Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft

Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft Systemisches Denken und Handeln im Wandel - Impulse für systembezogenes Handeln in Beratung und Therapie -...
Author: Mathias Holst
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Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft

Systemisches Denken und Handeln im Wandel - Impulse für systembezogenes Handeln in Beratung und Therapie -

Arist v.Schlippe Wiesloch, 15.5.2014

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Agenda ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

1. 2.

Thema und Orientierung Systemische Landkarten: Logiken systemischer Intervention 2.1 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.2 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.3 Narrative Theorien 2.4 Sinnbegriff als Klammer

3.

Systemisches Instrumentarium 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen 3.5 Eine andere Geschichte erzählen

4. 5.

Sieben Paradoxien und Herausforderungen systemischer Praxis Systemische Haltung

1. Thema und Orientierung ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Entstehung der Idee zu diesem Vortragsthema „Alles“ und „Nichts“ möglich Freiheit der Schwerpunktsetzung Aus der Hubschrauberperspektive auf ein Feld und auf eine Entwicklung blicken Eine Art Zwischenbilanz: vieles wird bekannt sein, aber vielleicht sieht es aus dem Hubschrauber ein wenig anders aus...

1. Thema und Orientierung ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Kernthema systemischer Praxis: Umgang mit Komplexität „I drown in their words!“ Systemisches Denken und Handeln: sich in komplexen sozialen Kontexten beweglich halten. Dafür ist der Hubschrauber vielleicht gar nicht so eine schlechte Metapher.

1. Thema und Orientierung Komplexität: eine unüberschaubare Zahl von Elementen und Verknüpfungen – „Selektionsdruck und Kontingenzerfahrung“. Gefahr der Vereinfachung: „Das Einfache ist nicht der Gegenbegriff zum Komplexen, sondern ein Moment der zur Steigerung von Komplexität beitragenden Komplexitätsbewältigung“ (Baecker, 1999). Zum intelligenten Umgang mit Komplexität braucht es nach Wimmer et al. drei Qualitäten : » Eine Landkarte, die zugleich komplexitätsadäquat und praxistauglich ist » Ein darauf aufbauendes, gut differenziertes Instrumentarium » Eine konsequente Haltung kontinuierlicher Selbstbeobachtung und kritischer Reflektion

Vorschlag für ein weiteres Moment: Paradoxiebewusstheit Baecker, D. (1999). Organisation als System. Frankfurt: Suhrkamp Wimmer, R. et al. (Hg.)(2014). Beratung im dritten Modus. Die Kunst, Komplexität zu nutzen. Heidelberg: Carl Auer Systeme

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Agenda ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

1. 2.

Thema und Orientierung Systemische Landkarten: Logiken systemischer Intervention 2.1 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.2 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.3 Narrative Theorien 2.4 Sinnbegriff als Klammer

3.

Systemisches Instrumentarium 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen 3.5 Eine andere Geschichte erzählen

4. 5.

Sieben Paradoxien und Herausforderungen systemischer Praxis Systemische Haltung

2. Systemische Landkarten

• Systemische Modelle der ersten Phase der Familientherapie/systemischer Therapie waren „ontologische Modelle“: Systeme bestehen gegenständlich. • Konzentrierten sich unhinterfragt auf Menschen als Bestandteile sozialer Systeme (auf Akteure zentriert) • Kybernetik: Suche nach Steuerungsmodellen für komplex-vernetzte Systeme • „Babuschka“-Modell ineinander verschachtelter Systeme: das jeweils kleinere ist in das nächsthöhere „eingebettet“. • Kybernetik II. Ordnung führte die Theorie in eine andere Richtung: Selbstorganisation und Einbezug des erkennenden Subjekts („Beobachten des Beobachters“). 7

2. Systemische Landkarten

Drei Theoriestränge der Kybernetik 2. Ordnung Theorie komplexer dynamischer Systeme (Synergetik) - naturwissenschaftliche Tradition - begründet von H. Haken - übertragen ins Feld Systemischer Praxis z.B. von Autoren wie G. Schiepek, J. Kriz, W. Tschacher, J.E.Brunner, G. Strunk Theorie Sozialer Systeme - sozialwissenschaftliche Tradition - begründet von N. Luhmann (aufbauend auf Maturana & Varela) - übertragen in Systemische Praxis von zahlreichen Autoren, z.B. F.B. Simon, K. Ludewig, R. Wimmer Narrative Theorien - eher sprach- und kulturwissenschaftliche Tradition - verbunden mit Namen wie J. Bruner, K. Gergen - übertragen in systemische Praxis z.B. von M.White

2. Systemische Landkarten 2. 1 Theorie komplexer dynamischer Systeme ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) Kernfrage: Unter welchen Randbedingungen kommt es zu dynamischen (also immer nur vorläufigen) Ordnungsbildungen? Wie bilden sich über die Iteration von Prozessen Attraktoren, die als Ordner die Prozesse „versklaven“, wie entwickeln sich also aus mikroskopischer Oszillation makroskopische Ordnungsstrukturen, die anschließend auf die Mikroprozesse zurückwirken?

Kriz, J., 2004, Personzentrierte Systemtheorie. In: Schlippe, A.v., Kriz, W. (Hg.) Personzentrierung und Systemtheorie. Göttingen, S. 13-67

2. Systemische Landkarten

• Iteration: die wiederholte Anwendung einfacher Regeln bringt erstaunliche, uns seltsam vertraute Formen hervor • z.B. aus der Iteration des Wortes „Kriz“ erzeugte Jürgen Kriz die nebenstehende Figur

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2. Systemische Landkarten 2. 1 Theorie komplexer dynamischer Systeme ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) In chaotischen Systemen gelten Prinzipien starker Kausalität nicht, die sensible Abhängigkeit von kleinsten Verstörungen macht es unmöglich, das Systemverhalten über einen längeren Zeitraum zu prognostizieren, selbst subtile Einflüsse können verschiedene, entscheidende Auswirkungen nach sich ziehen. Systeme verhalten sich in unterschiedlichen Phasen völlig unterschiedlich: Stabilität und Instabilität, Schmetterlingseffekte. Im Zusammenhang mit psychischen und sozialen Systemen wird auch von „Sinn-Attraktoren“ (Kriz, 2004) gesprochen: wie ordnen Menschen die prozesshafte, komplexe und chaotische Welt der Ereignisse und ihrer Erfahrungen so, dass sie sie als hinreichend stabil, vorhersagbar und fassbar erleben (und welche Probleme können dabei entstehen, wenn sich problematische Attraktoren bilden?) Kriz, J., 2004, Personzentrierte Systemtheorie. In: Schlippe, A.v., Kriz, W. (Hg.) Personzentrierung und Systemtheorie. Göttingen, S. 13-67

2. 1 Theorie komplexer dynamischer Systeme

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Attraktorbildung...

2. Systemische Landkarten 2.2 Theorie Sozialer Systeme ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) Diese Theorie geht das Thema „Systeme“ ganz anders an. Sie schaut eher auf die Erzeugung von Differenz (Differenztheorie). Nicht „das System“ ist Gegenstand der Beobachtung, sondern die Differenz zwischen System und Umwelt. Leben, Bewusstsein und Kommunikation stellen füreinander Umwelten dar. Systemelemente werden nicht gegenständlich gedacht, sondern „temporalisiert“, also zeitlich und damit flüchtig: es geht um das Muster, wie Prozesse sich konfigurieren, wie eine Kommunikation an die andere anschließt. Erwartungsstrukturen und Erwartungs-Erwartungen (EE) gelten als Grundlage sozialer Systembildung.

2. Systemische Landkarten 2.2 Theorie Sozialer Systeme ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) „Die Leute meiden Situationen, in denen ihre standardisierten Erwartungen einer Bewährungsprobe ausgesetzt würden. Das ist der sichere Weg in unechtes Wissen, in Wissen, dass wir zu haben glauben, weil wir es niemals testen. Alle handeln konformistisch, weil sie irrtümlich annehmen, dass es erwartet wird, und da sie überall Konformismus sehen und die Probe aufs Exempel nie machen, sehen sich alle in ihrer Erwartung bestätigt und verwechseln es mit Wissen und Erfahrung“ (Ortmann 2011, S. 83). „Rüstungsspiralen zwischen Eheleuten, ethnischen Gruppen, Nationen, Firmen oder Abteilungen in Organisationen nehmen ihren Lauf und dauern an wegen solcher Interpunktionen und Antizipationen“ (Ortmann, 2011, S. 33).

Ortmann, G. (2011). Die Kunst des Entscheidens. Ein Quantum Trost für Zweifler und Zauderer. Weilerswist: Velbrück

Erwartungsstrukturen und Paradoxien...

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Erwartungsstrukturen und Paradoxien...

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2. Systemische Landkarten 2.3 Narrative Theorien ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) Dieses Denkmodell ist streng genommen keine Systemtheorie. Es entstammt einer ganz anderen Theorietradition, eher den Literatur- und Kulturwissenschaften. Es liegt also eher „quer“ zu den anderen Richtungen, passt aber gut dazu und ergänzt sie. Ausgangspunkt: Menschliches Leben findet nicht abstrakt in Sprache, sondern in einer Welt von gemeinsam geteilten und mit-geteilten Bedeutungen statt, in der „Allgegenwart der Erzählungen“. Denn: „Was nicht narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren“ (Bruner, 1997). Wir leben unser Leben innerhalb einer Erzählung, in einem „Gewebe aus Bedeutungen“, in das hinein ein Mensch hineingeboren und in dem er sozialisiert wird (Gergen, 2002, S. 124). In ständiger Konversation, im Gespräch und im Erzählen von Geschichten halten Menschen ihre Wirklichkeit stabil und bestätigen sich ihre Identitäten wechselseitig.

Bruner, J. (1997). Sinn, Kultur und Ich-Identität. Heidelberg: Carl Auer Systeme Gergen, K. (2002). Soziale Wirklichkeiten. Stuttgart: Kohlhammer

2.3 Narrative Theorien ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Narrativierung und Selbsterzählung... Cartoon angeregt durch: Manteufel, A. (2012). Nerven bewahren. Alltag in der Akutpsychiatrie. Neumünster: Paranus

2.3 Narrative Theorien ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Narrativierung und Selbsterzählung...

2. Systemische Landkarten 2.4 Sinnbegriff als Klammer ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Die verschiedenen Ansätze stehen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. „Man“ zitiert einander i.d.R. nicht oder eher knapp und polemisch. Dabei haben die drei Theoriestränge viel gemeinsam. Sie gehen davon aus, soziale Wirklichkeiten als Ergebnis komplexer gemeinsamer Konstruktionsprozesse zu sehen. Der Sinnbegriff bildet dabei eine Klammer: alle Theorien haben mit der Frage zu tun, wie in psychischen oder sozialen Zusammenhängen Sinn konstituiert und prozessiert wird und wie sich Beratung und Therapie in diese Erzeugungsprozesse „einklinken“ und Veränderungsoptionen erarbeiten. Fazit: Die Landkarten für systemische Praxis dienen dazu, Sinn bearbeitbar zu machen. Jede Landkarte bietet dabei einen etwas anderen Zugang.

Agenda ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

1. 2.

Thema und Orientierung Systemische Landkarten: Logiken systemischer Intervention 2.1 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.2 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.3 Narrative Theorien 2.4 Sinnbegriff als Klammer

3.

Systemisches Instrumentarium 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen 3.5 Eine andere Geschichte erzählen

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Sieben Paradoxien und Herausforderungen systemischer Praxis Systemische Haltung

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention

Systemische Praxis bezieht sich auf verschiedene Theorien und Konzepte: „Learning from many masters“ (Orlinsky, 1994). Es „gibt“ keine „systemischen“ Interventionen: Interventionen können so wenig „systemisch“ sein, wie „grün“ oder „katholisch“ (Simon, 2012). Ausgehend von den „Landkarten“ werden im Folgenden daher eher die Logiken systemischen Intervenierens beschrieben. Gemeinsam ist ihnen: sie bearbeiten Sinn.

Orlinsky, D. (1994). »Learning from Many Masters«. Ansätze zu einer wissenschaftlichen Integration psychotherapeutischer Behandlungsmodelle. In: Psychotherapeut 39, S. 2–9 Simon, F.B. (2012). Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Carl Auer Systeme, S. 13

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) Jede systemische Praxis arbeitet auf kreative und wertschätzende Weise an der Konstruktion neuer Sinnwelten. Interventionen können also darauf befragt werden, ob sie jeweils Angebote zur Wirklichkeitsbeschreibung machen, die dafür sorgen, dass mehr Möglichkeiten erkennbar werden, dass die Wahrscheinlichkeit konstruktiver Anschlussinteraktionen steigt und das System „anregungsoffen für Zufälle“ werden kann (Luhmann 1988, S. 132). Man kann den Kern systemischer Praxis in diesem Sinn auch als „engagierten Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen“ bezeichnen (v. Schlippe et al., 1998): Ratsuchende und BeraterInnen machen sich jeweils wechselseitige Angebote, wie die Wirklichkeit zu beschreiben sei und entwickeln, wenn es gut geht, Beschreibungen, die mehr Möglichkeiten enthalten als die vorhergehenden.

Luhmann, N. (1988). Selbstreferentielle Systeme. In: Simon, F.B. (Hg.). Lebende Systeme. Berlin: Springer Schlippe, A.v., Braun-Brönneke, A., Schröder, K. (1998). Systemische Therapie als engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen. Empirische Rekonstruktionen therapeutischer Interaktionen. System Familie 11(2), S. 70-79

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten • Eine Intervention, wenn sie als „systemisch“ bezeichnet werden soll, vermittelt implizit eine Form der systemischen Beschreibung von Wirklichkeit. • Systemische Fragen sind z.B. alles andere als harmlose Bitten um Information. Sie vermitteln implizite Angebote, Wirklichkeit anders zu beschreiben. Es ist leicht, die Form der Frage abzulehnen, elegant sind sie, weil mit der Beantwortung der Frage meist auch das implizite Angebot der Wirklichkeitsbeschreibung mit akzeptiert wird: „Mein Kind ist hyperaktiv!“ – „Verhält es sich eher zu Hause oder in der Schule auf diese Weise, die Sie als hyperaktiv bezeichnen?“. • Ähnlich ist es mit dem Reframing, also der Suche nach einer Umdeutung der angebotenen Beschreibung. • Beispiel: Minuchin zur Aussage eines Vaters, er sei wegen seiner magersüchtigen Tochter gekommen: „Anorexia nervosa? - Ach ja, das griechische Wort für ‚Eigensinn’. Sie sind also hergekommen, weil Sie eine eigensinnige Tochter haben, aha!“ (Boscolo et al., 1993).

Boscolo, L., Bertrando, P., Fiocco, P., Palvarini, R., & Pereira, J. (1993). Sprache und Veränderung. Die Verwendung von Schlüsselwörtern in der Therapie. Familiendynamik, 18(2), 107–124.

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Wir haben mit Beobachtern zu tun, die beschreiben. Jede Beschreibung spiegelt einen Standpunkt. • Probleme als Prozessgeschehen werden von miteinander interagierenden Personen gemeinsam sprachlich erzeugt, sie sind keine „Dinge“, die man „haben“ könnte. • So wird in jeder Intervention der Beobachter mit gedacht und mit erfragt. • Fokusverschiebung von den Dingen („Seit wann, wie lange, wie schwer?“ usw.) zu Perspektiven („Wer sieht es wie?“, „Wer beschreibt es anders?“).

• „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“ (Wittgenstein, 1994, S. 343).

Wittgenstein, L. (1994). Ein Reader. Stuttgart: Reclam

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen • Man kann sich vorstellen, dass über unseren Köpfen eine „Nebelwolke der doppelten Kontingenz“ schwebt: wir wissen nicht, was im Kopf der anderen vor sich geht und umgekehrt. Wir sind darauf angewiesen, Erwartungs-Erwartungen zu entwickeln. • Dies sind Vermutungen darüber, wie man vom anderen wohl gesehen wird und wie der andere wohl seinerseits glaubt, gesehen zu werden. • Das Gewebe aus Erwartungs-Erwartungen macht jeweils ein soziales System aus. Diese Erwartungs-Erwartungen werden ja nur selten ausgesprochen und geklärt, oft sind sie nicht einmal bewusst, sondern nur diffus gefühlt. • Wenn die Selbstverständlichkeit eines entspannten Umgangs miteinander verlorengegangen ist, wird viel Zeit darauf verwendet, darüber nachzugrübeln ob, oder sogar ganz sicher davon auszugehen, dass man nicht geschätzt, nicht geachtet oder geliebt wird. Im Sinn selbsterfüllender Prophezeiung erzeugt das Verhalten des einen beim anderen die Anspannung, die nötig ist, um die negativen ErwartungsErwartungen des einen zu bestätigen: die Selbstorganisation zwischenmenschlichen Unglücks.

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen • Viele systemische Interventionen setzen an dieser „Wolke“ aus Vermutungen und Vorannahmen an, richten „Nebelscheinwerfer“ auf sie und arbeiten hartnäckig daran, Licht in sie hineinzubringen. • Beispiel zirkuläres Fragen: eine Person wird im Beisein anderer über diese befragt. Die anderen bekommen Informationen darüber, wie sie von ihr wahrgenommen werden: „Herr Meier, was glauben Sie, was Herr Müller meint, warum sich die Chefin so verhält?“ – „Ich denke mir, er glaubt, dass sie ihn nicht besonders schätzt!“ In der Antwort bekommen Kollege und Chefin eine klärende Rückmeldung über ihre eigenen ErwartungsErwartungen. • Beispiel Skulptur: einer stellt seine Sicht der Beziehungen in einer Skulptur in Gesten und Positionen, das Bild korrigiert beim anderen die EE: „Ich hätte nie gedacht, dass er mich da oben auf den Tisch stellt!“ • Beispiel reflektierendes Team: eine ratsuchende Gruppe hört zu, wie sich Beobachter über das Gespräch unterhalten. Dieser Rahmen ermöglicht es, über die eigenen ErwartungsErwartungen nachzudenken: Man hört sozusagen dem „Generalisierten Anderen“ direkt zu und denkt dabei darüber nach, welche anderen Möglichkeiten es noch gibt, die eigenen Beziehungen zu den Beziehungspartnern zu beschreiben

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen

• „Sisyphos in der Potentialmulde“ (Strunk & Schiepek, 2006, S. 283) versucht verzweifelt, das festgefahrene System in eine andere Richtung zu schieben. • Systemische Praxis sucht als Heuristik eher danach, die Potentiallandschaft zu verändern. • Jeder Auftrag, der die Veränderungsenergie beim Berater lässt, wird mit Skepsis beurteilt: „Warum wollen Sie das verändern? Was wäre der Vorteil, wenn alles so bliebe? Ich weiß nicht, ob ich Ihnen im Moment empfehlen kann, etwas zu ändern“ o.ä. • Starre Ordnungsmuster und verfestigte Attraktoren werden freundlich und humorvoll erschüttert, z.B. indem gewohnte Erklärungsmuster auf den Kopf gestellt werden: „Vielleicht ist es ja gerade anders herum, als Sie es gerade gesagt haben?“ • Ziel ist es, „Ordnungs-Ordnungs-Übergänge“ zu ermöglichen, so dass leidvolle „Sinnattraktoren“ verlassen werden können.

Strunk, G., Schiepek, G. (2006). Systemische Psychologie. München: Spektrum

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Übergänge können so leicht sein, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings genügt. • Man muss nur den „Kairos“ abpassen, den richtigen Moment. • Und an der Potentiallandschaft arbeiten statt sich in der Mulde abzumühen.

3. Instrumentarium: Logiken systemischer Intervention 3.5 Eine andere Geschichte erzählen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Systemische Praxis hinterfragt die spezifische Selektivität, mit der Erfahrungen rekonstruiert werden. • Welche anderen Möglichkeiten der Erzählung könnten noch bestehen? Welchen Geschichten erlaubt man, das eigene Leben zu bestimmen: „Willst du, dass diese Geschichten dein Leben regieren? Wer könntest du sein, wenn du ihnen nicht mehr folgen würdest? Welche Personen aus deiner Geschichte könnten uns helfen, diesen Menschen kennenzulernen, der du auch sein könntest?“ • Es wird nach alternativem Wissen gesucht, etwa durch die Suche nach Ausnahmen: „Was war die Einladung der Geschichte und wie konnten Sie ›nein‹ dazu sagen?“ • So kann ein Raum neuer Möglichkeiten entstehen, der in einen Prozess des Neu-Erzählens der eigenen Lebensgeschichte münden kann („Re-Authoring“).

Agenda ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

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Thema und Orientierung Systemische Landkarten: Logiken systemischer Intervention 2.1 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.2 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.3 Narrative Theorien 2.4 Sinnbegriff als Klammer

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Systemisches Instrumentarium 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen 3.5 Eine andere Geschichte erzählen

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Sieben Paradoxien und Herausforderungen systemischer Praxis Systemische Haltung

4. Sieben Paradoxien und Herausforderungen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Erkenntnis ist immer nur vorläufig, und egal wie bewusst wir uns der Mechanismen unserer Wirklichkeitskonstruktionen sind: Paradoxien sind unvermeidbar. • „Die primitiven Formen unserer Sprache: Substantiv, Eigenschaftswort und Tätigkeitswort zeigen das einfache Bild, auf dessen Form sie alles zu bringen versucht“ (Wittgenstein, 1994, p. 337). • Erkenntnis ist immer nur vorläufig und egal wie bewusst wir uns die Mechanismen unserer Wirklichkeitskonstruktionen bewusst machen. Bewusstheit für Paradoxien heißt nicht, ihnen zu entgehen, sondern dass man lernt, sie nicht durch vorschnelle Entparadoxierung zu vermeiden (Vereinfachung steigert die Komplexität!, s.o.). • Im Folgenden werden sieben Paradoxien aufgeführt, ich habe sie jeweils als einander widersprechende Verhaltenserwartungen formuliert (Grundbedingung der pragmatischen Paradoxie). Es sind Punkte, an denen sich in der systemischen Community mehr oder weniger heftige Kontroversen entzündet haben.

4. Sieben Paradoxien und Herausforderungen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Paradoxie I: „Sei neugierig, werte nicht!“ vs. „Beziehe klar Stellung!“ Die personenbezogene Zurechnung von Ursachen auf eine Person wird als unangemessene Simplifizierung angesehen und vermieden. Zugleich kommt man in der Praxis immer wieder in eine Lage, in der man nicht umhinkommt, konkreten Personen auch konkrete Verantwortung zuzurechnen – und damit auch klar Stellung zu beziehen. Sehr scharf konturiert wird dies deutlich bei Themen wie Missbrauch, Misshandlung. • Paradoxie II: „Siehe das System als Kommunikationssystem!“ vs. „Beziehe Ungerechtigkeit und Ungleichheit auf unterschiedlichen Systemebenen mit ein!“ Die feministische Kritik an der Familientherapie machte auf die Paradoxie aufmerksam, die entsteht, wenn man an ungleich strukturierte gesellschaftliche Kontexte mit der Idee von Gleichheit des Einflusses, Gleichheit der Wirkmöglichkeiten herangeht. • Paradoxie III: „Sei nicht-normativ!“ vs. „Vermittle ein Bild vom ‚guten‘, vom ‚richtigen‘ Leben!“ Eine besondere Herausforderung systemischer Praxis war die Konfrontation mit der Aufstellungsarbeit, vor allem mit den ihr unterlegten Überlegungen über eine „Ordnung jenseits von Konstruktion“. Die sich hier einstellende Paradoxie hält die SG und nicht nur sie ja bis heute in Spannung.

4. Sieben Paradoxien und Herausforderungen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

• Paradoxie IV: „Sei allparteilich in Bezug auf die Familie!“ vs. „Stelle dich eindeutig auf eine Seite!“ Mit dem systemischen Elterncoaching nach Haim Omer und mir kam ein Ansatz in die Diskussion, bei dem die BeraterInnen sich explizit hinter die Eltern stellen und sie darin unterstützen, mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit mit ihren Kindern auseinanderzusetzen. Diese sind im Gespräch in der Regel nicht dabei. • Paradoxie V: „Sei neutral in Bezug auf das Ergebnis!“ vs. „Orientiere Dich an den Gesetzmäßigkeiten kindlicher (menschlicher) Entwicklung!“ Gerade die Arbeit im Bereich frühkindlicher Entwicklungsförderung erfordert es, in die systemische Praxis entwicklungspsychologisches Wissen einzubeziehen. Damit steht man potentiell in der Spannung zwischen dem Wissen um die optimalen Randbedingungen „guter Entwicklung“ und dem Prinzip der Nichteinmischung.

4. Sieben Paradoxien und Herausforderungen ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) • Paradoxie VI: „Vermeide es, von psychischer ‚Krankheit‘ zu sprechen!“ vs. „Behandle störungsspezifisch!“ Ein weiteres Spannungsfeld, in dem es gilt, paradoxiefreundliche Wege zu finden zwischen der grundsätzlichen Unvereinbarkeit systemischen Denkens mit Bildern von „Krankheit“ und der Konfrontation mit Störungsbildern im psychiatrischen, therapeutischen Alltag. • Paradoxie VII: „Suche nach Formen wissenschaftlicher Praxis, die sich nicht auf feste ‚Tatsachen‘ unabhängig von kulturellen Bedingungen beziehen!“ vs. „Verfolge die Anerkennung Deines Konzepts in genau dieser anderen Tradition!“ Die letzte große Paradoxie, die uns über mehr als 15 Jahre beschäftigt, wird uns auch weiter beschäftigen: „Damned if you do, and damned if you don’t“ – that’s paradox.

Agenda ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

1. 2.

Thema und Orientierung Systemische Landkarten: Logiken systemischer Intervention 2.1 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.2 Theorie komplexer dynamischer Systeme 2.3 Narrative Theorien 2.4 Sinnbegriff als Klammer

3.

Systemisches Instrumentarium 3.1 Konstruktionen alternativer Sinnwelten 3.2 Beobachterabhängigkeit jeder Aussage 3.3 Eine Wolke aus Erwartungs-Erwartungen 3.4 Potentiallandschaften hinterfragen 3.5 Eine andere Geschichte erzählen

4. 5.

Sieben Paradoxien und Herausforderungen systemischer Praxis Eine systemische Haltung

5. Eine systemische Haltung: Paradoxiefreundlichkeit und Selbstbeobachtung ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Landkarten und Instrumentarien verführen, technizistisch zu werden, Paradoxien verleiten zu vorschneller Entparadoxierung (entweder-oder). Eine Haltung der Paradoxiefreundlichkeit sucht die Lösung nicht auf einer der beiden Seiten der Paradoxie, sucht vielleicht gar nicht nach einer Lösung, sondern lernt, die Paradoxien selbst „zu lieben“. In der systemischen Praxis ist eine besondere Art von Haltung sozusagen „eingebaut“: die Selbst-Beobachtung. Systemische Praxis als „angewandte Erkenntnistheorie“ fragt immer wieder danach, wie sie selbst an den Konstruktionsprozessen beteiligt ist, die sie scheinbar nur beobachtet und beschreibt. Das geschieht unabhängig von der jeweiligen Wertorientierung des einzelnen. Wer weiß, dass seine Beschreibung das Beschriebene verändert, befragt sich zwangsläufig im Prozess immer wieder selbst danach, wie er selbst beschreibt: „Ist meine Beschreibung geeignet, die Zahl der zur Verfügung stehenden Optionen zu vergrößern?“ (Heinz v.Foerster, 1973).

Förster, H. v. (1973) Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt: Suhrkamp

5. Eine systemische Haltung ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2)

Selbstbeobachtung, Selbstreferenz

5. Eine systemische Haltung: Paradoxiefreundlichkeit und Selbstbeobachtung ZU FAMILIENUNTERNEHMEN (1/2) Mit dieser „eingebauten Selbstkorrektur“ ist systemische Praxis in der Lage, sich auf Komplexität einzulassen und sich in ihr in dem Bewusstsein zu bewegen, dass es immer wieder darauf ankommt, den Möglichkeitsraum zu vergrößern. Das Prinzip der mitlaufenden Selbstbeobachtung gilt dabei sowohl für die beraterische Arbeit selbst als auch für ihre Reflexion: Sich beobachten heißt, sich verändern! Paradoxiefreundlichkeit heißt, die Fragen mehr zu lieben als die Antworten: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein“ (R.Rilke).

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