Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich

Bibliothek, Forschung und Praxis 2014; 38(2): 246–252 Weitere Beiträge Frédéric Blin Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissens...
Author: Louisa Böhm
1 downloads 0 Views 276KB Size
Bibliothek, Forschung und Praxis 2014; 38(2): 246–252

Weitere Beiträge Frédéric Blin

Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich Zusammenfassung: Seit 2008 entwickelt das französische Ministerium für Hochschulbildung und Forschung eine globale Strategie mit dem Ziel, eine solide und breite Forschungsinfrastruktur für die Bereitstellung von wissenschaftlicher und technischer Information aufzubauen. BSN, die „nationale, wissenschaftliche digitale Bibliothek“ ist heute das Zentrum für alle Hochschulen und Forschungsinstitutionen geworden, wo diese Strategie entwickelt und durchgeführt wird. Schlüsselwörter: Digitale Bibliothek; Forschungsinfrastrukturen; Open Archives; Digitalisierung; Frankreich On ISTEX, BSN & Co: On the Way to a National Scientific Digital Library in France Abstract: Since 2008, the French Ministry for Higher Education and Research has been pursuing an extensive strategy intending to give the country a solid digital infrastructure for the provision of scientific and technical information to French researchers. BSN, the “Scientific Digital Library”, has become the meeting point of all higher education and research institutions where this strategy is debated and implemented. Keywords: Digital libraries; research infrastructures; Open Archives; digitisation; France

se – wenn nicht völlig unbekannte – Welt. Das ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass selbst die Mehrheit der französischen Wissenschaftler nur eine sehr vage Ahnung von dieser Welt und ihren Realitäten hat. Es gibt wenig Literatur in anderen Sprachen als Französisch über die französischen Bibliotheken und noch weniger über die französische Politik im Bereich der wissenschaftlichen Information. Trotzdem könnte die französische Erfahrung ein deutsches Publikum interessieren, weil sie sich in den letzten Jahren zum einen in mehrerer Hinsicht an der deutschen Erfahrung orientiert hat, und zum anderen das Potenzial hat, in den nächsten Jahren die Landschaft der wissenschaftlichen Information in Frankreich in einem großen Ausmaß zu ändern. Dieser Beitrag folgt dem Vortrag, den ich während des deutschen Bibliothekskongresses in Leipzig im März 2013 über dasselbe Thema gehalten habe. Im Gegensatz zu Deutschland mit seinen Bundesländern ist Frankreich traditionell ein Land, in dem alles sehr zentral von Paris aus organisiert wird. Die Ministerien, von denen die Institutionen und Einrichtungen abhängig sind, spielen eine außergewöhnlich wichtige Rolle. Es ist sehr wichtig, sich der Verwaltungsstruktur des Landes bewusst zu sein, um die Änderungen, die seit einigen Jahren im Bereich der Wissenschaft stattfinden, verstehen zu können.

DOI 10.1515/bfp-2014-0030

1 Einleitung Das Gebiet der akademischen und wissenschaftlichen Information in Frankreich ist für die meisten deutschen Bibliothekskollegen sicherlich eine fremde und mysteriöFrédéric Blin: [email protected]

2 Kooperation zwischen Hochschulen und Forschungsinfrastrukturen Bis 2009 waren zwei verschiedene Ministerien für die Forschung verantwortlich. Das Ministerium für Bildung und Hochschulen (Ministère de l2019’ éducation et de l’enseignement supérieur) war für Schulen und Universitäten zu-

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich

ständig. Zu seinem Bereich gehörten die traditionellen Universitätsbibliotheken und verschiedene Einrichtungen – wie die nationale bibliographische Agentur ABES (Agence Bibliographique de l’Enseignement Supérieur), die den Nationalkatalog der Universitätsbibliotheken (das „SUDOC“1) verwaltet, oder das Nationalzentrum für Computing CINES (Centre Informatique National de l’Enseignement Supérieur), das 2008 den Auftrag bekommen hat, die Langzeitarchivierung der digitalen Daten der Hochschulen zu gewährleisten –, außerdem Netzwerke, wie Bildungszentren für Bibliothekare um die ENSSIB (Ecole nationale supérieure des sciences de l’information et des bibliothèques), die nationale Hochschule für Bibliothekare und die Berufsverbände (die „Bibliothekare“). Parallel hatte das Ministerium für Forschung (Ministère de la recherche) für Forschungseinrichtungen – wie das CNRS (Centre national de la recherche scientifique), das Nationalzentrum für Wissenschaftliche Forschung, zu dem auch das Institut für wissenschaftliche und technische Information INIST (Institut de l’Information Scientifique et Technique) gehört, das die bibliographischen Datenbanken Pascal und Francis verwaltet –, sowie für ihre Netzwerke und Berufsverbände (die „Dokumentalisten“ und „Ingenieure“), die politische Verantwortung. Es waren also zwei Welten mit jeweils sehr starken Identitäten, zwischen denen sich oft eine deutliche Grenze befand, und die vergleichbare Projekte und Einrichtungen mit ähnlichen Aufgaben parallel durchführten. Ministerium für Bildung und Hochschulen

Ministerium für Forschung

Alle Schulen, vor und nach dem Abitur: Grundschulen, Realschulen, Gymnasien, Hochschulen, Universitäten, Grandes Ecoles…

Forschungseinrichtungen

Hochschul- und Universitätsbibliotheken, ABES („SUDOC“)

Informationszentren in den Laboren, INIST…

Bibliothekare

Ingenieure / Dokumentalisten

CINES (Langzeitarchivierung)

IN2P32 (Langzeitarchivierung)

Kooperation war aber auch eine Realität. Die Forschungseinheiten bestehen oft aus Forschern, die z. B. dem CNRS angehören, und Forschern, die in einer Universität angestellt sind. Und das konnte oft zu absurden Situatio 

1 SUDOC: „Système universitaire de documentation“. 2 Institut national de physique nucléaire et de physique des particules, http://www.in2p3.fr/.

247

nen führen, unter anderem, wenn es sich um den Zugang zu digitalen Ressourcen handelt. Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben ihre eigene Erwerbungspolitik: Das konnte dazu führen, dass zwei Forscher, die in demselben Labor arbeiten und Zugang zu demselben Computer haben, theoretisch nicht immer das Recht hatten, dieselben elektronischen Ressourcen zu konsultieren. Oder im Gegenteil, wenn die Hochschule und die Forschungseinrichtung beide dieselbe Ressource erworben hatten, bedeutete dies eine reine Geldverschwendung. Diese Probleme zu lösen und mehr Koordination zwischen den Akteuren zu fördern, ist deshalb seit 2006 eine Priorität für die verschiedenen Regierungen geworden. HAL, das nationale Open Archive3, war 2006 eine gemeinsame Initiative der Hochschulen und der Forschungseinrichtungen für ein nationales Archiv von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, obwohl jede Einrichtung ihr eigenes Archiv schaffen durfte. Trotz mancher Schwierigkeiten, Kompromisse, Kontroversen und der relativ niedrigen Zahl von teilnehmenden Institutionen war HAL eine wichtige und mehr als symbolische Stufe in dem Prozess, eine rationale Politik im Bereich wissenschaftlicher Information zu gestalten. Trotz des Gesetzes über die Autonomie der Hochschulen aus dem Jahre 2006 war die fundamentale Politik der zwei Ministerien von einem offiziell geforderten Willen auf mehr Kooperation zwischen den Akteuren geprägt, besonders als Antwort auf die schlechten Ergebnisse der französischen Universitäten im Shanghai-Ranking, der einen sehr starken Eindruck auf die Politiker gemacht hatte. Die Schaffung der Pôles de recherche et d’enseignement supérieur (PRES, „Gemeinschaft für Forschung und Hochschulbildung“) war eine erste Antwort. In diesen 27 Gemeinschaften (9 wurden 2007 gegründet), die zwischen 2007 und 2013 aktiv waren, versammelten sich Hochschulen, Forschungseinrichtungen und sogar Ingenieurschulen und andere kleinere weiterbildende Schulen, mit dem Hauptziel, ihre Forschungspolitik zu koordinieren, um durch eine einzige und uniforme Benennung (z. B. „Université de Lyon“ statt „Université de Lyon I“, „Université de Lyon II“, „Université de Lyon III“… für den PRES von Lyon) mehr internationale Visibilität für die Veröffentlichungen der Forscher des PRES und somit bessere Plätze im internationalen Ranking zu gewinnen. Oft spielten die Bibliotheken eine Rolle in den PRES: in Bordeaux und Toulouse zum Beispiel wurden Abteilungen für wissenschaftliche Dokumentation der PRES eingerichtet, die entsprechend den vorher existierenden Services interuniversitaires de coopération documentai 

3 http://hal.archives-ouvertes.fr/.

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

248

Frédéric Blin

re („Interuniversitäts-Bibliotheken“) organisiert wurden. Die PRES wurden mit dem neuen Gesetz für Hochschulbildung und Forschung im Juli 2013 durch die Communautés d’universités et établissements („Gemeinschaft von Hochschulen und Forschungseinrichtungen“) ersetzt, das Motto der Regierung bleibt aber identisch: Größere Einrichtungen sind stärkere Einrichtungen gegen die internationale Konkurrenz.

3 Entwicklung einer nationalen Strategie Als eine logische Konsequenz dieses Kooperationsprozesses war im Jahre 2009 die Fusion der beiden Ministerien in ein großes Ministerium für Hochschulbildung und Forschung eine sehr wichtige Etappe. In diesem neuen Ministerium wurden besonders die Abteilungen, die vorher für die Informationspolitik der Hochschulen beziehungsweise der Forschungseinrichtungen zuständig waren, zusammengeschlossen: die Mission de l’information scientifique et du réseau documentaire (MISTRD), „Mission für wissenschaftliche Information und das dokumentarische Netzwerk“. Es klingt sehr bürokratisch, aber es war ein sehr wichtiger Schritt für die Integration der Informationspolitik der Hochschulen und der Forschungseinrichtungen, dessen Folgen wir heute sehen können. Die erste bedeutsame Initiative der neuen Mission war es, Nationallizenzen für elektronische Ressourcen in Frankreich einzuführen. Die Bibliothekare, und besonders das nationale Konsortium Couperin4 – das seit 1999 für die Verhandlungen mit Verlegern im Bezug auf die Lizenzierung von elektronischen Ressourcen für die Universitäten zuständig ist – und die ADBU5 – der Nationalverband der Direktoren der Hochschulbibliotheken – wussten seit mehreren Jahren Bescheid über das Bestehen von Nationallizenzen in anderen Ländern, und das deutsche Beispiel wurde als Modell angesehen. Ein Komitee wurde gegründet, das Hochschulen und Forschungseinrichtungen zusammenbrachte. Die ersten Nationallizenzen konnten 2011 abgeschlossen und eine Webseite eröffnet werden6. Diese Initiative wurde schnell durch ein weiteres Projekt ergänzt, das der Politik der Investissements d’avenir („Investitionen für die Zukunft“) der Regierung zu verdanken war: das Projekt ISTEX, von dem ich gleich berichten werde.

4 http://www.couperin.org/. 5 ADBU: Association des Directeurs et personnels de direction des Bibliothèques Universitaires et de la documentation; www.adbu.fr. 6 http://www.licencesnationales.fr/.

Parallel hatte auch die Europäische Kommission ihre europäische Strategie für die Forschungsinfrastrukturen (ESFRI7) veröffentlicht und die verschiedenen europäischen Länder dringlich darum gebeten, ihre eigenen Strategien zu entwickeln. In diesem Rahmen wurde das Projekt BSN, Bibliothèque Scientifique Numérique – „Wissenschaftliche Digitale Bibliothek“, zum ersten Mal erwähnt. Erst 2011 hat BSN sich aber wirklich strukturiert und ihre Schwerpunkte definiert, die zur Gründung von zuerst acht, heute schon zehn thematischen Arbeitsgruppen (genannt „Segment“) geführt haben.

4 ISTEX Aber zuerst einige Worte zu ISTEX8. Das Programm soll von 2012 bis 2014 laufen, wird von drei Einrichtungen (Université de Lorraine, ABES, CNRS) und dem Konsortium Couperin geleitet und hat ein Budget von 60 Millionen Euro. 55 Millionen Euro sollen für die Erwerbung von Ressourcen durch Nationallizenzen benutzt werden: Es handelt sich nur um Archive oder closed resources, nicht um laufende Ressourcen. Das Ziel ist, dass Frankreich die wichtigsten wissenschaftlichen Ressourcen erwerben kann, damit diese auch im Land archiviert werden können, vom CINES oder IN2P3. Die letzten 5 Millionen Euro sollen der Schaffung einer Online-Plattform dienen, die verschiedene Benutzungsmöglichkeiten erlauben soll, z. B. die Metadaten der Zeitschriften und Artikel bereichern, Statistiken kalkulieren, neue innovative Services ausarbeiten usw. Diese Plattform soll kein zentraler Access-Punkt sein: Access soll bei jeder Institution bleiben. Die ersten Erwerbungen durch ISTEX haben 2013 stattgefunden, nachdem 2012 eine nationale Umfrage an alle Wissenschaftler des Landes geschickt worden war, um die Ressourcen – die am meisten benutzt und gebraucht werden – zu identifizieren. Die Plattform ist für 2014 geplant. ISTEX hat eine sehr enge Beziehung zu BSN, insofern als die erste BSN-Arbeitsgruppe (BSN 1) über die Erwerbungen durch ISTEX entscheiden soll. Die anderen 9 Segments oder Arbeitsgruppen sind folgende: Access, Beschreibung, Open Archives (2013 umstrukturiert auf Open Access), Digitalisierung, Langzeitarchivierung, Scientific Publishing, Fernleihe und Ausbildung und Kompetenzen. Das 10. Segment soll Ende 2013 etabliert werden, das sich den Forschungsdaten widmen wird. BSN wird vom Ministerium  

7 http://ec.europa.eu/research/infrastructures/index_en.cfm?pg=es fri. 8 http://www.istex.fr/.

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich

direkt geleitet, aber im Steuerungskomitee sind alle Einrichtungen, Hochschulen wie Forschungsinstitutionen (CNRS, INRA, INRIA, INSERM, CEA, Institut Pasteur…) vertreten und aktiv. Auch im Steuerungskomitee vertreten ist das Ministerium für Kultur und Kommunikation, weil dieses Ministerium zum einen für die Regelung der Urheberrechtsfragen zuständig ist, welche eine der schwierigsten Fragen für BSN ist, und zum zweiten im Bereich Digitalisierung mit der BnF, der nationalen Bibliothek, die Hauptakteur ist. An der Vielfalt der Themen, mit denen sich BSN beschäftigt, sieht man, dass BSN alle Akteure der Informationswelt in Frankreich erreicht und bewegt, oder erreichen und bewegen wird.

5 BSN BSN besteht aus Arbeitsgruppen von 15 bis 20 Mitgliedern, in denen die Hauptakteure der Themen vertreten sind und die von einem Piloten und einem Co-Piloten geleitet werden. Bis Anfang 2012 haben die 9 BSN-Komitees an Empfehlungen gearbeitet, an der sich die Politik des Ministeriums orientieren soll. Als Ausgang dieser ersten Phase wurde im März 2012 eine globale Strategie für BSN für die Jahre 2012 bis 2015 veröffentlicht, in denen 31 Empfehlungen der Arbeitsgruppen zusammengestellt wurden9. Drei transversale Empfehlungen wurden gegeben: – einen Vertrag mit dem Ministerium für Kultur, dem Syndicat national de l’édition (SNE, Equivalent des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels) und der Association des éditeurs de la recherche et de l’enseignement supérieur (AEDRES, „Verband der Verlage der Hochschulen und Forschungseinrichtungen“) zu unterzeichnen, um ein besseres und langhaltiges Gleichgewicht zwischen Urheberrecht und Bedarf der wissenschaftlichen Kommunikation zu gewährleisten; – einen Kooperationsvertrag mit der nationalen Bibliothek BnF zu unterzeichnen für eine koordinierte Zusammenarbeit bezüglich Normen, Digitalisierungsprogrammen, besonders für die Erhaltung des dokumentarischen Kulturerbes der Hochschulen und Forschungseinrichtungen und die Benutzung der digitalisierten Dokumente von Gallica10 (der digitalen Bibliothek der BnF) durch Wissenschaftler;

9 Bibliothèque scientifique numérique – Stratégie 2012–2015: http:// www.bibliothequescientifiquenumerique.fr/IMG/pdf/BSN-strategie2012-2015.pdf. 10 http://gallica.bnf.fr.



249

eine nationale Open-Access-Politik zu entwickeln und zu implementieren.

Derzeit sind die beiden ersten Ziele noch nicht erreicht. Das dritte jedoch ist heute schon weitgehend erfüllt. Im Rahmen von BSN 4 – Open Archives wurde am 2. April 2013 ein erneuertes Kooperationsprotokoll für die Modernisierung von HAL durch 25 nationale Einrichtungen unterzeichnet. Durch dieses Protokoll verpflichten sie sich zu einer gemeinsamen wissenschaftlichen und technischen Politik mit dem Ziel, den Forschern die Möglichkeit zu geben, die Ergebnisse ihrer Forschungen durch eine gemeinsame digitale Infrastruktur der Öffentlichkeit bereitzustellen und deren Weiterbenutzung zu ermöglichen; diese Ergebnisse frei und direkt mit der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft aber auch mit einem breiten Publikum zu teilen und deren Langzeitarchivierung zu gewährleisten. Nicht nur die technische Infrastruktur von HAL soll weiterentwickelt werden, sondern auch ein spezifisches Portal soll entwickelt werden, Heloise genannt, nach dem Beispiel des englischen ROMEO, das die Open-Access- Politik der französischen Verlage erfassen soll. Diese Schritte folgten einer wichtigen Rede der Ministerin Genevieve Fioraso während der 5. Open-Access-Tage im Januar 2013, in der sie sich ganz deutlich für die Entwicklung einer gezielten Open-Access-Politik ausgesprochen hat11. Als logische Folge wurde dann BSN 4 – Open Archives in BSN 4 – Open Access umbenannt. Diese Open-AccessPolitik, die sich seit einigen Monaten stark zu entwickeln scheint, geht aber noch nicht bis zur Verpflichtung der Ablieferung der wissenschaftlichen Artikel in institutionelle Repositorien oder in HAL. Neben der Green Road und Gold Road soll hier eine Platinum Road gefunden werden, die auf einer innovativen Allianz zwischen allen Akteuren (Wissenschaftlern, Bibliotheken, Verlagen…) mit hybriden wirtschaftlichen Modellen, die öffentliche Mittel für die Infrastrukturen und Kommerzialisierung von Services mit hohem Mehrwert kombinieren werden, beruhen soll. BSN 4 soll für diese Zusammenarbeit zwischen den Akteuren die Verantwortung übernehmen. Die 9 BSN-Segmente, die nach der ersten strategischen Phase eigentlich aufgelöst werden sollten, wurden im Gegenteil erneut damit beauftragt, Aktionen und Projekte zu leiten. BSN hat sich also von einem großen Think Tank in mehrere aktive Arbeitsgruppen umgewandelt. Die ersten konkreten Ergebnisse – neben den schon für BSN 1 und 11 „L’information scientifique est un bien commun qui doit être accessible pour tous“: http://www.enseignementsup-recherche. gouv.fr/cid66992/discours-de-genevieve-fioraso-lors-des-5e-journees -open-access.html.

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

250

Frédéric Blin

BSN 4 erwähnten Initiativen – waren schon im Jahre 2013 zu sehen, wie zum Beispiel: – „BSN7 – Scientific publishing“ ist schon weit vorangeschritten, mit dem Erfolg, ein „Manifesto für gutes Public Scientific Publishing“ veröffentlicht zu haben, das mehrere Regeln beinhaltet: „Offen, zugänglich, zitierbar, dauerhaft, interoperabel“ sind die Kriterien in diesem Manifesto12. BSN7 soll zukünftig eng mit BSN4 zusammenarbeiten. – „BSN9 – Ausbildung und Kompetenzen“ hat zuerst das Ziel, die Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich der digitalen Information in Frankreich zu identifizieren und durch ein zentrales Online-Portal zu beschreiben. Dieses Portal wird nach der Plattform Bibdoc entwickelt, die von der ENSSIB verwaltet wird. Das zweite Ziel ist ein Referenzmodell der digitalen Kompetenzen, die für die Studenten und Forscher nötig sind, damit diese dann in die Ausbildungsprogramme übernommen werden können. Eine der bedeutendsten Initiativen der BSN-Segmente wurde aber durch „BSN 5 – Digitalisierung“ in den letzten Monaten geleitet. BSN 5 wird von PERSEE, dem Nationalprogramm für die Retrodigitalisierung der Zeitschriften der Geistes- und Sozialwissenschaften, und der BNU als Vertreterin der Universitätsbibliotheken geleitet. In der BSN 5 Arbeitsgruppe sind alle Einrichtungen des Hochschul- und Forschungswesens, die sich mit Digitalisierung beschäftigen, repräsentiert: Bibliotheken, Forschungseinrichtungen (INRA, CNRS…), ABES, aber auch die BNF und das Ministerium für Kultur, damit BSN5 ihre Prioritäten und Aktionen mit denen der BnF und der Öffentlichen Bibliotheken beraten und ergänzen kann. Mehrere Empfehlungen wurden von BSN 5 am Ende der ersten Phase veröffentlicht: – eine Synthese aller Förderungsmöglichkeiten für Digitalisierungsprojekte zu recherchieren, um zum einen Koordinierung zwischen den Initiativen zu fordern, und zum anderen nationale Prioritäten definieren zu können; – die Praktiken durch Normen und Guidelines zu normalisieren und innovative und leistungsfähige Werkzeuge, die durch öffentliche Mittel in den letzten Jahren aufgebaut worden sind, weiter zu entwickeln, damit sie von anderen Digitalisierungsprojekten benutzt werden können und so die Interoperabilität und die Anreicherung der Metadaten, die während die-

12 http://www.bibliothequescientifiquenumerique.fr/?Charte-desbonnes-pratiques-pour-l.



ser verschiedenen Digitalisierungsprojekte geschaffen werden, ermöglichen oder erleichtern; das BSN-Label an Projekte zu erteilen, die eine besondere wissenschaftliche und technische Qualität besitzen, und die Kosten der Langzeitarchivierung der labellisierten Korpora in Partnerschaft mit „BSN 6 – Langzeitarchivierung“ zu übernehmen.

Diese Ziele sind langfristig geplant. Der erste Schritt im Jahre 2013 war zwar bescheiden, aber trotzdem von Bedeutung. Die realen Bedürfnisse der Bibliotheken, Universitäten und Wissenschaftler im Bereich der Digitalisierung sollten zuerst besser ermittelt werden. Dafür wurde im April 2013 ein call for projects veröffentlicht, der mit 400.000 Euro von BSN finanziert werden sollte. Dieser call for projects war deshalb bewusst ziemlich offen: Es wurden reine Digitalisierungsprojekte erwartet, aber auch Metadatenbereicherungsprojekte, Interoperabilitätsinitiativen, innovative Benutzungswerkzeuge usw. Die Initiative war ein Erfolg. 78 Projekte wurden von 57 Einrichtungen, Bibliotheken wie Forschungsinstituten, eingereicht. Sie betrafen alle Disziplinen – von Biologie bis zur Literatur, von der Petrochemie bis zur Vorgeschichte, sowie auch Mathematik, Archäologie, Astronomie, Wirtschaftswissenschaften, Zoologie, Jura, Geschichte, Kunstgeschichte – und sehr unterschiedliche Materialien: Bücher, Manuskripte, Forschungsarchive, Druckgrafiken, Doktorarbeiten, archäologische Berichte … Die Gesamtkosten dieser Projekte betrugen über 9 Millionen Euro, davon wurden 3,7 Millionen Euro von BSN erbeten. Diese 9 Millionen sowie das breite Spektrum der Projekte geben nur einen kleinen Hinweis, wie hoch der Bedarf der Forschung an digitalisierten Korpora ist und wie aktiv die französischen Bibliotheken und Forscher bei der Digitalisierung sind. Die Kriterien der Auswahl wurden erst bestimmt, nachdem die Projekte vorgelegt worden waren. Wert wurde auf die wissenschaftliche Qualität der Korpora gelegt, sowohl auf die technische Qualität des Projekts (Berücksichtigung der Normen, Umfang der Metadaten, Tiefe der Beschreibung, Qualität des OCRs usw.) als auch auf die Nutzungsmöglichkeiten (Öffnung der Metadaten und Dokumente, Natur der Lizenz, z. B. Creative Commons). Aufgrund der vorgelegten Projekte konnten auch Tendenzen identifiziert werden, die die Auswahl beeinflusst haben. Es wurde in der ersten Instanz die Zahl der Projekte, die wissenschaftliche Archive (eines einzelnen Professors, Instituts oder Forschungsprojekts) betreffen, festgelegt und damit auch eine Priorität für BSN und das Ministerium vorgegeben. Forschungsarchive sind eine Besonderheit der Hochschulen und Forschungseinrichtungen: Durch den BSN 5 call for  

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

Von ISTEX, BSN und Co.: Auf dem Weg zu einer nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich

projects wurde klar, dass es die Aufgabe des Ministeriums für Bildung und Forschung ist, im Gegensatz zum Ministerium für Kultur und zur Nationalbibliothek, die Verantwortung für die Digitalisierung dieser Materialien zu übernehmen. Von den 78 vorgelegten Projekten sind am Ende 15 finanziert worden, für eine Summe von 650.000 Euro, dank einer weiteren Unterstützung des Ministeriums 250.000 Euro mehr als anfangs geplant war. Unter diesen ausgewählten Projekten betrafen sieben wissenschaftliche Archive, sieben waren von Bibliotheken vorgelegt worden. Die Projekte sollen jetzt binnen 18 Monaten – also spätestens bis Juni 2015 – realisiert werden. Ein zweites BSN 5 call for projects mit einem Budget von 400.000 Euro wurde im Januar 2014 ausgeschrieben. Es wird erwartet, dass dann mehr von Forschern geleitete Projekte unterstützt werden. Alle bewilligten Projekte werden aber nicht automatisch das BSN-Label für wissenschaftliche und technische Qualität bekommen. Dafür soll es in den nächsten Monaten eine koordinierte Initiative mehrerer BSN-Segmente geben, um sowohl digitalisierte als auch born-digital Qualitätskorpora zu identifizieren, ihnen dann das BSN-Label zu geben und deren Langzeitarchivierung im CINES mit BSN-Geldern zu finanzieren. Dieses Ziel ist aber noch Theorie, weil die Finanzierung der BSN selbst in den nächsten Jahren noch nicht völlig abgesichert ist. Es ist also noch viel zu früh, um von einer echten nationalen wissenschaftlichen digitalen Bibliothek in Frankreich sprechen zu können. Die BSN befindet sich noch in einer Aufbau-Phase, und kann bis heute nur über wenige Erfolge berichten. Auch die Koordinierung mit der BnF und Gallica muss weiter ausgearbeitet werden. Heute findet die Zusammenarbeit zwischen der BnF und den Universitätsbibliotheken auf unterschiedlichen Wegen statt. Mehrere Universitätsbibliotheken sind Partnerbibliotheken der BnF im Netzwerk der Pôles associés de la BnF. Bis 2011 bekamen diese Bibliotheken Geld von der BnF, um Literatur in deren jeweiligen Exzellenzdisziplinen zu erwerben und die Sammlungen der BnF ergänzen zu können. Seit 2012 ist es aber die Priorität der BnF geworden, ihre digitalen Sammlungen und Leistungen auszubauen. Partnerbibliotheken können jetzt nur unter der Bedingung Geld für Digitalisierungsprojekte anfordern, dass die digitalisierten Sammlungen dann auch für Gallica durch OAI-Harvesting zur Verfügung gestellt werden. Mit dem selben Ziel hat die BnF in Partnerschaft mit der Bibliothek Cujas und der Bibliothek des Nationalen Instituts für Kunstgeschichte zwei thematische Initiativen für die Förderung von Digitalisierungsprojekten in den Bereichen Recht und Kunstgeschichte geleitet und durch mehrere Projekte von Universitätsbibliotheken un-

251

terstützt. Eine andere Möglichkeit zur Kooperation bietet die BnF durch „Gallica als Weiße Marke“, eine Leistung, mit der die BnF die technische Infrastruktur von Gallica anderen Bibliotheken zur Verfügung stellt, damit diese ihre eigene digitale Bibliothek aufbauen können, mit denselben Leistungen wie die, die von Gallica angeboten werden. Numistral13, die digitale Bibliothek der National- und Universitätsbibliothek Strassburg, die am 4. Oktober 2013 eröffnet wurde, ist die erste und bis jetzt einzige Verwirklichung dieser „Gallica als Weisse Marke“-Initiative. Obwohl Gallica heute digitalisierte Sammlungen von mehreren Universitätsbibliotheken dank dieser verschiedenen Förderprogramme anbieten kann, und obwohl sie theoretisch als Aggregator der Metadaten der digitalisierten Sammlungen der französischen Bibliotheken zu TEL – The European Library und Europeana wirkt, ist sie aber offiziell nicht die nationale digitale Bibliothek Frankreichs, wie die Deutsche Digitale Bibliothek es für Deutschland sein kann. Im Gegenteil ist es eine Idee des Ministeriums für Hochschulbildung und Forschung, PERSEE – das seit 2003 laufende Nationalprogramm für die Retrodigitalisierung von Zeitschriften – auszubauen, damit es in den nächsten Jahren, vielleicht im Rahmen von BSN und neben Isidore14 – dem Portal des CNRS zu Forschungsdaten in Geisteswissenschaften – als das nationale Eingabeportal für die digitalisierten Sammlungen der Hochschulen und Forschungseinrichtungen dienen könnte. Wenn es zu der Entscheidung kommen sollte, eine nationale Digitale Bibliothek aufzubauen, müsste also die Abstimmung zwischen Gallica und der BSN – der wissenschaftlichen digitalen Bibliothek – das erste Thema sein.

6 Ein Potenzial für die Zukunft Wissenschaftliche und technische Information ist in den letzten Jahren in der nationalen Forschungspolitik Frankreichs ein Bereich für sich geworden. BSN ist die Struktur, in der diese Politik seit 2011 entwickelt wird, mit der Unterstützung von allen institutionellen Akteuren, Universitäten sowie Forschungseinrichtungen. Bibliotheken selbst haben eine Rolle gefunden, in der sie zu den aktivsten Teilnehmern zählen. Die Kosten zu rationalisieren und zu optimieren, Komplementarität zu suchen, nach einer gleichmäßigen Flächendeckung des Landes streben, sind die Hauptziele der BSN für die nächsten Jahre. Eine digitale Bibliothek im puren Sinne des Wortes aufzubauen, die den

13 www.numistral.fr. 14 www.rechercheisidore.fr.

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

252

Frédéric Blin

Zugriff zu jeder in Frankreich verfügbaren wissenschaftlichen Information ermöglicht, ist kein spezifisches Ziel für das Ministerium. Die Priorität ist eher, die schon bestehenden kollaborativen Infrastrukturen zu unterstützen und zu entwickeln. Moocs („Massive Online Open Courses“) ist noch ein sehr junges Thema, das aber jedoch bereits nicht nur in den Debatten seinen Platz gefunden hat, sondern auch in den Prioritäten der Regierung. Am 2. Oktober 2013 wurde die nationale Initiative France Université Numérique – FUN von der Ministerin Fioraso eingeweiht, die durch 18 strategische Aktionen Frankreich den Einzug in die Zeit der digitalen Pädagogik ermöglichen soll. Mit der BSN sowie mit dem renovierten Netzwerk der Exzellenzbibliotheken im Rahmen der noch zu entwickelnden Infrastruktur Collex – Collections d’excellence wird FUN Teil eines modernisierten und ehrgeizigen Hochschul- und Forschungswesens, mit dem Frankreich einen Platz an der Spitze der internationalen Konkurrenz erreichen soll. Wir sind erst am Anfang eines spannenden Abenteuers.

Anmerkung: Dieser Artikel ist eine Erweiterung meines Beitrags zum Leipziger Bibliothekskongress 2013, Stand November 2013.

Frédéric Blin Directeur de la conservation et du patrimoine, Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg 5, rue du Maréchal Joffre B.P. 51029 F-67070 Strasbourg Cedex Frankreich [email protected]

Unauthenticated Download Date | 2/22/17 6:26 PM

Suggest Documents