Lehrer lernen lehren. Serie. von Sabine Etzold

Lehrer lernen lehren Gut unterrichten ist ganz einfach. Ein Unternehmensberater und ein praktischer Pädagoge zeigen in den Schulen, wie das geht. Teil...
Author: Oskar Geier
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Lehrer lernen lehren Gut unterrichten ist ganz einfach. Ein Unternehmensberater und ein praktischer Pädagoge zeigen in den Schulen, wie das geht. Teil 2 der ZEITvon Sabine Etzold

Serie

Lehrer Herbert Rürup von der Otto-Hahn-Realschule in Herford bringt das Elend auf den Punkt: "Ich habe in meiner Ausbildung nie gelernt, wie man unterrichtet. An der Uni habe ich vor allem Altfranzösisch studiert und nebenbei ein bißchen Pädagogik. Am Lehrerseminar ging es zwar praktischer zu, aber von dem, was ich da gelernt habe, kann ich heute im Unterricht nichts mehr gebrauchen." Auch Rürups Kollegen haben sich klargemacht, wie schwer es ihnen fällt, guten Unterricht zu geben: das Interesse der Schüler am Stoff zu wecken, ihre Lernbereitschaft zu mobilisieren, ihnen dauerhaft etwas beizubringen, sie gar für etwas zu begeistern - kurz: ein guter Lehrer zu sein. Und was die Lehrer in Herford aus eigener Kraft nicht schaffen, sollen sie nun mit fremder Hilfe in einem einzigartigen Schulprojekt lernen: Es umfaßt sowohl ein organisatorisches Training der Lehrer durch einen Unternehmensberater als auch eine pädagogische Schulung, um künftig die Schüler mehr und die Lehrer weniger arbeiten zu lassen. So soll die darbende Schule wieder zur tragenden Institution werden. Am Anfang stand ein einziger Hilfeschrei. Vor zwei Jahren hatte die Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh die Schulen im Kreis Herford gebeten, die eigenen Schwächen und Stärken zusammenzustellen, erzählt Wilfried Lohre. Er leitet das Projekt "Schule und Co", das zunächst reichlich abstrakt anmutet. Im kleinsten Kreis Nordrhein-Westfalens will die Stiftung in fünf Jahren eine "regionale Bildungslandschaft" entwickeln, eine Kooperation zwischen den Schulen untereinander und in Zusammenarbeit mit der Kommune, dem ortsansässigen Handwerk, den Wirtschaftsunternehmen, Arbeitsämtern und Kirchen. Parallel zu Herford läuft das Projekt - urbi et orbi - auch in Leverkusen. Landkreis und Stadt sollen mit Bertelsmanns Hilfe den Schulen

eine Art Frischzellenkur verpassen.

Federführend ist die Stiftung, finanziert aber wird zusammen mit den Kreisen Herford und Leverkusen und dem Schul- und Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalen. Viereinhalb Millionen Mark gibt die Stiftung; die Kreise je 500 000; das Land eine Million in bar und dazu bis zu zehn Millionen in Form von Lehrerfreistellungen. "Das ist nicht viel. Aber gute Ideen müssen nicht immer teuer sein", sagt Lohre. Das Vorbild liegt in Kanada. Hier stieß die Bertelsmann Stiftung - getreu ihrem Motto "Vom Fremden lernen" - auf das Durham Board of Education in der Provinz Ontario, ein Schulprojekt, das, wenn man den begeisterten Berichten trauen darf, eine pädagogische Wüste in wenigen Jahren zur blühenden Schullandschaft verwandelt hat. Aber Herford ist nicht Ontario. Die Schulsanierer aus Gütersloh hatten zunächst einmal Mühe, das niederschmetternde Ergebnis ihrer Umfrage zu verdauen: Der Unterricht ist viel schlechter als alle wahrhaben wollten. Was wurde in der Vergangenheit nicht alles ausprobiert - alle erdenklichen Unterrichtsarten, Kurssysteme, eine neu strukturierte Oberstufe, komplizierte Notenvergabeverfahren oder deren Abschaffung, bis hin zu neuen Schultypen wie die Gesamtschulen. Fast 30 Jahre lang haben Pädagogen und Politiker die Schulen in Deutschland überzogen mit Experimenten, Modellversuchen, pädagogischen Moden. Und nun dieses: Die bestbezahlten und vermeintlich bestausgebildeten Lehrer der Welt leisten den Offenbarungseid. Ist Herford überall in Deutschland? Die Träume von der blühenden Schullandschaft wurden vertagt. Vor allem müten die Lehrer das Lehren neu lernen, hieß es nun. Wilfried Lohre war Beamter im Düsseldorfer Kultusministerium, bevor er bei Bertelsmann zum Manager mutierte. "Mein schönstes Kompliment bei der Einstellung war, ich sei kein typischer Beamter", erzählt er. Schon früh war ihm unter den zahllosen Reformern Heinz Klippert aufgefallen. "Ursprünglich auch so 'n beseelter 68er, Maschinenschlosser und dann Lehrer über den zweiten Bildungsweg." Klipperts Schularbeit wurde in den vergangenen 20 Jahren nur von wenigen Eingeweihten zur Kenntnis genommen, trotz vieler Publikationen und praktischer Projekte in den Schulen. Doch sein Ansatz ist wohl zu unprätentiös, um aufzufallen inmitten all der schulreformerischen Höhenflüge. Klippert will die Schule nicht neu erfinden, sondern einfach verbessern. Und das geht nur, wenn die Schüler mehr arbeiten und die Lehrer weniger. Die Schüler seien vom Unterricht notorisch unterfordert, ihre Fähigkeiten würden durch den üblichen Unterricht kaum mobilisiert. Die Lehrer strampeln sich vergeblich ab, um die träge Masse in Bewegung zu bringen. Und geben sich dann auch noch die Schuld, wenn das nicht funktioniert. "Unterricht ist wie Nahrungsaufnahme", meint Klippert, "es wird serviert, geschluckt, verdaut und vergessen." Daran hat sich im Lauf der Jahre wenig geändert - trotz des großen Reformrummels: 60 bis 80 Prozent der Stunde redet, "belehrt" der Lehrer, und die Schüler tun so, als hörten sie zu - wenn überhaupt. Zwar ist

pausenlos mit neuen Unterrichtsformen experimentiert worden: Projektwochen, Arbeitsgruppen, Stuhlkreise, Rollenspiele - aber wie die pädagogische Animation auch daherkommt, am Ende kehren Schüler wie Lehrer irgendwie erleichtert zur "normalen" Schule zurück. Doch die Jugendlichen heute, gewöhnt an ganz andere Geschmacksreize, nehmen die trockene Schulkost immer widerwilliger zu sich, was die Anstrengungen der Lehrer, sie ihnen durch noch buntere Verpackungen schmackhafter zu machen, zunehmend grotesker erscheinen lässt. Sein Berufsleben lang hat Heinz Klippert an einem Konzept gebastelt, das diesen Teufelskreis aufbrechen soll. Was schließlich dabei herauskam, heißt EVA, bedeutet "Eigenverantwortliches Lernen" und besagt im wesentlichen: Wenn die Schulen dazu da sind, daß die Kinder etwas lernen, dann muß man ihnen zuallererst beibringen, wie man lernt. Und den Lehrern muß man beibringen, wie man das Lernen lehrt. Genau das versuchen jetzt die Reformer in Herford und Leverkusen. Das Projekt "Schule und Co" ist also eine gigantische Anstrengung zur Lehrer- Schüler-Nachqualifikation geworden. Unter dem Motto "Qualitätsorientierte Selbststeuerung an Schulen" sind von den insgesamt 147 Schulen der beiden Modellregionen 52 Schulen aller Arten beteiligt, davon 37 im Kreis Herford, 15 in Leverkusen. Sie haben sich für die Teilnahme am Projekt selbst beworben, sind also freiwillig dabei. Je nach Schulgröße wurden drei- bis neunköpfige "Steuergruppen" gebildet, ein Lehrerteam, welches das Projekt an der eigenen Schule durchziehen soll. Die Mitglieder dieser Steuergruppen, das sind insgesamt etwa 300 Lehrer, werden zwei Jahre lang geschult. Diese Schulung unterscheidet sich gründlich von dem, was den meisten Lehrern in einem langen Schulleben begegnet ist (und was wohl manchem altgedienten 68er mächtig unter die Haut geht): Unterrichtet wird von einer Unternehmensberatungsfirma, und auf dem Stundenplan stehen Teufelskünste wie Planungstechniken, Zeitmanagement, Evaluationsverfahren oder Konfliktmanagement. Droht hier die Gefahr, "daß Schule vorwiegend nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert werden sollte und die pädagogischen Bezüge zurücktreten", wie ein Regierungsschuldirektor der Region befürchtete? Betriebswirtschaftliche Aspekte müssten vielmehr endlich dringend entwickelt werden, um Schulen leistungsfähig zu machen, meint dagegen Klaus Dyrda vom Management Zentrum Dyrda & Partner, das im Auftrag von Bertelsmann mit den Paukern paukt. Wie geht man mit den Ressourcen um? Wie überprüft und sichert man die Unterrichtsqualität? "Was Klippert für die Schüler tut, das machen wir für die Lehrer", erklärt Dyrda und schimpft: "Da sagen die Politiker den Schulen ständig, sie sollten endlich autonom handeln, aber wie das geht, sagt man ihnen nicht." Dabei seien die Pädagogen durchaus lernbereit, "wenn auch anfangs ächzend". Daß bei Anstrengungen auch etwa herauskommen muß, das meßbar und gegebenenfalls verbesserungswürdig ist, sei für Lehrer völlig ungewohnt.

Das Haupthindernis der Schule auf dem Weg der Selbsterneuerung ist seiner Ansicht nach die mangelnde Teamfähigkeit der Lehrer. Deutsche Lehrer würden traditionell zu Einzelkämpfern ausgebildet, zu Beamten, die einer staatlichen Anstalt dienen. Für das, was sie in der Klasse machen, wenn sie die Tür hinter sich geschlossen haben, brauchen sie sich nicht zu rechtfertigen. "Laß mich in Ruhe, dann tue ich dir auch nichts" lautet der Brauch der Lehrer, die zusammen alt werden. Die Otto-Hahn-Realschule ist schon weit vorangekommen auf ihrem Weg zu einer "lernenden Organisation". Sie gehört zu den "Klippert-Schulen", zu den elf Modellschulen also, die, zusätzlich zum Training beim Unternehmensberater, von Heinz Klippert in das EVA-Konzept eingewiesen werden. Die Lehrer sollen dann ihrerseits im Schneeballsystem ihre Kollegen unterrichten. "Sie werden sehen, daß der Unterricht damit sofort zu verbessern ist", hatte Klippert versprochen. Sie haben es ausprobiert - und es hat tatsächlich funktioniert. Eine Woche lang trainierten einige Lehrer mit einer fünften und einer siebten Klasse nach Klipperts Methode, und daraus wurde ein ganz ungewöhnliches pädagogisches Abenteuer. Zunächst einmal fand das Ganze nicht im Schulgebäude statt, sondern im Gemeindehaus. Der 45-Minuten - Unterrichtstakt - nicht nur nach Klipperts Ansicht ein zerstörerisches Relikt deutschen Schulunwesens - wurde außer Kraft gesetzt und statt dessen bis zum Umfallen an ganz anderen "Fächern" gearbeitet. "Im Lexikon nachsehen, wie man ein Wort schreibt, das dauert ewig", erzählt eine Lehrerin. Oder das richtige Markieren und Gliedern von Texten: "Da haben sie dann fast alles unterstrichen." Ein riesiges Defizit liegt im Artikulationsvermögen: einen Sachverhalt ausformulieren, eine Diskussion führen, gar einen Vortrag aus dem Stegreif halten - all diese Methoden zur Erleichterung von Lernen und Arbeiten werden nicht gefördert im üblichen Unterricht, den immer noch zu beinahe 80 Prozent der Lehrer mit seinen Monologen füllt. Als die Schüler sich im Training einmal bewußtmachen sollten, zu welchem Lerntyp sie zählen, kam heraus: Am meisten lernen sie durch eigenes Handeln (Pflanzen sammeln, Theater spielen, Texte exzerpieren) - am wenigsten aber durch reines Zuhören. "Und wie oft sage ich zu einem Schüler: Verdammt noch mal, jetzt hör mir doch endlich zu! Genau das aber tut der am allerwenigsten." Lehrer Rürup ist erschüttert. Lehrer und Mütter leiden an einem Helfersyndrom Weiteres Defizit: Ihre Zeit und Arbeit organisieren die meisten Kinder und Jugendlichen nicht selbst, sondern die Eltern, in der Regel die Mütter. Da wird der gesamte Tag sorgend begleitet - und nicht erkannt, wie diese "Ich tue doch alles für mein Kind"-Haltung eher verhindert, daß Schüler selbständig ihre Aufgaben organisieren. Praktisch bedeutet dies, daß auch die Eltern in das Projekt eingebunden werden, womit man an der Otto-Hahn-Realschule bereits begonnen hat.

Am Helfersyndrom leiden aber nicht nur die Mütter, sondern oft auch die Lehrer. Daß man Selbstorganisation nicht lernt, indem der Lehrer erklärt, was das ist, sondern nur im Selbstversuch, erlebt Klasse fünf des Weser- Gymnasiums in Herfords Nachbarstadt Vlotho in einer weiteren Trainingseinheit. Es geht um das Thema: Wie bereite ich mich auf eine Klassenarbeit vor? Die Aufgabe: gemeinsam mit anderen ein Lernplakat entwerfen. Jeweils sechs Schüler arbeiten zusammen, versuchen optisch umzusetzen, was ihnen zuvor zum Thema eingefallen ist: "Also, noch mal die Vokabeln angucken" - "Abends nicht so lange fernsehen, sondern ausschlafen" - "Bei der nächsten Arbeit früher mit dem Lernen anfangen" und, da man ja nun seinen Lerntyp kennt: "Sich nicht verrückt machen!" Damit aber nicht geschieht, was seit jeher jegliche Gruppenarbeit im Unterricht zunichte macht, daß nämlich einer arbeitet und die anderen Trittbrett fahren, werden die Gruppen nach dem Losverfahren zusammengestellt. Keine verschworenen Freundeskreise, sondern "Zwangsgemeinschaften" - ein einfacher Trick mit enormer Wirkung. Das Ergebnis jeder Gruppe wird hinterher in einem kleinen Stegreifvortrag präsentiert, von einem Schüler, der ebenfalls per Los bestimmt wird. Der Lärmpegel in Klasse fünf ist hoch, doch das Chaos im Klassenzimmer hat seine innere Ordnung. Bei einer derartigen Unterrichtsorganisation ist es egal, ob eine Klasse aus 15 oder 45 Schülern besteht, behauptet Heinz Klippert: "Kein Kind bleibt unbeschäftigt, keiner kann sich ausklinken." Dabei ist der pädagogische Wert mit Händen zu greifen. Jeder bastelt am Gemeinschaftswerk, arrangiert sich in mitunter heftigen Diskussionen mit einem Teammitglied, das normalerweise zur anderen Clique gehört, und legt sich fürs Gruppenresultat schon deshalb ins Zeug, weil das Los ihn dazu verdonnern könnte, sich der Allgemeinheit zu präsentieren. Derweil wandern die Lehrer - zu zweit! - entspannt zwischen den Gruppen umher und sind hauptsächlich damit beschäftigt, das neue Teamgefühl zu genießen und ihr eigenes Helfersyndrom zu unterdrücken. So einfach kann guter Unterricht sein? Die Lehrer von der Otto-Hahn- Realschule und vom Weser-Gymnasium sind inzwischen davon überzeugt und nehmen die große Mehrbelastung gerne auf sich. "Schule und Co" hat jetzt Halbzeit. Auf eine vorläufige Bilanz aber wollen sich die Beteiligten noch nicht festlegen lassen. Die von Klippert verheißene Erleichterung durch die neuen Unterrichtsmethoden wird frühestens in zwei, drei Jahren greifen. Dennoch wollen immer mehr Schulen im Kreis Herford mitmachen. Auch andere Bundesländer zeigen Interesse. Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Bayern greifen die Ideen auf. Dyrda & Partner sind über die Kreis- und Landesgrenzen hinaus gefragt, und Heinz Klippert ist bis weit ins nächste Jahrtausend verplant.

© Die Zeit 13/1999