Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Johannes 1,42-51

Was kann aus Nazareth Gutes kommen? – Johannes 1,42-51 Irgendwie stelle ich mir Nathanael ziemlich cool vor. Zur Mittagszeit, high noon, lungert er i...
Author: Guido Fried
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Was kann aus Nazareth Gutes kommen? – Johannes 1,42-51

Irgendwie stelle ich mir Nathanael ziemlich cool vor. Zur Mittagszeit, high noon, lungert er in der galiläischen Kleinstadt Kana herum. Auf einer Veranda, an deren Seite ein uralter, knorriger Feigenbaum gewachsen ist und etwas Schatten wirft. Nathanaels Füsse liegen auf dem Gelände, das die Veranda zur Strasse hin abschirmt. Sein Stuhl kippt leicht nach hinten, der junge Mann döst in der Sonne, die Arme vor der Brust verschränkt. Seinen Hut hat er tief ins Gesicht gezogen. Im Mundwinkel ein Grashalm. Mein Nathanael sieht ein bisschen aus wie Lucky Luke. Ein echter Cowboy, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Und wie echte Cowboys eben so sind, muss Nathanael nichts tun. Er steht über den Dingen. Den Aufgaben, denen er sich stellen muss, muss er nicht hinterher rennen. Sie werden früher oder später zu ihm kommen. Bis dahin kann er gelassen herumhängen, im Schatten eines Feigenbaums am Rand der staubigen Strasse, die durch Kana führt.

Seine Freunde kommen. Würde die Geschichte im Wilden Westen spielen, würde man die Hufe ihrer Pferde hören und dann zwei Männer sehen, die allmählich aus einer Staubwolke auftauchen. Nathanael würde mit seinem rechten Zeigefinger den Hut ein wenig nach oben schieben und einen blinzelnden, unaufgeregten Blick auf die Strasse werfen.

„Nathanael“, würde nun einer der Freunde rufen, während er vom Rücken seines Pferdes gleitet und mit ein, zwei Sätzen auf die Veranda hastet, „Nathanael, wir haben ihn gefunden. Der Messias! Es ist Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth!“

Nathanael würde die Worte auf sich wirken lassen. Mit einer sparsamen Bewegung würde er den Grashalm aus dem Mundwinkel entfernen und ihn auf den Boden schnippen. 1

Er würde einmal tief einatmen, während Philipp, sein Freund, vor Ungeduld von einem Fuss auf den anderen zappelt. „Sag was, komm schon, spring auf, tu was, der Messias ist da!“ sagen Philipps Augen. Jetzt nimmt Nathanael die Füsse vom Gelände. Der Stuhl kippt langsam nach vorne. Nathanael stützt seine Ellbogen auf die Knie, klemmt das Kinn zwischen beide Fäuste und deutet bloss ein leichtes Kopfschütteln an. „Nazareth, sagst du?“ Dann spuckt er eine letzte Faser des Grashalms auf die Erde und sagt mit nur ganz wenig Verachtung in der Stimme: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“

Ich weiss auch nicht so recht, warum ich mir Nathanael als einen coolen Cowboy vorstelle. Das ist sicher nicht historisch korrekt. Aber in dieser Verkleidung kommt mir Nathanaels Reaktion irgendwie näher. Nathanaels Reaktion ist zu einem geflügelten Wort geworden. In der Sammlung der „Geflügelten Worte“ findet sich auch dieser Vers aus dem Johannesevangelium: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Warum nennt man eigentlich „geflügelte Worte“ geflügelte Worte?

Ich nehme an, weil sie sich verselbständigt haben. Irgendwann hat einmal irgendjemand in einer ganz bestimmten Situation etwas gesagt. Nathanael, Israelit zur Zeit Jesu in Kana, einer galiläischen Kleinstadt. Nathanael sagte einen kurzen Satz. Kurz genug, dass man ihn sich gut merken konnte. Und dann ist im Laufe der Zeit die Erinnerung verblasst, worum es damals eigentlich gegangen und was da eigentlich einmal geschehen ist. Nicht jeder liest in der Bibel. Nicht jeder kennt Nathanael. Aber der kurze Satz, das treffende Wort ist geblieben. Und ein Wort, das bleibt, ohne das man den ursprünglichen Zusammenhang noch kennen muss, ist eben ein geflügeltes Wort. Mit Flügeln ist es unabhängig von der Situation, in der es zum ersten Mal gesagt wurde. Alle möglichen Situationen kann man sich rund um dieses Wort vorstellen. Jede beliebige Stunde der Menschheitsgeschichte. Jede Region dieser Welt. 2

Überall, zu jeder Zeit gibt es solche Leute, die bereit sind, einen Satz wie diesen auszuspucken: „Ach, was soll denn schon Gutes kommen aus …“

„Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Das ist zu einem sprichwörtlichen Ausdruck von Ablehnung und Misstrauen geworden. Eine unsichtbare Mauer, die nur schwer zu durchbrechen ist. Ihr unmittelbarer körperlicher Ausdruck sind die verschränkten Arme, hinter denen man sich verschanzt. Da kommt jemand und will etwas von mir – aber ich verschränke erst einmal die Arme vor der Brust und mache dicht. Denn was soll ich schon Gutes erwarten, wo mir allein schon die Herkunft meines Gegenübers suspekt ist?!

Auch Jesus hat es zunächst mit dieser unsichtbaren Mauer zu tun gehabt. Mit verschränkten Armen, die Abstand markieren. „Mich erreichst du nicht. An mich kommst du nicht heran!“ das ist die unausgesprochene Botschaft einer solchen Körperhaltung. Nicht alle, die Jesus rief, folgten ihm ohne Widerstand. Es gab auch die anderen. Nathanael, der abwinkte, als Philippus ihm von Jesus erzählte.

Mir macht es Mut, dass Jesus auch diesen Tiefschlag kannte. Denn es ist ein Tiefschlag, wenn Menschen nichts von dir erwarten. Zum Beispiel, weil sie wissen oder weil sie meinen zu wissen, wo du herkommst. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Auch so ein geflügeltes Wort. Ich habe mir sagen lassen, dass Kinder früher am Gymnasium die Berufe ihres Vaters angeben mussten – und ich nehme an, dass diese Auskunft nicht ohne Folgen geblieben ist für die Art und Weise, wie der Schüler oder die Schülerin dann von den Lehrern beurteilt wurde. Und da gibt es Leute, die bewerben sich auf eine Stelle oder bemühen sich um eine Wohnung. Aber ihre Unterlagen werden ohne viel Federlesen aussortiert, weil ihr Name zum Beispiel auf -ic endet.

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Der Name verrät die Herkunft. Die Herkunft verrät die Zukunft. Mit dieser Peron wirst du dir Ärger einhandeln. Diese Person wird zur Gewalt neigen. Diese Person könnte zumindest Scherereien machen. Da lässt man lieber die Finger davon!

Wir Menschen, die wir uns zu einer Kirche halten, werden übrigens von einer ganz ähnlichen Haltung auch hin und wieder verletzt. Da engagierst du dich zum Beispiel für eine soziale Aufgabe. Sagen wir: für die Begleitung von Immigrantinnen und Immigranten auf dem Weg zu ihrer Sprachschule. Gerade hier kommt es immer wieder zu Personenkontrollen, die die Leute verunsichern. Du möchtest dich also auch engagieren und findest dich bald in einem Kreis von anderen engagierten Menschen. Wirst du ihnen sagen, dass du sonntags in eine Kirche gehst? Dass du Christ bist und dass dir dein Glaube an Christus Rückenwind gibt für dein Engagement? Oder spürst du, dass du dann für sie die Exotin bist? Es gibt so viele Menschen in unserer Gesellschaft, die an irgendeinem bestimmten Punkt sehr aktiv sind, sehr engagiert. Die aber der Kirche – allen Kirchen – gegenüber sehr kritisch gegenüberstehen. Sie würden dich mit einem ganz ähnlichen Blick ansehen, wie Nathanael Philippus angesehen hat. Und ihr Blick oder auch ihr betretenes Schweigen verrät dir ihre Gedanken: „Was kann schon Gutes kommen von den Kirchen?“

Es ist auch schon vorgekommen, dass Leute aus einer christlichen Gemeinde ihre Namen nicht auf der Webseite ihrer Kirche oder im Gemeindebrief veröffentlicht haben wollten. Man möchte die Folgen doch gerne kontrollieren, die es haben kann, mit einer weltanschaulichen Institution in Verbindung gebracht zu werden – erst recht, wenn es sich um eine Freikirche handelt!

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Ich bin mir sicher, liebe Gemeinde, dass wir alle, jeder einzelne und jede einzelne von uns, manchmal zu denen gehören, die wie Nathanael mit verschränkten Armen auf ihrer Veranda sitzen und abschätzig sagen: „Was kann aus dieser Ecke schon Gutes kommen?“ Und genauso oft gehören wir zu denen, über die andere die Stirn runzeln und heimlich oder offen genau dasselbe sagen.

Wir Menschen begegnen Vorurteilen, und wir produzieren sie selber. Vorurteile erzeugen eine Haltung von Nicht-Erwartung. Vorurteile lassen Menschen leiden. Auch Jesus ist von Vorurteilen nicht verschont geblieben. Bei Nathanael ist es ihm gelungen, die unsichtbare Mauer der Vorurteile abzubauen. Nathanael hat die coole Fassade des besser wissenden Cowboys abgelegt und ist ihm am Ende gefolgt. Andere Menschen haben Jesus gegenüber die Haltung der verschränkten Arme, dieses „Von dir erwarte ich nichts Gutes!“ bis zum Ende durchgehalten. Es ist nicht leicht, Blockaden aufzuheben, wenn sie einmal da sind. Auch nicht für den Menschensohn.

Gut. Bei Nathanael hat er es geschafft. Aus dem dahin geworfenen Satz: „Was soll aus Nazareth Gutes kommen?!“ ist ein Gespräch geworden, und man kann darüber nachdenken, wie es zu diesem Gespräch überhaupt gekommen ist und wie Jesus den Nathanael doch noch erreicht hat, trotz seiner Mauer.

Zunächst ist Nathanael ja nicht lässig auf seiner Veranda sitzen geblieben. Er ist dem aufgeregten Philippus gefolgt. Das ist schon einmal ein erster Schritt. Es hat sich etwas bewegt in Nathanael. Er hat sich bewegt. Ist vom hohen Ross seiner Nicht-Erwartung heruntergekommen. Und ist eben so unweigerlich Jesus näher gekommen.

Und dann - irgendwie schleichen sich mir an dieser Stelle wieder WesternSzenen ein. Und dann sieht Jesus Nathanael kommen und sagt von ihm: 5

„Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.“ Wie auf der leergefegten, staubigen Strasse eines Nests am Rande der Prärie gehen die beiden Männer aufeinander zu. Showdown. Eine Begegnung auf Leben und Tod. Wortkarg sind sie, alle beide. Der eine sieht den anderen schon von weitem kommen. Er ist nicht alleine. Sonst wären seine Worte ja ins Leere gesprochen. Nein, er hat gewiss einen Zeugen bei sich, Andreas oder Simon, der eben erst den Decknamen Petrus bekommen hat. Und zu diesem wendet er sich, während Philippus und Nathanael herankommen. Und er sagt: „Sieh mal an, ein rechter Israelit, der das Herz auf dem rechten Fleck hat.“

Das klingt so schön, dass Nathanael sich geradezu provoziert fühlen muss. Er mag sich auch etwas unbehaglich gefühlt haben. Denn das schwingt in seiner leicht auffahrenden Antwort mit: „Woher kennst du mich?“ Und nun Jesus:

„Noch bevor dich Philippus rief, als du da unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen.“

Komisch. Diese Antwort brachte die Wende. Nathanaels unsichtbare Mauer, seine ganze Coolness und Abwehrhaltung bricht in sich zusammen. Dass Jesus aus Nazareth kommt, ist nicht mehr wichtig. Für Nathanael hat Jesus gerade einen Beweis erbracht. Es ist nicht die Herkunft, die zählt. Nicht der Heimatort, nicht der Familienname. Wo Jesus herkommt, spielt im Grunde keine Rolle. Wichtig ist, wie er einen Menschen ansieht. Jesus blickt hinter die Fassade. Sein Blick lässt sich von unsichtbaren Mauern nicht aufhalten. Auch nicht von verschränkten Armen. Sein Blick erfasst das alles, durchschaut es und lässt es schmelzen, so wie die kräftigen Strahlen der Frühlingssonne den Schnee schmelzen lassen.

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Aber eben. Bei Nathanael hat Jesus es geschafft. Durch eine kleine Kostprobe seines Blickes, der alles durchdringt. Aber nicht alle Mauern und Blockaden schmelzen so schnell, wie die jenes echten Israeliten Nathanael, der das Herz auf dem rechten Fleck trug.

Einmal, bei Nathanael, ist es Jesus gelungen, die unsichtbaren Mauern der Nicht-Erwartung zu durchbrechen. Aber in seinem Namen „Jesus von Nazareth“ ist den vielen Steinen menschlicher Vorurteile ein Denkmal gesetzt. Ein Mahnmal. Jesus heisst nicht Jesus von Bethlehem. Das wäre wahrscheinlich schön und gut gewesen. Bethlehem ist schliesslich die Geburtsstadt Davids. Eine Königsstadt. Jesus heisst Jesus von Nazareth. In diesem Namen hat sich Jesus mit all denen verbündet, denen der kalte Hauch der Nichterwartung entgegen schlägt. Darum geht er auch heute noch unermüdlich unsere staubigen Strassen hinunter. Noch immer geht er unerschrocken auf jene zu, denen nur zu leicht das geflügelte Wort der Verachtung über die Lippen kommt: „Was kann schon Gutes kommen aus Nazareth? Aus dem Kosovo? Oder was immer ihr hier eintragen möchtet. Aus der katholischen Kirche? Oder aus dem Islam? Legen wir sie auf den Tisch, die Schubladen unserer Geringschätzung. Der sie alle längst kennt und sieht, wird sie auch einmal leer räumen.

Denn es geht nicht um die, an deren Herkunft etwas auszusetzen ist. Es geht um die, die im Schatten ihrer Feigenbäume sitzen, mit verschränkten Armen und einer Erwartung, die auf Sparflamme brennt. Sie davon zu überzeugen, dass Zukunft nicht gleich Herkunft ist, es ihnen schmackhaft zu machen, aus ihrem Feigenbaumversteck aufzustehen – das ist die wahrhaft messianische Arbeit. Und Jesus tut sie heute noch.

Amen.

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Musik

Gott, du weisst, wo wir uns verschanzen, wo wir es uns bequem gemacht haben unter unseren Feigenbäumen, wo wir unsere Hoffnung zurechtstutzen auf das Mass dessen, was wir für realistisch halten. Wir glauben, Gott, wir kennen die Welt. In unserer Weisheit haben wir eine Menge geflügelter Worte auf Lager: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ „Was kann Gutes kommen aus Nazareth.“ „Die Revolution frisst ihre Kinder.“ Aber – Dank sei dir, Gott! – manchmal sind wir auch sprachlos. Weil etwas geschieht, für das wir kein geflügeltes Wort parat haben. Und ausserdem, so hoch lassen uns unsere geflügelten Worte gar nicht fliegen. Oft schränken sie uns ein, verbauen uns den Blick auf deine Weite. Ehrlich gesagt, Gott, bringen sie uns auch nicht viel weiter, diese Worte, die uns vormachen, etwas zu verstehen von der Welt.

In Wirklichkeit, Gott, bist du derjenige, der uns sieht unter dem Schutz all unserer Feigenblätter. Du weisst, dass manche Coolness nur Fassade ist, du weisst, wo wir tief beunruhigt sind, von dem, was anderen Menschen zustösst, und von dem, was in anderen Ländern und bei anderen Völkern geschieht. Du weisst, dass wir selbst unseren wohl gezogenen Grenzen und Mauern im Grunde wenig trauen. So sehr wir uns hinter Vorurteilen verstecken, so abgebrüht wir uns auch geben: 8

In Wirklichkeit spüren wir die Verbindung von Mensch zu Mensch. In Wirklichkeit wissen wir von dem Anspruch, den du an unser Mitgefühl stellst. In Wirklichkeit kennen wir unsere Verwandtschaft miteinander, egal in welchem glanzvollen oder verachteten Winkel dieser Erde wir zu Hause sind. In Wirklichkeit gibt es für uns keinen Ort, dem wir die Würde absprechen könnten, dich aufzunehmen, wenn du kommst, und auch wir können dir kein Dach bieten, das dich bei uns hält.

Darum bitten wir dich im Namen Jesu, der Nathanael sah und seinen Widerstand überwand: lass uns hinauswachsen über unsere Vorurteile, mache uns empfindsam für Menschen, die lange schon in unseren Schubladen sind, wecke unsere Leidenschaft für eine Welt, die an ihren Spannungen zu zerbrechen droht, und komm du nun auch an deinen Tisch, zu dem wir eingeladen sind, und lass, wenn wir dann weitergehen, unsere Erwartungen höher greifen, als unsere geflügelten Wörter fliegen können. Nimm von unseren Herzen die unsichtbare Mauer der Nicht-Erwartung und lass uns deine Jüngerinnen und Jünger sein.

Amen.

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