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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Aula Von Arkadien nach Utopia Irdische Paradiese im Wandel der Zeit (1/2) Von Sabine Appel Sendung: Sonntag, 4. Januar 2015, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015

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Ansage: Mit dem Thema: "Von Arkadien bis Utopia – die Kulturgeschichte irdischer Paradiese". Wir alle sehnen uns nach dem Paradies – allerdings gibt es da viele Varianten, Formen, Ideenmuster. Das Paradies kann sich im Irgendwo, Nirgendwo befinden, es kann Sehnsuchtsort sein, aus dem alle Übel der Alltagsrealität verbannt sind, es kann Traumort sein, in dem Visionen anschaulich werden, es kann einen Ort darstellen für das Noch-Nicht sein, eine reine Utopie. Allerdings: Eine saubere Trennung all dieser Elemente ist kaum möglich, das Arkadien ist immer eine Mischform. Die Germanistin und Buchautorin Dr. Sabine Appel beschreibt in zwei Teilen, wie bestimmte Epochen ihre eigenen Sehnsuchtsorte kreiert haben, heute in Teil 1 geht es um die Antike:

Sabine Appel: Wir alle haben unsere persönlichen Paradiesesvorstellungen. Wir reden vom Urlaubsparadies, sogar vom Steuerparadies, oder wir konstatieren in diesem oder jenem Betreff paradiesische Zustände. Ungeachtet der Tatsache, dass das ursprünglich biblisch verortete Paradies, auf diese Weise gebraucht, leicht zur Floskel wird, wenn es etwa schon durch einen zweiwöchigen All-inclusive-Urlaub am schönen Traumstrand immerhin temporär erreicht werden kann, schwingt bei solchen Bildern vom Paradies doch immer ein Denken mit, das in einem weiteren Sinn religiös motiviert ist. Dabei wird eine Vollkommenheit imaginiert, die eigentlich in der irdischen Welt ohne Vergleich ist. Alles zusammengenommen, komprimieren sich hier unsere sämtlichen Träume vom Idealzustand menschlichen Lebens, aber auch von einer selbstvergessenen Existenz in einer Welt, die uns nichts aufgibt, nichts aufträgt als den selbstzweckhaften Genuss unseres Daseins. Leben ist Zweck an sich, Selbstgenügen und daher eine schöne, beständige Gegenwart. So gesehen, sind Paradiese vor allen Dingen ein zweckfreier Raum. Wir müssen nichts leisten, um glücklich zu sein. Einer arbeitsteiligen Welt und einer von Ökonomie, ausgeklügelter Zeitplanung und Effizienz durchdrungenen Leistungsgesellschaft sind solche Vorstellungen diametral entgegengesetzt. Vielleicht genießen sie vor allem darum eine so große Anziehungskraft, da wir uns zwar unter Umständen die Urlaubsparadiese leisten können, aber kein zweckfreies Leben jenseits des Leistungsprinzips. Bilder vom greifbaren Paradies, das sind Traumlandschaften wie eine Südseeinsel, die Vorstellung eines sorglosen, müßigen Lebens, schönes Wohlleben, Lebensfülle und Überfluss, gemeinhin auch die Abwesenheit von Arbeit und lästigen Pflichten. Die Paradiese in unserem Kopf bezeichnen einen visionären Gegenentwurf zu unserer Lebenswirklichkeit, unserer Alltagswelt. So schön, wie es im Paradies ist, kann es in unserem alltäglichen Leben eigentlich nirgendwo sein. Kulturgeschichtlich betrachtet, beschränken sich die irdischen Paradiese, eigentlich mythische Ursprungsorte der Menschheit, aber keineswegs nur auf Wohlleben, Genuss und Müßiggang. Sie transportieren vielmehr die Vision eines möglicherweise verlorengegangenen Heils, das der Mensch sucht und vielleicht niemals finden wird, eine Ursprünglichkeit oder aber auch einen Endzustand, der ihm als Ideal und als Maßstab dient, um sein Handeln, Sinnen und Trachten daran auszurichten, von dem 2

er aber wohl weiß, dass er zumindest zu seinen Lebzeiten nicht zu erreichen sein wird. Wir haben in der Kulturgeschichte vielfältige mythische und religiöse Begriffe dafür: Elysium, Seligkeit, Goldenes Zeitalter, Himmelreich, Insel der Seligen, Garten Eden, Arkadien oder Neues Jerusalem. Jedes Zeitalter und jede Kultur bildet hier ihre eigenen Prägungen aus. Gemeinsam ist ihnen allen aber der große Entwurf, der die Wirklichkeit überwindet, ja überschreitet, ihre Unvollkommenheiten hinter sich lässt und der eine Welt kreiert, in der Mangel und Not, Zwietracht und Unzulänglichkeit keinen Raum haben. Vorgestellt wird eine Weltharmonie, die weit entfernt von der allgemeinen Realität der Verhältnisse ist. In den mythologischen Darstellungen der Antike leben die Menschen noch einträchtig mit den Göttern, aber auch mit dem Rest der Natur in vollkommener Eintracht zusammen, ähnlich wie später in den Bildern von Wolf und Lamm in der Bibel. In vielen Anschauungen wird der verlorene Urzustand einer einst glücklichen Menschheit beschworen, bevor die Anmaßung eines Einzelnen oder die sündhafte Natur des gesamten Menschengeschlechts die Harmonie mit den Göttern oder mit dem Schöpfer durchbrach. Das Übel, das darauf in die Welt kam, wird als göttliche Strafe verstanden, was aber auch bedeutet, dass im Umkehrschluss, also bei wohlgefälligem Verhalten eine Wiederannäherung an den verlorenen Urzustand möglich ist, da ja auch die Erinnerung daran in uns erhalten blieb. Von daher ist das Heraufbeschwören irdischer Paradiese tendenziell immer auch mit moralischen Aufrufen zu einer Rückbesinnung verbunden, zu einer Abkehr von bereits eingeschlagenen, heillosen Irrwegen, durch die einer zur Schwachheit und Schuldverstrickung neigenden Menschheit eine Aussicht und Fernperspektive geboten wird. Einmal war alles gut! oder: Einmal wird alles gut sein! lautet die Botschaft, die trösten, ermahnen und direkt oder indirekt zu einem gott- oder göttergefälligen Handeln auffordern soll. Sämtliche irdische Paradiesesvorstellungen heben das einfache, genügsame und naturnahe Leben hervor und erheben es zum Gegenbild einer übersättigten und zivilisationsmüden Epoche. Wir können uns unsere Paradiese selbst schaffen, klingt darin mit. Wir müssen nur die richtige Einstellung haben und unser Leben entsprechend gestalten. Hesiod, neben Homer der Ãlteste Dichter der Griechen, trug Entscheidendes zu den rückbezüglichen Wunschbildern bei, die für die europäische Literatur konstitutiv werden sollten. In seinem um 700 vor Christus geschaffenen epischen Werk: "Werke und Tage" beschreibt Hesiod die mythische Urzeit, die er die Chronos-Zeit nennt, als die Goldene Zeit. Das war die Epoche, bevor Prometheus das Feuer geraubt hat, bevor Pandora erschien, um alles Übel über die Welt auszugießen und bevor Zeus die Welt ordnete, worauf die Not und der Zwang zur Arbeit in die Welt kamen. Da blühte die Erde noch in einem ewigen Frühling, und sie bot freiwillig ihre Gaben dem Menschen dar, ohne dass dieser sich um sie abmühen musste. Die Menschheit lebte, so kann man wohl sagen, in einem unaufgeklärten Zustand, aber in glücklichem Einklang mit der Natur. Die Ambivalenz des technischen Fortschritts, die in der Prometheus-Sage zum Ausdruck kommt, bestimmt bereits hier die arkadischen Wunschbilder im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach einer verlorenen Unschuld. Prometheus‘ Feuerraub ist eine erste, aber entscheidende Grenzüberschreitung. Er ist die Voraussetzung für zivilisatorischen Fortschritt, aber zugleich ein Akt des zivilen Ungehorsams gegen die göttliche Autorität. Der Mensch will die Welt beherrschen, und damit verliert er seine natürliche Einbindung in die göttliche und kosmische Weltordnung. In der Bibel haben wir später eine vergleichbare Auffassung. Nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, wird der ungehorsame, hybrische Mensch, der die Gott-Einheit aufkündigte, aus dem Garten Eden vertrieben. Das Wort "Paradies" stammt ursprünglich aus dem 3

Altpersischen und heißt wörtlich: "umzäunter Garten". In der orientalischen Welt wird das Paradies als ein üppiger Lustgarten vorgestellt. Bezüge zum Paradies finden sich auch in der großartigen orientalischen Gartenkultur. Ist der Unschuldsverlust, der uns aus unseren Paradiesen vertreibt, also eine reine Individualitätsproblematik? Damit wäre diese aber ein Grundproblem menschlicher Existenz, über alle Kulturen und Epochen hinweg. Dass der Mensch aus dem, was ihn umgibt, unweigerlich hinauszustreben versucht, worauf er die vermeintliche Einheit mit dem ihn Umgebenden aufkündigt, sei dies nun eine göttliche oder irdische Weltordnung oder die eigendynamische Ordnungsmacht der Natur, wie intakt oder nicht intakt diese auch immer sein mag, bestimmt auch das janusköpfige Antlitz menschlicher Zivilisationsfähigkeit. Die Arkadienbilder sind Ausdruck von Zivilisationskritik, so gesehen. Aber zurück zum frühgriechischen Dichter Hesiod. Vom Goldenen Zeitalter führt der Dichter die Menschheitsgeschichte über das Silberne und das Bronzene Zeitalter, über das Zeitalter der Heroen bis in seine eigene Gegenwart, und das ist die Eiserne Zeit, in der nichts mehr heilig ist, in der man keine Scheu vor den Göttern mehr kennt, keine Eide mehr hält und in der Recht und Gerechtigkeit keinen Platz haben, in der die Kinder ihre Eltern missachten und der Übeltäter zu Ansehen gelangt. Die Projektion einer „besseren“ und „gerechteren“ Welt als Gegenmodell zur bestehenden, jedenfalls nach Ansicht des zeitkritischen und grundsätzlich pessimistischen Autors, wird in diesem Epos hinreichend deutlich. Hesiods Lehrgedicht entzündet sich schließlich zu Beginn an einem Streit mit seinem Bruder Perses, dem der Dichter unrechtmäßigen Gelderwerb vorwirft, während er selbst das einfache, aber rechtschaffene Leben des Ackermanns preist. Eine solche Rückkehr zur Natur sieht er anscheinend als ersten, aber entscheidenden Schritt zu einer Umkehr in Richtung eines verlorenen Goldenen Zeitalters. Aber auch in Hesiods Darstellung der heroischen Zeit, die ja von seiner markierten Gegenwart so weit nicht entfernt ist, liegen die Sehnsuchtsbilder von Frieden und Eintracht, die die Menschheit fortan nicht mehr loslassen sollen. In der Zeit der Heroen lebten Tiere, Menschen und Götter in schöner Eintracht nebeneinander. Es gab keinen Besitz und folglich auch keinen Neid. Auch waren die Menschen hier ewig jung und daher auch nicht von physischer Beschwernis geplagt, von Krankheit und Siechtum, Alter und Tod. Besonders Letzteres, die Unsterblichkeit, eigentlich ein Attribut, das den Göttern reserviert ist, aber eben nicht den sterblichen Menschen zuteil werden soll, ist ein uralter Menschheitstraum – wenn dem Menschen auch andererseits immer bewusst bleiben sollte, dass die ganze Kostbarkeit des Lebens und alle seine großen Projekte im Grunde darauf aufgebaut sind, dass er sterblich ist und seine Vorhaben nur in einer begrenzten Zeit verwirklichen kann. Die Vergänglichkeit ist Anreiz und Antrieb; sie macht den Menschen zu einem voranschreitenden Wesen. Dennoch gehört die Unsterblichkeit zum arkadischen Traum, da das Sterben und nicht der Tod den eigentlichen Schrecken der Menschheit bezeichnet. Im Goldenen Zeitalter kam der Tod schmerzlos und durch Entschlafen. Alterslos, leidlos und ewig jung, so stellen wir uns ein arkadisches Leben vor. Dass dieses zugleich einen ewigen Frieden mitliefert und garantiert, geht nur implizit aus den Bildern in Hesiods Weltalterlehre hervor. Je mehr indessen ein Volk in der Geschichte von Kriegen und den Folgen langjähriger kriegerischer Auseinandersetzungen geplagt wurde – und auch die klassische Ära Athens war davon reichlich geplagt – , umso sehnsuchtsvoller wurden seine Friedensvisionen, seien diese nun in der antiken Ideallandschaft Arkadiens lokalisiert oder an einem anderen utopischen Ort. 4

Als Kontrastbilder zur historischen Wirklichkeit sind aber auch etwa Bilder von Nahrungsmittelüberfluss oder endlosem, alle Bewohner ganz mühelos nährenden und auch noch landschaftlich im besonderen Maße wohlgefälligem Lebensraum zu betrachten, während infolge der griechischen Kolonisation Knappheit von Ackerland oder Überbevölkerung herrschten. Das Schlaraffenland-Motiv, das bereits von griechischen Komödiendichtern im 5. Jahrhundert vor Christus verarbeitet wurde, auch wenn das Wort "Schlaraffenland" erst aus dem Mittelhochdeutschen entstand, um in den Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts eine besonders prominente Rolle zu spielen, stellt wahrscheinlich den denkbar größten Kontrast zu den Nöten eines Zeitalters dar, das nicht weiß, wie es die eigene Bevölkerung ernähren soll. Die Vorstellung, dass uns die gebratenen Tauben direkt in den Mund fliegen, ist geradezu eine sündhafte Vorstellung, jedenfalls an den Begriffen des christlichen Menschen gemessen. In den Flussbetten des Schlaraffenlands fließen Milch, Honig und Wein anstatt Wasser. Die Tiere hüpfen oder fliegen vorgegart und mundfertig in die genussfrohen Münder der Bewohner Schlaraffenlands, die sich daran erfreuen, dass Genuss hier als höchste Tugend gilt, während Arbeit und Fleiß zur Sünde erklärt werden. Das ist aber dann eine deutlich spätere Fassung als die der griechischen Komödiendichter, zu deren Zeit es den Begriff der Sünde schlicht noch nicht gab. Dass die elysischen Gefilde aber doch nur wenigen Auserwählten vorbehalten sind, wenn nicht gar nur den Göttern, geht aus der Sage von den Inseln der Seligen hervor, wie sie bei Hesiod vorkommt, aber auch in Homers "Odyssee". Die Inseln der Seligen, das ist Totenland, in dem wenige Auserwählte im heroischen Zeitalter weiterleben, aber auf eine Weise, die jede Wirklichkeit in den Schatten stellt. Die glücklichen, götterverwandten Heroen, die von den Göttern in die elysischen Gefilde versetzt worden sind, leben hier am Rande des Okeanos auf einem gesegneten Landstrich in heiterer, unvergänglicher Dauer. An strudelnden Tiefen des Weltstroms, so heißt es, haben sie hier, deren Herz keine Sorgen im Busen trägt, eine göttliche Wohnstatt. Die Früchte sind süß wie Honig, und der Acker lässt dreimal im Jahr sein üppiges Korn reifen. Diese eigentlich einfachen Lebensbedingungen und die entsprechende Haltung, die hier beschworen werden: Sorglosigkeit, aber kein üppiges Wohlleben, sondern relative Genügsamkeit, Heiterkeit, doch auf der Basis natürlicher Lebensgrundlagen, sich nährend von den Gaben der Natur, ohne Ausschweifungen, ohne Überfluss, bezeichnen zugleich mahnende Gegenmodelle zu den Gefahren überzivilisierter Gesellschaften, die an ihrem Wohlleben und an ihrer Maßlosigkeit, so lautet die Mahnung schon früh im antiken Denken, früher oder später zugrundegehen. Eine solche Auffassung findet sich etwa auch in Platons Atlantis-Mythos, der Geschichte von einer reichen, überbordenden und dann auf geheimnisvolle Weise im Meere versunkenen Zivilisation, die eben durch ihre Macht, ihren Reichtum, am Ende aber durch ihr Expansionsstreben in den Untergang geführt wurde, da sie keine Selbstgenügsamkeit pflegte, sondern den Gefahren und Verlockungen ihres Wachstums erlag. Alle utopischen Inselstaaten der kommenden 2400 Jahre, in denen so manche Idee von einer besseren und gerechteren Gesellschaft beredten Niederschlag fand, nährte sich mehr oder weniger am Mythos dieser versunkenen Insel Atlantis, obwohl er doch gerade als Mahnung gedacht war. In seiner "Politeia", die von der Frage ausgeht, was Gerechtigkeit sei, wie also ein gerechtes Staatswesen beschaffen sein müsse, entwirft Platon ein Gegenmodell zu Atlantis, und zwar in Gestalt "Ur-Athens", von dem das viel größere und mächtigere Atlantis militärisch besiegt wurde. Diese Urform der gegenwärtigen Polis war eine kleine, aber stabile und letztlich wehrfähige Landmacht, keine an ihrem 5

Expansionsdrang zerbrechende Seemacht. Die Tugenden, die von einzelnen Menschen und von den Gesellschaften gefordert werden, werden also auch von den Staatswesen gefordert, und diese lauten vor allem: Genügsamkeit, Selbstbeschränkung, Weitsicht und Maßhaltung. Alle Legenden und Überlieferungen von untergegangenen Zivilisationen sind mehr oder weniger mit der Deutung behaftet, dass sie an ihrer Maßlosigkeit scheiterten, an ihrer Gier nach Reichtum und Macht, und dass Gott oder die Götter die Hybris ihrer Herrscher und ihrer Bewohner bestrafte. Die Idealwelten, die hingegen am Anfang oder am Ende der Geschichte imaginiert werden, zeichnen sich gerade durch das Gegenteil aus. Die Menschen beschränken sich nur auf ihren unmittelbaren Lebenskreis sowie auf die elementaren Lebensgrundlagen, und sie finden hier ein bescheidenes, aber sorgloses Glück. Aller Unfriede und alles Leid hielt im Grunde erst dadurch in der Welt Einzug, dass Menschen ihren natürlichen Wirkungskreis überschritten, dass sie mehr wollten und immer mehr. Ohne diese Neigung zur Überschreitung, zur Hybris, zur Maßlosigkeit schenkt ihnen Gott oder schenken ihnen die Götter ewigen Frühling und ewigen Frieden, eventuell sogar ewiges Leben, und die Gaben der Natur bieten sich ihnen in der üppigen Vegetation eines milden Klimas gleichsam von selbst dar; sie müssen gegebenenfalls nicht einmal pflügen und ackern. Da sich die Läuterungsappelle, die mit solchen Gegenbildern zu den meisten historischen Wirklichkeiten verbunden sind, selten auf einzelne Menschen und meistens auf die anmaßende und machtmissbräuchliche Herrschaft von Staatswesen und ihrer Repräsentanten beziehen, aber auch auf die Gesellschaft als Ganzes, enthält jede Utopie, jedes Arkadien unweigerlich sozialkritische Töne. Neben ihren zeitbezogenen Komponenten besitzen sie aber auch überzeitliche Elemente, denn welches Staatswesen in Geschichte und Gegenwart, welche Gesellschaft wäre wohl je als ideal oder mustergültig zu bezeichnen gewesen? In Platons Staatslehre, der Politeia, der ersten abendländischen Schrift, die eine ausgearbeitete politische Philosophie präsentiert, wird, ausgehend von der Frage nach der Gerechtigkeit, ein Idealstaat vorgestellt, der sich vielleicht gerade dadurch auszeichnet, dass er nicht unbedingt für den Praxistest taugt und an den realen Gegebenheiten der Polis orientiert ist, sondern dass er sich als imaginäres Konstrukt an den höchsten Begriffen messen muss, die nach der platonischen Seelenlehre und dem durch Sokrates vermittelten Stufenweg der Erkenntnis als oberste Richtlinie angelegt sind. Das ist die Erkenntnis des Schönen, Wahren und Guten an sich, zu der die Seele am Ende einer langen Stufenleiter des Erkennens im Idealfall gelangt. Gemeinhin leben die Menschen nämlich, so heißt es bei Platon, wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle besitzt. Von da aus sehen sie die Wirklichkeit wie Schattenbilder an ihrer Höhlenwand. Die „eigentliche“ Wirklichkeit dagegen liegt draußen – beziehungsweise oben –, im Licht. Sie bezeichnet das wahrhaft Seiende, an das der bildungsfähige Geist sich gewöhnen muss wie die Augen an ein gleißendes Sonnenlicht nach langem Aufenthalt in einer Höhle. Dass nun gerade die Philosophen diesen imaginären platonischen Staat lenken sollen, liegt darin begründet, dass diese mutmaßlich imstande sind, den ganzen Stufenweg zu bewältigen, dass sie Einblick in die höchsten Begriffe des Seienden haben, dass also mit ihnen ein Staat, der sich am höchsten Maßstabe der Gerechtigkeit orientieren soll, von solchen gelenkt wird, die der sokratischen Forderung entsprechen, die Harmonie und innere Gerechtigkeit der Seele, welche mit der gerechten PolisOrdnung übereinstimme, als Maßstab des rechten Handelns zu nehmen. Ein solcher Staat muss aber eigentlich im Imaginären verbleiben. Vielleicht konnte man annehmen – und es klingt an im Text –, dass die Philosophen in Platons imaginärem 6

Staatswesen weniger als andere Menschen geneigt sind, der Gier nach Macht, Reichtum und Ruhm zu erliegen oder der unter Herrschern so weitverbreiteten Sucht nach Krieg. Aber es bleibt doch dabei, dass ein solcher Staat, der auf Begriffen aufgebaut ist, welche eigentlich in die göttliche Sphäre gehören und von den wenigsten Menschen auch nur ansatzweise erfasst werden können, im Leben unter menschlichen Bedingungen nur recht wenig Chancen auf Verwirklichung hat. Entsprechend antwortet Sokrates auch dem Glaukon, als dieser zaghaft zu verstehen gibt, er glaube nicht, dass die Gründung eines solchen Staates auf der Erde wirklich irgendwo vorkomme. "Doch vielleicht [...] ist sie im Himmel als Musterbild – PARÃDEIGMA – für den aufgestellt, der es sehen will und der sein Leben nach dem einrichten will, was er da sieht. Es kommt aber gar nicht darauf an, ob sie irgendwo besteht oder bestehen wird; denn mit ihr allein wird er sich befassen wollen und sonst mit keiner."1Platon: Politeia, IX, 592 a - b Also: Der Himmel befasst sich mit dem Musterbild des gerechten Staates, nicht unbedingt die Menschen oder die Herrschenden. Für die besonders vernunftbegabten Teile einer Gesellschaft, die mehr Einsicht als andere haben in die wahre Natur dieser Welt, die das Seiende in seiner Ur-Form erfassen können und die über das Trugbild der Höhlenschatten erhaben sind, mag das Paradigma des gerechten Staates ein Anreiz und Leitbild sein, um ihre Begriffe daran zu schulen und eventuell die Herrschenden auch in diesem Sinn zu ermahnen. In der irdischen Welt hat das Musterbild aber offenbar keine wirkliche Heimstatt. Der Philosoph Platon aus dem Munde des Sokrates oder auch umgekehrt macht sich keine Illusionen darüber, dass in dieser Welt nicht die Gerechtigkeit siegt, sondern bestenfalls eine Leitlinie bildet. Philosophische Ratgeber von Herrschenden gab es in der Folge durch alle Epochen hindurch schließlich mehr als genug – mit zweifelhaften Erfolgen, im Ganzen betrachtet, was aber meistens nicht an den Ratgebern lag. Der utopische Charakter der Staatslehren, wenigstens der vielfach gezeichneten Bilder eines idealen Staatswesens, wie sie diese platonische Schrift initiierte, ist hier jedenfalls nachdrücklich angelegt. "Utopia" heißt wörtlich: "Nicht-Land", "NirgendwoLand". Thomas Morus, ein Denker der Neuzeit, hat das Wort über 1900 Jahre nach Platon in ausdrücklicher Anlehnung an Platon geprägt und eine langlebige literarische Gattung damit ins Leben gerufen. Die Projektion idealer Staatswesen auf irgendeine, geographisch nur äußerst vage oder auch gar nicht lokalisierte Insel in sehr weiter Ferne enthob die Zeitgenossen dann auch immer der Notwendigkeit, diese an den realen Gegebenheiten und Möglichkeiten der Jetzt-Zeit zu messen oder sie gar irgendwo realisieren zu wollen. Sind die politischen Utopien also nur Denkspiele? In manchen Fällen möchte man das sogar hoffen. Der Traum vom einfachen und naturnahen Leben, einer intakten Idealexistenz, wie sie die mehr oder weniger korrupte Gesellschaft nicht bieten kann, wie sie aber vielleicht einmal am Anfang der Zeiten bestanden hat, wird besonders in Krisenzeiten geträumt, in Gesellschaften, die in Auflösung begriffen sind oder in denen sich zivilisatorische Entwicklungen in einem Zustand der Überreife befinden, angesichts dessen man davon ausgehen muss, dass er früher oder später zur Implosion führen wird. Da besinnt man sich gern auf die Ursprünglichkeit, auf die vermeintliche Kindheit des Daseins. Wenn das Leben zu kompliziert wird, dann geht man zurück zu den Ursprüngen. Utopien sind Regressionsträume, und zwar nicht unwesentlich, vom psychologischen Standpunkt betrachtet. Im eigentlich aufstrebenden und zukunftsgerichteten Zeitalter der Entdeckungen, also der frühen Neuzeit, war es 7

vielleicht die überwältigende Rasanz der Veränderungen, die so beängstigend war, dass utopische und zugleich zeitlose Idyllen beschworen wurden, durch die man sich die Vorstellung eines geborgenen Ursprungs bewahrte. In der Spätantike, in der Renaissance, im Barockzeitalter und im sogenannten "Rokoko", am Vorabend der Französischen Revolution, waren die Schäferdichtungen jedenfalls besonders beliebt. Der Erfinder Arkadiens ist der römische Dichter Vergil. Nicht, dass es Arkadien nicht gab oder nicht gibt. Arkadien ist eine reale griechische Landschaft im Zentrum des Peloponnes, ein von Bergen umschlossenes Hochland, das zu 61 Prozent aus reinem Gebirgsland aus Kalkstein besteht. Die von Vergil und seinen Nachfolgern stilisierte Ideallandschaft Arkadiens hat allerdings nur recht wenig mit dem realen Vorbild gemein – zumal die Dichter, die es besangen, nahezu ausnahmslos das reale Vorbild nicht kannten. Vor allem ist die arkadische Landschaft nicht lieblich wie in den literarischen Überlieferungen, sondern durch seine Gesteinsformationen imposant und zerklüftet, aber auch sonst rau und karg. Da der Boden so wenig ertragreich ist und zur Landwirtschaft nicht geeignet, nutzte man ihn hauptsächlich als Weideland. Das ist aber dann auch der einzige historische Bezugspunkt in der Schäferdichtung Arkadiens. Vergil bezog sich in seiner Ortswahl vermutlich auf die Schriften des Historikers Polybios, der die Bewohner dieses Landstriches als besonders musisch bezeichnete, da sie sich regelmäßig im Gesang übten und in musikalischen Wettbewerben ergingen. Frohsinn und Liebe, Musik und Gesang, überschaubare Misshelligkeiten vor dem Hintergrund der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten, die für die Lebensalter der Menschen wie der Kulturen stehen, vertändelte Nachmittage stets müßiger Hirten mit anmutigen Nymphen im schattigen Hain – das war und blieb gewissermaßen die bukolische Grundszenerie, vorgebildet allerdings mit deutlich stärkeren realistischen Zügen durch den hellenistischen Dichter Theokrit zu Beginn des dritten Jahrhunderts vor Christus. In den Hirtengedichten seines römischen Nachfolgers finden sich aber neben der Rezeption von Hesiods Weltalterlehre und der Annahme einer Goldenen Zeit, die sich in dem glücklichen Treiben der Hirten und Landbewohner spiegelt, auch vielfache Bezüge zur historischen Wirklichkeit in Vergils eigener Gegenwart. Von den Folgen des Bürgerkrieges, der nach dem Sieg des Antonius und Oktavian über die Cäsarmörder Brutus und Cassius im Jahre 42 vor Christus grassierte, war der Dichter unmittelbar betroffen, so dass die Hirtenidyllen einschließlich der darin geforderten Rückbesinnung und Umkehr zugleich auch als Mahnung an seine Zeitgenossen im gegenwärtigen Italien zu lesen sind. Kaiser Augustus wird in der "Georgica" Vergils mehrfach als Friedensbringer mystifiziert. Das später geflügelte Wort: "Schwerter zu Pflugscharen!", ein Teilzitat aus der Bibel, findet sich bei Vergil bereits umgekehrt in einer ähnlichen Formulierung, wenn der römische Dichter beklagt, sein Zeitalter schmiede "die gebogenen Sicheln zu furchtbaren Schwertern".1Vergil: Georgica, I, 508 Aber der römische Dichter ging noch viel weiter in seinen Versuchen, einen Ausweg aus den Nöten der Gegenwart im Sinne einer kulturellen Zukunfts- und Heilsvision zu entwerfen. Der geistig-moralischen Krise, in der sich das Römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befand, entsprach das Bedürfnis nach grundlegender Erneuerung, dem Vergil Ausdruck verleiht, indem er verkündet, nur ein Heilsbringer könne diese innere Erneuerung garantieren. In der vierten Ekloge seiner Hirtengedichte prophezeit der Dichter die Geburt eines göttlichen Knaben, der den Frieden bringen und der das Eiserne Zeitalter in ein Goldenes Zeitalter zurückführen werde. Spätere Interpreten haben darin eine Antizipation Jesu Christi 8

gesehen. Der Dichter der Spätantike galt daraufhin geradezu als visionärer christlicher Dichter, als ein Vorbote des noch nicht in Erscheinung getretenen Christentums. Mit dem Knaben könnte allerdings auch der von Vergil so häufig gepriesene Kaiser Augustus gemeint sein. Hirten und Schafe nehmen dann schließlich in der christlichen Bild- und Deutungswelt eine durchaus vergleichbare Rolle ein wie in den antiken Hirtenidyllen. Sie sind das Spiegelbild einer wiedergewonnenen Unschuld und der Erneuerungsfähigkeit des inneren Menschen. Die Hirten auf dem Felde sind es, die sich laut biblischer Überlieferung als erste zur Begrüßung des Jesuskindes einfinden, nachdem dieses in einem Stall, in einer Krippe zur Welt kam. Dass Schafe sicher weiden können, gilt fortan als Umschreibung für eine friedliche Weltordnung, die das Reich Gottes auf Erden verbrieft. In den folgenden anderthalb Jahrtausenden Christentum, bis der RenaissanceHumanismus eine Rückbesinnung auf die antiken Schriften einleitete, gab es dann auch entsprechend wenige nennenswerte Versuche, eine innerweltliche Vollendung zu denken, parallel oder alternativ zur christlichen Heilslehre. Alle Hoffnungen richteten sich demnach auf ein eschatologisches Heil, und dieses ist essentiell jenseitsgerichtet. Die christliche Utopie ist die Lehre von den letzten Dingen, und in dieser hat die Überwindung des Todes eine ganz wesentliche Bedeutung. Der Erlösungsgedanke – Erlösung von unseren Sünden, aber auch die Erlösung vom Tode – war es schließlich, was im zerfallenden römischen Weltreich eine so große Anziehungskraft auf die Menschen ausübte und sie für die neue christliche Religion öffnete. Wenn Paulus von Jesu Auferstehung spricht oder vom ewigen Leben, bezeichnet der Apostel damit eine vollkommen neuartige Qualität, die die Antike nicht kannte. Die christliche Heilslehre birgt das Versprechen, die großen Erlösungssehnsüchte der Menschen zu erfüllen: ein Leben nach dem Tod, ein großes Weltgericht über alle Lebenden und Toten und eine endzeitliche Gerechtigkeit. Universal betrachtet, geht es dabei um nichts Geringeres als um Weltvollendung und um das Ende der Geschichte. Für Utopien im Hier und Jetzt blieb da einstweilen kein Raum. (Teil 2, Dienstag, 6. Januar, 8.30 Uhr)

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Sabine Appel studierte Germanistik und Philosophie in Mannheim und Heidelberg, Paris und Cambridge. Promotion 1995. Sie arbeitet heute als freie Buchautorin und schrieb u. a. Biografien über Johann Wolfgang von Goethe (Buch des Jahres 1998), Caroline Schelling und Friedrich Nietzsche. Bücher (Auswahl): – Caroline Schlegel-Schelling – Das Wagnis der Freiheit. C.H. Beck-Verlag. 2013. – Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist. C.H. Beck-Verlag. 2011. – Im Feengarten. Goethe und die Frauen. Dva. 1998.

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