16. Jahrestagung der DeGPT Hamburg 22.3.2014
Grenzverletzungen, Sekundärtrauma und Burnout bei Sozialpädagogen – Ergebnisse einer epidemiologischen Untersuchung
Claudia Dölitzsch, Sophia Fischer, Célia Steinlin, Jörg M. Fegert, Marc Schmid
Hintergrund Sekundärtraumatisierung: Belastungen, die speziell in der Zusammenarbeit mit traumatisierten Menschen entstehen können Ähnliche Symptome wie bei traumatisierten Menschen, z.B.: • intrusive Gedanken und Bilder • Schwierigkeiten, Arbeit vom persönlichen Leben zu trennen • verringerte Frustrationstoleranz • Gereiztheit • Depression • Bedrohungsgefühle • sozialer Rückzug • Konzentrationsschwierigkeiten • erhöhter Konsum von Alkohol und Medikamenten
Hintergrund Sekundärtraumatisierung: Prävalenzen in anderen Berufsgruppen: • 25% bis 38% bei Krankenschwestern (Forensik, Hospiz, Notfallstation, Onkologie) (Review von Beck, 2011) • 15% bei Sozialarbeitern in den USA (mit 3 Kernsymptomen von PTSD; 55% mit mind. 1 Kernsymptom) (Bride, 2007) • Mehrere Studien berichten niedrige (z.B. 8-15%), andere Studien mittlere bis hohe Prävalenzen (z.B. 50%) bei Traumatherapeuten (Review von Elwood et al., 2011) • 29% (20% moderat + 9% schwer) bei Online-Befragung in Deutschland (82% Psychotherapeuten) (Daniels, 2006)
Hintergrund Burnout: 3 Faktoren (Maslach et al., 1996): • emotionale Erschöpfung (Kernsymptom) • Zynismus, Distanzierung von der Arbeit, Empathieverlust (Depersonalisation) • verringerte Effektivität und Leistungsfähigkeit Beispiele für weitere Symptome: Aufmerksamkeitsstörungen, Ohnmachtsgefühle, Entscheidungsunfähigkeit, Gleichgültigkeit/Desinteresse, psychosomatische Beschwerden, Hoffnungslosigkeit
Hintergrund Burnout: Prävalenzen in anderen Berufsgruppen: • 42% erhöhte emotionale Erschöpfung (7% alle 3 Bereiche auffällig) bei Personen, die demente Familienangehörige pflegen, in Brasilien (Truzzi et al., 2012) • 33% erhöhte emotionale Erschöpfung (6% alle 3 Bereiche auffällig) bei Onkologen, Pädiatern und Allgemeinmedizinern in der französischsprachigen Schweiz (Arigoni et al., 2009) • 36% bei Sozialarbeitern in den USA (Siebert, 2005) • 40% bei Mitarbeitern, die geistig Behinderte in stationären Einrichtungen in Deutschland betreuen (Kozak et al., 2013)
Fragestellungen
Wie häufig erleben die Mitarbeiter sozialpädagogischer Jugendhilfeeinrichtungen in der Schweiz in ihrem Berufsalltag grenzverletzendes Verhalten und andere Belastungen? Welche Belastungen sind am häufigsten? Wie belastet sind die Mitarbeiter? Bei wie vielen Personen gibt es Hinweise auf Sekundärtraumatisierung bzw. Burnout?
Modellversuch Traumapädagogik
Implementierung, Verstetigung und Evaluation von traumapädagogischen Konzepten in sozialpädagogischen Institutionen des stationären Maßnahmevollzugs in der Schweiz Ziel: Reduktion der psychischen Belastung sowohl bei den Mitarbeitern der Einrichtungen als auch bei den Kindern und Jugendlichen Gefördert durch das Bundesamt für Justiz in der Schweiz Beteiligte Studienzentren: Basel und Ulm
Modellversuch Traumapädagogik
Teilprojekt „Epidemiologische Studie“ Ziel: Erhebung der Belastung (sozialpädagogischer) Mitarbeiter in Schweizer Jugendhilfeeinrichtungen in den Bereichen Burnout und Sekundärtraumatisierung sowie der erlebten Grenzverletzungen im Arbeitsalltag Vorgehen: Einladung zur Studienteilnahme an alle vom Bundesamt für Justiz anerkannte Einrichtungen mit Fragebögen und Rückumschlägen im Winter 2012/13 Rücklauf: 186 Fragebögen + 112 Fragebögen aus dem Modellversuch (Interventions- und Kontrollgruppe, bis August 2013) N=298
Stichprobe Bereich
Ergebnis
Alter
M=38,9 Jahre (SD=10,1; 23-65)
Geschlecht
39% männlich 61% weiblich
Berufsgruppe
93% Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Pädagogik, Lehre, Kindererziehung 7% Psychologie, Medizin, Betriebswirtschaft, Sonstiges
Berufserfahrung
M=10,4 Jahre (SD=8,2; 0-38)
Dauer der Betriebszugehörigkeit
M=5,3 Jahre (SD=5,9; 0-34,5)
Regelmäßige Nachtdienste
77%
Krankheitstage im letzten Jahr
M=4,6 Tage (SD=8,6; 0-60)
Instrumente Titel
Beschreibung
Fragebogen zur Erfassung der Belastungen im Privatleben sowie zur Erfassung der Belastungen im Arbeitsalltag
Grenzverletzendes Verhalten zwischen Kindern/Jugendlichen und gegenüber Mitarbeitern sowie andere belastende Erfahrungen im Arbeitsalltag und Privatleben in den letzten 3 Monaten
Fischer, Dölitzsch, Steinlin, Breymaier, Schmid (2012)
Maercker & Schützwohl (1998)
Belastung infolge selbst erlebter Bedrohungssituationen im Rahmen der Arbeit
Fragebogen zur Sekundären Traumatisierung
Belastung infolge des Anhörens oder Lesens traumatisierender Erlebnisse der Klienten
Impact of Event Skala – revidierte Version (IES-R)
Daniels (2006)
Burnout-Screeningskalen (BOSS) Hagemann & Geuenich (2009)
Aktuelle psychische (kognitive und emotionale), körperliche und psychosoziale Beschwerden, wie sie typischerweise im Rahmen eines Burnout-Syndroms auftreten; Unterscheidung von Gesamt-, Intensitätsund Breitenwert
Grenzverletzungen Häufigkeit in der Stichprobe* 90% 80%
80%
70% 60%
54%
50% 40% 30% 20% 10% 0%
*Mehrfachnennungen möglich
41% 29%
25% 14%
10% 10% 9% 9% 9% 6% 6% 3% 2% 2% 1% 0%
Grenzverletzungen Anzahl pro Person 25% 21,9%
20% 16,2%
16,2% 14,8%
15%
22% mind. 5 unterschiedliche Erlebnisse 10%
9,1% 6,4%
6,1%
5%
3,4% 2,4%
2,4% 1,0%
0,3%
0% 0
1
2
3
4
5
6
7
8
91% mind. 1 Erlebnis
9
10
11
Eigenes bedrohliches Erlebnis im Beruf
N
%
249
83,6%
120
48,8%
PTBS-Symptomatik*
3
1,3%
Dauer (> 4 Wochen)
42
17,9%
Angriff/Bedrohungssituation erlebt Von den 249 Personen: Reaktion: Hilflosigkeit, Angst, Entsetzen
Verdacht auf PTBS (alle „Kriterien“ vorhanden): 2 Teilnehmer (0,7% der Gesamtstichprobe)
* Intrusion, Vermeidung, Hyperarousal
Gehörtes/gelesenes Erlebnis
Was wissen die Mitarbeiter über die traumatischen Erlebnisse der von ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen?
Angaben der Mitarbeiter
MW
SD
Prozentualer Anteil der Kinder/Jugendlichen, die ein traumatisches Erlebnis erlebt haben
70%
25%
Prozentualer Anteil der Kinder/Jugendlichen, bei denen Details über das Traumageschehen bekannt sind
49%
28%
Gehörtes/gelesenes Erlebnis Reaktion mit Belastung 30% 27,0%
25%
20% 15,3%
15%
12,8% 11,7% 10,0%
10%
8,9%
5%
3,9% 2,8%
2,5%
3,6%
1,4%
0% nie
1 Mal
2 Mal
3 Mal
4 Mal
5 Mal
6 Mal
7 Mal
73% mind. 1 Mal
8 Mal
9 Mal häufiger als 9 Mal
Gehörtes/gelesenes Erlebnis N
%
205
73,0%
Reaktion: Hilflosigkeit, Angst, Entsetzen
140
68,3%
Symptomatik vorhanden*
15
7,4%
11 4
5,4% 2,0%
29
14,4%
15 6 8
7,4% 3,0% 4,0%
9
4,4%
Mit deutlicher Belastung auf gehörte/gelesene Erlebnisse der Kinder/Jugendlichen reagiert Von den 205 Personen:
moderat schwer
Dauer (> 4 Wochen) 4-12 Wochen 3-6 Monate > 6 Monate
Suizidgedanken (selten oder manchmal) alle „Kriterien“ (außer Suizid) vorhanden: 3 Teilnehmer (1% der Gesamtstichprobe)
* Intrusion, Vermeidung, Hyperarousal, depressive Verstimmung, Suizidgedanken, Entgrenzung, Sexualität, Suchtverhalten, Reaktualisierung einer Vortraumatisierung, parapsychotisches Bedrohungserleben
Burnout Mind. 1 auffälliger Wert pro Skala
N
%
Beruf
49
16,5%
35 14
11,8% 4,7%
Eigene Person
54
18,1%
Familie
88
29,8%
Freunde
99
33,2%
BOSS I
54
18,3%
Körperliche Beschwerden
73
24,5%
Kognitive Beschwerden
49
16,4%
Emotionale Beschwerden
47
15,8%
BOSS II
42
14,1%
1 auffälliger Wert 2 auffällige Werte
Burnout
Personen mit Verdacht auf Burnout haben häufig mehrere auffällige Breitenwerte, aber nur selten auffällige Intensitätswerte. Sie leiden also nicht extrem unter einigen wenigen Symptomen, sondern in vielen Symptombereichen in weniger starker Intensität.
Limitationen Selektivität der Stichprobe: Rücksendung durch die besonders Motivierten / besonders Belasteten / wenig Belasteten? Aber: 38% der Fragebögen von Studienteilnehmern mit sehr hoher Beteiligung Befragung nur mit Screening-Instrumenten Fragebogen zur Sekundärtraumatisierung erstmals in der Jugendhilfe eingesetzt und hierfür adaptiert, Fragebogen zu Grenzverletzungen selbst entwickelt
Fazit Sekundärtraumatisierung und Burnout sind weniger verbreitet als in anderen Berufsgruppen, dennoch gibt es in Schweizer Heimeinrichtungen Mitarbeiter mit starker Belastung Offen bleibt, ob die besonders stark Belasteten überhaupt noch in der Einrichtung / im Beruf tätig sind oder bereits gewechselt haben (Hinweis: nur ∅ 10 Jahre Berufserfahrung & ∅ 5 Jahre Betriebszugehörigkeit bei ∅ rund 40 Jahren Lebensalter) Beziehungsabbrüche für die Kinder und Jugendlichen nicht nur durch eigenen Maßnahmenabbruch oder Einrichtungswechsel, sondern auch durch häufige Mitarbeiterwechsel Was kann man tun? Traumapädagogische Schulungen von Mitarbeitern sowie Leitungs- und Versorgerebene Ziele: Entlastung der Mitarbeiter im Berufsalltag Reduktion der psychischen Belastung der Kinder und Jugendlichen Reduktion der Fluktuation und Beziehungsabbrüche
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Claudia Dölitzsch
[email protected]
www.traumapaedagogik.ch Basel Prof. Dr. Dipl.-Psych. Klaus Schmeck Dr. Dipl.-Psych. Marc Schmid Dipl.-Psych. Bettina Breymaier M. Sc. Sophia Fischer lic. phil. Célia Steinlin
Ulm Prof. Dr. Jörg M. Fegert Dr. Dipl.-Psych. Anne-Katrin Künster Dipl.-Psych. Claudia Dölitzsch med. Dok. Alexander Küttner
Literatur •
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Arigoni, F., Bovier, P. A., Mermillod, B., Waltz, P. & Sappino, A.-P. (2009). Prevalence of burnout among Swiss cancer clinicians, paediatricians and general practitioners: who are most at risk? Support Care Cancer, 17 (1), 75-81. Beck, C. T. (2011). Secondary Traumatic Stress in Nurses: A Systematic Review. Archives of Psychiatry Nursing, 25 (1), 1-10. Burisch, M. (2006). Das Burnout-Syndrom. Heidelberg: Springer. Bride, B. E. (2007). Prevalence of Secondary Traumatic Stress among Social Workers. Social Work, 52 (1), 63-70. Daniels, J. (2006). Sekundäre Traumatisierung - kritische Prüfung eines Konstruktes. Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft. Elektronische Publikation im Internet, 15.12.2006. Elwood, L. S., Mott, J., Lohr, J. M. & Galovski, T. E. (2011). Secondary trauma symptoms in clinicians: A critical review of the construct, specifity, and implications for trauma-focused treatment. Clinical Psychology Review, 31 (1), 25-36. Fischer, S., Dölitzsch, C., Steinlin, C., Breymaier, B. & Schmid, M. (2012). Fragebogen zu besonderen Belastungen im Arbeitsalltag und Privatleben. Unveröffentlicht. Hagemann, W., & Geuenich, K. (2009). BOSS. Burnout-Screening-Skalen (Manual). Göttingen: Hogrefe. Kozak, A., Kersten, M., Schillmöller, Z. & Nienhaus, A. (2013). Psychosocial work-related predictors and consequences of personal burnout among staff working with people with intellectual disabilities. Research in Developmental Disabilities, 34 (1), 102-115. Maercker, A. & Schützwohl, M. (1998). Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Die Impact of Event Skala – revidierte Version (IES-R). Diagnostica, 44 (3), 130-141. Maslach, C., Jackson, S. E., & Leiter, M. P. (1996). Maslach Burnout Inventory manual (3rd ed.). Palo Alto, CA: Consulting Psychologist‘s Press. Siebert, D. C. (2005). Personal and Occupational Factors in Burnout Among Practicing Social Workers: Implications for Researchers, Practitioners, and Managers. Journal of Social Service Research, 32 (2), 2544. Truzzi, A., Valente, L., Ulstein, I., Engelhardt, E., Laks, J. & Engedal, K. (2012). Burnout in familial caregivers of patients with dementia. Revista Brasileira de Psiquiatria, 34 (4), 405-412.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert