Welt der Wissenschaft: Geschichte der Astronomie
Kepler
und die Geburt einer neuen Astronomie Vor genau 400 Jahren erschien Johannes Keplers Werk »Astronomia Nova«. Es markiert eine geistige Wende, die von der rein geometrischen Betrachtungsweise des kopernikanischen Weltbildes zu einer ursächlich begründeten Theorie der Planetenbewegung führte. Diese grundlegend neue Sicht auf den Kosmos weist Kepler als den wichtigsten Wegbereiter der modernen Himmelsmechanik aus. Von Volker Bialas
N
eben
herausragenden
Kopernikus (1473 – 1543) als den großen
wissenschaftlichen Arbeiten
Astronomen, der im Übergang vom Spät-
Galileo Galileis, die einen as-
mittelalter zur Neuzeit in seinem 1543
tronomischen Höhepunkt in
erschienenen Werk »De Revolutionibus
seinen teleskopischen Himmelsbeobach-
orbium coelestium libri sex« ein neues
tungen erreichten, soll im Internationalen
Modell unseres Planetensystems mit der
beließ es nicht dabei, die Sonne als
Jahr der Astronomie 2009 auch das theore-
Sonne im Zentrum und mit der bewegten
Mittelpunkt der Welt zu betrach
tische Werk Johannes Keplers angemessen
Erde als Planeten vorlegte und dadurch
ten, sondern suchte nach den Ur
gewürdigt werden. Die von ihm verfasste,
schwerwiegende
sachen wirkender astronomischer
im Jahr 1609 erschienene »Astronomia
schütterungen auslöste (siehe Bild auf
Phänomene.
Nova« ist eines der wichtigsten Werke der
Seite 44 oben).
In Kürze ó Johannes Kepler (1571 – 1630) ist mehr als nur der Vollender des kopernikanischen Weltbilds: Er
ó Mit seinem Werk »Astronomia
den
Er-
theoretischen Astronomie der Neuzeit. Da
Um die »Astronomia Nova« als weiter-
Nova« betrat Kepler astronomi
Kepler sein Thema hier auf recht kompli-
entwicklung dieser Weltsicht verstehen zu
sches Neuland, indem er von einer
zierte Weise darstellt, nahmen die Wissen-
können, betrachten wir zunächst die Situ-
rein geometrischen Beschreibung
schaftler das Buch damals wie heute mehr
ation, von der Kepler ausging.
der Planetenbewegung zum Ver
rühmend zur Kenntnis, anstatt es detail-
ständnis von den durch physika
liert zu lesen. Zwar erkennen sie an, dass
Die Astronomie vor Kepler
lische Kräfte bewegten Planeten
Kepler einen neuen Weg einschlug, um die
Das Weltbild, das Kepler vorfand, war die
überleitete.
theoretische Astronomie mit der Physik
von Kopernikus vertretene heliozentrische
zu verbinden. Jedoch betrachten sie ihn
Sicht des Kosmos. Hiermit wollte Koperni-
beabsichtigte Kepler nicht, ein
zumeist nur als Vollender der kopernika-
kus keine neue Astronomie konzipieren,
mechanistisches Bild der Welt
nischen Astronomie, dem sie – anders als
sondern das vorptolemäische Weltbild
zu schaffen. Das Formprinzip der
Galilei – einen vorwärts weisenden Impuls
wieder herstellen, wie es bereits in der
Welt erkannte er vielmehr in ihrer
für die weitere Entwicklung der Naturwis-
Antike vertreten wurde: Aristoteles postu-
ästhetischen Vollkommenheit.
senschaften nicht ohne weiteres zubilli-
lierte die gleichförmige Kreisbewegung
gen.
der Gestirne, und nach Aristarchos von
ó Mit seiner »Himmelsphysik«
Demgemäß sprechen Wissenschaftshistoriker heute eher von einer »ko-
42
weltanschauliche
Dezember 2009
Samos bewegte sich die Erde kreisförmig um die ruhende Sonne.
pernikanischen Wende« als von einer
Aus der Sicht von Kopernikus hatte die
»keplerschen Wende«. Seit mehr als vier
spätantike Astronomie das Prinzip der
Jahrhunderten würdigen sie Nikolaus
gleichförmigen Kreisbewegung verletzt, Sterne und Weltraum
Sebastian Voltmer, www.weltraum.com
Genaue Positionsmessungen des Planeten Mars durch Tycho Brahe
Damit Schüler aktiv
ermöglichten es Johannes Kepler,
mit den Inhalten dieses
die Gesetze der Planetenbewe-
Beitrags arbeiten können,
gung zu entdecken. Noch heute, lange nachdem das Rätsel gelöst ist, bleibt der Rote Planet ein
stehen auf unserer Internetseite www.wissenschaft-schulen.de kostenlos didaktische Materialien zur Verfügung. Hierbei geht es um einfache Möglichkeiten, Schülern die keplerschen
Anziehungspunkt am Himmel,
Gesetze näher zu bringen. Unser Projekt »Wissenschaft in die Schulen!« führen wir
wie diese Bildserie der Opposi
in Zusammenarbeit mit der Landesakademie für Lehrerfortbildung in Bad Wildbad
tionsschleife aus den Jahren 2007
durch. Es wird von der Klaus Tschira Stiftung gGmbH großzügig gefördert.
und 2008 beweist.
www.astronomie-heute.de
Dezember 2009
43
Archiv der Kepler-Kommission München
Das von Nikolaus
Bedeutungsvoll wurden vielmehr die
Kopernikus im Jahr
erkenntnistheoretischen
1543 veröffentlichte
rungen, die astronomischen Phänomene
Weltsystem enthält
auf ihre wirkenden Ursachen hin zu be-
die Planeten von
fragen. Vor allem in dieser Hinsicht betrat
Merkur bis Saturn,
Kepler wissenschaftliches Neuland, und er
mit der Sonne im
war es nun, der die weitere Richtung der
Zentrum. Der
astronomischen Forschung bestimmte. In-
äußerste Kreis stellt
sofern ist Kepler nicht einfach der bedeu-
die als unbeweglich
tendste Vertreter der kopernikanischen
betrachtete Sphäre
Lehre und in mathematischer Hinsicht
der Fixsterne dar,
ihr Vollender, sondern der Schöpfer einer
die das Sonnensy-
prinzipiell neuen Astronomie. Die dorthin
stem umschließt.
führende Entwicklung, die mit Keplers Ju-
Schlussfolge-
gendwerk »Mysterium cosmographicum« (Weltgeheimnis) begann und später zur »Astronomia Nova« führte, werden wir im Folgenden näher betrachten.
Keplers Übergang zum strengen Heliozentrismus Bereits an der Universität Tübingen führte indem sie einen Ausgleichspunkt (latei-
Abwehrmaßnahmen der alten Kirche zur
der Mathematiker und Astronom Michael
nisch: punctum aequans) einführte, von
»Reinhaltung der katholischen Lehre«,
Mästlin (1550 – 1631) seinen Schüler Kep-
dem aus die Planetenbewegung gleichför-
kam die weltanschauliche Brisanz des
ler in die Astronomie des Kopernikus ein.
mig erscheint (siehe Skizze unten und auf
neuen Weltverständnisses, besonders in
Kepler schrieb dort unter anderem eine
Seite 51).
dem Verbot der Lehre des Kopernikus im
Disputation über die Bewegung der Erde.
Zur Lebenszeit Keplers (1571 – 1630)
Jahr 1616 und in der Verurteilung Galileis
Von dieser Schrift ist nur ein Fragment er-
war die Astronomie eine der führenden
1633, immer deutlicher zum Ausdruck.
halten (KGW 20.1, 147 – 149). Hatte Kepler
Wissenschaften und ebenso bedeutungs-
Am Wendepunkt der neuen Epoche be-
hier nur wenig mehr getan, als Kopernikus
voll für das Welt- und Seinsverständnis.
rührten und überlagerten sich Ereignisse
in einigen Aussagen zu paraphrasieren,
Sie lieferte nicht nur die Basisdaten für
und Faktoren gesellschaftlicher, wissen-
so gelang es ihm bereits in seinem 1596
die Astrologie, sondern stützte mittels der
schaftlicher und weltanschaulicher Art
erschienenen Werk »Mysterium cosmo-
aristotelisch-ptolemäischen Kosmologie
(siehe Infokasten rechts). Eine neue Denk-
graphicum«, in astronomischer Hinsicht
auch die scholastische Philosophie. Nach
weise wurde bestimmend, die Kepler darin
über Kopernikus hinauszugehen. Drei
aristotelisch-scholastischer
Auffassung
sah, »vom Sein der Dinge zu den Ursachen
Fragestellungen erlangten für Keplers
war die Welt in zwei Bereiche unterteilt:
ihres Seins und Werdens vorzudringen,
Umdeutung der Kosmologie eine beson-
in einen supralunaren Bereich ewig um-
wenn auch kein Nutzen darin besteht«
dere Bedeutung: das Zentrumsproblem,
laufender himmlischer Sphären, der sich
(zitiert nach: KGW – Kepler Gesammelte
das Bewegungsproblem und das Endlich-
geometrisch-kinematisch durch gleichför-
Werke, Band 1, Seite 6).
keitsproblem. Sie sollen wichtige Bezugs-
mige Kreisbewegungen darstellen lassen
Entscheidend für die Entwicklung der
sollte, und in einen sublunaren Bereich
Astronomie war nicht einfach, dass Koper-
Im Zusammenhang mit der koperni-
irdischer Vergänglichkeit. Die Erde nahm
nikus das Planetensystem umdeutete und
kanischen Lehre spielt das Zentrumspro-
man als Mitte des göttlichen Schöpfungs-
die Plätze von Erde und Sonne vertauschte.
blem eine wesentliche Rolle. Im System
punkte der folgenden Darstellung sein.
werks an, astronomisch betrachtete man sie als geometrischen und ruhenden Mittelpunkt des vom sphärisch gedachten Sternenhimmel umschlossenen Planeten-
Nach Kopernikus bewegt sich ein Planet auf
systems.
einem Bahnkreis mit dem Zentrum B und in bezug auf die mittlere Sonne A, dem
Im Unterschied dazu betrachteten die Zentrum der Welt. Diese Sichtweise war anfangs in erster Linie für die numerische Astronomie von Interesse: Die Gelehrten akzeptierten sie als Hypothese für die Berechnung
der
Planetenpositionen.
Erst vor dem Hintergrund der unruhigen Zeitereignisse, vor allem infolge der konfessionellen Streitigkeiten und der
44
Dezember 2009
Zentrum der Erdbahn. D ist die wahre
C
Sonne, C der von Kepler zunächst übernom-
D B
A
mene ptolemäische »Ausgleichspunkt« als Volker Bialas/SuW-Grafik
kopernikanischen Lehren die Sonne als
Bezugspunkt der mittleren Bewegung des Planeten. Die Apsidenlinie CBA wird von Kepler so gedreht, dass sie in Richtung BD durch die wahre Sonne läuft. Darauf werden dann die Positionen des Planeten bezogen. Sterne und Weltraum
des Aristotelismus hängt die Annahme naturphilosophischen Lehre von den natürlichen Orten der antiken Elemente zusammen. Dementsprechend ist die Erde geometrisches Zentrum im Sphärenauf-
Keplers Leben in konfliktreicher Zeit
D
ie Lebenszeit Johannes Keplers (1571 – 1630) fällt in eine unruhige
Periode schwerer politischer Konflikte
bau des Kosmos und zugleich unterster
und großer geistiger Auseinanderset
Ort in seiner hierarchischen Struktur.
zungen. Nach dem Jahr 1600 erreichten
Allerdings fällt noch bei Kopernikus das
die konfessionellen Streitigkeiten des
Weltzentrum in einen masselosen Punkt
Christentums ein bis dahin nicht ge
ohne jede physikalische Bedeutung, näm-
kanntes Ausmaß. Eine religiös-politische
lich in den Mittelpunkt der Erdbahn, der
Verwirrung machte sich breit, aus der
nicht Mittelpunkt der Sonne ist. Daran
schließlich der Dreißigjährige Krieg mit
setzte die Kritik Keplers an, der das Zent
seinen katastrophalen sozialen und
rum des Systems in die wahre Sonne legte
kulturellen Folgen für Mitteleuropa
und den Zentralkörper als wesentlich für
resultierte.
die astronomische wie auch für die physi-
Archiv der Kepler-Komission München
der zentralen Stellung der Erde mit der
Kepler stammte aus einer angese henen, später verarmten Familie, so
kalische Problemstellung begriff. Bereits im »Mysterium cosmographi-
dass er in seiner Jugendzeit auf die
cum« verlegt Kepler den Weltmittelpunkt
Gewährung von Stipendien angewiesen
vom Mittelpunkt der Erdbahn, der mittle-
war. Das Bildungssystem in Württem
Das einzige von Johannes Kepler selbst
ren Sonne, in die wahre Sonne, aber hier
berg, das auch Minderbemittelten eine
autorisierte Porträt erschien 1627 als
noch ohne empirischen Nachweis und
qualifizierte schulische und universitäre
Teil des Frontispiz seiner Rudolfinischen
in spekulativer Weise. Er ist von der Idee
Ausbildung ermöglichte, war ein beson
Tafeln. Auf die Tischdecke geschriebene
erfüllt, dass der Schöpfer alle Dinge nach
ders günstiger Umstand seiner Zeit. Der
Zahlen drücken den Mangel an Geld zur
Maß und Zahl geschaffen habe (siehe SuW
im Unterricht angehaltene universitäre
Finanzierung des Papiers aus. Den Druck
10/2009, S. 42 ff.). Diesem Motiv folgend,
Bildungskanon der mathematischen und
des Werks ermöglichte der Kaiser
sinnt Kepler den Strukturen der Kosmo-
philologischen sieben »freien Künste«
Rudolf II. Seine Zuwendung symbolisie-
logie gewissermaßen im Geiste Gottes
vermittelte auch Kepler eine umfas
ren herabgefallene Geldstücke, die auf
nach (KGW 13, 48): Was ist die Welt, aus
sende Allgemeinbildung mit klassisch-
dem Tisch verstreut liegen.
welchem Grund, nach welchem Plan ist
humanistischen Inhalten und eine solide
sie von Gott erschaffen? Woher nahm er
mathematische Ausbildung, ehe er mit
Zahlen, woher die Norm für seine gewal-
dem Studium der lutherischen Theologie
durch den Dreißigjährigen Krieg führte
tige Schöpfung? Woher die Sechszahl der
begann, das er später jedoch abbrach.
er ein unruhiges Leben mit wechselnden
Planeten, woher die Intervalle zwischen
Trotz seiner zahlreichen herausragenden
Anstellungen im Herrschaftsbereich der
ihren Bahnen?
naturwissenschaftlichen Werke erhielt
Habsburger.
Für Kepler ist die Welt nach Archetypen
Kepler während seines arbeitsreichen
In dieser Zeit des beschwerlichen und
geschaffen, nach Urbildern, die Gott im
Lebens nie einen Ruf an eine Universität
gefahrvollen Reisens, in der sich eine
Schöpfungsprozess aus sich herausgesetzt
und musste sein Brot in zumeist schlecht
wissenschaftliche Gemeinschaft erst all
hat und die in die menschliche Seele ein-
bezahlten Anstellungen bei der feudalen
mählich herauszubilden begann, war für
gepflanzt sind. Im Vorgang der mensch-
Obrigkeit verdienen. Infolge der konfes
Kepler die wissenschaftliche Korrespon
lichen Erkenntnis werden die Archetypen
sionellen Streitigkeiten in Reformation
denz oft das einzige Kommunikations
für den menschlichen Geist aktiviert, der
und Gegenreformation sowie bedingt
mittel mit den wenigen Fachkollegen.
mathematische Dinge aufgefasst werden,
Dieser Ansatz führt ihn schließlich zu
Planetenabstände von der Sonne angege-
die Gott von Ewigkeit her in sich trug, ist
den fünf regulären oder platonischen Kör-
prinzipiell das Mathematische der Grund
pern, die er nun gedanklich zwischen die
Das 1596 veröffentlichte »Mysterium
für das Naturhafte (KGW 8, 62).
sechs hier als Sphären angenommenen
cosmographicum«, in dem Kepler bereits
Planetenbahnen
sie mit der Realität vergleicht und dort wiederfindet. Indem diese Archetypen als
wird
das kopernikanische Modell korrigiert
Fragen
eine Planetensphäre einem Körper um-
hatte, machte seinen Namen in der astro-
zur Kosmologie gewinnt Kepler im »My-
schrieben, die Außenfläche der folgenden
nomischen Fachwelt bekannt. Tycho Brahe
sterium cosmographicum« aus der geo-
inneren Sphäre dem Körper einbeschrie-
(1546 – 1601), der bedeutendste Astronom
metrischen Betrachtung der aufeinander
ben. In dieser berühmten Konstruktion
um 1600, kritisierte jedoch zurecht den
folgenden, im Tierkreis in Dreiecksform
fand Kepler für die Dimensionen der
fehlenden empirischen Nachweis des von
angeordneten großen Konjunktionen von
jeweils zwischen zwei Planetensphären
Kepler dargelegten Weltmodells. Diesen
Saturn und Jupiter, also aus einer spezi-
eingeschalteten Körper gerade die Zah-
erbrachte Kepler 1609 in der »Astronomia
fisch astronomischen Problemstellung
lenverhältnisse, die ungefähr mit denen
Nova«, in dem er Beobachtungsdaten der
seiner Zeit (siehe Infokasten auf Seite 46).
übereinstimmten, die Kopernikus für die
mittlere Oppositionen des Mars in wahre
Die Beantwortung seiner metaphysisch-theologisch
formulierten
www.astronomie-heute.de
schaltet.
Dabei
ben hatte.
Dezember 2009
45
Keplers »Mysterium cosmographicum«
E
inen Ausgangspunkt für das von Kepler im »Mysterium cosmographicum« dargelegte Weltmodell bildete seine
Untersuchung der »Großen Konjunktionen« von Jupiter und Saturn. Diese Begegnungen, die sich im Abstand von rund 20 Jahren ereignen, stellte er in der unten gezeigten Skizze dar. Die Abschnitte am Rand des Kreises entsprechen den Tierkreiszei chen, fortlaufende Nummern bezeichnen aufeinanderfolgende Große Konjunktionen. Ihre Positionen im Tierkreis sind durch Linien verbunden. Insgesamt ergeben sich 40 Positionen, die sich nach rund 40 x 20 = 800 Jahren wiederholen. Das hier sichtbare regelmäßige Muster führte Kepler zu der Überzeugung, dass der Kosmos geometrisch geordnet sein müsse. Diese Idee baute er Archiv der Kepler-Kommission München
zu dem rechts dargestellten Modell des Sonnensystems aus.
Hierin ordnete Kepler den Bahnen der damals sechs be Kepler Gesammelte Werke, München 1937
kannten Planeten Sphären zu, deren gemeinsames Zentrum dem Ort der mittleren Sonne entsprach. Den fünf Zwischen räumen der Sphären beschrieb er von außen nach innen die regulären Körper ein: Würfel, Tetraeder, Dodekaeder, Ikosaeder und Oktaeder. Das so erhaltene Modell gab die ungefähren Abstandsverhältnisse der Planetenbahnen wieder. Die unbefrie digende Genauigkeit des Modells bestärkte Kepler darin, nicht die mittlere Sonne, sondern die wahre Sonne als Zentrum des Planetensystems zu betrachten.
Oppositionen überführte. Bevor wir die-
Vorgehen während der nächsten Jahre.
Hauptwerk »Astronomia Nova« aus, darf
sen Zusammenhang näher betrachten,
Traditionell verstanden die Wissenschaft-
nicht gegen physikalische Prinzipien ver-
blicken wir zunächst auf die Faktoren, die
ler unter dem Begriff einer Hypothese
stoßen. So spielt in der darin vorgelegten
Kepler bei der Niederschrift der »Astrono-
die oft einander widersprechenden An-
neuen Theorie der Planetenbewegung
mia Nova« beeinflussten.
nahmen, mit denen sie ihre Ableitungen
ihre
begründeten. Kepler bezog den Begriff auf
wesentliche Rolle, und daher erhielt das
das in der Natur selbst gegebene Reale:
Werk den Untertitel »physica coelestis«
Eine Hypothese beschreibt nach Kepler
(Himmelsphysik).
Von der bewegenden Seele zur wirkenden Kraft
physikalische
Begründung
eine
Bedingt durch die sich verschärfenden
das, was wahr und der Welt gemäß ist –
Eine Hypothese soll sowohl die Berech-
Maßnahmen der Gegenreformation durch
wahr im gegenständlich-physikalischen
nung der Planetenörter innerhalb der
den neuen Erzherzog Ferdinand muss-
Sinne, also real aufgefasst.
Beobachtungsgenauigkeit des Planeten
te Kepler Graz verlassen und ging nach
In den Jahren 1601 bis 1605 gelang
gewährleisten, als auch das physikalische,
Prag zu Tycho Brahe. Noch zu Lebzeiten
Kepler in seinen theoretischen Untersu-
mit der Wirklichkeit übereinstimmende
Brahes verfasste er um die Jahreswende
chungen der Planetenbewegung anhand
Bahnmodell vorlegen. Es ist daher ganz
1600/1601 im Auftrag des dänischen As-
des Mars der entscheidende Durchbruch
folgerichtig, wenn Kepler für seine geo-
tronomen eine Abhandlung über astrono-
zu einer neuen Astronomie. Dabei spielte
metrisch-numerischen
mische Hypothesen. Sie blieb bis zur Mitte
sein
funda-
und Ableitungen immer wieder nach phy-
des 19. Jahrhunderts unveröffentlicht und
mentale Rolle, und hier nun im Zusam-
sikalischen Entsprechungen suchte und
erhielt später den Titel »Apologia« (KGW
menhang des zweiten oben genannten
wenn er das Bewegungsproblem als ein
20, 17 – 82).
astronomischen Hauptproblems, des »Be-
physikalisches Problem auffasste.
Hypothesenbegriff
eine
Berechnungen
Überlegungen aus dieser Arbeit be-
wegungsproblems«. Eine astronomische
Im Unterschied dazu hatte Kopernikus
stimmten Keplers eigenes methodisches
Hypothese, so führt Kepler in seinem
noch an dem antiken Axiom der vollkom-
46
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Dezember 2009
47
In seinem astronomischen Hauptwerk
aktuell ergreift und mit sich reißt. Sie
»Astronomia Nova« begründet Kepler auf
führt den Planeten im Kreis herum, al-
empirischer Grundlage von genauen
lerdings ohne dass dieser die gesamte be-
Mars- und Sonnenbeobachtungen Tycho
wegende Kraft unmittelbar übernimmt.
Brahes eine neue Theorie der Planetenbe-
Vielmehr wird die Kreisbewegung infolge
wegung mit den ersten beiden keplerschen
des Beharrungsvermögens des Planeten-
Gesetzen.
körpers in Abhängigkeit von der Entfernung zum Kraftzentrum verzögert.
NASA / Foto: David Koch
Um physikalisch zu begründen, wie Himmelskörper als beseelte Weltkörper
die elliptische Bewegung entsteht, knüpft
das Bewegungsprinzip in sich tragen. Bald
Kepler an die Lehre des Magnetismus an
benötigte er aber weitere Prinzipien. In
und erklärt sie aus der Wirkung der ma-
ersten Ansätzen seiner Bewegungslehre
gnetischen Kräfte zwischen Sonne und
beeinflusste ihn besonders die von dem
Planet. Während der Sonnenkörper kreis-
italienischen Naturphilosophen Julius
förmige magnetische Fibern besitzen
Caesar Scaliger (1484 – 1558) vertretene
soll, denkt er sich den Planetenkörper aus
Lehre von den bewegenden Geistkräften
magnetischen Fibern zusammengesetzt
(lateinisch: intelligentiae) für die Bewe-
(KGW 3, 246). Diese werden in nahezu
gung der Bahnkreise.
derselben Richtung parallel im Raum ge-
Zunächst lässt Kepler die Sonne durch
halten. Die Wechselwirkung der magne-
ihre »bewegende Seele« sich auf ihrem
tischen Polarisierung des Planetenkör-
Platz drehen. Sie rotiert also um ihre Ach-
pers mit der Direktionskraft der Sonne
se, erfasst mit dem dabei entstehenden
führt zu einer schwankenden Bewegung,
Wirbel den Planeten und führt ihn mit
die von der magnetischen Kraft besorgt
menen Kreisbewegung der Gestirne und
sich herum. Um voll wirksam zu werden,
wird.
somit an der pythagoreisch-platonischen
bedarf sie dabei noch des besonderen see-
In der näheren physikalischen Begrün-
Tradition festgehalten. Für ihn war die
lischen Vermögens des Planeten. In seiner
dung seiner Planetenastronomie nahm
Kreisbewegung der Planetenbahnen ohne
»Astronomia Nova« überführte Kepler die
Kepler so zwei einander ergänzende
nähere Begründung einfach gegeben.
Annahme derartiger seelisch-geistiger
Bewegungsprinzipien an: Zum einen
Zwar legte er die Mittelpunktstellung
Entitäten in seine Himmelsphysik und
den aus der Rotation des Sonnenkörpers
der Sonne zugrunde, maß ihr aber keine
baute dazu noch andere physikalische
hervorgehenden und in die ganze Welt
physikalische Bedeutung bei. Die mittel-
Elemente in seine komplexe Darstellung
ausstrahlenden Strom der immateriellen
alterliche, vor allem an Aristoteles an-
ein. Er schließt an die spätmittelalterliche
Spezies, der nun an die Stelle des aristo-
knüpfende Naturphilosophie erklärt die
Spezies-Lehre an und gewinnt ebenso
telischen ersten Bewegers getreten ist;
Bewegung der Himmelskörper noch nicht
wichtige Anregungen aus der Lehre vom
zum anderen die magnetische Ausrich-
nach mechanischen Prinzipien. Stattdessen wird eine von außen wirkende Ursache angenommen, gemäß dem Hauptsatz der
aristotelischen
Um die elliptische Planetenbewegung zu begründen, knüpfte Kepler an die Lehre des Magnetismus an.
Bewegungslehre:
»Alles, was sich bewegt, wird von etwas
Magnetismus
Natur-
tung des Planetenkörpers infolge seiner
anderem bewegt« (lateinisch: Omne quod
forschers William Gilbert (1544 – 1603).
Wechselwirkung mit dem Magnetfeld
movetur, ab aliquo movetur). Reale Kugel-
Dieser Übergang von animistischen zu
des Sonnenkörpers. Kepler nimmt also
schalen gelten als physische Träger der
mechanistischen Vorstellungen mit der
für den Planeten eine eigene Kraft an, die
Himmelskörper, die eines äußeren Bewe-
weiteren Ausarbeitung seiner Himmels-
diesen »gleichsam wie einen sich im rei-
gers bedürfen, sei es in der Annahme des
physik läuft schließlich darauf hinaus,
ßenden Wirbel der Sonnenspezies bewe-
aristotelischen unbewegten Erstbewegers
dass Kepler den Begriff der bewegenden
genden Nachen in die Lage versetzt, sich
(lateinisch: primum mobile), der das ge-
Seele durch den der wirkenden Kraft
durch den geeigneten Gebrauch seines
samte Universum wie auch die einzelnen
ersetzt (KGW 3, 113) und er zu einigen be-
Steuerruders den Weg von Ort zu Ort zu
Sphären führt, oder sei es in der mittel-
merkenswerten physikalischen Axiomen
bahnen« (KGW 3, 349).
alterlichen Vorstellung von bewegenden
vorstoßen kann.
Geistwesen.
des
englischen
Für die Entstehung der Kreisbewegung
Die primäre Quelle der die Planeten
eines Planeten nahm Kepler die kreisför-
Kepler setzte sich intensiv mit der
bewegenden Kraft liegt in der Sonne, die
mig gedrehte species immateriata an. Um
scholastischen Naturphilosophie ausei-
zwar an ihrem Ort verharrt, sich aber wie
eine elliptische Bewegung zu beschrie-
nander, um aus der Kritik daran und unter
in einer Drehbank dreht und dabei einen
ben, benötigt Kepler zudem die Hypothe-
Zuhilfenahme verschiedener Erklärungs-
feinstofflichen Materiestrom aussendet,
se der magnetischen Anziehung, welche
prinzipien seine eigene Bewegungslehre
wodurch ein Wirbel zustande kommt. Die
die Kreisbahn seitlich »verbiegt«. Erst
zu entwickeln (KGW 20.2). Er stimmte
species immateriata ist die dem Licht ähn-
auf diese Weise lässt sich gedanklich die
anfangs noch der naturphilosophischen
liche, im Kreis herumwirbelnde Trägerin
transversale, in Richtung der Tangente in
Lehre der Spätrenaissance zu, dass die
einer Kraft oder Energie, die den Planeten
einem Punkt der Bahnkurve erfolgende
48
Dezember 2009
Sterne und Weltraum
Bewegung des Planeten zur elliptischen
Begrifflichkeit anlehnt (KGW 3, 24). Die
he in Prag hatte Kepler die Bearbeitung
Bewegung umbiegen.
Gravitation der Sonne bewirkt, dass sich
der Theorie der Marsbahn übernommen,
Welches Bild stellt sich nun für Kep-
der Planet entlang seiner Bahn mit einer
um die sich bis dahin Brahes Assistent aus
lers Himmelsphysik dar? Von der scho-
Geschwindigkeit bewegt, die von seiner
Dänemark, Christian Severin (1562 – 1647),
lastischen Naturphilosophie grenzt er
momentanen Entfernung zum Zentral-
vergeblich bemühte. Für den Mars lagen
sich deutlich ab, indem er die neuen
körper abhängt, während die Gezeiten der
vorzügliche Beobachtungen Brahes vor.
Fragestellungen entweder noch in der
Meere durch die Anziehung des Mondes
Die Wahl von Mars als Musterbeispiel der
traditionellen Terminologie oder bereits
erklärt werden.
Planeten erwies sich für Kepler als ein
in einer neuen Begrifflichkeit formuliert.
Hier wiederum wird die traditionelle
Glücksfall, weil die Marsbahn mit ihrer
Dabei bedient er sich bekannter physika-
Auffassung von der Trennung irdischer
relativ großen Exzentrizität – abgesehen
lischer Phänomene, die er analog auf die
und
Bewegungsvorgänge
vom Merkur, für den weniger genaue Be-
Mechanik der planetarischen Bewegungs-
durchbrochen. Demnach würden sich
obachtungen vorlagen – am deutlichsten
verhältnisse bezieht. Zugleich bemüht er
auch Erde und Mond, wären sie durch
von einer Kreisbahn abweicht.
sich schrittweise, den Schwerebegriff zu
spezifische Kräfte nicht in ihren Bahnen
Bei seinen Überlegungen folgte Kepler
konkretisieren. In der »Astronomia Nova«
gleichsam festgehalten, aufeinander zu
zunächst einem ptolemäischen, allerdings
und in seinem von 1618 bis 1621 ver-
bewegen, wie sich auch zwei Steine au-
heliozentrisch transformierten Bahnmo-
fassten Lehrbuch »Epitome astronomiae
ßerhalb des Kraftbereichs eines dritten
dell, bei dem zur Darstellung der gleich-
Copernicanae« finden sich vielfältige
Körpers an einem dazwischen liegenden
förmigen Kreisbewegung des Planeten
methodische Ansätze. Diese führten ihn
Ort vereinigen würden. Dabei ist die von
neben dem exzentrischen Bahnkreis
dazu, seine physikalische Begründung der
einem
Strecke
ein zweiter Kreis, der Ausgleichskreis,
Astronomie zu präzisieren und damit eine
jeweils der Masse des anderen Körpers
angenommen wird, dessen Zentrum der
frühe Himmelsmechanik zu skizzieren –
proportional. Gegen Ende seines Lebens
Ausgleichspunkt (lateinisch: punctum ae-
rund ein halbes Jahrhundert vor Newton.
präzisierte Kepler in einer Ergänzung zu
quans) ist. Für Kepler stellte sich hier die
Für Kepler stellt der natürliche Ort
seinem »Somnium« (Traum vom Mond)
Aufgabe, die gegenseitige Lage der drei
eines Körpers nicht die Ursache dafür
diese Vorstellung und betrachtete die
Punkte Exzentrum, Zentrum, Ausgleichs-
dar, dass dieser nach seinem Entfernen
Schwere als die wechselseitige Anziehung
punkt sowie die gegenseitigen Abstände
zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Ein
zweier Körper.
dieser Punkte zu bestimmen (siehe Bild
senkrecht in die Höhe geschleuderter
himmlischer
Körper
zurückgelegte
auf Seite 44 unten).
durch eine analog-magnetische Kraft mit
Die Erforschung der wahren Planetenbahn
der Erde gleichsam verkettet ist, so als ob
Die dynamischen Eigenschaften der Pla-
sterium cosmographicum«, wie sich die
sie ihn berühren würde. Die Gliederung
netenbewegung lassen sich mit den bei-
Bewegungsverhältnisse in diesem Modell
des Raums in oben und unten ist nur in
den ersten keplerschen Gesetzen adäquat
ändern, wenn der Ausgleichspunkt in
Bezug auf die wirkende Schwere sinn-
beschreiben. Kepler leitete sie in der »As-
die Verbindungsgerade zwischen dem
voll, eben nur dann, wenn der Raum von
tronomia Nova« (1609) innerhalb einer
Zentrum der Marsbahn und der wahren
ausgedehnten Körpern ausgefüllt ist. Die
physikalisch zu begründenden Astrono-
Sonne fällt. Dadurch verlor ja die mittlere
Schwere ist also eine besondere Eigen-
mie her, jedoch formulierte er sie nicht als
Sonne die Bedeutung, die ihr Kopernikus
schaft der Materie, und zwar die »unmit-
abstrakte Gesetze. Heute lassen sich die
als Weltzentrum zugewiesen hatte.
telbare Begleiterin des Stoffes (der Masse)
Gesetze in einfacher Form wiedergeben
eines Körpers« (KGW 20.1, 173).
(Bild unten).
Stein kehrt an seinen Ort zurück, weil er
Dabei untersuchte er, anknüpfend an seine früheren Überlegungen im »My-
Die neue Sichtweise verifizierte Kepler anhand derjenigen Marsoppositionen, bei
Die Schwere, hier schon als universelle
Um das Bewegungsproblem zu erör-
denen sich der Planet in seinem maxima-
Kraft aufgefasst, besteht letztlich in dem
tern, musste Kepler sein Augenmerk auf
len Winkelabstand nördlich oder südlich
»gegenseitigen körperlichen Bestreben
die abzuleitende wahre Bahnkurve und
der Ekliptik befand (siehe Bild auf Seite
zwischen verwandten Körpern nach Ver
damit wieder auf mathematisch-geome-
50 oben). Für diese beiden Fälle ermittelte
einigung
schreibt
trische Zusammenhänge richten. Bereits
Kepler aus den Beobachtungen Tycho
Kepler, wobei er sich an die aristotelische
bei seinem erstem Besuch bei Tycho Bra-
Brahes den Neigungswinkel der Ebene der
oder
Verbindung«,
Planet t4 A2
t3
t1
In der »Astronomia Nova« veröffentlichte Kepler das erste und
A1
zweite Gesetz der Planetenbewegung. Gemäß dem ersten keplerschen Gesetz beschreibt die Bahn eines Planeten eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befindet. Das zweite Gesetz
Sonne F
F
t2 SuW-Grafik
besagt, dass die Verbindungslinie Sonne – Planet innerhalb gleichlanger Zeitspannen t2 – t1 und t5 – t4 gleichgroße Flächen A1 und A2 überstreicht.
www.astronomie-heute.de
Dezember 2009
49
F
D
C
richtig, so müssen die Beobachtungen
A SuW-Grafik
Marsbahn gegen Ekliptik. Ist das Modell für beide Fälle denselben Wert der Bahnneigung ergeben. Die Knotenlinie der
B G
E
Planetenbahn läuft dann durch den Mittelpunkt der wahren Sonne. Bemerkenswert ist, dass ein Großteil
Anhand von Beobachtungen des Mars zum Zeitpunkt seines maximalen und
der Vorarbeiten Keplers zu seiner »Astro-
minimalen Abstands D beziehungsweise E von der Erdbahnebene G – F
nomia Nova« in seinen handschriftlichen
verifizierte Kepler in der »Astronomia Nova« den strengen Heliozentrismus.
Aufzeichnungen
Es seien A die wahre Sonne, B und C zwei Positionen der Erde. Beobachten
unten). Der Leipziger Magister Michael
lassen sich die Winkel FCE und GBD. Ist die heliozentrische Annahme richtig,
Gottlieb Hansch versah sie mit dem Titel
dann müssen die Neigungswinkel GAD und FAE gleichgroß sein.
»Theoria in Commentariam Martis« und
erhalten
blieb
(Bild
ließ sie im Jahr 1712 zu einem rund 900 Folio-Seiten umfassenden Band binden. Der Autor des vorliegenden Beitrags erstellte die erste vollständig edierte und kommentierte Version; sie erschien im Jahr 1998 (KGW 20.2). Die vorliegenden Manuskripte betreffen Keplers Arbeiten der Jahre 1600 bis 1604, sie enthalten jedoch nicht seinen entscheidenden Gedankenschritt, mit dem er die elliptische Planetenbahn ableitete. Ausführliches Material lag Kepler auch für die Untersuchung der Erdbahn vor, die jener der Marsbahn voranging. Die genaue Kenntnis der Parameter der Erdbahn gestattete es ihm, die auf die Erde bezogenen Beobachtungen des Mars in heliozentrische
Planetenpositionen
zu
überführen. Aus ihnen ließen sich die Abstände des Mars von der Sonne gewinnen, aus denen die wahre Form der Marsbahn folgte. Dieses Verfahren erforderte eine Berechnung des aus Sonne, Erde und Mars gebildeten Dreiecks. Der geniale Kunstgriff Keplers bestand hier darin, als festen Bezugspunkt denjenigen exzentrischen Bahnort des Mars zu wählen, zu dem der Planet nach ganzen siderischen Umläufen zurückkehrt, während die Erde nach jedem Umlauf jeweils einen anderen Ort in ihrer Bahn erreicht. Diesen Weg verfolgte Kepler allerdings erst, nachdem er zunächst versucht hatte, aus vier Oppositionen des Mars ein Modell für eine kreisförmige Planetenbahn
Ms. XIV, 137, ediert in: KGW 20.2, 132
zu gewinnen, das ihn zu einer »stellver-
Aus Keplers handschriftlich erhaltenen Vorarbeiten stammt dieser Ausschnitt aus seiner Untersuchung der Marsbahn mit dem später hinzugefügten Titel »Theoria in Commentariam Martis«. In der Figur werden verschiedene von Tycho Brahe beobachtete Stellungen des Mars in Opposition zur wahren Sonne untersucht.
50
Dezember 2009
Sterne und Weltraum
tretenden Hypothese« (Lateinisch: hypo-
Keplers »Stellvertretende Hypothese«
thesis vicaria) führte (siehe Infokasten rechts).
K
Mit den daraus gewonnenen Ergebnissen gelang es ihm, für das zugrunde
epler wählte aus den Beobach
vom Mittelpunkt B. Der Buchstabe
tungen Tycho Brahes die Opposi
C bezeichnet den Ausgleichspunkt
tionen der Jahre 1587, 1591, 1593 und
(lateinisch: punctum aequans), H das
der Planeten innerhalb der Genauigkeit
1595 aus. Unter Zugrundelegung des
Aphel und I das Perihel der Bahn. D, E,
der aus den braheschen Beobachtungen
auf Seite 44 erläuterten ptolemäischen,
F und G bezeichnen vier auf dem Kreis
berechneten Oppositionen von rund zwei
aber heliozentrisch transformierten
verteilte Positionen des Planeten. Unter
Bogenminuten darzustellen. Die Analyse
Bahnmodells gelangte er schließlich zu
der »Exzentrizität« ist in diesem Modell
der Planetenbewegung in ekliptikaler
einer Darstellung des Bahnmodells mit
die Summe der Strecken BA und BC zu
Breite sowie der radialen Abstände führte
Ausgleichspunkt und geteilter Exzen
verstehen. BA wird als Bahnexzentrizität,
Kepler jedoch bald zu der Einsicht, dass
trizität, deren Teilungsverhältnis Kepler
BC als die Exzentrizität des Äquanten
er die wahre Bahnhypothese noch nicht
aber zunächst offen ließ.
bezeichnet. Kepler lässt das Teilungsver
gelegte Bahnmodell die ekliptikale Länge
hältnis BA/BC zunächst offen.
gefunden hatte und sein vorläufiges konnte. Kepler sah sich nun genötigt, die Marsbahn noch genauer auszuloten und zu diesem Zweck zur Untersuchung der Differenz zwischen der heliozentrischen und der geozentrischen Länge des Planeten zurückzukehren. Wiederum berechnete er das aus Mars, Erde und wahrer Sonne gebildete Dreieck, wobei der Mars in einem Verbund von Dreiecken mit unterschiedlichen Erdpositionen ein- und denselben Ort innehat, den er jeweils nach ganzen
Kepler Gesammelte Werke, München 1937/ SuW-Grafik
Bahnmodell eben nur stellvertretend sein
Gegeben sind die Winkel bei C aus
H
F
den Zeitdifferenzen, die Winkel bei A aus den wahren Oppositionen sowie die Strecke AC = AB + BC. Gesucht sind AB und BC sowie die Richtung der Apsiden
C B G
linie IACH in Bezug auf die gegebene Richtung zu einer Marsposition. Es soll also aus vier Oppositionsbeobachtungen
A E
für das angenommene Bahnmodell eine Bahnbestimmung vorgenommen wer den. Da aber, geometrisch gesehen, ein
I
D
Kreis bereits durch drei Punkte festge legt ist, liegt eine Überbestimmung vor, die zu Widersprüchen in den nume
Umläufen einnimmt. Über derartige Triangulationen er-
In Keplers »Stellvertretender Hypo
rischen Ergebnissen führen muss. Kepler
gibt sich eine die Erdbahn betreffende
these« bewegt sich ein Planet auf einem
löste diese schwierige Aufgabe nume
Aufgabenstellung, die Sichtlinien, die
»exzentrischen Kreis«. In ihm befindet
risch durch eine mühevolle fortlaufende
einerseits vom Mars, andererseits von
sich die wahre Sonne im Punkt A, abseits
iterative Rechnung.
der Sonne zu vier Örtern der Erdbahn laufen, zum Schnitt zu bringen. Durch diese vier Punkte lässt sich aber keine
bahn in der Mitte zwischen einem Oval
Es besagt, dass die Verbindungslinie Son-
kreisförmige Bahn legen. Schließlich
und einem exzentrischem Kreis mit Aus-
ne – Planet innerhalb gleichlanger Zeit-
verwarf Kepler die kreisförmige Bahn
gleichskreis und halbierter Exzentrizität
spannen gleichgroße Flächen überstreicht
mit halbierter Exzentrizität (in der Stell-
liegt (KGW 15, 78f.). Aber erst um Ostern
(siehe Bild auf Seite 49).
vertretenden Hypothese: AB = BC) und
des darauf folgenden Jahres konnte er
begründete diesen Schritt damit, dass
die Planetenbahn als Ellipse verifizieren
es in diesem Bahnmodell nicht möglich
(KGW 15, 247).
Die Harmonie der Welt und das dritte Gesetz
Mit seinen in der »Astronomia Nova«
Wenden wir uns nun noch dem dritten
rechnerisch
dargelegten Gesetzen der Planetenbewe-
genannten Problem, dem »Endlichkeits-
darzustellen. Da aber die Halbierung der
gung vollzog Kepler einen prinzipiellen
problem«, zu. Kopernikus hielt an einer
Exzentrizität nachgewiesen und ihre un-
Standortwechsel in der Geschichte der
geschlossenen Welt von endlicher Ausdeh-
gefähre Größe bekannt ist, nimmt er nun
Astronomie: Er führte von der geo
nung fest, er betrachtete die Entfernung
eine ovale Bahnkurve an.
metrischen Betrachtungsweise der Pla
von der Sonne bis zur äußeren Fixstern
Die wahre elliptische Bahnform erhält
netenastronomie zum dynamischen Ver-
sphäre aber als unermesslich groß. Kepler
Kepler schließlich über die weitere Ver-
ständnis eines von physikalischen Kräften
hielt den Kosmos ebenfalls für endlich,
dichtung der Abstände Sonne – Mars nach
ungleichförmig bewegten Planeten. Kep-
vor
unterschiedlichen Verfahren, wobei die
ler leitete hierbei nicht nur zur mathema-
Gründen. Er vermutete, dass sich im Falle
betreffenden Ableitungen und Schluss-
tischen Behandlung nichtkreisförmiger,
einer endlichen Entfernung der Sterne die
folgerungen, wie bereits bemerkt, in den
im Idealfall elliptischer Bahnen der Him-
jährliche Bewegung der Erde um die Son-
Manuskripten nicht vorhanden sind. Im
melskörper über, sondern er stieß auch
ne als perspektivische Verschiebung der
Dezember 1604 teilte Kepler dem frie-
das antike Postulat der Gleichförmigkeit
Sternpositionen widerspiegeln müsste.
sischen Pfarrer und Astronomen David
um. Allerdings kehrte die Gleichförmig-
Heute ist bekannt, dass dieser als Paral-
Fabricius (1564 –1617) in einem Brief seine
keit in dynamischer Deutung in Gestalt
laxe bezeichnete Winkel weniger als eine
Erkenntnis mit, dass die wahre Planeten-
des zweiten keplerschen Gesetzes wieder:
Bogensekunde beträgt. Mit den um das
sei, die Planetenpositionen innerhalb der Beobachtungsgenauigkeit
www.astronomie-heute.de
allem
aus
naturphilosophischen
Dezember 2009
51
Jahr 1600 zur Verfügung stehen Instru-
Versuch, »das Verhältnis der Bewegungen
menten konnten die Astronomen die
zu den Bahnen« zu bestimmen, und ge-
Volker Bialas ist
Parallaxen der Fixsterne noch nicht beob
langte so zu einer ersten quantitativen
Mitherausgeber der
achten – auch nicht mit dem in jener Zeit
Gesammelten Werke
erfundenen Fernrohr, das Galileo Galilei
Bestimmung des dritten Gesetzes (KGW 1, 68 ff.): Bezeichnen U1, U2 die Umlaufs-
ab dem Jahr 1609 für astronomische Beob
zeiten, a1 und a2 die mittleren Abstände
Kepler-Kommission der
achtungen nutzte.
zweier – hier benachbarter – Planeten von
Bayerischen Akademie
In der »Astronomia Nova« spielt das Endlichkeitsproblem praktisch keine Rolle und ist selbst für Keplers Erörterung der »Harmonie der Welt«, die er als »Idee sei-
chung: U1U2
–––––– : U1 a2 : a1 2
das betreffende Werk »Harmonice Mundi«
In seinem Werk »Harmonice Mundi«
(Weltharmonik), das im Jahr 1619 in Linz
erfüllte das dritte Gesetz jedoch nicht un-
erschien, war die Endlichkeit des Kosmos
mittelbar einen astronomischen Zweck,
keine notwendige Bedingung, weil Kepler
sondern ermöglichte es, die Abstände der
darin seine relevanten astronomisch-kos
Planeten von der Sonne über die harmo-
mologischen Schlussfolgerungen über
nischen Verhältnisse der extremen Bewe-
wiegend auf das Planetensystem bezog,
gungen der Planeten neu zu berechnen.
das er hier praktisch mit der Welt (latei-
Der nähere Zweck ist dort die Feinabstim-
nisch: mundus) gleichsetzte.
mung des als harmonisch strukturiert vorgestellten Kosmos.
nie umfasst eine allgemeine Gesetzlich-
Wegen der harmonikalen Bedeutung
keit der Natur, die er sich in Form von be-
legte Kepler diesen Zusammenhang zu-
stimmten geometrischen Proportionen
nächst nicht als astronomisches Gesetz
zwischen den realen Dingen erschließt.
vor. Ein Jahr später, im Jahr 1620, gab er
Keplers wichtigstes Medium war hier ne-
jedoch in der astronomischen Systematik
ben der Geometrie die Musiktheorie, in-
seiner in Linz erschienen »Epitome IV«
dem sich die Proportionen der regulären
eine physikalische, wenn auch spekulative
Kreisteilungen in konsonante Toninter-
Begründung und verifizierte das Gesetz
valle übertragen lassen. In der Astrono-
anhand der von Galilei im Jahr 1610 ent-
mie erkannte Kepler in den Planetenbe-
deckten Jupitermonde numerisch (KGW 7,
wegungen die harmonischen Verhält-
307 und 318).
nisse, und zwar zwischen den wahren, in der Aphel- und Perihelposition eines
Ein Klassiker der Naturwissenschaften
Planeten, wie auch zwischen den extre-
Johannes Keplers astronomische, optische
men Bewegungen zweier aufeinander fol-
und mathematische Erkenntnisse gehö-
gender Planeten.
ren zum gesicherten Bestand des Wissens
auf die Sonne bezogenen Bewegungen
In diesem Zusammenhang fand er
der Neuzeit. Seine Astronomie und Kos-
das später so genannte dritte keplersche
mologie zeichnen sich durch eine große
Gesetz, das er in »Harmonice Mundi« in
begriffliche Fülle aus, wie sie für den wis-
logarithmischer Schreibweise formulierte
senschaftlichen Paradigmenwechsel einer
(KGW 6, 303): »Die Proportion zwischen
Zeitenwende charakteristisch ist. Indem
den Umlaufszeiten zweier Planeten ist
Kepler die Frage nach der physikalischen
genau das Anderthalbfache der Propor-
Ursache der Planetenbewegung verfolgte,
tion der mittleren Abstände.« Oder in
bereitete er die moderne Himmelsmecha-
heutiger Formulierung: Die Quadrate der Umlaufszeiten U1 und U2 zweier Planeten
nik vor.
verhalten sich wie die dritten Potenzen
fassung ist jedoch nicht ihre Mechanisie-
ihrer mittleren Abstände a1 und a2:
rung; vielmehr sieht er ihr Formprinzip in
2
3
(U––U ) (––aa ) . 1 2
1 2
Keplers Grundbefund für die Weltver-
ihrer ästhetischen Vollkommenheit, in ihrer Schönheit. Seine Weltsicht ist von der Idee der Einheit der Natur bestimmt. Das
Dieses Gesetz ermöglicht es, die Größe
dafür maßgebende Prinzip ist die Harmo-
der Bahnen von Himmelskörpern aus der
nie, die für Kepler ein Ausdruck dafür ist,
Dauer ihrer Umlaufszeit zu berechnen.
dass das Universum von einem fortwäh-
Bereits im »Mysterium Cosmographi-
rend gestaltenden göttlichen Geist beseelt
cum« unternahm Kepler einen ersten
ist.
52
Dezember 2009
der Wissenschaften. Seine
der Sonne, so lautet diese Verhältnisglei-
nes Lebens« bezeichnete, zweitrangig. Für
Der keplersche Begriff der Harmo-
Keplers und Mitglied der
wichtigsten Arbeitsgebiete sind die Kultur geschichte der Astronomie, das Verhältnis von Vernunft und Glauben in der Wissen schaftsgeschichte und Fragen einer globalen Friedensordnung.
Literaturhinweise Bialas, V.: Johannes Kepler. Verlag C. H. Beck, München 2004. Caspar, M.: Johannes Kepler, GNT-Verlag, Stuttgart 1995. Ferguson, K.: Tycho and Kepler. The unlikely partnership that forever chan ged our understanding of the heavens, Walker & Company, New York 2002. Folta, J. (Hg.): Mysterium cosmographi cum 1596 – 1996. Proceedings of the Symposium Prague 1996, Society for the History of Science and Technology, Prag 1998. Gerlach, W., List, M.: gib schiff und segel für himmel und luft. Johannes Kepler: Dokumente zu Lebenszeit und Lebens werk, Ehrenwirth Verlag, München 1971. Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Johannes Kepler, Gesammelte Werke (KGW), Band 1 – 22, München, 19372009. Krafft, F. (Hg.): Johannes Kepler, Astro nomia Nova. Marix Verlag, Wiesbaden 2005. Krafft, F. (Hg.): Was die Welt im Inner sten zusammenhält. Marix Verlag, Wiesbaden 2005. Kühn, E.: Johannes Keplers göttliche Heliozentrik. In: Sterne und Weltraum 10/2009, S. 42 – 52. Lemcke, M.: Johannes Kepler. Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg, 2002. Lombardi, A. M.: Johannes Kepler. Spektrum Biografie. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 2000. Pichler, F. (Hg.): Der Harmoniegedanke gestern und heute. Peuerbach Symposi um 2002. Trauner, Linz 2003. Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/artikel/ 1012442
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