Was ist neu am Neuen Atheismus? Geistesgeschichtliche und soziologische Perspektiven Tom Kaden

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

Richard Dawkins: The God Delusion. London 2006. Bantam Press. 463 S. Daniel C. Dennett: Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon. New York et al. 2006. Viking. 448 S. Sam Harris: The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason. London 2006. Simon & Schuster. 336 S. Christopher Hitchens: God Is Not Great. How Religion Poisons Everything. New York, Boston 2007. Twelve. 377 S.

Betrachtet man die Popularität der in den letzten Jahren erschienenen Werke des so genannten Neuen Atheismus, stellt sich die Frage, wie ein geschichtlich eher marginales Phänomen wie der Atheismus gerade im vorgeblich säkularisierten modernen Westen eine solche Beachtung findet (vgl. nur die Liste der gegen den prominentesten Neuen Atheisten Richard Dawkins gerichteten Publikationen auf dessen Homepage, http://www. richarddawkins.net). Statt einer querschnittartigen Betrachtung, die vor allem auf die Auseinandersetzung mit den neuesten Variationen des Kreationismus wie der Intelligent Design-Bewegung rekurrieren müsste,1 soll hier ein historischer Längsschnitt gezogen werden, der der Beantwortung der Frage dient, inwieweit der Neue Atheismus auch eine eigene, atheismusgeschichtlich neue Qualität besitzt, die zu seiner Popularität beiträgt, und worauf diese Qualität basiert. Dazu sollen die Motive und Gründe des Neuen Atheismus illustrativ mit einigen atheistischen Klassikern aus verschiedenen Perioden der Moderne verglichen werden.2 Die Gründe, d. h. argumentativen Begründungen der atheistischen Position, können stets im Zusammenhang mit der je zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnislage gesehen werden. Die Motive bezeichnen die Motivationen, die die atheistische Position der Autoren begründen und auch auf die einzelnen Argumentationen bestimmend einwirken. Die Motive sind oftmals sozialer Natur, d. h. die gesellschaftlichen Umstände wie etwa die Herrschaft der Kirche oder eine voranschreitende Säkularisierung beeinflussen die möglichen Moti1 Vgl. zur Entwicklung des Kreationismus in den USA das Standardwerk von Ronald L. Numbers: The Creationists: From Scientifi c Creationism to Intelligent Design. Cambridge 2006. Harvard University Press, darin zur Intelligent Design-Bewegung die Seiten 373 ff. 2 Mit der Unterscheidung nach Gründen und Motiven folgt der Verfasser der Konzeption Winfried Schröders in Der Tod Gottes und die Neuzeit. Philosophiehistorische Anmerkungen zum Zusammenhang von Atheismus und Moderne. In: Christel Gärtner et al.: Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen 2003. Leske + Buderich, S. 23–39.

Philosophische Rundschau, Band 58 (2011) S. 22–34 © 2011 Mohr Siebeck – ISSN 0031-8159

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

23

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

vationen und die Art, wie sie vertreten werden. Deswegen bieten die Motive einen Zugangspunkt soziologischer Analyse. Diese Herangehensweise liefert zugleich Hinweise für eine philosophische Betrachtung des Neuen Atheismus und stellt damit zumindest eine Ergänzung der bislang dominanten theologischen Diskussion dar.3 Um dem so skizzierten Vorhaben theoretische Eindeutigkeit zu verleihen, ist eine begriffl iche Vorbemerkung notwendig. Wenn in den folgenden Abschnitten ein Vergleich des Neuen Atheismus mit Vorgängern seit dem 17. Jahrhundert vorgenommen wird, so basiert diese Betrachtungsweise auf der Perspektive, die Winfried Schröder auf die Geschichte des Atheismus entworfen hat.4 Diese basiert auf einem engen Atheismusbegriff, weswegen aus unterschiedlichen Gründen für die Antike, das Mittelalter und die Renaissance kein tatsächlich vertretener Atheismus im Sinne einer negatio existentiae Dei nachgewiesen werden kann: denn kein antiker Grieche oder Römer sei je selbst Atheist gewesen (Schröder, 1998, S. 57), der Atheismus des Mittelalters sei »gänzlich ein Produkt historiographischer Legendenbildung« (ebd.) und in der Renaissance bestehe er lediglich als »ein Phantom der alten defensores fidei« bzw. »Resultat einer ideologisch interessierten Unterstellungshermeneutik« (ebd., S. 62). Deswegen werden hier erst Atheisten seit dem 17. Jahrhundert zum Vergleich in Betracht gezogen und auch nur solche, die eher dem ›starken‹ Atheismus zuzurechnen sind (anders als etwa Ludwig Feuerbach, dessen Arbeit über das Wesen des Christentums noch »in die Geschichte des Protestantismus gehört«5 ).

3 Friedrich Wilhelm Graf : Der »liebe Gott« als blutrünstiges Ungeheuer. Richard Dawkins und Christopher Hitchens – ein biologischer Hassprediger und ein liberaler Skeptiker greifen in ihren Büchern die Religion an. In: Magnus Striet (Hrsg.): Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie? Freiburg 2008.Herder, S. 21–26. Alister McGrath: The Dawkins Delusion? Atheist fundamentalism and the denial of the divine. London 2007. SPCK. John F. Haught: God and the New Atheism: A Critical Response to Dawkins, Harris, and Hitchens. Louisville 2008. Westminster John Knox Press. Gerhard Lohfi nk: Welche Argumente hat der neue Atheismus? Eine kritische Auseinandersetzung. Bad Tölz 2008. Urfeld. Joe Egan: The Godless Delusion: Dawkins and the Limits of Human Sight. Oxford et al. 2009. Lang. Renate Biller: Und Gott existiert doch! Warum Richard Dawkins nicht recht hat; weltanschauliche Fragen und Antworten. Frankfurt am Main 2009. August-von-Goethe-Literaturverlag. Thomas Crean: God Is No Delusion: A Refutation of Richard Dawkins. San Francisco 2007. Ignatius Press. 4 Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstadt 1998. Frommann-Holzboog. 5 Karl Löwith: Nachwort. In: Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Stuttgart 1980. Reclam, S. 532.

24

Tom Kaden

PhR

a) Die Integrationsleistung in den Gründen des Neuen Atheismus

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

Trotz der inneren Heterogenität der Gründe und Motive des Neuen Atheismus lassen sich doch in beiden Bereichen verbindende Charakteristika feststellen. Verglichen mit den Begründungen in früheren atheistischen Schriften verhält er sich ungleich integrativer, sowohl atheismusintern, d. h. gegenüber den im ›alten‹ Atheismus vorhandenen kritischen Argumentationen selbst als auch bezüglich der Aufnahme externer Wissensbereiche, vor allem der naturwissenschaftlichen Theorielage. Tatsächlich lässt sich der Neue Atheismus als ein besonders wissenschaftsaffiner Atheismus beschreiben.6 Dies betrifft nicht nur die positive Einbeziehung wissenschaftlicher Fakten, sondern auch die Anwendung negativer Regeln des Wissenschaftsbetriebs. Ein kurzer Vergleich mit einigen atheistischen Klassikern mag dies verdeutlichen: Die frühesten bekannten atheistischen Schriften der Neuzeit, anonyme Flugschriften, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Kreisen Gebildeter zirkulierten, wiesen noch keine Dominanz naturwissenschaftlicher Argumente auf, sondern beinhalteten vielfältige Argumentationsweisen, wie eine Zusammenfassung jener so genannten littérature clandestine durch Winfried Schröder verdeutlicht: »Religionsphilosophische [. . .] Erwägungen, religionsgeschichtliche und -psychologische Hypothesen über den Ursprung der Religion, politiktheoretische, soziologische und ideologiekritische Analysen der Religion werden ins Feld geführt, um das allen historischen Religionen zugrundeliegende Konzept einer übernatürlichen Offenbarung zu erschüttern; philologische und historische Argumente der Bibel- und Dogmenkritik werden gegen das Christentum aufgeboten. Wir haben es mit einer Gemengelage von anti-theistischen, anti-supranaturalistischen und antichristlichen/antijüdischen Argumenten zu tun.« (Schröder, 1998, S. 89 f.)

Entscheidend ist, dass sich die Vertreter der littérature clandestine nicht der naturwissenschaftlichen Erkenntnislage bedienten, sondern im Gegenteil in Opposition zu ihr standen. Denn die Herauf kunft naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verstärkte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eher die Plausibilität der theistischen Position, die dann beispielsweise in Gestalt der Rationaltheologie auftrat (vgl. Schröder, 1998, S. 82 ff.). Dies wird am Argument der Autogonie deutlich: Zur Fundierung der Vorstellung eines Schöpfergottes ist es notwendig, die Erzeugung von Leben aus Unbe-

6 Gerade weil der Konfl ikt, den es zu beschreiben gilt, zum Gutteil um die Frage geführt wird, worin Wissenschaft selbst bestehe und ob sich aus Sachkenntnis eine (und welche) Weltanschauung ableiten lasse, kann eine gültige Defi nition der Wissenschaft selbst hier nicht erfolgen. Ad hoc ist mit dem Begriff hier aber ein weltanschaulich ganz enthaltsames (Teil-)System rationaler Welterkenntnis gemeint. Inwiefern der Neue Atheismus gerade diese Neutralität infrage stellt, wird im Verlauf des Aufsatzes verdeutlicht werden.

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

25

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

lebtem zu widerlegen. Dies gelang Antonius van Leeuwenhoek bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also nur wenige Jahre nach Abfassung der ersten bekannten atheistischen Schrift, Theophrastus redivivus (vgl. Schröder, 2003, S. 25). Der Atheismus aber, indem er auf die Urzeugungslehre rekurrierte, gründete sich damit für lange Zeit auf ein Stück »aus der wissenschaftsgeschichtlichen Mottenkiste« (ebd., S. 30), das mutatis mutandis bis hin zu Ernst Haeckel am Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung fand.7 Die Überwindung der Urzeugungslehre kann als ein Beispiel für die steigende externe Integration im Lauf der Geschichte des neuzeitlichen Atheismus angesehen werden, weil damit dieser Teil des entwicklungsbiologischen Forschungsbereichs der atheistischen Position nicht mehr faktisch verschlossen ist. Integration bedeutet hier also nicht die Klärung der Frage nach einer bzw. der Urzeugung, mithin die Klärung eines Ursprungs des Universums oder des Lebens auf der Erde. Sondern sie besteht in diesem Fall faktisch im Anschluss an den wissenschaftlichen Forschungsstand und methodisch in der skeptischen Abstinenz von spekulativen Transzendierungen desselben. Eben in diesem Skeptizismus liegt der Unterschied in der Adaption gleicher wissenschaftlicher Erkenntnisse bei Dawkins und Haeckel: während letzterer sich aufgrund des mithilfe der Evolutionstheorie komplettierten monistischen Weltbildes zu der Aussage hinreißen lässt, der Theismus sei »defi nitiv widerlegt« (Haeckel, 1984, S. 261), sind bei Dawkins neben den einzelnen Erkenntnissen auch wissenschaftsinterne Interpretationsregeln integriert, sodass es ihm ›nur‹ darum geht, to »yield an estimate of probability [of the existence of God] far from 50 per cent« mittels »available evidence and reasoning« (Dawkins, 2007, S. 73; Hervorhebung TK). Mit diesem Anschluss ist zugleich aber auch die wichtigste positive externe Integrationsleistung des Neuen Atheismus gegeben: beides, die vorteilhafte skeptische Selbstbeschränkung wie die naturwissenschaftliche Fundierung des Geltungsbereichs, der aus dieser Abgrenzung hervorgeht, ist Folge der Integration und eigenständigen Interpretation evolutionsbiologischer Erkenntnisse. Die neue Qualität 8 des Neuen Atheismus wird durch das Einwirken der Ergebnisse der externen Integration auf die interne hervorgebracht: Die Anwendung von Termini und Denkmodellen der Evolutionstheorie verbindet atheistische Argumentationen, die in den hier behandelten früheren atheistischen Werken noch disparat nebeneinander lagen oder lediglich lose miteinander verbunden waren.

7 Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Stuttgart 1984. Kröner, S. 327 f. 8 »Qualität« meint hier selbstredend kein normatives Besser-als der atheistischen Position selbst, sondern bezieht sich auf die argumentative Kohärenz im Vergleich zu früheren Vertretern.

26

Tom Kaden

PhR

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

Ein Vergleich mit einzelnen Argumentationen aus dem 1770 erschienenen System der Natur des Auf klärers Paul Henri Thiry d’Holbach mag zur Illustration dieser Eigenschaft des Neuen Atheismus dienen.9 Im Gegensatz zur littérature clandestine ist bei Holbach zwar bereits die Wende hin zu einem naturwissenschaftsbasierten einheitlichen Weltbild vollzogen, das auf materialistischen, für ihn damit zugleich deterministischen Grundannahmen basiert. Damit kann zum einen eine kosmologische Entscheidung zugunsten der Ewigkeit der Materie getroffen werden: der Energieerhaltungssatz spreche für den infiniten Regress (vgl. Holbach, 1978, S. 35), zudem müsste ein intelligentes göttliches Wesen Ideen haben, welche wiederum nur durch Aufnahme von Reizen mittels Organen entstehen können – eine Eigenschaft, die Gott per definitionem nicht zukommen kann (vgl. ebd., S. 66). Dieses Argument nun wird von Dawkins in abstracto reformuliert: die Schöpfung des komplexen Alls setzt die Komplexität des Schöpfers voraus. Komplexität entsteht jedoch stets nur durch Evolution aus Einfacherem, mithin kann Gott per Definition nicht als causa prima gelten (Dawkins, 2006, S. 136). Beide Argumente sind von gleicher Struktur, denn in beiden Fällen fi ndet ein Vergleich von Eigenschaften Gottes (bei Dawkins Komplexität, bei Holbach könnte man von Intentionalität sprechen) mit Eigenschaften von Dingen der Welt statt, worauf hin die Bedingtheit dieser Eigenschaften nachgewiesen und damit ein Widerspruch zur dem Gottesbegriff inhärenten Unbedingtheit aufgezeigt wird. Wirft Holbach dem Theismus aber noch Anthropomorphismus im engeren Sinne vor, so ist es bei Dawkins ein erweiterter, d. h. argumentativ anschlussfähigerer Biomorphismus – oder, wenn man die seiner Argumentation inhärente Transposition evolutionsbiologischer Mechanismen auf das gesamte Universum bedenkt, ein Kosmomorphismus. Auch konstitutive Elemente der Religion, Offenbarung und Wunder, werden von beiden, Holbach und Dawkins, kritisiert, jedoch nur von letzterem integriert. Holbach verweist zur Erklärung des Glaubens insbesondere an Wunder auf die zu hohe »Einbildungskraft« des Menschen. Diese führe dazu, dass er »natürliche« mit »intelligenten Agentien« verwechsle (vgl. ebd., S. 64, 306). Im Übrigen beschränkt er sich auf die Kritik der politischen Instrumentalisierung dieser menschlichen Einbildungskraft. Dawkins (wie auch Daniel Dennett) jedoch beruft sich auf Erkenntnisse der evolutionären Religionspsychologie, um auch die Affinität der Menschen zu religiöser Erfahrung biologisch zu begründen und damit jede weitere, beispielsweise herrschaftskritische, Argumentation zu fundieren. 9 Paul Henri Thiry d’Holbach: System der Natur. Frankfurt am Main 1978. Suhrkamp.

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

27

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

Dies gelingt, indem die Einbildungskraft des Menschen als ein Selektionsvorteil ausgewiesen wird: es überlebten im Lauf der menschlichen Evolution stets eher die Individuen, die auf Auffälligkeiten in der Umwelt sensibler reagierten und damit einer Bedrohung eher ausweichen konnten – um den Preis, dass oft »intelligente Agentien« vermutet wurden, wo nur »natürliche« waren (etwa das Rauschen des Windes statt dem Grollen des Tigers; vgl. Dawkins, 2006, S. 213; Dennett, 2006, S. 108 f.). Das gleiche Bild einer stringenteren naturalistischen Interpretation im Neuen Atheismus fi ndet sich auch bei der Betrachtung ethischer und moralischer Qualitäten des Menschen: zwar sieht auch Holbach sie als physiologisch fundiert an (vgl. ebd., S 17). Bereits mit evolutionstheoretischem Bezug argumentiert auch Ernst Haeckel in seinem atheistischen Hauptwerk Die Welträtsel (1899): Altruismus sei lediglich ein evolutionär entstandener »Naturtrieb« und insofern lediglich »verfeinerter Egoismus« (ebd., S. 446 ff.). Beiden Argumentationen fehlt jedoch die hinreichende Begründung, die über das Postulat ›letzter Prinzipien‹ hinausgehen würde. Der Neue Atheismus greift die klassische Perspektive auf und leistet die Integration wiederum mit Verweisen auf Selektionsvorteile, die positiv sanktioniertes ethisches Verhalten mit sich bringt. Dies betrifft vor allem die ethische Dimension der Religion selbst, deren evolutionärer Nutzen in einer Steigerung der Effizienz des Gruppenhandelns bestehe. Findet sich (wie im Fall des frühen Christentums) ein äußerer Selektionsdruck (soziale Verwerfungen und Knappheit von Gütern), begünstigt diese Konstellation die Entstehung und Verbreitung von Religion eben durch ihre ethischen Qualitäten (vgl. Dennett, 2006, S. 179–188). Von Dawkins wird altruistisches Verhalten im Allgemeinen auf Egoismus zurückgeführt, wofür er mehrere Begründungen angibt: Beispiele aus der Tierwelt belegen, dass eine Gefahr auf sich zu nehmen, beispielsweise als Wächter vor Fressfeinden, die Attraktivität und damit die Reproduktionsrate steigert. Im gleichen Sinn wird altruistisches Verhalten aufgrund der Chance auf Reziprozität begünstigt. Schließlich kann vermutet werden, dass jeglicher Altruismus sich ursprünglich eher auf Verwandte bezog, was durch die Entwicklung der Gesellschaft zu allgemeinen ethischen Regeln verschleiert wurde (vgl. Dawkins, 2006, S. 241–267). Subjekt dieser klandestinen Egoismen ist allerdings nicht der einzelne Mensch, sondern das Gen, weswegen beispielsweise religiöse Entrüstungen über die Art dieser Argumentation nicht greifen, da sie sich auf eine andere Erklärungsebene beziehen. – Einschränkend muss gesagt werden, dass diese reduktionistische Sichtweise auf die Ethik nicht Konsens unter den ausgewiesenen Neuen Atheisten ist. So bezieht sich Sam Harris (2006, S. 185) gerade auf das Argument der Selektion, um die Inkongruenz der ethischen Wertskala mit den selegierten Eigenschaften zu unterstreichen: So wurde im Lauf der Evolu-

28

Tom Kaden

PhR

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

tion mit der Neigung zur Vergewaltigung ein Verhalten vererbt, das allgemeinen ethischen Standards zuwiderläuft. Die erklärende Kraft des Biologismus stößt also auch innerhalb des Neuen Atheismus an Grenzen. Zusammenfassend wird durch die bisherigen Vergleiche deutlich, dass der Neue Atheismus auf kosmologischer, biologischer und anthropologischer Ebene die Integration religionskritischer und atheistischer Argumentationen vermittels eines Netzes von wissenschaftlichen Begriffen leistet. Wie durch diesen evolutionsbiologischen Einfluss klassische kritische Ansichten auch revidiert werden, offenbart ein Blick auf den offensivsten Versuch der naturwissenschaftlichen Integration des Geistigen durch den Neuen Atheismus, die Memtheorie. Denn in ihr werden evolutionsbiologische Prozesse und Termini auf das gesamte Gebiet der Kultur, verstanden im weitest möglichen Sinne, übertragen.10 Dabei werden Meme, ›kleinste kulturelle Einheiten‹, als Subjekte einer Reproduktion im und durch den Geist des Menschen angesehen, ähnlich der Reproduktion der Gene im und durch den Körper. Ebenso wie bei diesen bestehen auch im Bereich der Meme Phänomene wie Koevolution (z. B. in Form eines Gedankensystems) und Unterschiede in der Qualität der Anpassung an die jeweilige Umwelt. An dieser Stelle zeigt sich ein Gegensatz zwischen der Argumentation früherer und der Neuer Atheisten: sieht etwa Holbach die Dogmen der christlichen Kirche und die gesamte Theologie einfach als absurd und paradox an (1978, S. 339 ff.), so integriert der Neue Atheismus gerade diesen paradoxen Charakter in ein memtheoretisches Erklärungsmuster: das Widersprüchliche (etwa die Transsubstantiationslehre) hat eo ipso eine höhere memetische Fitness, da es als »veritable peacock’s tail of extravagant display« den Kampf um Aufmerksamkeit im Kopf des Wirts eher gewinnen und zudem aufgrund seiner oftmals schwierigen Reformulierbarkeit seine Identität besser wahren kann (etwa die »ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater«; vgl. Dennett, 2006, S. 230). Aus diesen Überlegungen des Neuen Atheismus ergibt sich – womit die Brücke von den Gründen zu den Motiven geschlagen ist – auch ein Teil seiner politischen Forderungen, etwa nach Eindämmung ›toxischer Meme‹ wie der Vorstellung, durch möglichst blutiges Martyrium belohnt zu werden (ebd., S. 328 ff.); vor allem aber ist die verbreitete Forderung memetisch fundiert, die Erziehung der Kinder auf die Grundlage einer freien Konkurrenz religiöser Meme zu stellen. So fi ndet sich bei Dennett die 10 Die Theorie wurde von Dawkins schon im 1976 erschienenen Buch The Selfi sh Gene entwickelt. Eine überblicksartige Klassifi kation der Meme bietet das Stammbaummodell Dennetts 2006, S. 344. Die Meme des Menschen sind zunächst unterteilt in behaviors und artifacts, wobei die behaviors in die Untergruppen »words/languages«, »songs, dances«, »methods of hunting, farming, navigating«, »gestures, rituals« und »games« unterteilt sind; die artifacts spalten sich in Gruppen der »linguistic«, »musical/artistic artifacts«, »shelters/ buildings/dams« und »weapons/utensils/tools«.

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

29

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

Forderung nach Schulunterricht in allen (Welt-)Religionen (ebd., S. 321– 328) und moderaten Koranschulen, die in Konkurrenz mit den extremistischen treten sollen, statt letztere zu unterdrücken (ebd., S. 335). Ähnlich Dawkins (2006, S. 327): »If, having been fairly and properly exposed to all the scientific evidence, they [the children] grow up and decide that the Bible is literally true or that the movements of the planets rule their lives, that is their privilege.« Die Parallele zur Forderung Haeckels, Weltreligionsunterricht zu erteilen und so zur »Verteidigung der Wissenschaft und der Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer gewaltigen Heerscharen« beizutragen (Haeckel, 1984, S. 395) wird hier ebenso deutlich wie – nochmals – die Differenz in der kohärenten Rückbindung dieser Forderung an einen Theoriekontext durch den Neuen Atheismus. b) Zu Motivation und Strategie des Neuen Atheismus

Das gemeinsame motivationale Charakteristikum der Neuen Atheisten besteht im Impetus, die atheistische Position positiv zu konnotieren und somit der ›ersten‹, rechtlichen Säkularisierung eine ›zweite‹ der öffentlichen konventionellen Billigung hinzuzufügen. Dies geht, ähnlich wie auf Ebene der Begründungen, mit einer Ambition zur – nun aufs Soziale bezogenen – Integration einher. Denn das Hauptmedium des Neuen Atheismus ist die populäre Publikation, begleitet von einzelnen öffentlichen Aktionen wie der von Dawkins unterstützten Atheist Bus Campaign, bei der mit Unterstützung Dawkins’ Londoner Stadtbusse mit der Aufschrift »There’s probably no God, now stop worrying and enjoy your life« versehen wurden. Der Tenor ist insgesamt appellativ und bekenntnishaft, begleitet vom Impetus, Atheisten zum sozialen Akteur zu vereinen. So vor allem Dawkins (2006, S. 26 f.): »The status of atheists in America today is on a par with that of homosexuals fifty years ago. [. . .] Clearly we have a long way to go. But atheists are a lot more numerous, especially among the educated elite, than many realize. [. . .] My dream is that this book may help people to ›come out‹. [. . .] There may be a critical mass for the initiation of a chain reaction.« Frucht dieses Strebens ist neben der geschlossenen Dachorganisation der Secular Coalition for America auch die sehr offene Organisation der Brights, deren Ziel es ist, to »acquire visibility, fortify one another in what is a worthwhile outlook on the world, and grow a constituency that can join forces broadly to work on broad aims of social and civic action.« (http:// the-brights.net/vision/, 10. 06. 2009. Vgl. auch Dennett, 2006, S. 21.) Inwiefern und warum stellt diese Haltung etwas qualitativ Neues dar? Es ist zur Klärung dieser Frage nötig, zunächst noch einmal auf die bereits besprochene atheistische Literatur zurückzugreifen und sie als Kontinuum

30

Tom Kaden

PhR

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

anzusehen, das durch die Bedingungen der Möglichkeit zum Vertreten atheistischer Positionen, d. h. zum Hegen atheistischer Motive, bestimmt ist. Betrachten wir dieses Kontinuum in zeitlicher Abfolge: Zur Analyse der Motive der frühen Atheisten eignet sich als erster sicher identifizierbarer atheistischer Schriftsteller der Neuzeit besonders Jean Meslier mit seinem (erst von Voltaire veröffentlichten und benannten) Testament (entstanden vor 1729), das den »vergessenen Anfang der französischen Auf klärung«11 markiert. Meslier, selbst Priester in der Diözese Reims, empörte sich vor allem gegen die aus der sozialen Ungleichheit entstehenden Ungerechtigkeiten und kritisierte die Kirche als Apologetin und Helferin politischer Unterdrückung. Kritik der Religion – etwa in Form des häufig anzutreffenden Priestertrugs-Topos – ist bei ihm deshalb stets verknüpft mit der Kritik der allgemeinen Herrschaftsverhältnisse (z. B. Meslier, 1976, S. 92–95 und der ganze Sechste Beweis, ebd., S. 242– 299). Zudem prägt die Stellung der Kirche im Machtgefüge der damaligen Gesellschaft nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form von Mesliers Werk und der littérature clandestine. Denn die Religion genoss zu Mesliers Zeiten und noch lange danach rechtlichen Schutz vor kritischen Anwürfen, weshalb deren Anonymisierung – das Fehlen märtyrerischer Ambitionen seitens der Verfasser vorausgesetzt – unabdingbar war.12 Nimmt man diese Situation für den ganzen frühen Atheismus an, wird ein formalsoziologischer Beschreibungsansatz möglich. Denn in gesellschaftlichen Konfl ikten gibt es stets einen »grundlegenden Zusammenhang von Einheitsform und Streitaktion der Gruppe«.13 Die Einheitsform der Gruppe kann organisiert oder diffus sein. Einen organisierten Gegner zu haben, ist dabei für eine selbst organisierte Gruppe insofern vorteilhaft, als dadurch der Kampf selbst konzentrierter und effizienter geführt und möglicherweise überhaupt nur gewonnen werden kann. Im hier betrachteten Fall stehen sich eine deutlich organisierte und quantitativ überlegene Gruppierung (die Kirche und die politische Gesellschaft, sofern diese deren Interessen vertritt) und eine hochgradig diffuse, viel kleinere Gruppierung (die einzelnen religionskritischen Autoren) gegenüber. Die Streitak-

11 Günther Mensching: Cartesianischer Materialismus und Revolution. Zum Testament Jean Mesliers. In: Das Testament des Abbé Meslier. Herausgegeben von Günther Mensching. Frankfurt am Main 1976. Suhrkamp, S. 11. 12 Noch zu Mesliers Lebzeiten, im Jahre 1700, wurde in Reims, dem Bischofssitz seiner Diözese, ein Ketzer verbrannt (vgl. Mensching 1976, S. 22, Anm. 7). Das Weiterbestehen rechtlicher Sanktionen lässt sich, wenngleich in abgeschwächter Form, noch 100 Jahre später am so genannten Atheismusstreit nachweisen, im Zuge dessen Johann Gottlieb Fichte aufgrund eines sehr viel uneindeutiger religionskritischen Aufsatzes seinen Lehrstuhl einbüßte. Vgl. dazu den Art. Atheismusstreit in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1957. Mohr/Siebeck, S. 677 f. 13 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main 1992. Suhrkamp, S. 353.

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

31

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

tion der einen (Verfolgung und, zumindest im Extremfall, Vernichtung der Gegner) bestimmt hier deutlich die Form der anderen Gruppierung (Diffusion bis zur gegenseitigen Anonymität zum größtmöglichen Schutz). Beide lassen sich denken als Extrempunkte einer durch Quantität und Organisationsform bestimmten Skala. Die Einordnung auf dieser Skala soll nun auch für Holbach, Haeckel und schließlich die Neuen Atheisten durchgeführt werden, um das Spezifische am Neuen Atheismus zu verdeutlichen. Holbach befi ndet sich gegenüber der Situation der frühen Atheisten schon nicht mehr an einem Ende der mithilfe der Simmel’schen Begriffe aufgezogenen Skala, insofern er bereits einen identifi zierbaren Typus (den ›konsequenten Fatalisten‹, d. i. Deterministen) anspricht, jedoch ohne Ambition zur gesellschaftlichen Etablierung oder Anerkennung dieser Position. So ist er, worin ihm Dawkins ähnelt, motiviert, Anhänger der von ihm vertretenen Weltanschauung als gesellschaftlich relevante Gruppe zu identifizieren. Der Atheismus wird damit selbstreflexiv und vergewissert sich seines Nutzens, wo er zuvor nur negativ über den Schaden des Theismus geurteilt hatte: »Der in seinen Ideen konsequente Fatalist wird also weder ein lästiger Menschenfeind, noch ein gefährlicher Staatsbürger sein. Er wird seinen Brüdern die Verirrungen verzeihen, zu denen ihre fehlerhafte Natur auf Grund von tausend Ursachen notwendig Anlass gibt [. . .]. Er wird die Ruhe der Gesellschaft nicht stören, er wird die Völker nicht gegen die herrschende Macht aufwiegeln [. . .] usw.« (Holbach, 1978, S. 199 f.) Zum bei Holbach gegenüber den littérature clandestine gewachsenen Anspruch kommt bei Ernst Haeckel vollends ein Moment der konfl iktuellen Symmetrie hinzu: Vor dem Hintergrund staatlicher und öffentlicher Säkularisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts war nämlich die starke Asymmetrie der Konfl iktparteien geschwunden, die sich nunmehr auf intermediärer Ebene als Vereine (Monistenbund und sein Kontrahent, der katholische Keplerbund;) gegenüber standen. Der so entstandene Schwund der Sanktionsformen ist die notwendige Bedingung der Wandlung des klandestinen Atheismus zum populären und der von ihm verfolgbaren Ziele. Denn wo der Staat als Inhaber des Monopols legitimer Gewalt nicht mehr die Sache der Religion vertritt, haben Apostaten und Häretiker nicht mehr um ihr Leben zu fürchten. Doch so sehr die Aktionsform Haeckels und seiner Gegner von der Säkularisierung bestimmt war, gründete seine Motivation doch in dem Eindruck ihrer nur unvollständigen Verwirklichung. Die Auseinandersetzung um die Emanzipation des 1871 geeinten, protestantisch geprägten Deutschen Reiches von katholischem (ultramontanen) Einfluss – der Kulturkampf – war in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zwar abgeklungen. Doch der politische Einfluss der katholischen Zentrumspartei, die allge-

32

Tom Kaden

PhR

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

mein ›kulturfeindliche‹ Einstellung der Kirche und der dadurch immer größer werdende kulturelle Abstand zur naturwissenschaftlichen Entwicklung werden von Haeckel am Beginn seines Werkes noch als treibende Motivationen zur Abfassung des Werkes genannt (vgl. Haeckel, 1984, S. 19 f.). Diese Merkmale lassen sich als konventionelle Geltung der Religion in der Gesellschaft beschreiben. Den Motiven des Neuen Atheismus liegt als Möglichkeitsbedingung eine bestimmte Kombination der bisher betrachteten historischen Umstände eines gelebten Atheismus zugrunde. Mit dem frühen Atheismus hat er die starke Asymmetrie der Konfl iktparteien gemeinsam: Die unverändert hohe Religiosität der US-amerikanischen Gesellschaft wird durch neuere religionsstatistische Untersuchungen bestätigt. So gehört das Land hinsichtlich der Partizipation seiner Einwohner an religiösen Dienstleistungen und der Häufigkeit von Gebeten zu den »most religious countries«.14 – Mit dem Monismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat der Neue Atheismus die erweiterten Aktionsmöglichkeiten innerhalb eines rechtlich säkularisierten Staates gemein: Nur weil die Schriftsteller nicht mehr um ihre Unversehrtheit fürchten müssen, können sie mehr als anonyme Flugschriften verfassen. Ebenso wie zu Zeiten Haeckels hat der Sanktionsschwund in den USA der Gegenwart jedoch nur die Stufe des staatlich gesatzten Rechts, und damit der physischen Gewaltausübung, erreicht. Die (in der Klassifikation Max Webers) zweitstärkste Ordnungsebene des Zusammenlebens, die Konvention, steht oftmals nach wie vor gegen den Atheismus. Eine konventionelle Ordnung besteht nach Weber dann, »wenn ihre Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Missbilligung zu stoßen«.15 Missbilligung in teils gröbster Form ist, was die Neuen Atheisten aufgrund ihres Wirkens erfahren; einige E-Mails und Briefe fundamentalistischer Christen an Dawkins und andere Religionskritiker, die er in The God Delusion veröffentlicht hat, zeugen lebhaft davon; sie rangieren von groben Beleidigungen bis zu Todesdrohungen (vgl. Dawkins, 2006, S. 211–214). Jedoch ist die ihnen zugrunde liegende Konvention selbstverständlich nicht so allgemein, dass die Ordnung des Landes durch sie garantiert werden könnte. Die hauptsächliche Motivation des Neuen Atheismus kann unter diesen Voraussetzungen so formuliert werden, dass, bei und aufgrund bestehender rechtlicher Säkularisierung, eine Säkularisierung oder zumindest tolerante Pluralisierung auch der weltanschaulichen Konvention

14 Pippa Norris & Ronald Inglehart: Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide. Cambridge 2004. Cambridge University Press, S. 60. 15 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1980. Mohr, S. 17.

58 (2011)

Was ist neu am Neuen Atheismus?

33

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

erreicht, verstärkt oder verteidigt, sowie das (Wieder-)Ausgreifen der religiösen Position auf das staatliche und damit das Rechtssystem verhindert werden soll. Es gibt für die Neuen Atheisten zwei Möglichkeiten zur Veränderung der konventionellen Gewichtung von Theismus und Atheismus. Einerseits kann der Versuch unternommen werden, eine Hebung der gesellschaftlichen Akzeptanz des atheistischen oder agnostischen Weltbildes und des damit verbundenen Lebensstils zu erreichen. Die erwähnte Atheist Bus Campaign repräsentiert eine Weise des ersten Zugangs zu einer potentiell kritisch oder indifferent eingestellten Umwelt. Denn anders als der bereits konventionell verankerte Theismus, der sich zur eigenen Stärkung auf eine schon bestehende soziale Struktur (etwa die Gemeinde mit ihren spezifisch US-amerikanischen Entwicklungsformen der MegaChurch und der landesweiten TV-Übertragung) beziehen kann, bleibt dem Atheismus nur das Gebiet der höchst amorphen Öffentlichkeit der Passanten, um einen ersten Ansatzpunkt zur Selbstverankerung zu nutzen, ohne Gefahr zu laufen, auf übermächtige Abwehrreaktionen zu stoßen. Ähnlich offene Angebote sind Fernsehdokumentationen und -talkshows mit der ebenso amorphen Adressatengruppe der TV-Zuschauer. Die Neuen Atheisten beteiligen sich hier oft, als Verfasser wie als Teilnehmer, so etwa die zweiteilige Sendung The Root of All Evil?, entwickelt und moderiert von Dawkins oder die Talkrunde mit allen vier hier betrachteten Neuen Atheisten unter dem Titel The Four Horsemen.16 Von diesem Punkt aus ist für die Adressaten der nächste Schritt der Manifestation des Interesses möglich, etwa der unkomplizierte Beitritt zu einer offenen Organisation wie der der Brights. Deren Anspruch, das Ansehen des religionsfreien Weltbildes und Lebens zu heben, ist schon daran erkennbar, dass eines ihrer Ziele darin besteht, to »help society move beyond referring to persons who have a naturalistic worldview only by negative reference to other worldviews, or by belittling comparisons«.17 Darauf könnte dann das Engagement auch in eher geschlossenen Organisationen wie der Atheist Alliance folgen.18 Der gegenwärtige Atheismus bietet somit in seiner institutionellen Vielfalt im Vergleich zu den nur in anonymer Vereinzelung agierenden frühen Atheisten oder den vor allem auf Ver16 Informationen fi nden sich auf Dawkins’ Homepage, http://www.richarddawkins. net. – Der Neue Atheismus scheint also in Bezug auf den Aufmerksamkeitsgewinn und die Selbstverankerung mutatis mutandis eine eigene Art von wedge strategy zu verfolgen. Vgl. zur eigentlichen wedge strategy des Intelligent Design-Kreationismus das interne Positionspapier, dokumentiert unter http://www.antievolution.org/features/wedge.pdf, 24. 06. 2009. 17 http://the-brights.net/vision/principles.html, 19. 06. 2009 18 http://www.atheistalliance.org. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Organisationen ist angelehnt an Max Webers Klassifi kation offener und geschlossener sozialer Beziehungen in Weber, 1980, S. 23–25.

34

Tom Kaden

PhR

Delivered by Publishing Technology Universitaetsbibliothek Bielefeld 129.70.170.122 Sat, 07 Feb 2015 14:42:13 Copyright Mohr Siebeck

einsebene organisierten Monisten ein in seiner vollen Breite ausgefülltes Kontinuum des möglichen Engagements. So kann man sagen, dass der Neue Atheismus neben dem inhaltlichen auch ein ungleich größeres soziales Integrations- und Ausdruckspotential als bisherige Atheismen besitzt. Die zweite Möglichkeit der Verringerung der konventionellen Distanz zwischen religiöser und atheistischer Position besteht darin, die erstere herabzusetzen. Im Neuen Atheismus fi nden sich darauf abzielende Argumentationen in verschieden starker Ausprägung. So befi ndet Dennett moderat: »[I]f we don’t subject religion to such [scientific] scrutiny now, and work out together whatever revisions and reforms are called for, we will pass on a legacy of ever more toxic forms of religion to our descendants.« (Dennett, 2006, S. 39.) Konkreter äußert z. B. Sam Harris seine Bedenken, indem er den Islam als eine im Kern kriegerische Religion charakterisiert und an einigen Stellen (Abwesenheit einer moderaten Tendenz, Affi nität zur Diktatur, inquisitionsähnliche Institutionen) mit dem Christentum des 14. Jahrhunderts vergleicht (Harris, 2007, S. 107, 111, 132 und passim).19 Christopher Hitchens unterlegt eine ähnliche Ansicht in Bezug auf Islam und Christentum mit vielen aktuellen Beispielen (die religiöse Motivation Saddam Husseins, das Verhalten der Taliban, die Wirkung des katholischen Verbots der Empfängnisverhütung, weibliche Beschneidung, Pädophilie unter Geistlichen usw. – Vgl. Hitchens, 2007, S. 17–42, 49–72 und passim). Neben diesem Einsatz einer (behaupteten oder realen) Evidenz des Politischen ist die unter a) gezeigte integrative Tendenz des Neuen Atheismus die zweite Weise, die Konventionalität der Religion zu konterkarieren. Denn ist religiöses Verhalten und Denken einmal (natur wissenschaftlich) reduziert – gleich mit welchem wertenden Vorzeichen 20 –, ist es zugleich der Kompetenz enthoben, valide Aussagen über die Welt zu kreieren, als deren mehr oder minder mechanisches Produkt sie entlarvt wurde. Tom Kaden Institut für Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften Robert-Mayer-Str. 5 60054 Frankfrut am Main [email protected]

19 »Any systematic approach to ethics, or to understanding the necessary underpinnings of a civil society, will fi nd many Muslims standing eye deep in the red barbarity of the fourteenth century.« (Harris, 2006, S. 145.) 20 Hier unterscheiden sich, je nach betrachtetem Wirkungsbereich der Religion, die Einschätzungen innerhalb des Neuen Atheismus recht stark: Während der Korrespondent Hitchens ausschließlich negativ über die Folgen der Religion urteilt, kann der Kognitionswissenschaftler Dennett unter entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten die positiven Leistungen der Religion durchaus anerkennen (vgl. Dennett, 2006, S. 270–277).