Transitionen und ihre Dimensionen

Transitionen und ihre Dimensionen 7. ADHS-Gipfel 2012 / Hamburg Jörg M. Fegert / Ulm Einleitung - Übersicht • Transitionen in der Entwicklungspsych...
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Transitionen und ihre Dimensionen 7. ADHS-Gipfel 2012 / Hamburg Jörg M. Fegert / Ulm

Einleitung - Übersicht • Transitionen in der Entwicklungspsychologie • Kurzfristige Tranisitionen im Alltag • Transitionsdiagnosen (Übergänge in der Entwicklungspsychopathologie) • Umgang mit dem Übergangsstress: rites de passage • Transition bei Menschen mit chronischen psychischen Störungen (Beispiel ADHD) • Systemübergänge in der Versorgung – Separation, Integration, Inklusion – Sektorübergreifende Versorgung – Komplexleistungen

Transition in der Entwicklungspsychologie Transitionen sind Übergänge In der Entwicklungspsychologie werden unterschiedliche Transitionsphasen beschrieben: •

Übergang in den Kindergarten



Übergang in die Schule



Übergang in die weiterführende Schule



Übergang ins Berufsleben



Übergang von der Paarbeziehung in die Familie mit Kind



Übergang in die Restfamilie beim Auszug der Kinder



Übergang bei der Berentung etc.

Definition • Transition (Cowan 1991) oder Übergänge (z.B. in der Sozialpsychologie Welzer 1993) sind markante Veränderungen, welche das Kind oder den Jugendlichen bzw. die ganze Familie und ihr Lebensumfeld betreffen. • Unterschieden werden „normative“ Übergänge, die quasi alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung betreffen wie Eintritt in den Kindergarten, Eintritt in die Schule etc. von „nicht normativen“ Übergängen in der Familienstruktur durch Trennung und Scheidung, Patchworkfamilien etc.

• Kumulieren normative und nicht normative Transitionen, steigt das Risiko der Überforderung bzw. der Dekompensation.

Charakteristika von Übergängen Wechsel zwischen Lebensumwelten Der Übergang in Krippe, Hort, Kindergarten ist für viele Kinder der erste Wechsel zwischen unterschiedlichen sozialen Realitäten. • komplexere und verdichtete Entwicklungsanforderungen • Neuorganisation und Anpassung an zwei Lebensumwelten mit ihren Normen • Übergang ist ein Prozess, auch wenn häufig der erste Tag, z.B. mit Schultüte, das Ereignis markiert

Übergangsprozess • Vorphase, z.B. überlegen: –Auf welche weiterführende Schule soll das Kind gehen? –Wie schafft es den Übergang etc.? • In dieser Vorphase häufig Konsultation wegen ADHD, verbunden mit Hoffnung auf Leistungsverbesserung durch medikamentöse Therapie. • Teilweise normative Abklärung z.B. Schulreife, Gymnasialempfehlung, Musterung

• Übergangsereignis, häufig von Feiern, Ritualen etc. begleitet • Eingewöhnung in die neue soziale Umwelt, Stress, Angst, intensive Selbst- und Fremdwahrnehmung

Übergangsprozess •

Neue Beziehungen, neue Freundeskreise



Wandel der Identität („ich bin jetzt ein Schulkind“, „ich bin Gymnasiast“).



Meist kein kompletter Rollenwandel sondern eine Rollenerweiterung. Zur bisherigen Rolle in der Familie tritt eine neue Rolle durch den neuen sozialen Kontext, der wiederum auch neue normative Rollenerwartungen vorgibt.



Im Abschluss der Transitionsphase nimmt der Stress, die starke emotionale Beteiligung, aber auch die Aufmerksamkeit der Familie und Unterstützung in der Regel ab



Stabiler neuer Alltagszustand

Mikro-Übergänge: Transitions •





• • • •

Auch kurzzeitige Übergänge, welche eine Umstellung der Aufmerksamkeit und Aktivität bezeichnen, werden als „Transitions“ bezeichnet. Neben den entwicklungspsychologisch und sozialpsychologisch beschriebenen Makro-Übergängen ereignen sich alltäglich Mikro-Übergänge, welche durch Strukturierung, durch Wahrnehmung des Stresspegels etc. erzieherisch und therapeutisch begleitet werden können In der Literatur, ja selbst im Internet, finden sich gerade im Kontext mit ADHD zahlreiche Beiträge zu Alltagsproblematik dieser Transitions.

Wie strukturiert man einen Tagesablauf? Wie bereite ich Übergänge vor etc. ? Wie reduziere ich den Stress für Eltern und Kind? Wie viele Übergänge pro Tag sind zumutbar (Managerkalender gut geförderter Kinder)

Neue Beziehungserfahrungen führen zur Veränderung

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„Transitionsdiagnosen“ Die DSM-5 Arbeitsgruppe diskutiert eine „Transitionsdiagnose“ für die prodromale Schizophrenie transitional diagnosis :

attenuated psychotic syptoms syndrome Auch andere phänomenologische Diagnosen könnten Übergänge in entwicklungspsychopathologischen

pathways sein, z.B. auch ADHS auf dem Weg zu einer Störung des Sozialverhaltens und antisozialen Persönlichkeitsstörung oder ADHS als Teil einer Traumareaktion.

Versuch eine Transitionsphase entwicklungspsychologisch und entwicklungspsychopathologisch psychiatrisch zu erfassen: Adoleszenzpsychiatrie

Trauma-Entwicklungsheterotopie Schmid, Fegert, Petermann 2010 Kindheit & Entwicklung 19 (1) 47-63

Bipolare Störungen im Kindesalter

Substanzmissbrauch

Affektive Störungen

Störung des Sozialverhaltens Emotionale Störungen Angststörungen

Dissoziative und Somatoforme Störungen

Störungen der Persönlichkeitsentwicklung

Selbstverletzung Suizidalität

ADHS

Oppositionelles Verhalten Bindungsstörungen Regulationsstörungen

Geburt

Vorschulalter

ÑÑÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏÏ Í Traumafolgestörungen + biologische Faktoren Schulalter

Pubertät

Adoleszenz

Übergänge sind angstbesetzt Da Übergänge häufig mit Ängsten vor der neuen Situation verbunden sind, lösen sie oft Angst aus. Anthropologisch sind solche Situationen meist von Ritualen begleitet, um die Unsicherheit zu reduzieren. Selbst in unserer „aufgeklärten“ Gesellschaft finden sich solche Rituale und Symbole • Schultüte erster Schultag •Konfirmation, Kommunion ,Jugendweihe • Abi-Streich als gewisse Form der „rites de passage“

Übergang: Abschied und Anfang

¾„rites de passage“ ¾Bemalung, Beschneidung, Tanz, Isolation, magische Beschwörungen ¾Übergang ins Erwachsenenalter ist dann kein rational erklärbarer Lern- und Entwicklungsprozess, sondern wird markiert als ein diskontinuierlicher Verwandlungsvorgang.

„rites de passage“ Arnold van Gennep (1873 – 1957) betrachtet solche Übergangsriten als ein universelles, in allen Kulturen auffindbares Phänomen. Ziel der „rite de passage“ die wahrgenommene Spannung, sowohl im Individuum als auch in den sozialen Gruppen während uneindeutiger Übergangsphasen zu reduzieren. Biologisch sind Geburt, Pubertät, Tod Beispiele für solche Phasen, aber auch soziale Übergänge wie die Heirat, wie der Eintritt in eine Gruppe etc. gehören dazu.

Drei Phasen der „rites de passage“ •

Separation (in vielen Bestattungsriten wirklich körperliche Entfernung von der sozialen Gruppe, auch in Übergangsriten für Adoleszente)



Marginalphase oder Liminalphase (Zustand zwischen zwei Stadien, der alte Status ist schon verloren, der neue nicht erworben, massive Verunsicherung über den eigenen Status, in vielen s.g. „primitiven“ Gesellschaften Zeitpunkt für Inititationshandlungen, aber auch körperbezogene Riten, häufig schmerzhafte Verletzungen etc.)



Agrégation (Inkorporation oder Re-Aggregation, Wiederaufnahme des transformierten Individuums in die soziale Gruppe)

Victor Turners Ritualtheorie • Weitet aus religionsethnologischer Sicht das Konzept auf zu einem Erklärungsmodell für soziale Konflikte • Unterscheidung von liminalen Situationen in einfachen, stabilen Gesellschaften (vgl. Levi Strauss) von s.g. liminoiden Situationen in s.g. „sozialen Dramen“. Dieser Rahmen wird häufig zur Deutung von Jugendrevolte, Jugendkultur angewandt (vgl. sozialpsychologische Psychoanalyse wie bei Mario Erdheim etc.)

Elemente eines „sozialen Dramas“ im Übergang • Bruch • Krise (z.B. Aufstände, Unruhen, politische Prozesse) • Anpassungsprozess (legale Prozesse, informelle Schlichtung bis formelle Verfahren wie Parteigründung, Runder Tisch, Gesetzgebung etc. ) • Re-Integration versus Anerkennung irreparabler Trennung (rituelle Prozesse)

Ritueller Übergangsprozess Nur im rituellen Prozess sieht Turner dann die Abfolge von

• Separationsriten mit Kommunikation des Heiligen durch geheime Symbole, Enthüllung von Objekten, Instruktion und repetitiven Handlungen, Geschichten, Tanz • Liminale Riten mit (spielerischer , ritualisierter) Dekonstruktuion und ReKombination • Re-Aggregation durch Aufhebung der Spannung entweder durch Einordnung in Hierarchie und Autorität oder durch Communitas unter den Initianden

ICF der WHO: Überblick über Komponenten des Funktionsniveaus

Body Functions & Structures

Levels of Functioning

Charakteristics

Positive aspect (Functioning) Negative aspect (Disability) Qualifiers: First Qualifier

Body (body parts)

Body function Body structure

Activities Individual (person as a whole)

Performanc of individuals activities

Contextual Factors

Society

Environmental factors (external influence on functioning) +

(life situations)

Involvement in life situations

Personal factors (internal influence on functioning) Features of the physical, social and attitudinal world + Attributes of the person

Functional and structural integrity

Activity

Impairment

Activity limitation

Participation Participation restriction

Uniform Qualifier: Extend or Magnitude

Qualifiers: Second Qualifier

Participation

Localisation

Assistance

Subjective satisfaction

Facilitators

Barriers / hindrances

Kindergarten / Schule / Ausbildung

Freizeit

Vater / Ersatzvater

peer group

Kind, Jugendliche/r, junge/r Erwachsene/r

Mutter / Ersatzmutter

Geschwister

Familie

keine Teilhabebeeinträchtigung

ein wenig/etwas beeinträchtigt

teilweise beeinträchtigt

weitgehend beeinträchtigt

vollständige Teilhabebeeinträchtigung

Transition bei chronischen Erkrankungen •

Entwicklungspsychologische Transitionen, z.B. vom Grundschulkind zur Adoleszenz, von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter bringen andere Einstellungen und andere Voraussetzungen für den Umgang mit der eigenen Erkrankung mit sich.



Die Haltung zur Erkrankung muss neu gefunden werden.



Zurechtkommen im Alltag mit der Erkrankung muss unter den neuen Rahmenbedingungen Schule versus Arbeit oder Studium neu evaluiert werden



Übergangsstress wird durch Impulsivität und Reizoffenheit oft gesteigert



Reifungsprozesse verändern Symptomatik (bei ADHD tritt motorische Komponente meist eher zurück)

Übergänge in Systemen • Regelbeschulung versus Spezialbeschulung • Ambulante Behandlung beim Hausarzt/Kinderarzt versus kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung • Ambulant versus stationär • Sektorenübergreifende Behandlungskonzepte • Komplexleistungen aus Pädagogik und Medizin • Separation, Integration, Inklusion

Transitionen verschärfen Selbst- und Fremdwahrnehmung • Stigma hat zwei Seiten: • gesellschaftlicher Aspekt, z.B. in der aufnehmenden Gruppe z.B. in Gymnasien, in der Arbeitswelt etc. • Selbstattributionen • Trotz aller political correctness und sozialer Erwünschtheit in Fragebögen zeigen neuropsychologische Diskriminationsexperimente z.B. mit Reaktionslatenzzeiten sowohl bei von psychischen Erkrankungen Betroffenen, als auch bei gesunden Probanden ablehnende bis diskriminierende Tendenzen in Bezug auf Menschen mit psychischen Erkrankungen

ADHS und Transition Vom frühen Symptom zum späten Syndrom Samstag Vormittag widmet sich der Entwicklung von frühen Symptomen (Prof. Trott) und der Berücksichtigung der Entwicklungsneurobiologie für die Behandlung (Prof. Ludolph) hin zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Persönlichkeitsentwicklungsstörungen (Prof. Schmeck) Sonntags diskutieren wir Übergänge in Systemen und insbesondere die Frage der Inklusion und die Therapie der ADHS im Erwachsenenalter mit einem Ausblick auf den nächsten Übergang: ADHS im Senium dazu wie immer Workshops

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und wiederrum auf 2 spannende Tage

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm

www.uniklinik-ulm.de/kjpp

Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert