftig zu verhindern. Das ist ihre grosse Aufgabe. Damit sie das leisten kann, braucht sie eine leistungsfähige Wirtschaft. Das ist ihre andere Aufgabe. Ob die EU dabei blosse eine Regierungskonferenz ist oder ein europäischer Bundesstaat wird, ist noch offen. Je nachdem wird auch der Stellenwert der Nationalstaaten anders sein. Die Schweiz ist aber weder in der Reformation noch mit der französischen Revolution ein Nationalstaat geworden. Vielleicht hat sie deshalb auch nicht richtig mitbekommen, dass dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts der Supranationalismus des 20. Jahrhunderts gegenüber gestellt worden ist. Die Schweiz ist letztlich ein spätmittelalterliches Produkt, das im 19. Jahrhundert eine gründliche, liberale Reform erhalten hat. Sie verstand sich bis in die jüngste Zeit als Sonderfall. Im internationalen Umfeld ist sie das kaum mehr. Von den Voraussetzungen bleiben aber spezifische Probleme: Angesichts der konfessionellen und sprachlichen Spaltungen, die virulent sind wie fast nirgends, hat die Schweiz die Pflicht, zum Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen besonders Sorge zu tragen.

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Seit dem Mittelalter versuchte man, die Katastrophe von 610 im Mitteland zu verhindern. Die Eidgenossenschaft ist die politische Antwort darauf. Es gibt aber auch eine kulturelle Antwort: Es ist die Konkordanz zwischen Kulturräumen. Das ist die vornehmste Aufgabe des Espace Mittellandes, denn die gefährlichste aller Trennlinien geht mitten durch diese Region. Rudolf und Berta sind vielleicht die wichtigsten Kulturträger dieses Raumes. Sie begründeten auch den wichtigsten Beitrag der Region zur europäischen Geschichte: Kaiserin Adelheid. Die katholische Kirche hat sogar heilig gesprochen. Ihr Todestag gilt aber auch in der reformierten und selbst orthodoxen Kirche. Und er jährt sich am in 11 Tagen zum 1006 Male. Man muss es nicht einmal mehr nur mit der Kirche halten. Man kann auch so dieser wahren Europäerin aus dem Raum des Espace Mittelland 6 Jahre nach dem verpassten Millennium mit grosser Bewunderung begegnen.

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