Wir haben seinen Stern gesehen - wirklich?

Wir haben seinen Stern gesehen - wirklich? Der Stern von Bethlehem und die Geburt Jesu Christi Mythos oder Märchen, Legende oder Realität? Volker Hübb...
Author: Ludo Winter
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Wir haben seinen Stern gesehen - wirklich? Der Stern von Bethlehem und die Geburt Jesu Christi Mythos oder Märchen, Legende oder Realität? Volker Hübbe, Pastor i. R.

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Inhalt Vorbemerkung: Bibelverständnis .......................................... 3 Experiment Glauben oder Wissen: Caesar’s und Jesu Tod und was jeweils danach geschah .. 7 1) Stammbäume: ................................................................... 12 2) Bericht des Lukas ............................................................. 15 3) Bericht des Matthäus ........................................................ 23 4) Zusammenfügung ............................................................. 35 Resümee ................................................................................. 36 Probleme der Theologie ........................................................ 37

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Vorbemerkung: Bibelverständnis - Ehe wir unser Thema angehen können, müssen wir uns mit zwei Dingen beschäftigen, die auf den ersten Blick nichts mit einander zu tun haben - außer dass sie unser Verständnis der biblischen Berichte von der Geburt Jesu entscheidend beeinflussen:

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- Das erste: Schauen Sie sich Bild 1 an. Es zeigt eine Krippe aus einer Hamburger Kirche. Alles ist darauf zu sehen: Die Heilige Familie, die Hirten, die Könige, der Komet. Sie alle kennen Bilder alter Meister von der Geburt Jesu, die genau so aufgebaut sind: Die Hirten sind noch anwesend, wenn die Magier die Weisen - dem Kinde huldigen, oft ist auch der Stern im Bilde. Solche Darstellungen haben unser Verständnis der biblischen Texte stark beeinflusst, aber: Will der Künstler damit wirklich sagen, dass beide Ereignisse unmittelbar aufeinander gefolgt sind? Vor einigen Jahren sind wir mit einer amerikanischen Freundin im Dresdener Zwinger gewesen; dort haben wir ein Bild der Geburt Jesu eines Alten Meisters gesehen, auf dem im Vordergrund die Krippen-Szene und im Hintergrund die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten dargestellt ist. Das kann natürlich unter keinen Umständen mehr als Gleichzeitigkeit gemeint gewesen sein, schließlich kann Maria nicht zugleich neben der Krippe sitzen und auf einem Esel durch die Wüste reiten. Hier hat der Künstler nur zwei wichtige zusammengehörende Ereignisse in einem Bilde zusammengezogen, ohne dass er damit etwas über den zeitlichen Abstand dieser Ereignisse sagen wollte. Für die Hirten und die Magier gemeinsam an der Krippe gilt dasselbe. (Magier, griechisch: Magoi, sind persische Priester, zu jener Zeit zoroastrische. Zoroaster ist die griechische Form des persischen Namens Zarathustra. Mit Nietzsche’s Zarathustra hat dieser Religionsgründer allerdings nicht das Geringste zu tun: Nietzsche gefiel nur der Name so gut.) Zarathustra gründete 5

um 600 v. Chr. die erste konsequent dualistische Religion, in der der gute Gott des Lichtes, Ahura Mazda, und der böse Gott der Finsternis, Ahriman, einander in unversöhnlichem Krieg gegenüber stehen - der Mensch muss wählen, auf wessen Seite er kämpfen will: Wer sich nicht für Ahura Mazda entscheidet, gehört Ahriman. Irgendwann in ferner Zukunft allerdings wird Ahura Mazda den Sieg davontragen und Ahriman, den bösen Gott der Finsternis, und dessen Anhänger vernichten. Zur Zeit der Geburt Jesu war der Zoroastrismus Staatsreligion in Persien. Wie weit die Messias-Erwartung der Magier genuin parsisch - das heißt: zoroastrisch - war, lässt sich heute nicht mehr beurteilen, von den heiligen Schriften der Parsen ist mehr verloren gegangen als erhalten geblieben. Aber wenn sie parsisch war - wieso sind dann zoroastrische Priester zu Jesus gekommen? Wieso erwarteten sie einen Messias bei den Juden? Wenn ich damals, als wir das Bild sahen, schon gewusst hätte, dass ich später in dieser Form darüber arbeiten würde, so hätte ich das Bild abphotographiert - aber ich habe ein anderes Bild, das die Angelegenheit noch deutlicher macht: Das Bild zeigt die Weihnachtsfeier, wie sie Franz von Assisi Anfang des 13. Jhdts. in Norditalien einführte - und über der Szene steht kein künstlicher Stern, sondern der Stern, der 1.200 Jahre zuvor den Magiern die Geburt Jesu verraten hatte. Hier wird bestimmt niemand auf die Idee kommen, der Künstler habe gemeint, Gleichzeitiges darzustellen. Wir heutigen sind an die Photographie gewöhnt: Was auf dem selben Bilde ist, ist für uns gleichzeitig. 6

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Die Kunstform der Zusammenziehung kennen wir nicht mehr, und so verstehen wir die alten Bilder falsch. - Es gibt aber noch eine weitere Quelle, die unsere Vorstellungen über Fragen des Glaubens maßgeblich beeinflusst hat - den mittelalterlichen Islam: Averroes - Ibn Roschd - geboren 1126 in Cordoba, gestorben 1198 in der Verbannung in Marakesch, war Philosoph, Aristoteliker: Er musste irgendwie damit umgehen, dass viele Aussagen des Koran mit wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zu vereinbaren sind. So versuchte er, die entsprechenden Aussagen des Koran metaphorisch - bildhaft, übertragen - zu deuten, blieb aber trotz allem dabei, dass im Zweifelsfall dem Koran gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis der Vorzug zu geben sei. Daraus wurde in der Scholastik die (später verworfene) Lehre von den 2 Wahrheiten (insbesondere William von Occam Anfang des 14. Jhdt, er war Nominalist und lehrte: Die Logik ist nicht auf Glaubenswahrheiten (Dogmen) anwendbar - die Dogmen spielen bei ihm also die selbe Rolle wie bei Averroes der Koran. Ihm folgte später der protestantische Theologe Schleiermacher (1768 - 1834): Basis des Glaubens ist für ihn das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, Basis des Wissens ist (wissenschaftliche) Erkenntnis; Religion (auf diesem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit basierend) und Wissen sind getrennte Bereiche, die einander nicht hindern sollen und nicht vermischt werden dürfen.

Experiment Glauben oder Wissen: 8

Caesar’s und Jesu Tod und was jeweils danach geschah Ich möchte Sie animieren, auf der nächsten Party, an der Sie teilnehmen, ein kleines Experiment zu machen, bei dem die Auswirkungen genau dieser Lehre deutlich werden: Suchen Sie sich ein Opfer und bitten Sie es, Ihnen etwas über Caesar’s Tod zu erzählen. Es gibt genau zwei Möglichkeiten: Entweder wird Ihnen die Gegenfrage gestellt: „Seit wann kann Hundefutter sterben?“ Das ist dann das PISA-Syndrom Sie müssen sich ein anderes Opfer suchen. Oder Sie bekommen eine mehr oder weniger genaue Auskunft: Er wurde ermordet - fiel einer Verschwörung zum Opfer - in den Iden des März 44 v. Chr. - am Eingang des Senats - er wurde erdolcht - die Anführer der Verschwörung waren Brutus und Cassius - seine letzten Worte waren „Cum tu, mi fili Brute? (Auch du, mein Sohn Brutus?)“. Fragen Sie weiter: „Und was geschah danach?“ und Sie werden wieder bedient werden: Auf der Begräbnisfeier Caesar’s hielt Marcus Antonius seine berühmte Rede, mit der er die Stimmung der Römer zum Kippen brachte und den Zorn des Volkes gegen die Verschwörer weckte: „Freunde, Römer, Landsleute, leiht mir das Ohr! Ich bin gekommen, Caesar zu begraben, nicht, ihn zu loben - -“, die Flucht der Verschwörer, die Entscheidungsschlacht zwischen Caesar’s Sohn Octavian und Marcus Antonius auf der einen, Brutus und Cassius auf der anderen Seite bei Philippi, der Selbstmord der Verschwörer nach verlorener Schlacht. Und dann fragen Sie: „Glaubst du das oder weißt du das?“ Antwort (ein wenig indigniert vermutlich): „Das weiß ich natürlich.“ Fragen Sie weiter: „Und wie war das mit 9

Jesus?“ Mindestens werden Sie erfahren, dass Jesus um das Jahr 30 herum als Aufrührer gekreuzigt und danach begraben wurde. Fragen Sie weiter: „Und was geschah danach?“ Und schon scheiden sich die Geister. Nehmen wir den günstigsten Fall: Es wird Ihnen von Auferstehung und Himmelfahrt berichtet werden. Fragen Sie wieder: „Glaubst du das, oder weißt du das?“ Das Spektrum der Antworten wird sich von „Das kann man nicht glauben“ bis zu „Das glaube ich natürlich“ erstrecken, die Antwort „Das weiß ich“ werden Sie schwerlich bekommen. Und nun wenden wir uns den historischen Fakten zu: - Tod Caesar’s: Das Datum ist sicher (44 v. Chr., Iden des März), Quelle: Cicero’s Briefe (Cicero gest. 43 v. Chr.). Der Rest kommt von Sueton, der mindestens 140 Jahre nach dem Ereignis schrieb: Er ist die einzige Quelle über die näheren Umstände des Todes Caesar’s (auch Shakespeare's Quelle, der Wortlaut der berühmten Rede stammt von ihm). Sueton stand in kaiserlichem Dienst, war Vorsteher der kaiserlichen Kanzlei und hatte daher Zugang zu den Römischen Annalen. Er verband historische Ambitionen mit schriftstellerischer Begabung, wie zum Beispiel im 20. Jhdt. Jürgen Thorwald in seinen historischen Romanen, die im 19. Jhdt spielten, z. B. „Das Jahrhundert der Medizin“, „Das Jahrhundert der Detektive“ etc.. Beide haben das recherchierte trockene historische Fakten-Gerüst mit Fleisch und Haut überkleidet und es so dem einfühlenden Verstehen des Lesers zugänglich gemacht - dabei wird leicht übersehen, dass dieses Fleisch und diese Haut nicht die ursprünglichen sind, sondern vom Schriftsteller geschaffen wurden. Das Original mag ganz 10

anders ausgesehen haben. - Da wir nur eine (noch dazu viel zu späte und unsichere) Quelle zu den näheren Umständen des Todes Caesar’s haben, hätten wir also allen Grund zur Skepsis. - Hätten wir hingegen zwei unabhängige einander widersprechende Quellen, von denen die zweite z. B. behauptet, Caesar sei am Tage vor dieser letzten Senats-Versammlung einem Raubmord zum Opfer gefallen, so wüssten wir, dass mindestens eine falsch ist. - Hätten wir zwei unabhängige einander ergänzende und bestätigende Quellen für den ganzen Vorgang, hätte also Cicero z. B. in jenem Brief, in dem er seine Genugtuung über die Ermordung Caesar’s und das Datum dieses Ereignisses mitteilt, auch weitere Fakten erwähnt, die die Darstellung des Sueton stützen, so hätten wir keinen Grund mehr, an der Wahrheit der Aussagen Sueton’s zu zweifeln - es sei denn, wir müssten feststellen, dass Sueton den Brief Cicero’s gekannt hatte: Dann wäre wieder alles offen. - Wären aber diese beiden Quellen unabhängig von einander, und in einer dieser Quellen wäre das Ereignis zudem mit einem historischen Faktum (Erdbeben, Vulkanausbruch etc.) verbunden, das ansonsten in der Gegend, in der das Ereignis stattgefunden hat, also in Rom, nicht bemerkt wurde, aber von unabhängiger dritter Seite, z. B. in Syrakus, bestätigt wird, so gäbe es gar keinen Grund zum Zweifel mehr. - Die Berichte über den Tod Caesar’s bis hin zur Rede 11

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des Marcus Antonius gelten als sicher („Das weiß ich!“), obwohl die Quellenlage mehr als fragwürdig ist: Novellenhafter Bericht eines Schriftstellers 11/2 Jahrhunderte nach dem Ereignis. Die Berichte über den Tod und die Auferstehung Jesu Christi bis hin zur Himmelfahrt werden nicht als Fakten anerkannt („Das weiß ich nicht, das glaube ich!“), obwohl sie von gut einem halben Dutzend voneinander unabhängiger Quellen im Neuen Testament bezeugt werden (die drei synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas, die hier im großen und Ganzen jeweils eigenen von einander unabhängigen Quellen folgen, der Evangelist Johannes, Paulus, Petrus, implizit auch Jakobus und der Schreiber des Hebräer-Briefes). Dass sie in der selben heute Bibel genannten Sammlung enthalten sind, spricht schließlich nicht gegen ihre Unabhängigkeit: Wenn ein Staatsanwalt z. B. sämtliche Zeugenaussagen zu einem Fall in einer Akte sammelt, so wird kein vernünftiger Verteidiger behaupten, diese Aussagen seien wertlos weil lite-rarisch abhängig weil in dem selben Ordner vorhanden. Was bedeutet diese Erkenntnis nun für die Bewertung der Aussagen über die Geburt Jesu Christi? Wir haben zwei von einander unabhängige Quellen: Matthäus und Lukas. Widersprechen sie einander, so wissen wir, dass mindestens eine falsch ist. Ergänzen und bestätigen sie einander, so haben wir keinen Grund mehr, an der Wahrheit ihrer Aussagen zu zweifeln. Ist in einer dieser Quellen das Geschehen mit einem 12

historischen Ereignis (dem Stern von Bethlehem) verbunden, das von unabhängiger dritter Seite bestätigt wird, so gibt es gar keinen vernünftigen Grund zum Zweifel mehr. - Die entscheidenden Fragen lauten also: 1) Widersprechen Matthäus und Lukas einander, oder ergänzen sie einander? 2) Was hat es mit dem Stern von Bethlehem auf sich? - Prüfen wir also als erstes die Quellen: 1) Stammbäume: Hier weichen Matthäus und Lukas beträchtlich von einander ab. Der Stammbaum des Matthäus enthält einige Personen zweifelhaften Rufes: Die Hure Rahab aus Jericho (Josua 2, 1 ff), die Moabiterin also Ausländerin, nicht zum Auserwählten Volk Gottes gehörend - Ruth (Buch Ruth) und die Ehebrecherin Bathseba (vergleiche 2. Samuelis 11, 2 ff), die Mutter des Königs Salomo. Die Hinweise auf Rahab und Ruth fehlen bei Lukas. Der wichtigste Unterschied zum Stammbaum des Matthäus ist aber, dass von David ab der Stammbaum des Lukas nicht über Salomo, den Sohn der Bathseba, sondern über den Davidssohn Nathan weiterführt. - Daraus den Schluss zu ziehen, Lukas habe einen (vielleicht sogar von Joseph selbst) entskandalisierten Stammbaum aufgeschrieben, während Matthäus den originalen Stammbaum habe, geht an der Sache vorbei: War Bathseba zur Zeit des Joseph auch nicht gerade wegen ihrer Tugendhaftigkeit hochgeschätzt, so hätte doch die Abstammung von Salomo allemal 13

mehr Ehre eingebracht als die Abstammung von dem an sonsten völlig unbekannten Davidssohn Nathan. Die Hinweise auf Rahab und Ruth hingegen könnte sogar Matthäus selbst auf Grund seiner Kenntnis des Alten Testamentes eingefügt haben. Plausibler scheint mir eine andere Annahme: Das letzte Mal taucht Joseph in der Schrift auf in dem Bericht vom 12-jährigen Jesus im Tempel. Auf der Hochzeit zu Kana und danach ist er nicht mehr dabei. Er scheint in der Zwischenzeit gestorben zu sein. Also kann sein Stammbaum auch nicht von ihm selber stammen. Allerdings ist einer der Brüder Jesu, Jakobus mit dem Beinamen „der Gerechte“, zur Zeit des Lukas eine der wichtigsten Personen der Jerusalemer Gemeinde, deren Berichte Lukas in seiner Evangelienschrift mit verarbeitet hat. Lukas hat Jakobus im Jahre 56 (oder kurz danach) persönlich kennen gelernt (Apostelgeschichte 21, 18). Wenn nun also Lukas den richtigen Stammbaum hat - wie kommt es zu dem Stammbaum des Matthäus? Der Name Joseph war zu Jesu Zeit so häufig wie in meiner Generation der Name Peter - und Nachkommen David's gab es wie Sand am Meer: David hatte 1000 Jahre zuvor gelebt, inzwischen war wohl über seine Nachkommen halb Israel mit ihm verwandt. Da war es leicht, an den Stammbaum des falschen Joseph zu geraten, wenn man keine persönlichen Kontakte zur Familie hatte wie Lukas1. Stellen Sie   Einen weiteren Hinweis bietet ein Rechenexempel: Im lukanischen Stammbaum ergibt sich für die Zeit von Adam bis Abraham eine durchschnittliche Generationendauer von 89 Jahren, für die 14 Generationen von Abraham bis David eine Generationendauer von 70 Jahren. Diese unrealistischen Angaben mögen jüdisch-theologi1

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schen Vorstellungen entsprechen, zumal die Lebensdauer der Patriarchen laut 1. Buch Mose kontinuierlich abnahm. Für die Zeit von David bis Jesus ergibt sich die realistische Generationendauer von 25 Jahren. (Die Jahreszahlen der folgenden Tabellen entsprechen dem jüdischen Kalender. 2016 haben wir das jüdische Jahr 5777.) Lukas: Adam Abraham David Jesus Jahr 1 1761 2746 3761 Dauer 1760 985 1015 Generationen 20 14 41 Generationsdauer 88,5 70 25 Bei Matthäus ergibt sich für die Zeit von König David bis zur Babylonischen Gefangenschaft eine realistische Generationendauer von 31 Jahren, für die Zeit von der Babylonischen Gefangenschaft bis zu Jesus Christus eine unrealistische Dauer von 49 Jahren - auch hier steckt im Stammbaum des Matthäus ein Wurm. (Wahrscheinlich sind durch Abschreibfehler 11 Generationen überschlagen worden.) Zum Vergleich: Bei Lukas ergibt sich für die Zeit von Abraham bis Jesus Christus eine noch realistische Generationendauer von 36 Jahren. Matthäus: Abraham David Babyl. Gefangensch. Jesus Jahr 1761 2746 3174 3761 Dauer 985 428 587 Generationen 13 14 12 Generationsdauer 76 31 49 Die Generationsdauer vor David ist bei Lukas und Matthäus etwa gleich und gleich phantastisch. Für die Zeit von David bis Jesus liegt die Angabe des Lukas im Erwartungshorizont, die Angaben des Matthäus sind mit 39 Jahren unrealistisch hoch, Ursache ist die viel zu hohe Zahl für die Zeit zwischen Babylonischer Gefangenschaft und Jesus. Beide Autoren haben vielleicht aus damals allgemein anerkannten (wenn auch für uns fragwürdigen) Quellen geschöpft, aber sie haben nicht nachgerechnet - was ich ihnen nicht verdenken kann: Addition, Subtraktion und Multiplikation beherrschte fast jeder gebildete Mensch trotz der antiken rechenunfreundlichen Zahlensysteme, aber wer größere Zahlen dividieren wollte, der musste schon den Umgang mit dem (weiter auf Seite 15) Abakus (Rechenbrett) erlernen. In beiden Stammbäumen fehlen sehr viele Vorfahren - vielleicht, weil durch Namensgleichheit der Abschreiber mehrfach von einem „Joas“ etc. zum nächsten springt – eine der häufigsten Ursachen für Auslassungen beim Abschreiben.

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sich nur vor, Sie sollten den Stammbaum eines Peter Meier finden, von dem Sie nur wissen, dass er in direkter Linie vom Chef jenes Hafenbau-Consortiums abstammte, das im Jahre 1188 den Hamburger Hafen ausbaute. Wie viele Nachkommen namens Peter Meier mag der wohl haben? 2) Bericht des Lukas - Datierung: Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Möglichkeiten, einen Text zu datieren: 1) Äußere Kriterien: Wenn Sie ein datierbares Fragment des Textes finden, so wissen Sie, dass dieser Text nicht jünger sein kann als das Fragment. Darauf werde ich bei Matthäus zurückkommen. 2) Innere Kriterien, Beispiel: Sie finden einen undatierten Zeitungsausschnitt, der über den Altkanzler Helmut Schmidt berichtet. Dieser Bericht beginnt mit der Kindheit Schmidts und endet mit seiner Ernennung zum Finanzminister, die ja im Jahre 1972 stattfand. Dann wissen Sie: Dieser Bericht war geschrieben worden, nachdem Schmidt Finanzminister geworden war, aber vor dem Ende der Kanzlerschaft Willy Brand’s im Jahre 1974, denn da wurde er Kanzler. Sie können also den Artikel auf drei Jahre genau datieren. Und wenn wir zudem annehmen, dass in diesem Artikel zwar von Erwartungen an den Finanzminister Helmut Schmidt einiges steht, nichts aber über seine Tätigkeit in diesem Amt, so haben Sie allen Grund zu der Annahme, der Artikel sei kurz nach seiner Ernennung Ende 1972 geschrieben worden. Die Datierung wird 16

also auf wenige Wochen genau. Dieses Verfahren müssen wir bei Lukas (und auch bei Johannes) anwenden, da es hier keine so alten Fragmente gibt wie bei Matthäus und Markus. - Lukas Vorhaben war, alle ihm verfügbaren Quellen zusammenzufassen, zu ordnen und durch (sehr wenige) überleitende Texte verbunden herauszugeben. Seine Quellen waren im Wesentlichen: - das Evangelium nach Markus - ein etwa gleich umfangreiches verloren gegangenes Evangelium (Hinweis: Ulrich Wilckens) - eine Sammlung von Reden Jesu, die auch Matthäus kannte, - die Berichte der Mitglieder der Urgemeinde, die er beim 2. Aufenthalt des Apostels Paulus in Jerusalem kennen lernte, darunter Berichte der Maria (wahrscheinlich vermittelt durch die Urgemeinde: Es ist nicht unmöglich, dass Lukas im Jahre 56 auch Maria kennen gelernt hat dann hätte sie aber bereits mindestens 76 Jahre alt sein müssen). Lukas macht die Berichte Maria’s ausdrücklich in seiner Schrift kenntlich: Lukas 2, 19 nach dem Besuch der Hirten (Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen); 2, 51 nach der Episode des 12jährigen Jesus im Tempel (Und er -Jesus - ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.) und - weniger deutlich - Lukas 2, 33 nach der Darstellung des Babys im Tempel und der Verkündigung Simeon's und Hannah’s (Und sein Vater und seine 17

Mutter wunderten sich des, das von ihm geredet ward.) Hier findet sich zwar kein Hinweis auf Maria und ihr Herz, aber auf Maria und Joseph und ihr Verwundern, und Inhalt und Stil lassen keine andere Annahme zu. - Der Mann, der traditionell mit dem Arzt Lukas gleichgesetzt wird, den der Apostel Paulus in seinen Briefen an die Kolosser und an Philemon sowie im 2. Timotheus-Brief erwähnt, war auf jeden Fall ein hoch gebildeter griechischer Mitarbeiter des Apostels. Auf ihn gehen zwei uns bekannte Werke zurück; als erstes schrieb er das Evangelium und als zweites die Apostel-geschichte. Mit der Arbeit am Evangelium begann er nach der Gefangennahme des Apostels Paulus - nicht vor 56, denn frühestens in diesem Jahre lernte er die Jerusalemer Berichte kennen, die er im Evangelium verarbeitet hat - und die Apostel-geschichte beendete er vor der Freilassung des Apostels Paulus in Rom2 - nicht nach 63, denn diese Frei  Mit der Haft in Rom hatte es eine eigene Bewandtnis: Paulus wusste, dass er nur unter dem Schutz des römischen Militärs Juda wieder hätte lebend verlassen können, fanatische Juden hatten geschworen, ihn zu ermorden - so nahm er sein Recht als römi-scher Bürger in Anspruch, an den Kaiser zu appellieren. Daraufhin musste er nach Rom geschafft werden und kam da in Untersuchungshaft (in die mildeste Form: Hausarrest mit einem Wachmann vor der Tür). Das Ungewöhnlichste dabei war: Es gab keine Anklage gegen ihn, es gab keine Akten über ein Verbrechen, das ihm vorgeworfen wurde (er war ja quasi in Schutzhaft genommen worden) - es gab nur seinen Appell an den Kaiser. So musste er die maximal 2

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lassung und das, was ihr folgte, der Beginn der Missionstätigkeit des Apostels im westlichen Mittelmeerraum, wie viele meinen, oder die Fortsetzung seiner Arbeit in Kleinasien, wäre wahrlich berichtenswert gewesen, findet sich aber nicht in der Apostelgeschichte. Das Evangelium hat er entsprechend zwischen 56 und dem Beginn der Arbeiten an der Apostelgeschichte abgefasst. - Theophilos, für den er schrieb, war Heidenchrist3 und gehörte dem griechischen Kulturraum an, entsprechend transponierte Lukas äußere Umstände so, dass sie für Griechen nicht verwirrend sondern verständlich waren, z. B. ändert er das JesusWort: „Man stellt kein Licht unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es allen, die im Hause sind“ (jüdische Einraumwohnung), in: „- - - so leuchtet es allen, die in’s Haus kommen“ (griechisches Haus mit vielen Zimmern) (Lukas 8, 16 // Matthäus 5, 15). Da Lukas nach der dreijährigen (Schutz-)Haft des Paulus in Caesarea ihn auch auf der Fahrt nach Rom begleitete, ist zu vermuten, dass er mit der Arbeit am Evangelium bereits in Israel begann; die Arbeit an der Apostelgeschichte kann er erst nach der Ankunft in Rom dort beendet haben.. - Lukas stellt die Ereignisse, über die er berichtet,

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mögliche Untersuchungshaft absitzen - ein Jahr und danach musste er freigelassen werden. Gegenbegriff ist Judenchrist (heute nennen sich diese Menschen „Messianische Juden“): Heidenchrist ist ein Christ, dessen Vorfahren nicht zum jüdischen Volk gehörten - also die meisten unter uns. 19

in den Zusammenhang des politischen Geschehens und macht sie so datierbar. Seine Arbeit ist die eines fähigen und gewissenhaften antiken Historikers. Er zitiert seine Quellen im Wortlaut (von den Gräzisierungen abgesehen), muss aber wegen der Fülle des Materials eine Auswahl treffen. (Sein Evangelium ist ohnehin doppelt so umfangreich wie das des Markus.) So berichtet er von ähnlichen Ereignissen (z. B. zwei Speisungswunder im Markus-Evangelium) nur das eine, das er für das Wichtigste hält. (Es gibt keinen Grund zu der Annahme, Lukas habe die nicht berichteten Ereignisse für korrumpierte Doppelberichte gehalten.) - Inhalt: Von Anfang an ist das Geschehen Erfüllung alttestamentlicher Prophetie und Wiederholung der jüdischen Heilsgeschichte: Die Geburt des Vorläufers Johannes von uralten unfruchtbaren Eltern (Zacharias und Elisabeth // Abraham und Sarah)), die Jungfrauengeburt (Jes. 7, 14), die Messias-Proklamation des Engels vor den Hirten (Micha 5, 1) Gott sendet seine Boten (Angeloi, woraus unser Wort „Engel“ wurde, bedeutet: Boten) zu den Betroffenen, um ihnen mitzuteilen, was das bedeutet, was sie erleben werden, und sie ihrer Rolle sicher zu machen: Zacharias (1, 11 ff); Maria (1, 26 ff); die Hirten (2, 10 ff). Gott gibt seinen Geist, so dass betroffene Menschen seinen Willen erkennen und Gott preisen: Elisabeth (1, 41 ff); Maria (1, 46 ff): Zacharias (1, 67 ff); Simeon (2, 29 ff); Hannah (2, 38). 20

Kp. 1: Vorgeschichte: Die Ankündigung der Schwangerschaften Elisabeths und Marias durch den Gottesboten Gabriel und die Schwangerschaften der beiden verwandten Frauen Elisabeth und Maria sind ineinander verzahnt bis hin zur Geburt des Johannes und der Messias-Prophetie seines Vaters Zacharias. Quelle: Urgemeinde Kp. 2: 1) Geburt Jesu, datiert durch Angabe der Schätzung (Eintrag in Steuerlisten) auf Befehl des Augustus und durch Angabe des syrischen Statthalters Quirinius/Cyrenius. (Es wird oft behauptet, dass es sich hierbei um ein Phantasieprodukt handle, weil dieser Zensus sonst nirgendwo dokumentiert ist. Dabei wird aber das Fehlen des Beweises mit dem Beweis des Fehlens verwechselt. Zudem ist - wie Carsten Peter Thiede zu Recht betont - „kein einziges kaiserlich-römisches Archiv auf uns gekommen“, der Einwand ist also völlig gegenstandslos. Es gibt eine Unmenge Fakten, von denen wir nur aus einer einzigen Quelle wissen. So lange solche Berichte in sich schlüssig und mit unserem übrigen Wissen vereinbar sind, sind wir gut beraten, sie nicht gleich zu verwerfen. Zudem wissen wir wenigstens eines: Der Vorgang entspricht exakt den römischen Steuer-Vorschriften. Es handelt sich hier um eine Grundsteuer. Der Text sagt eindeutig, dass Joseph sich in die Steuerliste einschreiben lassen musste. Dass Maria trotz ihres Zustandes an dieser Reise teilnahm, weist darauf hin, dass auch sie Grundbesitz bei Bethlehem hatte: In diesem Falle musste der Ehemann als Vormund auftreten, aber das Erscheinen der Frau war zwingend vorge21

schrieben. Wir sehen also: Beide hatten Grundbesitz bei Bethlehem, der zumindest regelmäßige Pacht abwarf. Arm waren sie also nicht. (Auf diese Fakten wies m. W. als Erster Carsten Peter Thiede hin.) Noch ein Punkt sollte bedacht werden: Lukas schrieb spätestens etwa 70 Jahre nach dem Ereignis. Damals waren die Quellen zur Geschichte Roms unter Augustus noch zahlreich und verfügbar - die kaiserlich-römischen Archive waren ja noch vorhanden. Hätte Lukas sich diesen Zensus aus den Fingern gesogen, so hätten die Feinde des Christentums unter den Gebildeten - und es gab von Beginn bis zu Konstantin d. Gr. im vierten Jhdt. viele, die gegen die Christen und ihre neue Lehre argumentierten und polemisierten, unter anderen der damals sehr angesehene Platoniker Celsus, der in seinem Hauptwerk Alethès logós (178 - 80) den christlichen Offenbarungsglauben bekämpfte - sich diese Möglichkeit, die Christen bloßzustellen, mit Sicherheit nicht entgehen lassen.) 2) Proklamation durch den Engel, Besuch der Hirten. Quelle: Maria 3) Überleitung: V. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. V. 21: Und da acht Tage um waren, dass das Kind beschnitten würde, da ward sein Name genannt Jesus, welcher genannt war von dem Engel, ehe denn er im Mutterleibe empfangen ward. Vers 21 ist eine zusammenfassende und bestätigende Schlussbemerkung des Lukas Natürlich könnte 22

man etwas lax sagen, Lukas pflege stets noch seinen eigenen Senf dazuzugeben, doch mit diesem Witz ginge man an der Bedeutung dieser Verse vorbei: Lukas bestätigt mit solchen Zusätzen die Korrektheit der Aussagen seiner Quelle. Vers 20 scheint eher eine bereits in die Urschrift eingedrungene Glosse4, vielleicht des Theophilus selbst, zu sein, sie steht in sinnloser Spannung zu Vers 18: Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten.) (cf 2, 39 f; 2, 52) Beschneidung, Darstellung im Tempel mit Auslöse-Opfer, Proklamation durch Simeon und Hanna. Quelle: Maria. 5) Rückkehr nach Nazareth: Überleitungs-Satz des Lukas (Vv 39+40) von V. 38 nach 41: Und da sie alles vollendet hatten nach dem Gesetz des Herrn, kehrten sie wieder nach Galiläa zu ihrer Stadt Nazareth. Aber das Kind wuchs und ward stark im Geist, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm. (Das nächste Ereignis, zwölf Jahre später, setzte voraus, dass die Familie wieder in Nazareth lebte, der Ägypten-Aufenthalt war Lukas offensichtlich nicht bekannt, was dafür spricht, dass Maria bereits gestorben war, als Lukas als Beglei4

Glosse: Es war damals schon üblich, dass der Besitzer einer Schrift eigene Gedanken am Rand notierte. Ärgerlicher Weise wurden aber auch Korrekturen des Textes (Abschreibfehler, Auslassungen, - -) auf diesen Rand geschrieben. Der nächste Abschreiber musste dann entscheiden: Handelt es sich um eine Glosse, die natürlich nicht kopiert wurde, oder um eine Korrektur, die berücksichtigt werden musste. So ist durch Irrtum des Abschreibers manche Glosse in den Text eingedrungen. 23

ter des Paulus die Urgemeinde besuchte) 6) 12-jähriger Jesus im Tempel. Quelle: Maria

3) Bericht des Matthäus - Datierung: Ein innerer Hinweis zur Datierung wie bei Lukas fehlt. Doch dem Papyrologen Carsten Peter Thiede ist es gelungen, ein Papyrus-Fragment, das sich im Besitz des Magdalen-College in Oxford befindet, als Fragment des Matthäus-Evangeliums zu identifizieren und auf die Zeit kurz vor 66 zu datieren. Ein weiteres Fragment des selben Papyrus befindet sich in der Fundación S. Luca Evangelista in Barcelona. (Dabei ist zu bedenken, dass wir es wahrscheinlich nicht mit der Urschrift des Matthäus sondern mit einer frühen Abschrift des noch früheren Originals zu tun haben dürften.) - Anders als Lukas überarbeitet Matthäus seine Quellen sprachlich und bietet seinen gesamten Text in einem gefälligen Griechisch. - Er beginnt seinen Bericht mit dem schon erwähnten Stammbaum, gefolgt von einer Vorgeschichte der Geburt, die sich während der Schwangerschaft Marias zugetragen hat: Joseph wird in einem Traumgesicht durch den Engel des Herrn darüber belehrt, dass Maria’s Schwangerschaft ihren Grund nicht in unmoralischem Verhalten sondern im Wirken des Heiligen Geistes hat. Eine Ortsangabe fehlt, es spricht also nichts dagegen, Lukas zu folgen und anzunehmen, dieses Ereignis habe sich noch in Nazareth zugetragen. (Interessant dabei: Für den Fortgang des Geschehens, wie er bei Lukas berichtet wird, ist dieses 24

Ereignis wichtig: Joseph war mit einer Jungfrau verlobt, diese erwies sich plötzlich als schwanger, und Joseph wusste genau, dass er jedenfalls nicht der Vater war. Sollte er wirklich glauben, dass hinter dieser Schwangerschaft kein anderer Mann steckt? Würden Sie das glauben? Matthäus berichtet - und alles andere wäre unglaubwürdig Joseph habe vorgehabt, die Verlobung im Stillen aufzulösen. Ohne das Traumgesicht wäre Jesus als Halbwaise aufgewachsen. - Das nächste berichtete Ereignis ist der Besuch der Magier nach der Geburt Jesu. Es ist nicht zu erwarten, dass die Magier auf Grund zoroastrisch-persischer Heils- oder Heilandserwartungen auf einen König der Juden setzten. Wahrscheinlicher ist da, dass sie jüdische Vorstellungen adaptiert hatten - durch die babylonische Gefangenschaft war es schließlich auch zu Wissens- und Kulturtransfer nach Osten gekommen, der dann den selben Weg nach Persien genommen haben mag wie die babylonische Astrologie. Eine direkte Angabe über die Zeitspanne zwischen der Geburt Jesu und dem Besuch der Magier fehlt. Allerdings findet sich eine indirekte Zeitangabe in 2, 16: Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Das gibt uns zunächst noch keinen Hinweis auf den Zeitpunkt der Geburt Jesu. Es steht ja nicht einmal im Text, 25

dass der Stern bei Jesu Geburt erschienen sei - der Text sagt nur, dass die Magier den von ihnen gesehenen Stern als Stern der Geburt des neuen Königs interpretierten, und dass sie erwarteten, ein etwa einjähriges Kind zu finden (Matthäus. 3, 16), ferner, dass sie tatsächlich einen sehr kleinen Knaben fanden. Dazu passt auch, dass sie den Stern lange nicht gesehen hatten und ihn jetzt im Osten wiederentdeckten (2, 10): Sie mögen ihn bereits ein Jahr zuvor dort zum ersten Mal aufgehen sehen haben - dass sie nicht sofort aufgebrochen waren, bedeutet einfach, dass die Reise lang und beschwerlich war (sie also allem Anschein nach nicht aus dem näher gelegenen Babylon sondern tatsächlich aus Persien kamen) und gut überlegt und vorbereitet sein wollte. Der Kindermord des Herodes legt also nahe, dass die Magier den Stern ziemlich genau ein Jahr zuvor das erste Mal erblickt hatten und dass Jesus tatsächlich zu diesem Zeitpunkt geboren wurde. Damals waren Maria und Joseph noch in Bethlehem ansässig. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn nach der Geburt war Maria lt. 3. Mose 12, 1 - 4 für 40 Tage an das Haus gebunden, musste also mit dem Baby im Stalle bleiben. Und Joseph konnte in der kleinen Stadt Bethlehem genau so gut, wenn nicht besser, seiner Arbeit nachgehen, wie in dem unbedeutenden kleinen Dorf Nazareth. (Das änderte sich erst nach dem Jahre 4 v. Chr., in dem die Stadt Sepphoris, gut 10 km südöstlich von Nazareth gelegen, bei einer lokalen Revolte zerstört worden war: So entstand für die nächsten Jahre eine Großbaustelle mit 26

reichlich Arbeit für den aus Ägypten zurückgekehrten Joseph.) Dieser Bericht wird immer wieder in Frage gestellt, weil vom Kindermord des Herodes sonst nichts bekannt ist. Abgesehen davon, dass mit diesem argumentum e silentio5 wieder das Fehlen des Beweises mit dem Beweis des Fehlens verwechselt wird: Wo sollte denn der Mord an etlichen Babys eines unbedeutenden Städtchens dokumentiert sein? Zumal Herodes sicher kein Interesse an solch einer Dokumentation hatte? Wen - die Bewohner Bethlehems ausgenommen hätte er denn interessieren sollen? Die Welt war und ist nun einmal voller Morden. Und das Stadtarchiv Bethlehems ist schließlich auch nicht erhalten. - Die erste Frage soll wieder die nach den Quellen sein: Berichten kann natürlich nur, wer dabei gewesen ist, und so bleibt für den Bericht über die Flucht nach Ägypten - so sie denn stattgefunden hat - als einzige Quelle die Familie Jesu. Für den Besuch der Magier könnte man natürlich denken, sie hätten der Familie über ihre Erlebnisse erzählt - was sie sicher haben - und so sei das Ganze zusammen gekommen. Vor allem zwei Gründe sprechen gegen diese Annahme: Zum einen ist dieser Text nicht der Bericht direkt betroffener, sondern Drittbericht, und zum anderen ergibt sich daraus ein Problem mit dem Stern: - Die Aussage Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen hin, bis 5

Argument aus dem Schweigen (der Quellen) 27

dass er kam und stand oben über, wo das Kindlein war (V. 9) hat dazu geführt, dass in gegenwärtigen Krippen-Darstellungen der Stern von Bethlehem zumeist als Komet dargestellt wird (siehe Bild 1) - eine Unmöglichkeit, denn Kometen galten damals als Künder von Unheil und Krieg. Und obwohl sie wandern wie kein anderer Stern, bleiben sie doch nie über einem Hause oder ähnlichem stehen. Es hilft nichts, der Satz ist nicht nachvollziehbar, zumal die Magier dann ja nicht in Jerusalem hätten nach dem Ort der Geburt fragen müssen. Wenn aber einer, dem per Gesetz die Kenntnis der Astronomie verboten war, weil Astronomie ja zur Mantik (Wahrsagekunst) gehörte (5. Mose 18, 9 14), und der nachts höchstens vor dem Schlafengehen noch ein wenig auf seinem Dache sitzt und sich am Anblick der Sterne freut, sie aber nicht studiert, plötzlich eine Nachtwanderung macht und dabei auch noch einen bestimmten Stern vor ihm am Himmel fixiert, dann mag er das Gefühl bekommen, der Stern gehe vor ihm her. (Viele vermuten, dass dies die Ursache sei. Ich habe es noch nicht ausprobiert, kann mir aber vorstellen, dass es bei etlichen gut funktioniert.) Dazu passt die Aussage von Vers 10: Den Stern erblickend wurden sie (die Magier) aufs Höchste erfreut. Sie hatten ihn also vorher nicht gesehen und hatten nicht erwartet, ihn wieder zu sehen. Mit diesem Stern müssen wir uns jetzt beschäftigen: - Alle Jahre wieder wird uns in den Planetarien er28

klärt, was der große Astronom Keppler entdeckt hatte: Er hatte im Jahre 1609 eine Supernova beobachtet, einen neuen sehr hellen Stern (genau genommen: das Leuchten eines explodierenden Sterns), der aber nur kurze Zeit leuchtet. Diese Supernova erschien, als sich Jupiter und Saturn im „feurigen Dreieck“ aufhielten. Wenig später vervollständigte Mars diese Konstellation. (Mit dem „feurigen Dreieck ist wohl das in Herbst und Winter sichtbare Sternbild Triangulum gemeint.) Keppler berechnete, dass diese Konstellation auch im Jahre 6 v. Chr. aufgetreten war - damals vermutlich ohne Supernova - und setzte diese Konstellation mit dem Geburtsstern gleich. - In den Jahren 7 - 5 v. Chr. hatte es eine Reihe seltener Konstellationen der Planeten Jupiter (Stern des höchsten Gottes), Saturn (lt. Carsten Peter Thiede Stern Israels) und Mars in den Sternbildern Fische (Gebiet zwischen West-Mesopotamien und östlichem Nilland) und Widder (Siedlungsgebiet Israels) gegeben. Die spektakulärste war die des Jahres 7, Michael Molnar (US-amerikanischer Physiker) hat diese Konstellation neu berechnet und hält sie für den Geburtsstern: Jupiter, Saturn, Mars, Mond(sichel), Merkur, Sonne und Venus, also alle 7 „Planeten“ der damaligen Astronomie in einer Reihe.

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Wer unter dieser Konstellation geboren wurde, müsste - wenn die Astrologie recht hätte - über alle positiven Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, über die ein Mensch nur verfügen kann schade, dass wir von den vielen zu dieser Zeit geborenen Supermenschen so wenig gehört haben. Diese Konstellation wird gefolgt von einer weiteren interessanten Konstellation 6 v. Chr. (Mars, Jupiter und Saturn) sowie einer Konjunktion von Jupiter und Saturn 5 v. Chr. (Konjunktion bedeutet, dass die Erde und die beiden Sterne auf einer Linie liegen, ein Stern den anderen bedeckt und also vorübergehend nur ein Stern sichtbar ist. Die Konjunktion eines Sterns ist etwas anderes.). Inzwischen sind babylonische Keilschrifttafeln aus den Jahren 17 und 8 v. Chr. gefunden worden, in denen genau diese Konstellation des Jahres 7 v. Chr. im Voraus berechnet wird. (Ärgerlicher Weise besitzen wir keinen späteren Keilschrift-Text, der berichtet, was dann tatsächlich in diesem und den 30

folgenden Jahren am Himmel zu sehen gewesen war.) Die astrologische Deutung, die heute aus der Konstellation des Jahres 7 v. Chr. rekonstruiert wird, lautet in etwa: Der Gott des Himmels tritt Israel nahe und kommt mit allen himmlischen Gaben in sein Siedlungsgebiet. Das wird heute als Epiphanie, als Auftreten Gottes unter den Menschen, interpretiert und passt auf den ersten Blick recht gut zu unserem Text - auf den zweiten treten leider Schwierigkeiten auf: Wenn es eine Planeten-Konstellation gewesen wäre, so hätten die Magier gewusst, wann sie wo am Himmel zu sehen ist, und wären nicht freudig überrascht gewesen, sie wieder zu erblicken. Zu allem Überfluss wäre diese Konstellation gar nicht sichtbar gewesen: Da die Sonne mit beteiligt war, fand sie am Taghimmel statt, direkt vor der Sonnenscheibe, konnte berechnet aber nicht beobachtet werden. Das Ganze ist eine astrologi-sche Spekulation, die am Bericht des Matthäus vorbeigeht (Matthäus 2, 2 b: Wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen - - -; 2, 10: Da sie den Stern s a h e n , w a re n s i e h o c h e r f re u t - - . -

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Ganz neu ist diese Idee auch nicht: Auf dem Krippenbild des Giotto di Bondone vom Anfang des 14. Jhdts können Sie genau diese Konstellation des Jahres 7 v. Chr. betrachten. Aber schon die Magier wussten, dass solch eine Konstellation immer wiederkehrt, und wären sogar in der Lage gewesen, den Zeitpunkt der nächsten Konstellation in etwa zu berechnen. Das passt alles nicht. 32

Einen weiteren Hinweis gibt die Tatsache, dass die Magier den König Israels, Herodes den Großen, nach dem neugeborenen (genauer übersetzt: dem hervorgebrachten) König fragten. König wurde man damals wie heute nicht durch Geburt, sondern durch Inthronisation auf einen vakanten Thron. Charles Montbatten ist schließlich immer noch Prince of Wales und wird vielleicht nie König werden. Die Geburt dieses Königs musste also zugleich seine Inthronisation gewesen sein oder er musste bereits vor seiner Geburt König gewesen sein, und sein Königtum musste unabhängig von der Königsherrschaft des Herodes und daher nicht in Konkurrenz zu ihr bestehen, cf Johannes 18, 36: Jesus antwortete (dem Pilatus): „Mein Reich ist nicht von dieser Welt!“, der Thron des Herodes war schließlich nicht vakant. (Das hat Herodes als notorisch misstrauischer Macht- mensch leider nicht begriffen.) Die Magier suchten nach etwas Einmaligem: Nach dem Mensch gewordenen Gott! Kann aber etwas Einmaliges durch ein wenn auch selten so doch immer wieder wiederkehrendes Zeichen bezeichnet werden? Wieso sollte dann das Einmalige ausgerechnet bei dieser Konstellation eintreten und nicht etwa bei einer früheren oder späteren? So passt gar nichts. - Einen ersten Hinweis auf eine mögliche Lösung des Problems fand ich in einem Buch Vincent Cronin’s, das auf Deutsch unter dem Titel „Die Säulen des Himmels“ erschienen ist: Im ersten Kapitel berichtet er, chinesische Astronomen hätten im Jahre 5 v. Chr. 10 Wochen lang eine Nova gesehen. Das wäre knapp aber ausreichend: Im Jahre 5 der von den Magiern vermutete Tag der 33

Geburt Jesu, im Jahre 4 das Eintreffen der Magier, die Flucht nach Ägypten, der Kindermord und ziemlich im Anschluss daran der Tod des Herodes und die Rückkehr aus Ägypten. Der ÄgyptenAufenthalt der Heiligen Familie wäre dann nur eine kurze Episode gewesen. Ich hatte auf Grund meiner Arbeit am Bibeltext schon lange etwas derartiges vermutet und versuchte sofort, diesem Hinweis nachzugehen. Leider schlugen meine damaligen Versuche, eine Bestätigung für Cronin’s Aussage zu bekommen, fehl. So teilte der Astronom Prof. Kohutek (der Entdecker des nach ihm benannten Kometen) mir mit, dass die Beobachtungen der chinesischen Astronomie im Westen nicht bekannt seien, und schickte mir die neueste Veröffentlichung eines Kollegen, der wieder eine neue Konstellation entdeckt hatte und die für den „Geburtsstern“ hielt. - Die Lösung brachte mir dann einige Jahre später ein Artikel, der unter dem reißerischen Titel „Die Mär vom Stern von Bethlehem“ in Bild der Wissenschaft erschien und wieder eine bestimmte Konstellation, wieder die vom Jahre 7, zum „Stern“ zu ernennen suchte. Glücklicherweise erwähnt der Autor (kein Astronom, sondern ein Wissenschafts-Journalist) auch andere sonst hier nicht bekannte Forschungsergebnisse: Die von Cronin erwähnte Nova wurde von David H. Clark und Richard Stephenson von der University of Newcastle auf das Frühjahr 5 v. Chr. datiert. Mark Kidger vom Instituto Astrofisica de Canarias bestätigt das und weist auf eine gleichzeitige Konjunktion von Jupiter und Saturn hin. Astrologisch 34

ließe sich dieses Ereignis nach der Serie seltener Konjunktionen der Jahre 7 und 6 v. Chr. so deuten: Der Gott des Himmels tritt wieder einmal Israel nahe und sendet diesmal seinen lange ersehnten himmlischen König für Israel in dessen Siedlungsgebiet. - Bleibt noch eine Frage zu klären: Wieso sahen die Magier den Stern eine Zeit lang nicht und waren hocherfreut, ihn auf ihrem Weg nach Bethlehem wieder zu entdecken? Viele Novae gehen nach ihrem Strahlungsmaximum zunächst durch ein mehr oder minder langes Minimum, um danach ein zweites Maximum zu erreichen, anschließend werden sie langsam und gleichmäßig schwächer, um nach Jahren bis Jahrhunderten zu verlöschen. Das zweite Maximum liegt um 6 Größenklassen unter dem ersten; war also das erste so hell wie die hellsten Sterne, so ist das zweite gerade noch sichtbar. Wäre das erste Maximum schwächer als die hellsten Sterne gewesen, so wäre das zweite für die Magier unsichtbar geblieben. Überstrahlte aber das erste alle Sterne, so war das zweite gut sichtbar. Nach dem Durchgang durch sein Minimum wurde der Stern wieder sichtbar - womit die Magier nicht hatten rechnen können. - Der Stern der Magier war eine Nova, ein neuer Stern, der im Jahre 5 v. Chr. aufstrahlte - ein astronomisch gesichertes Faktum. - Und noch einmal die Quelle: Der Besuch der Magier in Jerusalem hatte Aufsehen erregt: Als das Herodes hörte, erschrak er, und mit ihm ganz Jerusalem. Da ist es nicht abwegig, anzunehmen, 35

dass sich mindestens ein Jerusalemer Bürger dem Zug der Magier angeschlossen hatte. Einiges erfuhr er von den Magiern, einiges von Maria und Joseph, vieles beobachtete er. Und als man knapp dreißig Jahre später begann, die erstaunlichsten Dinge von Jesu zu berichten, hatte auch er etwas beizusteuern. 4) Zusammenfügung Es passt also alles zusammen wie die beiden Zahnreihen eines Reißverschlusses:

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Resümee Die beiden Evangelien-Texte des Lukas und des Matthäus ergänzen und bestätigen einander. Unabhängig sind sie, weil das, was Matthäus berichtet, sich nicht bei Lukas findet und umgekehrt. Sie bestätigen einander, weil die einzelnen Teile zusammen passen wie die beiden Zahnreihen eines Reißverschlusses, und weil erst die korrekte Zusammenfügung der beiden Berichtsstränge ein sinnvolles und widerspruchsfreies Ganzes ergibt. Einer der beiden Berichte verbindet zudem ein von unabhängiger Quelle bestätigtes aber ansonsten in Israel unbemerkt gebliebenes Ereignis in Zusammenhang mit diesem Geschehen: Das Aufleuchten der Nova, des Sterns der Magier - damit entfällt jeder vernünftige Grund, an der Historizität des Berichteten zu zweifeln. Wir haben es nicht mit Gegenständen eines wie auch immer zu verstehenden Wähnens zu tun, sondern mit historischen Fakten. Und damit sind wir an einem Kernpunkt vernünftiger Glaubenslehre angekommen: Was in der Vergangenheit geschehen ist, ist kein Gegenstand irgend welchen Glaubens oder Wähnens, sondern Gegenstand historischen Wissens. Auf diesem Wissen fußt der Glaube: Weil ich in der Vergangenheit die Liebe und Treue Gottes als historisches Faktum erkenne, kann ich darauf vertrauen, dass der Gott, der sich in der Geschichte als treu bewiesen hat, auch in Zukunft - auch in meiner Zukunft - treu sein wird. Das aber hat sehr persönliche Konsequenzen: Liebe weckt Gegenliebe, Treue verpflichtet: Weil ich erkenne, dass 37

Gott mich liebt und was Jesus für mich getan hat, kann ich nicht anders als seiner Liebe mit Liebe und Dankbarkeit, seiner Treue mit Gehorsam zu antworten. Probleme der Theologie Was wir jetzt als Fakten quasi mit Händen greifen können, wird in der angelsächsischen Theologie von vielen Wissenschaftlern gesehen und publiziert - in der deutschen werden Sie es kaum finden. (Natürlich gibt es auch dort auch andere; atheistische Theologen zum Beispiel gibt es natürlich nicht nur in Kontinental-Europa.) Das hat mit einem speziellen Problem der deutschen Theologie zu tun - mit ihrem Selbstverständnis: Man solle die Wissenschaften betreiben sicut deus non daretur, als ob es Gott nicht gäbe; seit der Renaissance ist dies das Motto aller Wissenschaft. Das hat außerhalb der Theologie seine - nicht uneingeschränkte - methodische Berechtigung, denn es hindert die Menschen daran, bei jedem Problem, das man (noch) nicht lösen kann, gleich das „unausforschliche souveräne Handeln Gottes“ als Ursache zu vermuten und die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Ohne diesen Ansatz des sicut deus non daretur wäre unser Wissen über die Welt beschränkter, als es das heute ist. Doch innerhalb der Theologie hat Gott eine Rolle, die zum Beispiel über die Rolle der Schwerkraft in der Physik weit hinausgeht. Wollte jemand Physik betreiben sicut gravitas non daretur, als ob es keine Schwerkraft gäbe, so würde das jeder als verrückt erkennen, und niemand würde von solch einer Physik brauchbare Ergebnisse erwarten. 38

Ein Beispiel für die Verrücktheit einer solchen „theologia sicut deus non daretur“ ist die Idee des Vaticinium ex Eventu: Wenn ich eine erfüllte Prophetie 6 - und davon gibt es viele in der Bibel - erklären will sicut deus non daretur, so muss ich annehmen, dass der Schreiber dieses Textes den Ausgang des Ereignisses bereits gekannt hatte, als er seinen Text schrieb - also seine “Prophetie” nach dem Ereignis verfasste! Diesen Ansatz zu Grunde gelegt, gibt es in der Bibel also keine erfüllte Prophetie, sondern nur geschickten Betrug - die Theologie nennt diese von ihr behauptete Form des Betruges vornehm und verschleiernd “Vaticinium ex eventu”, Prophezeiung aus dem = nach dem Ereignis. Die Interpretation der erfüllten Prophetie als Vaticinium ex eventu zwingt allerdings dazu, die Abfassungszeit der Texte auf die Zeit nach den Ereignissen festzulegen, was zum Beispiel bei den Evangelien zu unhaltbaren Aussagen führt: So ist das inzwischen identifizierte älteste Fragment des Evangeliums nach Markus und und das auf Grund innerer Kriterien datierte Evangelium nach Lukas mehr als zehn Jahre älter als die von Jesus darin prophezeite Zerstörung Jerusalems, was aber - da das Denken unserer Theologie ideologisch gebunden ist 6

Prophetie: Verkündigung des Willens Gottes oder seines zukünftigen Handelns etc in Gottes Auftrag. Prophetie darf also nicht verwechselt werden mit Wahrsagerei (Mantik) oder Hellsehen. 39

nicht anerkannt wird. Statt dessen brach in der deutschen Theologie ein Sturm der Entrüstung aus, als international anerkannte Papyrologen wie der spanische Jesuit Josè O’Callaghan 1972 und in seiner Folge der Anglikaner Carsten Peter Thiede 1985/86 nachwiesen, dass eines der Fragmente aus der Qumran-Höhle 7 (7Q5) aus Markus 6, 52 53 stammt, also vor dem Jahre 68 n. Chr. nach paleographischen Untersuchungen wahrscheinlich um das Jahr 50 herum - geschrieben sein muss: Das war der Todesstoß für jede Spätdatierung - doch in Deutschland gilt weiter: Nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Ursache der Spätdatierung in Deutschland liegt aber noch weiter zurück als die Idee des Vaticinium ex eventu: Am Anfang stand (seit Reimarus und Lessing) die aufklärerische Annahme, bei den biblischen Texten handle es sich um „fromme“ Legenden, die im Laufe einer langen Zeit um nahezu unbedeutende historische Fakten herum gewachsen seien. Nur so konnte man die Texte erklären, ohne in ihnen die direkte Folge des Handelns Gottes zu sehen - und sie damit als unverbindliche Dichtung verstehen, statt sich durch Gottes Handeln und Gottes Willen in die Pflicht genommen zu wissen. Sollte eines Tages auf Grund der längst bekannten aber in der deutschen Theologie bisher ziemlich konsequent geleugneten Faktenlage die Frühdatierung endlich akzeptiert werden, so müsste die Prämisse des sicut deus non daretur aufgegeben werden. Dann wäre Theologie als Lehre von Gott 40

auch in Deutschland wieder möglich. Zur Zeit wird an unseren Universitäten aus ideologischen Gründen Atheologie (Gottlosigkeitslehre) gelehrt - ohne Rücksicht auf die historischen Fakten. Aber zum Glück wird Theologie nicht nur in Deutschland getrieben.

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