Verehrte Lehrende, Lernende und Freunde der Ricarda-Huch-Schule,

Zur Erinnerung an Ricarda Huch Heinrich Detering Verehrte Lehrende, Lernende und Freunde der Ricarda-Huch-Schule, über den schwäbischen Romantiker L...
Author: Emma Rothbauer
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Zur Erinnerung an Ricarda Huch Heinrich Detering

Verehrte Lehrende, Lernende und Freunde der Ricarda-Huch-Schule,

über den schwäbischen Romantiker Ludwig Uhland hat der Komiker Heinz Erhardt scherzhaft gesagt, er sei der Erfinder der gleichnamigen Straße gewesen. Ricarda Huch, so könnte man entsprechend vermuten, war die Erfinderin der gleichnamigen Schule. Aber was heißt hier Schule? Mädchenschulen in mindestens elf deutschen Städten tragen seit der Nachkriegszeit ihren Namen: in Braunschweig, wo Ricarda Huch am 18. Juli 1864 geboren wurde, und in Dortmund, in Dreieich bei Frankfurt und München und Zwickau, in Hannover und Hagen, in Gelsenkirchen und Gießen, in Krefeld und, wem sage ich das, in Kiel. Dass aber Ricarda Huch wie Ludwig Uhland diese flächendeckende Beliebtheit einem großen literarischen Werk verdankt, das ist so weitgehend in Vergessenheit geraten, dass man es beinahe mit dem Heinz-Erhardt-Zitat bewenden lassen möchte. Aber um welche Einsichten brächte man sich damit, und um wie viel Lesevergnügen! Was ich hier in den nächsten fünfundvierzig Minuten vorhabe, ist nichts weiter als eine Erinnerung an diese Schriftstellerin und ihr Werk – so skizzenhaft unvollständig und so subjektiv, wie es bei diesem Anlass kaum anders möglich und vielleicht auch gar nicht anders wünschenswert ist. Denn um es gleich zu sagen: Keineswegs alles, was die Zeitgenossen im Werk der Ricarda Huch bewundert haben, würde ich heute noch neugierigen Lesern uneingeschränkt empfehlen. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, dass gerade die großen Romane, die lange Zeit in jedem guten deutschen Bücherschrank standen, zuerst Patina angesetzt haben. Die forcierte Leidenschaft der von Jugendstil und Neuromantik, Ästhetizismus und Lebensphilosophie geprägten Entwicklungsromane ist heute nicht mehr so leicht genießbar wie 1920, und auch das Pathos der halb dokumentarischen, halb fiktionalen Erzählungen über Garibaldi und die Einigung Italiens haben in Zeiten einer nüchterneren Geschichtsschreibung viel von ihrem einstigen Reiz verloren. Immerhin spürt man in manchen Passagen noch etwas von der Wucht einer VerdiOper, doch eben das Opernhafte ist es auch, was sie als historische Romane doch fern und fremd erscheinen lässt. (Aber wer weiß, wann die nächste Wiederentdeckung diese Kritik Lügen strafen wird.) Selbst ein so publikumswirksames Buch wie der Kriminal-

2 roman Der Fall Deruga, Kinofreunde erinnern sich vielleicht an die Ufa-Verfilmung mit Willy Birgel, wirkt heute sonderbar matt – nicht etwa weil es schlecht, sondern weil es gewissermaßen zu gut geschrieben ist, in jener makellosen, gepflegten Eleganz des Stils, der derjenigen ihrer aristokratischen – buchstäblich adligen oder doch jedenfalls seelenaristokratischen – Helden entspricht. Die Erzählerin Ricarda Huch kann gar nicht anders schreiben als elegant, gewandt, gebildet, es ist ihr einziges – freilich auch vollkommen beherrschtes – Stilregister; und so entsteht ein sonorer Dauerton von unterschiedslos und leider manchmal auch spannungsarm dahingleitender Vornehmheit. Was aber der Romanschriftstellerin für einen heutigen Leser mangelt, das besitzt die Essayistin und Lyrikerin in einem Maße, das mit den Jahren noch gewachsen ist. In diesen Genres schreibt sie nicht nur gut (das hat sie eigentlich immer getan, sie konnte gar nicht anders), sondern glanzvoll; hier kann sie erregend sein, mitreißend, begeisternd. Das beginnt schon in den frühen Gedichten, die ihren Ruhm begründeten. Ihr erster Gedichtband erscheint 1891 in Dresden, vorsichtshalber unter dem männlichen Pseudonym „Richard Hugo“. Fast durchweg sind diese Verse getragen von einer religiösen Überhöhung des Irrationalen als Selbstzweck, von Leidenschaft und Ekstase, wie sie in diesen Jahren durchaus an der Tagesordnung war, im Geist eines an Nietzsche geschulten Vitalismus:

Noch einmal dem Nichts entstiegen, Noch einmal aus Flammen neu, Seh ich dich im Morgen liegen, Schöne Welt, dem Treuen treu. Komm, begegne meinem Hoffen, Gib an Lust und Schmerz mein Teil, Gläubig steht mein Busen offen Deinem Blitz und Todespfeil.

Das ist sozusagen der Normalton der Epoche, lyrische Dutzendware. Aber erstaunlich viele schon dieser frühen Gedichte halten es aus, dass man sie langsam und genau liest. Zweifellos haben sie an der literarischen Mode teil. Aber sie gehen nicht in ihr auf. Sehen wir uns das an einem bemerkenswerten Beispiel genauer an. 1912, auf dem Höhepunkt von Jugendstil und Neuromantik, schreibt Ricarda Huch die folgenden Verse, die mit Recht bis heute in Anthologien fortleben:

3

Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange, In dunkler Nacht, die um dich her erglühte. Ich diente dir mit Liebesüberschwange Und trank das Feuer, das dein Atem sprühte. Du flohst, ich suchte lang in Finsternissen. Da kannten mich die Götter und Dämonen An jenem Glanze, den ich dir entrissen, Und führten mich ins Licht, mit dir zu thronen.

Weil die anfangs so unterwürfig erscheinende Liebende sich gegen den Liebenden behauptet hat, bis sie ihm gleich geworden ist, darum hat sich nun auch die Beschaffenheit der Liebe selbst gewandelt: aus dem sündigen Feuer ist eine helle, souveräne und aller Welt sich zeigende Liebe geworden. Denn was muss man als Prinzessin doch gleich tun, wenn der eklige Frosch, weil man es ihm leichtfertig versprochen hat, mit einem ins Bett gehen will? Man muss ihn an die Wand werfen, mit aller Wucht, sich also so aggressiv wie möglich gegen ihn behaupten – dann, oh Wunder, ist er auf einmal gar kein ekliger Frosch mehr, sondern wird zum schönen Prinzen. Aber auch erst dann. Kein Wunder, dass diese Dichterin zur Frauenrechtlerin wird – wenn auch wie bei allem, was sie tut, allein mit den Mitteln des Wortes, der Literatur. Mitten in der Konstituierungsphase der deutschen Frauenbewegung, im März 1902 – da ist sie siebenunddreißig Jahre alt – hält Ricarda Huch im „Verein für erweiterte Frauenbildung“ einen Vortrag Über den Einfluss von Studium und Beruf auf die Persönlichkeit der Frau. Darin referiert sie, scheinbar ganz artig, einige Ideen des derzeit tonangebenden Psychiaters Paul Julius Möbius, der – so resümiert sie – „das moderne Streben, die Intelligenz der Frau auszubilden, für verderblich erklärt“. Und dann erläutert sie Möbius’ Thesen so todernst, dass ihre Absurdität ganz von selbst hervortritt: „Er äußert in Kürze folgende Ansichten: Es ist der geistigen Entwicklung im allgemeinen eigen, vom Unbewussten zum Bewussten zu gehen; … aus dem Gattungswesen wird ein Individuum. Die Frau aber ist wesentlich Gattungswesen, sie ist unbewusst und muss es bleiben; denn nur durch Einbußen an Gesundheit kann sie eine Persönlichkeit werden. Zwar treten mit zunehmender Zivilisation abnorme Formen auf, Abweichungen von der natürlichen Art, so dass sich an Männern weibliche, an Frauen männliche Züge zeigen. Frauen solcher Art, die geistig rege sind und lange so bleiben, sollen nicht daran verhindert werden, ihre Fähigkeiten auszu-

4 bilden; aber sehr bedenklich wäre es, wenn die Frauen im allgemeinen sich als Individuum ‚ausleben’ wollten, weil sie mit Siechtum geschlagen würden. Es besteht nämlich ein Gegensatz zwischen Hirntätigkeit und Fortpflanzung; wo eines das Übergewicht erhält, leidet das andere. – So habe ich Möbius’ Gedankengang verstanden.“ Und dann denkt sie weiter: „Wäre dem so, … so wäre es freilich wünschbar, dass das Ideal ‚gesund und dumm’ allgemeine Geltung bekäme, auf die Gefahr hin, dass, da die Söhne gerade in Bezug auf die Intelligenz nach der Mutter arten sollen, die Männer dabei zu kurz kämen.“ Das ist Ricarda Huch: Gelassen und genau, mit einem Scharfsinn argumentierend, der schon im Ton des Referats alle referierten Argumente Möbius’ erledigt, und mit einer ausgefuchsten Ernsthaftigheit. Am Ende dieses Vortrags geht Ricarda Huch übrigens auf Berufe ein, die jetzt für gebildete Frauen in Frage kommen: Ärztin oder Lehrerin. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten sieht sie einen Hauptunterschied, der ebenso überraschend wie einleuchtend ist: im Hinblick nämlich auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Arztehepaare könnten immerhin gemeinsam praktizieren, meint sie und fährt fort: „Übel ist die Lehrerin gestellt, die durch Heirat ihre Stellung verliert.“ Womit gemeint ist: jede Lehrerin, die heiratet. Und dann folgt ein Gedanke, der mir nicht sonderlich veraltet vorkommt: „Dessenungeachtet bleibt im allgemeinen das bestehen, dass die Frauen sich dagegen sträuben, ihr Leben ausschließlich der Wissenschaft zu widmen; es geht den Männern nicht anders, nur, da sie sich ohne weiteres nehmen, was sie sonst noch brauchen, reden sie nicht viel davon“ – so Ricarda Huch 1902. Diese Rednerin weiß, wovon sie spricht. 1890 hatte sie, mit sechsundzwanzig Jahren und nach dem Abschluss ihres Geschichtsstudiums, eine Promotion in Angriff nehmen wollen, zu einem bereits ganz ohne professorale Beratung gefundenen Thema. Aber in Deutschland dürfen Frauen in dieser Zeit nicht promoviert werden. Also geht Ricarda in die Schweiz, nach Zürich. (Auf der Webseite der Stadt Braunschweig liest sich das so: „Die Braunschweigerin zählte zu den ersten deutschen Frauen, die ob des Studienverbots in Deutschland ihr Studium und ihre Dissertation 1890 in Zürich absolvierten.“ Das müssen ja wahre Heerscharen gewesen sein!) In Zürich schreibt sie ihre Abhandlung über die Schweiz während des Spanischen Erbfolgekriegs, in Thema und Verfahren Grundlage ihrer historischen Romane und Erzählungen. Da eine akademische Karriere für Frauen undenkbar ist, auch für hochbegabte wie sie, wird sie – und sie soll noch dankbar sein dafür – Bibliothekarin. Es ist für sie ein elend langweiliger Beruf, aber er gibt ihr bequemen Zugang nicht nur zu Büchern, sondern

5 auch zur akademischen Welt. Und er lässt ihr genug Zeit und Kraft zum Dichten. Ihren neuen, zweiten Beruf als Lehrerin muss sie kurze Zeit nach der Hochzeit mit dem italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi 1898 wieder aufgeben, um ihrem Mann nach Triest zu folgen. 1906 ließ sie sich, mittlerweile Mutter einer Tochter, wieder scheiden. Einige der schönsten Gedichte Ricarda Huchs verdanken sich gerade den erotischen Verwicklungen, an denen ihre erste Lebenshälfte nicht arm war, vor allem dem leidenschaftlichen Liebesverhältnis zu ihrem verheirateten Cousin Richard Huch (mit dem sie dann später eine kurze und unglückliche Ehe führte). Hören Sie eins meiner Lieblingsgedichte:

Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein, Und während Tage und Jahre verstreichen, Werden sie Stein.

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre, Sie scheinen zerronnen wie Schaum. Doch du spürst ihre lastende Schwere Bis in den Traum.

Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle, Die Welt wird ein Blütenmeer. Aber in meinem Herzen ist eine Stelle, Da blüht nichts mehr.

Auch im Umkreis ihrer historischen Arbeiten an dem Riesenwerk Aus dem 30jährigen Kriege werden fiktive Kriegserfahrungen in Gedichten artikuliert, Erfahrungen aus der Perspektive der Verlierer, von ganz unten. Wo aber ist ganz unten? Bei den Kriegsopfern, und zwar bei den ärmsten, unter diesen wiederum bei den Frauen, unter diesen bei denen, die sich um ihre Kinder sorgen, deren Kinder gestorben sind, eingezogen als Soldaten, als Schlachtvieh für die Schlachten, oder einfach verschollen, verschwunden in den Kriegsgreueln. In einem dieser Gedichte singt die Mutter ihrem kleinen Sohn ein – so die Überschrift – Wiegenlied. Dessen zweite Strophe könnte mit ihrem grausamen

6 Sarkasmus so ähnlich bei Brecht stehen, im Antikriegsdrama von Mutter Courage und ihren Kindern:

Schlaf, Kind, schlaf, es ist Schlafens Zeit, Ist Zeit auch zum Sterben. Bist du groß, wird dich weit und breit Die Trommel anwerben. Lauf ihr nach, mein Kind, hör deiner Mutter Rat; Fällst du in der Schlacht, so würgt dich kein Soldat.

So also sieht das Leben dieser Ärmsten aus im großen Krieg: nicht wie ein Leben, sondern wie ein Sterben. Wer nicht als Zivilist ermordet wird, der stirbt als Soldat. Geschrieben hat Ricarda Huch diese Verse im Jahr 1917, im dritten Jahr des Weltkriegs, dessen Ausbruch die meisten deutschen Dichter als nationale Befreiung bejubelt hatten. Ein Jahr später war der Krieg zu Ende (auch dank des Aufstands der Kieler Matrosen), und der Friede war da. Auch ihn hatte Ricarda Huch imaginiert, im Umkreis desselben Buches über den Dreißigjährigen Krieg. Dieses Gedicht zitiere ich vollständig; es heißt Frieden:

Von dem Turme im Dorfe klingt Ein süßes Geläute; Man sinnt, was es deute, Daß die Glocke nicht im Sturme schwingt. Mich dünkt, so hört’ ich’s als Kind; Dann kamen die Jahre der Schande; Nun trägt’s in die Weite der Wind, Daß Frieden im Lande.

Wo mein Vaterhaus fest einst stand, Wächst wuchernde Heide; Ich pflück’, eh ich scheide, Einen Zweig mit zitternder Hand. Das ist von der Väter Gut Mein einziges Erbe;

7 Nichts bleibt, wo mein Haupt sich ruht, Bis einsam ich sterbe.

Meine Kinder verwehte der Krieg; Wer bringt sie mir wieder? Beim Klange der Lieder Feiern Fürsten und Herren den Sieg. Sie freun sich beim Friedensschmaus, Die müß’gen Soldaten fluchen – Ich ziehe am Stabe hinaus, Mein Vaterland suchen.

Aristokratische Bürgerin und vielgelesene Romanautorin, Historikerin und Lyrikerin, eigensinnige Intellektuelle und grande dame mit Stil und Distinktion – an ihrem sechzigsten Geburtstag 1924 steht diese Ricarda Huch auf dem Höhepunkt ihres Ansehens. Kein Geringerer als Thomas Mann, seit kurzem Nobelpreisträger, hält die Festrede in der Preußischen Akademie, der sie als einzige Frau angehört, und er sagt: „nicht nur die erste Frau Deutschlands ist es, die man zu feiern hat, es ist wahrscheinlich heute die erste Europas“. Unter den Büchern, auf die sich dieses Urteil begründet, spielt Huchs Studie Blüthezeit der Romantik (Leipzig 1899) eine besondere Rolle. Diesen Band nun hat Thomas Mann offensichtlich bereits lange vor dem Geburtstagsartikel gelesen; Anstreichungen und Randnotizen in seinem noch immer erhaltenen Exemplar zeugen von einer intensiven, ja leidenschaftlichen Lektüre schon in der Zeit der Buddenbrooks und des Tonio Kröger. Geht man diesen Bleistift-Spuren nach, dann führen sie in ein noch heute aktuelles Thema, das ihn, den heimlich homosexuellen bürgerlichen Mann, mit der bürgerlichen und um Emanzipation kämpfenden Frau verbindet und dessen Reichweite er in seiner Rede nur diskret andeutet. Es ist die Frage nach Beschaffenheit und Wandel der Geschlechterrollen. So streicht Thomas Mann beispielsweise Ricarda Huchs Bemerkung an, dass erst „in neuerer Zeit ... die Differenzierung des Weiblichen und Männlichen immer schärfer“ ausgeprägt worden und dass für die Zukunft ein Mensch zu erwarten sei, „in dem sich Männliches und Weibliches vereinigt, ohne in einander unterzugehen.“ Das ist ganz seine Meinung; er selbst hat ähnliche Gedanken in manchen seiner frühen Essays formuliert. Dieser „Zukunftsmensch“ sei also, so streicht er an anderer Stelle an, „der mann-

8 weibliche.“ Und: „Dieser Typus trägt das Genie.“ Als Beispiel nennt Ricarda Huch keinen Geringeren als Goethe. Ihn preist sie als den Schöpfer von Figuren, „in denen süßester weiblicher Liebreiz sich mit männlicher Kraft zu einem so herrlichen Ganzen vereinigt“ (in Thomas Manns Exemplar ist diese Stelle mit einem großen Kreuz markiert). So sieht sie denn in Goethe einen Menschheitstraum verwirklicht: den platonischen Traum vom „Ganzmenschen“. Kann man das noch provozierender sagen? Ja, Ricarda kann: „das Wort Mannweib, das in unserer Zeit so gesunken ist und einen schlechten Klang angenommen hat, bezeichnet danach die schönste und vollkommenste Form, in der der Mensch sich darstellen kann.“ Das hat Thomas Mann am Rand angestrichen und das Wort „Mannweib“ im Text gleich nochmals unterstrichen. In seiner Geburstagsrede von 1924 belässt Thomas Mann es bei einem sarkastischen Bild: Ricarda Huch, sagt er da, sei angetreten gegen die in Deutschland verbreitete „Neigung [...], das Ideal des Weibes in der Kuh und das des Mannes im Schlagetot zu erblicken“. Dabei ist diese Frauenrechtlerin doch noch immer die elitäre Artistin der frühen Jahre, deren Kunstanspruch weit näher bei George und Hofmannsthal ist als bei Döblin und Brecht, und sie ist eine Patriotin von durchaus nationalkonservativer Gesinnung, die sich beharrlich auf das beruft, was sie mit einem heute unmöglich gewordenen Wort ihr „Deutschtum“ nennt. Überhaupt sind Begriffe wie „Volk“, „Nation“ und „Reich“ für sie noch unzweifelhaft von größter Bedeutung; dass ein Volk nicht nur eine Geschichtsund Sprachgemeinschaft sei, sondern geradezu eine Wesenheit, ein überzeitliches Kollektivsubjekt, das ist für sie noch eine unbefragte Selbstverständlichkeit. Im Widerstand gegen den Faschismus ist es ihr wesentlich um die Rettung des ‚wahren’ Deutschland, um die Verteidigung der deutschen Ehre usf. zu tun. Auch die zunehmende Bindung an Leit- und Vorbildgestalten wie Goethe und Luther und die Romantik hat immer auch mit deren ‚Deutschheit’ zu tun. Aber bevor man sich von dieser Haltung befremdet abwendet, ist – bei ihr wie bei vielen ähnlich denkenden Intellektuellen der Epoche – daran zu erinnern, dass man diese Verknüpfungen auch aus der umgekehrten Perspektive betrachten kann: Was sie ihr Deutschtum nennt, das ist eben wesentlich ein weltoffenes, liberales Christentum in der Sprache Luthers – das gerade sie, die sich eine geborene „Protestantin“ nennt, im mehrfachen Sinne des Wortes, mit allem Nachdruck auch als Behauptung und Verteidigung individueller Freiheitsrechte versteht. Es ist ein Goetheanismus, der für sie eine programmatische Weltoffenheit aus deutscher Perspektive meint. Und es ist eine an der

9 Frühromantik geschulte Liebe zur Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit, zur Deutungsoffenheit des Daseins, zum offenen Gespräch in einer (auch wenn sie diesen Ausdruck selber gewiss nicht gebraucht hätte) offenen Gesellschaft. Dazu gehört die Freude darüber und die Dankbarkeit dafür, dass die Anderen da sind und dass sie anders sind als wir. Deutscher Geist, das heißt für sie wie für ihre romantischen Vorgänger Organismus statt Struktur, Morphologie und Evolution statt Umsturz und Revolte, Sinn für Mythos und Mysterium statt Aufklärungsoptimismus – aber es heißt für sie ebenso selbstverständlich Humanität und Weltneugier. Und beides schließt, wenn es konkret werden soll, sogleich so schöne Dinge ein wie soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik. 1931 hält Ricarda Huch in Frankfurt den großen Vortrag „Deutsche Tradition“. Gleich im ersten Satz erläutert sie diese Leitkategorie: „Von Tradition sprechen wir, wenn etwas, was sich in den Anfängen eines Volkes ausgewirkt hat, dauernd fortsetzt.“ Man könnte auch sehr anders von Tradition sprechen, aber hier ist mit aller Selbstverständlichkeit die Vorstellung von etwas einmal und für immer Gegebenen vorausgesetzt, das die Beschaffenheit eines als Kollektivsubjekt gesetzten Volkes bestimmt. Hier bestimmt sie ziemlich pointiert den im Laufe ihrer historischen Schriften entwickelten Begriff des „Reichs“ – und zwar auf eine Weise, die den nationalen und völkischen Verwendungsweisen dieses Modewortes diametral entgegensteht. Die deutsche Idee des „Reiches“, das ist für sie die ideale Synthese von individuellen und kollektiven Freiheitsrechten, und sie ist der Idee der Herrschaft des Adels wie des Besitzbürgertums ebenso entgegengesetzt wie derjenigen der Herrschaft einer ethnischen Gruppe. Gegensatz des föderalen „Reichs“ ist für Ricarda Huch „das Fürstentum“ als Inbegriff zentralistisch-autoritärer Herrschaft; er schließt den „neuen Fürstenstand“ des kapitalistischen Großbürgertums ausdrücklich ein. Sie entfaltet diese Opposition in weit ausholenden Betrachtungen, die vom Mittelalter über Humanismus und Renaissance in die Goethezeit und schließlich in die unmittelbare Vorgeschichte wandern – und die seit den Tagen der bewunderten preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein einen politischen Niedergang konstatieren. Es lohnt, einige Sätze aus diesen letzten Überlegungen zu zitieren: „Es zeigte sich, dass die Tradition des Fürstentums, die auf Zentralisation, Militarismus und Finanzen ausging, stärker war als die des Reichs, dessen Idee Einheit, Freiheit und Recht war [im Singular: die Begriffe des Deutschlandliedes bilden für sie eine Einheit!] … Tatsächlich war der Kaiser des neuen Reichs von 1870 nicht Kaiser im mittelalterlichen Sinn, sondern Fürst. Äußerlich wurde die deutsche Tradition in dem neu-

10 entstandenen Reiche sehr gepflegt: Bilder der neuen Kaiser wurden neben den Bildern der alten aufgestellt, mittelalterliche Burgen wurden ausgebaut, Kaiser Wilhelm wurde als der Barbarossa des Kyffhäuser gefeiert. Dies alles wirkte künstlich und oft kitschig, weil Symbole immer unecht und hässlich ausfallen, wenn ihr Sinn nicht in der Gesinnung und im Handeln derer lebendig sind, die sich mit ihnen dekorieren.“ Aus alldem ergibt sich als abschließende Forderung, das jetzt zu erneuernde deutsche Reich solle „kein zentralistischer Großstaat“ sein, sondern „als Ganzes vorzugsweise ruhend“; und es habe „als vornehmste Aufgabe das Recht und den Frieden zu wahren und die Macht und den Reichtum … in ihren Ausschreitungen zu beschränken.“ So Ricarda Huch, die konservative deutsche Patriotin, im Frühjahr 1931, weniger als zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme. Schon 1923 hatte sie solche deutschen Reichs-Vorstellungen mit einer der unwahrscheinlichsten, aber aus ihrer Perspektive durchaus naheliegenden politischen Überzeugung verbunden: mit dem Anarchismus nämlich, wie ihn Michail Bakunin im Russland des 19. Jahrhunderts proklamiert hatte. Ihre große, erzählende Biographie Michael Bakunin und die Anarchie schildert Bakunin als Feind aller Knechtschaft, gleichgültig in wessen Namen sie etabliert wird; dieselbe Vereinigung von kollektiven, sozialen und individuellen Freiheitsrechten, die sie am Idealbild des deutschen Reiches rühmte, gegen die Tyrannei jeder Art von „Fürstentum“, die sah sie hier in Bakunins menschenfreundlichem Anarchismus auf neue Weise Gestalt annehmen. Das mochte eine überraschende, vielleicht etwas bizarre Allianz sein; aber sie brachte der Autorin dankbare Solidarität von unerwarteter Seite ein. Der anarchistische Dichter Erich Mühsam, der wegen seiner politischen Aktivitäten im Gefängnis saß, las dort 1924 Ricarda Huchs Bakunin-Buch und schrieb ihr daraufhin: „daß Sie das scheinbar Widerspruchsvolle in seinem Tun und Lassen überall aus der großen reichen Menschlichkeit zu erklären wissen, ... dies hat mir das Bedürfnis Ihnen zu danken unabweisbar gemacht.“ Meine Damen und Herren: Eine nationalkonservative Kosmopolitin, eine Liebhaberin der Reichsidee, die sozialistische Ideen achtet, grande dame und Anarchistin – kein Zweifel, mit der Vertreterin einer derartigen Reichs-Idee war ein ‚Drittes Reich’ nicht zu machen. Die Nazis allerdings hatten ihr nicht richtig zugehört und erwarteten mit, wie es schien, größter Selbstverständlichkeit, dass diese Verkünderin eines deutschen Reiches sich im Ernstfall schon auf ihre Seite schlagen werde. Wie haben sie sich geirrt! Als der Ernstfall eintrat, im Januar 1933, da zeigte sich ausgerechnet Ricarda Huch, gerade Ri-

11 carda Huch als eine der entschiedensten und energischsten Antifaschisten unter den bürgerlichen Intellektuellen in Deutschland. Es war die Nagelprobe für ihr Denken und Schreiben, für die Bewährung oder das Scheitern ihrer politischen und moralischen Vorstellungen in der Praxis. 1933 forderte der kommissarische Leiter der Sektion für Dichtkunst, Gottfried Benn, von allen Mitgliedern eine Loyalitätserklärung für das Regime: „Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung der Frage schließt die öffentliche Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage.“ Ricarda Huch verweigerte die Unterschrift und begründete dies am 24. März 1933 mit einem Brief an Max von Schilling, den Präsidenten der Akademie: „Ich kann dieses Ja [auf die von Benn vorgelegte Frage] umso weniger aussprechen, als ich verschiedene der inzwischen vorgenommenen Handlungen der neuen Regierung aufs schärfste missbillige. Sie zweifeln nicht ..., dass ich an dem nationalen Aufschwung von Herzen teilnehme; aber auf das Recht der freien Meinungsäußerung will ich nicht verzichten, und das täte ich durch eine Erklärung, wie die ist, welche ich zu unterzeichnen aufgefordert wurde. Ich nehme an, dass ich durch diese Feststellung automatisch aus der Akademie ausgeschieden bin.“ Dennoch schreibt sie, um nur ja keinen Zweifel an ihrer Empörung zu lassen, gut vier Wochen später noch einmal an den Präsidenten der Akademie: „Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von der staatlich vorgeschriebenen Meinung abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich, in einer staatlichen Akademie zu bleiben.“ Dass Ricarda Huch in der Nazizeit zwar überwacht und mehrfach verhört, aber nie verhaftet worden ist, verdankte sie persönlichen Bekannten in den Behörden, die sich aus alter Freundschaft diskret darum bemühten, sie vor weiteren Verfolgungen zu schützen. Sie hat darüber nachgedacht, wie die Brüder Mann oder Alfred Döblin, ihre einzigen Mitstreiter am Ende der Akademie, ins Exil zu gehen. Aber wohin hätte sie gehen sollen, mit siebzig Jahren? In ihre zweite Heimat, ins mittlerweile faschistische Italien? An Döblin schrieb sie: „Wenn ich ein Jude wäre, ginge ich hin [nach Palästina], viel-

12 leicht sogar, wenn ich nur jung wäre, auch ohne Jude zu sein […] Ich beneide Sie darum, daß sie draußen sind.“ Sie blieb drinnen, in dem, was sie nun das „Sklavenland“ nannte. Den Mund verbieten aber ließ sie sich nicht. 1934 erschien der erste Band ihrer auf drei Bände angelegten Deutschen Geschichte. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, das sie darin beschreibt, hat einerseits in seiner Idee etwas märchenhaft Utopisches. Andererseits aber trägt es Züge, an die man in Deutschland in dieser Zeit nicht gern erinnert wird: „Die Judenverfolgungen des 14. Jahrhunderts“, schreibt sie 1934, „wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg“. Die NS-Kritik verwies auf Passagen wie diese und schrieb, dass „sich jeder freiheits- und ehrliebende Deutsche mit leidenschaftlicher Empörung zur Wehr setzen müsse“ gegen Ricarda Huch. Der zweite Band erschien noch 1937, der dritte aber fiel dann der Zensur zum Opfer und konnte erst nach ihrem Tod erscheinen. Ihre Tapferkeit hat oft etwas Freches, manchmal stockt dem heutigen Leser der Atem. Als die gleichgeschaltete Schiller-Stiftung in Weimar ihr 1940 – man hat erfahren, dass es ihr schlecht geht – leutselig eine „Ehrengabe“ anbietet, antwortet sie aus Jena: „Nennen Sie eine wirtschaftliche Lage unbefriedigend, wenn man kein Vermögen und keine Altersversicherung hat, so befinde ich mich in einer solchen; da ich aber noch durchaus arbeitsfähig bin und genügend verdiene, so habe ich keinen Anlaß zu klagen und bedarf ich keiner Unterstützung.“ Ende 1943, als die Denunziationen und Verfolgungen neue Höhepunkte erreichen, bastelt sie für ihren Enkel Alexander einen Kalender auf das Jahr 1944. Es ist schon für sich genommen bemerkenswert, dass sie darin beispielsweise für den Monat April ein Foto einklebt, das Hitler in Herrscherpose vor einem heroischen faschistischen Gemälde zeigt – im Frühling 1944, so signalisiert das Bild, wird es keinen Frühling geben, sondern die Fortdauer dieser Herrschaft. Wirklich tollkühn aber ist der Bildtext, den sie handschriftlich hinzufügt. Er lautet: „Es ist zu verwundern, daß manche Menschen nicht im Gefühl ihrer Nichtswürdigkeit augenblicklich verwesen. Schiller.“ Das erste Projekt der bald Zweiundachtzigjährigen, als die NS-Herrschaft und der Krieg endlich vorüber sind, und zugleich das letzte Buchprojekt ihres Lebens, ist ein Werk über ein Thema, von dem in diesen Tagen des deutschen Selbstmitleids fast niemand etwas hören will: über den deutschen Widerstand. Unermüdlich sammelt sie Quellen und Zeugnisse, schreibt Briefe an Überlebende; noch einmal will sie zeigen, wie man als Historikerin und Erzählerin eingreifen kann in die Zeit, noch einmal will sie an jene politischen und moralischen Ideale erinnern, von denen ihr Werk seit Beginn des

13 Jahrhunderts gehandelt hat. Das einzige deutsche „Reich“, das diesen Namen wirklich verdient, ist für sie nun diese Gemeinschaft der Verfolgten und Ermordeten. Allein ihr Opfertod kann diese Idee am Leben erhalten – die sie um keinen Preis aufgeben will. Konzipiert ist das Buch als eine Reihe von Porträts einzelner Männer und Frauen in ihren jeweiligen Gruppen: der Weißen Rose um Hans und Sophie Scholl, des Kreises um Stauffenberg, jüdischer und nichtjüdischer, christlicher und sozialistischer Helden. Stefan Hermlins berühmtes Buch Die erste Reihe wird in der DDR diesem Vorbild folgen, und beide variieren das große alte Schema der Legenda aurea. Diese dichten und plastischen Porträts gäbe es nicht ohne die lange Vorarbeit in den heute ungelesenen historischen Büchern. Nur darauf kommt es ihr an: die als Vorbilder darzustellenden Menschen in ihren humanen Zielen, ihrer Lebensgefährdung, ihrer Angst und ihrem Mut zu zeigen, ganz gleich ob sie im Vokabular des Dritten Reiches „Juden“ heißen oder „Halbjuden“ oder „Arier“. So wie es ihr übrigens gleich – nein, nicht gleich, sondern gleichermaßen recht und willkommen ist, ob einer ein Sozialist ist oder ein Nationalkonservativer oder ein Katholik. Aus diesem unvollendet gebliebenen Werk hier ein paar kurze Sätze zu zitieren, fällt schwer. Aber zum Glück werden auch diese zeitgeschichtlichen Studien mit ihrem betont sachlichen (und eben darum so wirkungsvollen) Tonfall begleitet durch Gedichte, die das dort nur untergründige Pathos hörbar machen. An unsere Märtyrer heißt eines davon, und geschrieben ist es in klassischen Hexametern. Die traditionsstrenge griechische Form könnte angesichts der Prozesse vor Freislers „Volksgerichtshof“ und seiner Morde ebenso unangemessen erscheinen wie die christlich-religiöse Überhöhung in der Überschrift. Aber gerade hier zeigt sich, dass Ricarda Huch eben nicht jenen Wortführern der sogenannten „Inneren Emigration“ folgt, die nach dem Ende des Dritten Reiches eilig – und mit genau solchen formalen und semantischen Rückgriffen – die Kontinuität des christlichen Abendlands beschwören, als sei nichts geschehen, als sei die NSZeit nur eine schlimme Episode in einer im übrigen guten und sinnvollen Geschichte der Menschheit im allgemeinen und der Deutschen im besonderen. Werner Bergengruen etwa – gewiss einer der entschieden nicht-faschistischen Schriftsteller, die in Deutschland geblieben waren – dichtete um dieselbe Zeit und über dieselbe Zeit, wohlmeinend und doch peinlich verfehlt: „und meine Ohren hörten nichts als Lobgesang“. Zu lesen war das in einem Buch mit dem eigentlich unfassbaren Titel Die heile Welt. Ganz anders Ricarda Huch in ihrem demonstrativen lyrischen Rückbezug auf Christentum und Antike. Gleich in den ersten ihrer hoch pathetischen griechischen Verse

14 stellt sie das Sterben derjenigen griechischen Helden, die traditionellerweise in ebensolchen Versen besungen wurden, dem schmählichen Tod der Naziopfer gegenüber: „Meine Helden, geliebte, ihr littet schwerer als jener [der griechische Heros], / Schmachvoll, gemartert, verhöhnt, von keinem Freunde getröstet.“ Und dann spricht sie aus, was die meisten ihrer Kollegen aus der „Inneren Emigration“ gerade jetzt auf keinen Fall hören wollten: dass nämlich die Einsamkeit und Trostlosigkeit des Widerstands eine Folge der Passivität der Deutschen war: „Ihr, die das Leben gabt für Volkes Freiheit und Ehre, / Nicht erhob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten.“ Sich selbst nimmt sie dabei nicht aus: „Ach, wo seid ihr, dass wir eure Wunden mit Tränen der Reue / Waschen und eure bleichen Stirnen mit Lorbeer krönen!“ In einem sehr anderen Ton, aber in der Sache ähnlich hat Thomas Mann das um dieselbe Zeit in seinen aus Amerika gesandten Radiosendungen Deutsche Hörer! ausgesprochen, um deretwillen er, der Emigrant, nun so vielen der im Lande gebliebenen Schriftsteller als Vaterlandsverräter erschien. „Der dickwandige Folterkeller, zu dem der Hitlerismus Deutschland gemacht hat, ist aufgebrochen“, sagte Thomas Mann im Mai 1945, „und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt ... ‚Unsere Schmach’, deutsche Leser! Denn alles Deutsche, alles was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat, ist von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen.“ Das war ungefähr auch die Position Ricarda Huchs, und auch damit stand sie – abermals gemeinsam mit Thomas Mann – in der deutschen Literatur um 1945 wieder so allein da, wie sie es 1933 getan hatte. „Nicht erhob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten“: Außer Thomas Mann und ihr sagte das so unerbittlich klar eigentlich niemand in der deutschen Literatur. Dass die Kulturpolitiker der Sowjetischen Besatzungszone, vor allem der selbst aus dem Exil zurückgekehrte Dichter und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher, sich mit Nachdruck um diese Dichterin bemühten, ist sehr begreiflich. Gerade sie vertraten ja um diese Zeit eine betont patriotische Auffassung der zu begründenden sozialistischen Demokratie. Ricarda Huch ist ihren Einladungen bei verschiedenen Anlässen gefolgt. Und sie hat auch hier an ihren eigenen Überzeugungen keinen Zweifel gelassen, gleichgültig, von welcher Seite sie dafür Kritik oder Beifall erntete. Sie, die schon 1921 über einen, so hieß der Artikel, „Romantischen Sozialismus“ nachgedacht hatte, wurde nun eingeladen, den neuen thüringischen Landtag zu eröffnen. Das tat sie am 24. Januar 1946 in einer kurzen und bemerkenswerten Rede. Darin spricht sie zunächst, wieder einmal in einer weiten historischen Perspektive, über den Begriff der Demokratie und kommt dann auf die Gegenwart und unmittelbare Zukunft

15 zu sprechen (und vergisst auch nicht, als erste Leistung der neuen Ordnung hervorzuheben, „dass sie die bisher ausgeschlossene Hälfte der Bevölkerung, in manchen Punkten vielleicht die beste, nämlich die Frauen, mit einbezieht“). Was sie dann sagte, war in jeder Richtung unmissverständlich: „Demokratie ist eine Sache der Gesinnung. Sie mag noch so sorgsam formal abgewogen sein, sie wird sich nie als Volksfreiheit – und das soll sie ja sein – ausprägen, wenn nicht das Rechtsgefühl und das Verantwortungsgefühl im Volke lebendig ist, damit verbunden ein Selbstbewusstsein, das jedem einen festen Stand gibt und ihn verhindert, mitunter Willkür und totalitären Staatsansprüchen zu folgen. Dass diese Eigenschaften nicht genügend unter den Deutschen vorhanden waren, erklärt, wenigstens zum Teil, die Katastrophe, die wir erlebt haben. … Wir befinden uns in dieser Versammlung auf der Schwelle der neuen Demokratie. Sie ist ein Zeichen, dass wir keine autoritäre Regierung haben, sondern eine solche, die in beständiger verpflichtender Berührung mit dem Volke sein will.“ So Ricarda Huch zur Eröffnung des thüringischen Landtags. Noch ein Jahr später, ganz kurz vor ihrem Tod am 17. November 1947, konstatierte sie in ihrer Abschlussrede zum schon vom beginnenden kalten Krieg überschatteten „Ersten Deutschen Schriftstellerkongress“ in Berlin: „Wir sind nicht frei. Dass wir nicht frei sind, ist die Schuld Hitlers und seiner Gefolgschaft.“ Und sie proklamiert, im letzten Satz ihrer Rede, die Verantwortung für den „Aufbau eines neuen Deutschlands“. Es war in mehrfacher Hinsicht ihr letztes Wort. Am 17. November 1947 ist Ricarda Huch, beinahe noch auf dem Weg aus der ihre Hoffnungen enttäuschenden SBZ, in Frankfurt gestorben. Zu Beginn dieses, ihres letzten Jahres hat sie, in einem erst posthum veröffentlichten Gedicht, ihr Verhältnis zu den Nazis, zu den Mitläufern und zu den so rasch wieder aktiv gewordenen Relativierern und Beschönigern ein letztes Mal scharf und unmissverständlich formuliert:

Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest, Sein Geliebtestes fest in den Fängen, Aber Gehasstes gibt es auch, Das er niemals entlässt Bis zum letzten Hauch, Was immer die Jahre verhängen. Es gibt Namen, die beflecken Die Lippen, die sie nennen,

16 Die Erde mag sie nicht decken, Die Flamme mag sie nicht brennen. Der Engel, gesandt, den Verbrecher Mit der Gnade von Gott zu betauen, Wendet sich ab voll Grauen Und wird zum zischenden Rächer. Und hätte Gott selbst so viel Huld, Zu waschen die blutrote Schuld, Bis der Schandfleck verblaßte, – Mein Herz wird hassen, was es haßte, Mein Herz hält fest seine Beute, Daß keiner dran künstle und deute, Daß kein Lügner schminke das Böse, Verfluchtes vom Fluche löse.

Diese Ricarda Huch also ist die Erfinderin der gleichnamigen Schule. Thomas Mann und Anna Seghers haben sie bewundert, Alfred Döblin schrieb als sie starb: „Ihr werdet niemals ihresgleichen sehen.“ Soll niemand meinen, diese Frau habe uns nichts mehr zu sagen.

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