Theologische und Anthropologische Dimensionen

Joachim L. Beck, Grenzen. Theologische und Anthropologische Dimensionen Grenzen Theologische und Anthropologische Dimensionen 1. Vorbemerkungen 2. G...
Author: Lilli Koch
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Joachim L. Beck,

Grenzen. Theologische und Anthropologische Dimensionen

Grenzen Theologische und Anthropologische Dimensionen 1. Vorbemerkungen 2. Grenzerfahrung I 2.1. Jakob am Jabbok Mit einer Grenzerfahrung möchte ich einsteigen. Mit einer biblischen Erzählung, die in mehrfacher Weise von Grenzen handelt – von überschrittenen und zu überschreitenden Grenzen. Von Grenzerfahrungen möchte ich Ihnen erzählen, indem ich an Jakobs Kampf am Jabbok erinnere. Nach Jahren in der Fremde kehrt Jakob zurück in seine Heimat. Damals war er auf der Flucht über den Jordan gegangen – mit nicht viel in der Hand. Einem Stab – so zumindest erinnert daran der Elohist in Gen 32 (Gebet Jakobs Vers 11b). Nach einem Regelbruch, einer massiven Grenzüberschreitung musste er auf und davon: er hatte sich den Erstgeburtssegen seines Vaters erschlichen. Regeln und Normen hatten für ihn keine Bedeutung, er nutzte die Schwachheit seines Bruders Esau, dessen Hunger gnadenlos aus und kaufte für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht, die Schwachheit des Vaters, dessen Blindheit nutze er ebenso aus wie die abgöttische Liebe seiner Mutter, die ihm half, den Vater, den Ehemann übers Ohr zu hauen. Solche Grenzüberschreitungen gehen nicht lange gut – zu gut hat das Jakob erfahren und sicher auch erlitten. Und so gings ab – durch die Mitte und über den Jordan. Er verlässt die Heimat. Und trifft dann in der Fremde auf einen Ebenbürtigen: Laban. Auch ein Schlitzohr – oder wie soll man einen Vater charakterisieren, der die unansehlichere seiner Töchter dem liebestollen Jakob unterschiebt? Und als Lea versorgt ist, dann kann die Zusage, dass Jakob die attraktivere Rahel bekommt, eingehalten werden. Er bekommt sie unmittelbar nach der ersten Hochzeitswoche: er muss erst danach nochmals sieben Jahre seinem Schwiegervater dienen. Wie geht’s wohl dem betrogenenen Betrüger? Wie geht’s wohl Jakob, der sich das Erstgeburtsrecht erschlichen hat und zunächst die falsche Frau untergeschoben bekommt? Von Grenzüberschreitungen habe ich bisher erzählt – von Grenzen, die nicht geachtet werden: dass das gegebene Wort gelten möge; dass Schwachheit eines anderen nicht ausgenützt werde; dass jahrhundertealte Traditionen nicht einfach über Bord geworfen werden um den eigenen Vorteil zu steigern; dass … Dass Jakob ein Cleverle ist, weiß jede und jeder, der die Erzählungen in Genesis liest. Und wird in seinem Vorurteil bestätigt, wenn er liest, wie Jakob sein Wissen um die Vererbungslehre anwendet: durch kluges Verhalten lässt sich die Zahl der gefleckten, der schwarzen und bunten Schafe steigern (und dann noch ein bisschen Hokuspokus drum rum) und der Reichtum steigt ins Unermessliche. Diese Klugheit findet Neider; Jakob ist schon wieder auf der Flucht … und am Ende dieser Flucht, nach einer ersten Aussöhnung – in dem Fall mit dem Schwiegervater Laban – steht er nun vor seiner angestammte Heimat. „Und Jakob … blieb allein (an der Furt des Jabbok) zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft – und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pnuel; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen und doch wurde mein Leben gerettet.“ (Gen 32, 23 ff)

Viele Grenzen tauchen in dieser Erzählung auf: Die Grenze - zwischen Fremde und Heimat - zwischen vertraut und unbekannt - zwischen Tag und Nacht

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zwischen Vergangenheit und Zukunft – oder Gegenwart zwischen Streit und Versöhnung zwischen Betrüger und Betrogenem zwischen Flüchtigem und Zurückgelassenem zwischen Glück und Trauer zwischen …

An solchen Grenzen geschieht Prägendes. Es sind eindrückliche Erfahrungen! - - Wo Grenzen zu überschreiten sind, da wird man und frau einsam. Da ist man und frau einsam, allein – vielleicht nicht allein gelassen – von Jakob wird erzählt, wie er ganz bewusst die Einsamkeit wählt, er schickt seine Familie, seine Angehörigen und Zugehörigen weg; womöglich wollten die ihn gar nicht zurücklassen … Grenzerfahrungen machen einsam. - Grenzerfahrungen bringen Segen, der errungen wird / werden muss – und zugleich geschenkt ist. - Grenzerfahrungen machen verletzlich; sie kennzeichnen uns, beschreiben unsere Qualitäten, unser Sein – deutlicher und in viel größerem Maße als vieles andere, was uns im Leben widerfährt. Wichtig ist mir: Auch Glück ist eine Grenzerfahrung. Und beschreibt, kennzeichnet einen Menschen … Leuchtende Augen, ein verklärtes Gesicht, ein beschwingter Gang … das alles spricht genauso stark wie eine ausgerenkte Hüfte und das Hinken Jakobs nach dem Kampf im Morgengrauen. - Grenzerfahrungen verändern Menschen – aus Jakob wird Israel, aus … wird …

„Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf – und er hinkte an seiner Hüfte.“ Gen 32 Grenzerfahrung im doppelten Sinne: - die Sonne geht einem auf, ein Licht geht einem auf – und - man ist gezeichnet … oder soll ich sagen: „ausgezeichnet“

2 2.2. Gesprächsrunde 1: Suchen Sie sich eine / einen Gesprächspartner_in. Erzählen Sie sich gegenseitig von Grenzerfahrungen, die Sie gemacht haben. Nehmen Sie sich zunächst Zeit, zurückzuschauen in ihr gelebtes Leben. - Was war? - An welche Grenzen bin ich gestoßen? - Welche Grenzen habe ich überschritten? - Welche Sonne ist mir aufgegangen? Wir werden diese Gespräche nicht zurück tragen ins Plenum – ich möchte sie dennoch einladen und locken, eigene Grenzerfahrungen sich bewusst zu machen … und dann auch auf diesem Hintergrund weiter zuzuhören.

2.3. Und immer wieder geht die Sonne auf … „Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf – und er hinkte an seiner Hüfte.“ Gen 32 Grenzerfahrung im doppelten Sinne: - die Sonne geht einem auf, ein Licht geht einem auf – und - man ist gezeichnet … oder soll ich sagen: „ausgezeichnet“ 1

Udo Jürgens Song ist mir in den Sinn gekommen bei der Formulierung: Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf …

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Wenn ein Traum, irgendein Traum sich nicht erfüllt, wenn die Liebe zu Ende geht, wenn selbst die Hoffnung nicht mehr besteht, nur Einsamkeit,

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Und immer wieder geht die Sonne auf … Bei Udo Jürgens ein Mutmachlied, das deutlich machen will: zerbrochene Liebe, unerfüllte Träume, zerplatze Hoffnung ist nicht das Letzte … denn „Immer wieder geht die Sonne auf … denn Dunkelheit für immer, die gibt es nicht.“ Eine Erfahrung, die auch Jakob machte, mit der ich in den Vormittag gestartet bin. Es war Nacht, als er sich auf den Grenzübertritt vorbereitet – und die Sonne geht auf nach all dem Kampf mit … ja, mit wem eigentlich? Da sind die Grenzen in der Erzählung fließend: In Gen 32 finde ich Motive aus -

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Legenden über einen Flußdämon, der Menschen nicht über den Fluss gehen lässt, der Grenzüberschreitungen lebensbedrohlich werden lässt; ebenso ist von einem Mann (isch) die Rede, es könnte auch nach Engel klingen. Und dieses Unfassbare – im doppelten Sinn unfassbare – gibt sich irgendwann indirekt als Gott (Elohim – eigentlich ein Plural!), als Gottheiten zu erkennen, als der Gott seines Vaters Isaak und der Gott Abrahams. Und mit Menschen hat Jakob auch gekämpft („denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen“ V 29b) am Jabbok, nur am Jabbok (frage ich) oder sein ganzes Leben lang auf der Suche nach seiner eigenen, unverwechselbaren Identität, im Kampf – schon wieder Kampf: damals mit Esau, nun mit dem Unfassbaren! – um den Segen. Bei der Suche nach sich selbst, bei der Ichwerdung?!

Die Sonne geht nach diesem Kampf auf – und nach vielen durchwachten und durchkämpften Nächten auch; in einer psychologisierenden Interpretation ist vom inneren Kampf auszugehen – von emotionaler Zerrissenheit und Suche nach dem Selbst, werden doch die Sorgen und Ängste um sein Leben, Hab und Gut, um Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib 2 … ausführlich geschildert. Nach all den Träumen, Alpträumen und Kämpfen kann Jakob die Grenze überschreiten – er ist ein anderer geworfen und hinkend, aber er kann jetzt – erst jetzt? – mutig auf seinen Bruder und die Aussöhnung mit ihm und damit vielleicht auch seiner eigenen Geschichte zugehen.

3. Ethymologisches / Begriffe Nun bin ich nicht langsam und vorsichtig ins Thema eingestiegen, sondern hineingestürzt, habe Sie eingeladen auch gleich sehr Persönliches auszugraben um dies – wie auch immer – in Beziehung zu setzen mit der Grenzerfahrung, die Jakob am Jabbok macht, mit seiner „Kampfesgeschichte“. Es macht Sinn, einen Schritt zurück zu treten, etwas in Distanz zu gehen, und aus der Ferne auf das Thema der Tagung und des Vormittages drauf zu schauen: Grenzen …

3.1. Ethymologie Das im 12./13. Jahrhundert aus dem Altpolnischen entlehnte graniza/graenizen/greniz hat sich von den östlichen Kolonisationsgebieten aus allmählich über das deutsche Sprachgebiet ausgeweitet, und das fränkische Wort Mark (Grenze, Grenzgebiet), Gemerke (Grenze, wenn ein Blatt, Irgendein Blatt vom Baume fällt, weil der Herbstwind es so bestimmt, wenn das Schicksal uns etwas nimmt, vertraue der Zeit. Denn: Immer, immer wieder geht die Sonne auf und wieder bringt ein Tag für uns ein Licht, Ja, immer, immer wieder geht die Sonne auf, denn Dunkelheit für immer gibt es nicht, die gibt es nicht, die gibt es nicht. Hör‘ ich ein Lied, Irgendein Lied, das wir gekannt, denk‘ ich noch immer, wie schön es war. Wir waren glücklich, wird mir dann klar denn du warst hier. Und wenn dir irgendein Mensch von mir erzählt, ich hätt‘ vergessen, dann denk‘ daran, ich glaub an Morgen, denn irgendwann stehst du vor mir. Denn: Immer, immer wieder geht die Sonne auf und wieder bringt ein Tag für uns ein Licht, Ja, immer, immer wieder geht die Sonne auf, denn Dunkelheit für immer gibt es nicht, die gibt es nicht, die gibt es nicht. 2 Martin Luther, ein feste Burg ist unser Gott Strophe 4: „ … Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: Lass fahren dahin, Sie haben's kein'n Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“

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Grenzgebiet, daraus Grenzmarkierung, Stadtzeichen (meist Initial), Familienzeichen) oder Anewand (wo der Pflug wendet, z. B. Hinterhermsdorf an der böhmischen Anewand) verdrängt. Allerdings bezeichnet „Grenze“ die Grenzlinie, das „dazwischen“. Eine Grenze ist der Rand eines Raumes und damit ein Trennwert, eine Trennlinie oder -fläche.

3.2. Doppelfunktion der Grenze: Schutz und Verlockung Als erstes wäre also festzuhalten, dass dort, wo wir von „Grenze“ reden, wir von dem „dazwischen“ reden. Dem, was „hier“ von „dort“, was „meines“ von „deinem“ abgrenzt und trennt: mein Zimmer – eben nicht dein Zimmer; mein Problem – und nicht dein Problem; mein Haus – mein Auto – meine Yacht … - in dieser Werbeformulierung ist bereits die „Distanz“ erkennbar, die da aufgebaut werden soll. Ich kann aber auch anders formulieren: Vertrautes und Fremdes; Gewohntes und Ungewohntes; Naheliegendes und Fernes; Heimelig und Ängstigend werden abgegrenzt. Und somit wird Sicherheit geschaffen – oder zumindest Verunsicherung reduziert / minimiert. Grenzen haben somit Schutzfunktionen in unterschiedlichen Bereichen. Grenzen sind für Menschen notwendig – ich komme darauf zurück. Grenzen schützen mich vor Übergriffen – und welche emotionale und symbolische Bedeutung Grenzen haben, kann jede und jeder im Nahbereich studieren, wenn sie oder er ins Zimmer des 15 Jährigen Sohnes ein“dringt“ und dort Wäsche für die Waschmaschine aus den diversen Stapeln holt – oder um im Klischee zu bleiben, im Tagebuch, das die Tochter offen liegen hat lassen, einfach mal liest. Die Bedeutung von Grenzen kann ich auch im Fernbereich studieren, wenn ich in den letzten Tagen nach Korea schaue und wahrnehme, mit welcher Verve auf die „Grenzverletzungen“ des je anderen Staates reagiert wird. Der Soziologe Georg Simmel formuliert: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit 3 soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt." Wahrscheinlich müssten wir ergänzen: es ist auch eine psychologische Tatsache, die sich räumlich Gestalt verschafft. Grenzen haben nicht nur etwas mit Besitzstandswahrung zu tun, sondern damit, den eigenen Raum abzustecken, zu behaupten, zu verteidigen, sich darin einzurichten, um sich dann von da aus entfalten und entwickeln zu können; und entwickeln heißt letztlich nichts anderes, als Grenzen zu setzen um sie überschreiten zu können. Grenzen haben etwas Paradoxes an sich; sie haben eine Doppelfunktion: einerseits dienen sie der Ab- und Einschließung, andererseits der Überschreitung. Wenn es keine Grenzen gäbe, könnte ich auch nichts überschreiten, um weiterzukommen. Und dies Weiterkommen ist mit Risiken behaftet. Das Sich-Bewegen in derartigen Grenzzonen ist hochgradig ambivalent. Grenzüberschreitungen sind entscheidend für den Prozess der Erneuerung – ich erinnere an die Erzählung von Jakob am Jabbok. Die Grenze ist eine Gefahrenzone, sie konfrontiert mit „Fremdem“ und „Unvertrauten“. An der Grenze, bei der Grenzüberschreitung kann alles neu verhandelt werden kann. Dennoch trägt diese Phase Spuren der vorangegangenen und der nachfolgenden Stadien. An der Grenze leben und arbeiten ist damit gefährlich und spielerisch zugleich, sowohl für die Einzelnen wie für Gruppen, weil es der Zustand des „Weder – Noch“ und des „Sowohl – Als Auch“ gleichermaßen ist. Es ist ein Schwebezustand: das Dazwischen-Sein als Sein ganz eigener Qualität. Wenn ich über Grenzen rede, dann rede ich über Veränderungen und Bewegung, Begegnung mit Anderem / Fremden. Irgendwer bezeichnet Grenzen als „bewegliche Austauschzonen". Die Benennung von Grenzen dient nicht der Verhinderung von Überschreitungen, sondern ihrer 3

Georg Simmel Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot, Berlin 1908 (1. Auflage) in Kapitel IX: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag 1992, S. 697

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Markierung und Regulierung. Grenzzonen lassen sich begreifen, als Orte der Vermittlung mit dem Anderen, dem Fremden, Unbekannten in all seinen Ausprägungen.

3.3. Eine Fülle von Grenzen - viele bewegliche Austauschzonen Wenn ich die Fülle der Grenzen, an denen wir im Laufe eines (hoffentlich) langen Lebens ankommen, systematisieren will, dann mache ich dies versuchsweise mit -

Territoriale / geografische Grenzen - Zimmer / Wohnung - Wohnort - Land - Erdteil

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Historische Grenzen - Vor- und Nachwelt - Epochen Hier v.a. im Kontext der APHS: Kriegs- und Nachkriegsgeneration

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Soziale Grenzen - Früher: Schichtmodell der Gesellschaft - Heute: Milieuausdifferenzierung - Bildung - Kultur und als Teil derselben: - Religion – sowohl Deutungshorizont meines Lebens, als auch Praxis Konkret: ich bin bei der Amtseinsetzung eines landeskirchlichen Pfarrers auf eine Projektstelle und kann im Gottesdienst ein einziges Lied mitsingen („Vertraut den neuen Wegen“ von Klaus Peter Hertzsch) alle anderen sind Lobpreis und Anbetungslieder, stammen vermutlich aus „Fresh Expressions“ oder Gemeinde 2.0 oder … Im Kontext der AHPS: Seelsorger_innen, die aus der eher pfingstlerischcharismatischen Bewegung kommen, im APH mit volkskirchlich geprägten Gemeindegliedern, die möglicherweise außer Ps 23 und Paul Gerhardts „Befiehl du Deine Wege“ wenig religiöse Texte kennen

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Entwicklungsphasen des Menschen Jedes Alter konfrontiert uns mit anderen Grenzerfahrungen. Es gibt körperliche, emotionale, kognitive und soziale Grenzen für Lernprozesse. Die Auseinandersetzung mit Grenzen bietet vielfältige Chancen für unsere Entwicklung. Bin ich bisher im Generellen geblieben, werde ich nun die anthropologisch zu beschreibenden Grenzen noch individualisieren – will sagen: auf individuelle Biografien beziehen. -

Traumatische Erlebnisse Vergewaltigung, Misshandlung, Attentat, Unfall zwar überindividuell, aber individuell wirksam: Naturkatastrophen wie Tsunami; Fukushima; … Tod des Lebenspartners – eines Kindes

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Krankheit / Behinderung

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Kritische Lebensereignisse Heirat, Geburt eines Kindes Scheidung Prüfungen, Berufswechsel Wohnortswechsel Pensionierung Umzug ins Betreute Wohnen / Alten(Pflege)Heim

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kritische Lebensereignisse sind – wie Naturkatastrophen „überindividuell“, sie kommen in (fast) jedem Leben vor und • leiten in der Regel neue bedeutsame Erfahrungen ein • machen Anpassungsleistungen erforderlich • zwingen uns, wichtige Aspekte unseres Lebens (Ziele, Eigenschaften,) Gewohnheiten) zu überdenken oder zu ändern -

emotionale Grenzen Ekel? Scham und Schuld Fremd bleibendes Verhalten – abstoßendes Verhalten

Grenzen haben unterschiedliche Qualitäten, sie können materieller oder symbolischer Natur sein. Eine imaginäre, symbolische Grenze kann undurchdringlicher sein als eine reale. In allen Fällen gilt: Grenzen sind Aushandlungszonen, Begegnungszonen, Austauschzonen, es geht um Begegnung oder hochgehängt: „Transkulturalität“. Der Respekt vor Grenzen und der gleichzeitige Versuch, Grenzen zu überschreiten, zu transzendieren kann zur Anerkennung des Anderen als Anderen führen und nimmt darin das Fremde / den Fremden wahr und ernst.

3.4. Rückfragen / Gesprächsrunde 2

4. Anthropologische Dimensionen Grenzen – so haben wir bisher festgestellt, sind notwendig, um zu leben. Sie sind zum einen Schutz, sie bieten Schutz und damit Entfaltungsraum für das Eigene, sie ermöglichen, Identität auszubilden – auch und gerade in der Arbeit an Grenzen, an den erfahrenen und vielleicht auch erlittenen Grenzen. Zum anderen verlocken Grenzen zum Übertritt. Dort, wo Menschen begrenzt werden, dort wo Möglichkeiten „eingeschränkt“ sind, dort wo Freiraum verloren geht durch von anderen gesetzte Grenzen, dort lockt der Übertritt, die Überschreitung, die Grenzverletzung. Diese Tatsache haben viele Menschen im Ostblock leidvoll gespürt: die staatlich verordnete Begrenzung des eigenen Lebens und Entdeckens auf die befreundeten Länder verstärkte die Sehnsucht nach dem Westen. Weil Grenzen Unfreiheit dokumentierten, wurden sie übertreten. Die Schutzfunktion wurde nicht mehr erkannt, respektiert – nur Einengung wurde erlebt.

4.1. Durch / über Grenzen wachsen „Grenzen“ sind Begegnungsräume – so habe ich vorher formuliert. Ich weiß nicht mehr, bei welchem Autor ich diese Formulierung gefunden habe. In der Identitätsentwicklung wird dies überaus deutlich – bei Kindern kann es m.E. sehr deutlich in und an den Trotzphasen gezeigt werden. Kurz zur Erinnerung die Phasenbeschreibung bei Erik H. Erikson 4.1.1. Exkurs: Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bei Erik H. Erikson -

Urvertrauen vs. Urmisstrauen (1. Lebensjahr): Physiologische Abnabelung

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Autonomie vs. Scham und Zweifel (2.-3. Lebensjahr) Emotionale Abgrenzung von der primären Bezugsperson; beginnende Autoritätskonflikte Initiative vs. Schuldgefühl (4.-5. Lebensjahr) Aktive Erkundung der Wirklichkeit und Erkennen eigener Grenzen der körperlichen und psychischen Möglichkeiten Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (Grundschulzeit) mit Grenzen konfrontiert sein, die erst durch soziale Vergleichsprozesse deutlich werden Identität vs. Identitätsdiffusion(Jugendalter) veränderte Körpererfahrungen und veränderte soziale Erwartungen in Selbstbild integrieren; an der Schwelle / Grenze zum Erwachsenwerden stehen Intimität und Solidarität vs. Isolierung (junge Erwachsene) Nähe und Distanz zu anderen Personen regeln; sich durch Abgrenzung selber definieren Generativität vs. Selbstabsorption (mittleres Erwachsenenalter) Soziale Verantwortung wahrnehmen oder um sich selber kreisen; Grenzen in der eigenen beruflichen und familiären Leistungsfähigkeit erkennen Initiative vs. Verzweiflung (ältere Erwachsene) Bilanzierung; zeitliche Begrenzung des Lebens und des Körpers begreifen

Nochmals: Kinder entwickeln ihre eigene Identität in der Auseinandersetzung mit den von Eltern gesetzten Grenzen – bei meinem großen Enkel kann ich das wunderbar beobachten, wie er mit mir versucht Verhaltensmöglichkeiten auszuhandeln, die er von seinen Eltern untersagt bekam; später in der Pubertät wird es dann Abgrenzung von den Eltern: „Ich bin nicht wie mein Vater / wie meine Mutter“ … - und das spätere Erschrecken, wenn einem gesagt wird: „Wie der Vater / wie die Mutter“. Identität – Personsein, die Begriffe verwende ich nun nicht trennscharf – entsteht an der Grenze zum Anderen, zum Fremden. Und deshalb habe ich gerade das Modell von Erikson genommen, weil er Spannungen beschreibt, weil er Pole definiert, weil er eigentlich verschiedene Felder beschreibt, in denen man / frau sich in der Entwicklung bewegt. Er redet von - „Abgrenzung von anderen Personen“ (Autonomie vs Scham / Zweifel) - „Erkennen eigener Grenzen“ (Initiative vs Schuldgefühl) - „mit Grenzen konfrontiert sein“ (Werksinn (Selbstwirksamkeit) vs. Minderwertigkeit) - „sich durch Abgrenzung selber definieren“ (Intimität und Solidarität vs. Isolierung) „Grenzen in der eigenen beruflichen und familiären Leistungsfähigkeit erkennen“ (Generativität vs. Selbstabsorption) – und last but not least: - „zeitliche Begrenzung des Lebens und des Körpers begreifen“ (Initiative vs. Verzweiflung) 4.1.2. Gesprächsrunde 3: Wenn Sie an Ihr AltenPflegeHeim und die dort Arbeitenden und Lebenden denken, welche Grenze und welche notwendige, weil hilfreiche Grenzüberschreitung fällt Ihnen ein? An welchem Grenzthema müsste Ihres Erachtens weiter gearbeitet werden?

4.1.3. Altern / Alt werden als Grenzerfahrung Im Altern, durch das Altwerden wird Neuland betreten. Neue Erfahrungen werden gemacht, bisher Fremdes wird kennengelernt, Anderes, Altes zurückgelassen. Dies wird durch unterschiedliche Studien an vier Punkten konkretisiert: - Krankheitserfahrungen: Krankheit ist immer eine Grenzerfahrung. Die steigende Lebenserwartung führt dazu, dass immer häufiger die Erfahrung von Multimorbidität gemacht wird. Und häufig wird der Kurzschuss dann gezogen: Alter ist eine Krankheit

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Veränderungen der Wohnsituation: Zunächst gewinnt die Wohnung im Zug des Ruhestandes an Bedeutung. Später kommen oft genug andere Dimensionen dazu: Kann ich die „große“ Wohnung mir leisten? Kann ich in dieser Wohnung (im 3. Stockwerk ohne Aufzug und behinderten/altersgerechtem Badezimmer) meinen Lebensabend verbringen? Muss ich fremde Menschen (Pflegedienste / Hauswirtschaftliche Hilfe) in meine Wohnung lassen? Habe ich im Altenheim, im Pflegeheim „mein eigenes Zimmer“ mit „meinen Möbeln“ – bin ich da zuhause? Soziale Verluste bis hin zur Isolation: die alltäglichen Kontakte werden weniger, wenn ich nicht täglich zur Arbeit gehe. Die Alterskohorte wird kleiner, Menschen, die dieselbe Erfahrung gemacht haben, sterben. Durch Schwerhörigkeit ist man zwar noch dabei aber nicht mehr integriert - es entsteht die Sorge, die Vermutung, dass „über einen geredet“ und „gelacht“ wird – Rückzug auf sich selbst kann eine Folge sein. Welche sozialen Bindungen sind tragfähig? Begrenzte Lebenszeit, Konfrontation mit dem Tod: wenn ich heute die Zeitung aufschlage, fällt mir auf, wie viele Menschen in meinem Alter sterben. Wenn meine Eltern gestorben sind, bin ich „theoretisch“ die nächste Generation, die dran ist. Es wird deutlicher, je älter ich bin / werde: meine Lebenszeit ist begrenzt.

Ich habe Alter als Grenzerfahrung beschrieben – und frage nun nach der Grenze zum Alter.

4.1.4. Grenze zum Alter „Das“ Alter gibt es nicht, in der Gerontologie wird schon lange differenziert zwischen verschiedenen Phasen. Von „Jungen Alten“ ist ebenso die Rede wie von den „Neuen Alten“. „Hochbetagte“ und „Frührenter“ und „Hochbetagte“ … Sie sind in der Diskussion tiefer drin wie ich. Und so muss vermutlich von den verschiedenen Grenzen zum Alter geredet werden. Viele Menschen erleben das – jetzt wieder reduziert gesprochen - Alter als bedrohlich – und schleichen lange an der Grenze zum Alter entlang, suchen immer wieder Begegnungsmöglichkeiten – meiden diese aber auch. Denn: „Das Alter wird nicht selten als Störfall angesehen, dessen Risiken und Schäden man 4 so gering wie möglich halten muss.“ So tasten sich viele an dieser Grenze entlang – und wissen, dass die Grenze mit 60 oder 80 Jahren sich unterschiedlich darstellt. „Altsein“ ist eine neue Identität. Man kann neugierig auf die Maßstäbe des Alters sein, auf die verschobenen Grenzen und vielleicht auch leichten Herzens alle Planzwänge abwerfen, wenn man eine Grenze überschritten hat an der man sich möglicherweise lange schon entlang getastet hat, an die man sich herangetastet hat. Die Grenzen zum Alter sind vermutlich trotz aller Täuschungen und Irrtümer als Markierung in 5 den gleitenden Übergängen wahrnehmbar – und „diese Wahrnehmung (ist) ein Gewinn.“ Denn auch der Rückzug aufs Eigene ist eine wichtige Bewegung und öffnet eine neue Lebensphase – oder um im Bild zu bleiben: ein weites, wenn auch begrenztes Land. Manche erleben diese Phase mit Panik, andere entdecken neue Freiheiten: Und so kann ich entweder resignierend und anklagend formulieren: „Ich kann nicht mehr“ oder „Ich darf nicht mehr“ oder befreit: „Ich muss nicht mehr“ oder „Ich brauche auch nicht mehr“ … Vielleicht hilft zu dieser inneren Freiheit der Glaube, eine Sinnerfahrung. Ggfs. zu CG Jung: Glaube und Religion als „Thema“ und „Erfahrung“ 4.1.5. Eriksons „letzte“ Phase: Integrität vs. Verzweiflung und Ekel Es macht Sinn einen vertiefenden Blick auf die letzte Erikson’sche Phase zu werfen – schließlich sind das die Menschen, die in AltenPflegeHeimen eine neue Heimat gefunden haben. Ich fokussiere diesen Blick durch die Frage der Grenzen:

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Krüger, Renate, Herbst des Lebens. 2010. http://www.dreikoenigswege.de/04._Phasen-_Grenzen-_Ubergange.pdf download: 2013-04-03 5 Krüger 2010.

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Generell kann gesagt werden, dass die Aufgabe dieses Lebensabschnittes darin liegt, sich mit dem eigenen Alter/Altwerden und dem Tod als kommender Grenze auseinander zu setzen. Der Rückblick aufs eigene Leben wird Manches nochmals hochholen: Gute und belastende Erfahrungen, Gelungens und Mißlungenes. Ich denke an eine Frau, sie ist jetzt über 80 Jahre alt, - sie erzählt immer wieder davon, dass ihre Mutter sie als 14/15 Jährige im Krieg allein zurückgelassen hat, während die Mutter mit dem jüngeren Bruder in den Schwarzwald, in die Sicherheit vor den Bombenangriffen geflohen ist. Oder: dass sie nicht von zuhause weg durfte zum Kinderkrankenschwester werden, weil Mädchen sowieso heiraten. - Sie erzählt auch glückliche Momente: die Zeit nach dem Krieg, als in der Kirche, in kirchlichen Gruppen Freundschaften entstanden, eine Theatergruppe den „Jedermann“ spielte … und die Augen leuchten; auch wenn sie von den Kindern erzählt, ihren Kindern und den Enkeln – und wie stolz sie ist, dass sie Urenkel hat und gleichzeitig traurig, dass sie diese so wenig sehen kann. Ich könnte noch lange erzählen – aber Sie kennen diese Lebenserinnerungen alle aus Ihren Gesprächen … Ein Thema ist die Zufriedenheit – die Lebenszufriedenheit. Oder soll ich sagen: der Sinn, der in allem, was war, gesehen werden kann – in das, was war, hineininterpretiert wird. Und oft genug höre ich dann sinngemäß das, was Vaclav Havel einmal so formulierte: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Erfahrene – und sicher auch erlittene - Grenzen werden dann akzeptiert und respektiert: es geht nicht mehr darum, alles nochmals zu versuchen und ganz anders machen zu wollen. Ein ganz anderes Kapitel im Buch des Lebens aufzuschlagen, ein ganz anderes Territorium zu beleben. Soll ich sagen: es ist ein Zurückziehen auf das Eigene, das Gelebte. Die Expansionstendenzen werden weniger; teilweise werden ganz bewusst Grenzüberschreitungen oder Grenzerfahrungen gesucht, ich denke z.B. an Fernreisen. Es 6 geht um Integrität und Identität. Die Grenzen werden enger … mehr und mehr: körperlich 7 und psychisch . Und die noch zu erwartende Lebenszeit wird kleiner. Eine Grenze, die bedrohlich werden kann – als Angst vor dem Sterben, weniger vor dem Tod selbst, wenn ich die Gespräche richtig interpretiere. Ich-Integrität bedeutet nach Erikson: Mit seinem Leben ins Reine zu kommen / gekommen zu sein: Alles, was passiert ist, war notwendig; es hat dieses Leben zu MEINEM Leben gemacht. C.G.Jung hat spricht von der Integration des Schattens, des Ungelebten, des Verdrängten, dem Zulassen der anderen Anteile – und bei Animus bzw Anima wird erkennbar, dass Individuation ein lebenslanger Prozess ist und nicht erst im Alter ansetzt. Entscheidend ist dabei, dass die Grenzen, die Brüche, das Mißlingen dabei akzeptiert werden und sind. Dass eine Auseinandersetzung mit dem allen stattgefunden hat. Dass so etwas wie „Weisheit“ / Altersweisheit entstehen könnte. Diese verzichtet auf die Verzweiflung, die entstehen kann, weil manches nicht mehr verändert werden kann. Dass manches eben so und nicht anders gewesen / geworden ist. Altersweisheit kann auch zu den eigenen Anteilen dabei stehen. Und dabei vielleicht das eine oder andere loslassen.

4.1.6.Gesprächsrunde 4: Welche Grenzen und Ambivalenzen kommen ins Spiel, wenn die von Erikson beschriebene Phase Initiative versus Verzweiflung - Sehr lange dauert - Durch Dementielle Erkrankung geprägt ist - Zunehmenden Verlust von Autonomie und Selbstgestaltung / Selbstwirksamkeit mit sich bringt

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Abnehmende Leistungsfähigkeit; Menopause; Erektionsstörungen; zunehmende Herz-/Kreislauferkrankungen; Diabetis; Arthritis; Atemnot; Hautreizungen /-jucken; Herzbeklemmung; Schlaflosigkeit; Zunehmende Ängste – z.B. vor Stürzen oder Erkrankungen; das Gefühl: Ich komme nicht mehr mit

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4.2. Versagen / Schuld / Sünde Ich knüpfe nochmals an mein letztes Stichwort an: Brüche, Misslingen; verweile somit bei einem Thema, das immer wieder, nicht nur in der letzten Lebensphase / am Ende des Lebens, „hochkommt“. Die Erfahrung von Versagen, Schuld, das Thema „Sünde“. Der deutsche Philosoph Ludwig Büchner (1824-1899) formuliert: „Der Mensch ist ein Abgrund: Es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.“ Dieser Tage las ich, dass der abgedankte Papst Benedikt gerne Augustinus zitiert: „Der Mensch ist der große Abgrund. Was daraus aufsteigt, vermag niemand im Voraus zu überblicken. Es ist einfacher seine Haare zu zählen als seine Gefühle und die Bewegungen seines Herzens.“ Nicht ganz einfach, wenn man diese Sätze von sich selber sagen muss, wenn dies als Lebensbilanz stehen bleibt: „Ich bin ein großer Abgrund. Was daraus aufsteigt / aufgestiegen ist, vermag niemand im Voraus zu überblicken.“ Oder anders formuliert – in Anlehnung an Paulus z.B.: „Das Gute kann ich nicht (immer) vollbringen.“ „Ich habe nicht alles geschafft.“ „ich bin Menschen etwas schuldig geblieben.“ „Ich bin schuldig geworden.“ 4.2.1. Sünde – Definitionen Die hebräische Wortwurzeln ermöglichen verschiedene Zugänge: - Chata – verfehlen – das Ziel verfehlen - Awon – verdrehen - Paescha – brechen – brechen mit „Sünde“ kann - als Auflehnung gegen Gott beschrieben werden, - die Erwählung, die Bundeswirklichkeit wird verfehlt; - Sünde ist eine zerstörende Gewalt, die sich auch in der Ungerechtigkeit im Volk zeigt Dass Menschen in und von der Sünde gefangen sind, wird mit dem Wort „Erbsünde“ beschrieben – so werde ich einen kurzen Blick auf Gen 3, die urgeschichtliche Erzählung vom sogenannten Sündenfall. 4.2.2. Gen 3 Exegetisch muss nach der Funktion der Schlange in der Erzählung vom Sündenfall gefragt werden: Wird hier ein „Gegengott“ 8 aufgebaut – eine fremde Macht, die Menschen beherrschen will? Die christliche Theologie sieht über viele Jahrhunderte in der Schlange die Verkörperung des Teufels, des gefallenen Engels, … Ich habe nicht nachgegraben, ob und ggfs. welche altorientalischen Mythen hier mit verarbeitet sind – ich denke, die eine, der andere von Ihnen kann dazu später was beisteuern. Die Schlange hat eine „Entlastungsfunktion“ für den Menschen. Es wird deutlich, dass der Mensch „gefährdet“ ist, dass seine Existenz bedroht ist. Diese Gefährdung wird externalisiert – und das kann schon gut entlasten: die Frau, die Du mir gegeben hast … Die Schlange, die Du geschaffen hast … Du bist selbst schuld. Und zugleich gilt – hier folge ich Härle: „Die Schlange … (symbolisiert) eine Erinnerung an das dem Menschen gegebene Verbot und damit an die Gefährdung der menschlichen Existenz durch sein eigenes Wählen und Wollen. … Es ist nicht irgendeine von außen an den Menschen herantretende Versuchung …, sondern das Bewusstsein einer im Menschen liegenden gefährlichen und darum ‚ängstigenden Möglichkeit’. Insofern ist die Schlange Ausdruck der ‚kreatürlichen Angst’, die zum geschöpflichen Sein des Menschen gehört und 9 dem sensiblen Gespür für die eigene Gefährdung entspringt.“ 8 Ähnliche Gedanken / Konstruktionen finden sich an verschiedenen biblischen Stellen: Fuhr der böse Geist in Saul … ist nur eine der Varianten. Oder die Rahmung des Buches Hiob zeigt auch die Idee des Gegengottes, des Bösen, des Verführers. 9 Härle, Winfried, Dogmatik. Berlin 1995; S. 485

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Letztendlich bestimmt die „Sünde“ das Menschsein von Anfang an.

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Erbsünde – oder besser. Ursünde – beschreibt also das „Sünder-Sein“ (peccatum originale – menschheitsgeschichtliche Zusammenhang), die sich in der „Tat-Sünde“ (peccatum personale) – in meiner Definition: Schuld, die auf das Individuelle verweist, manifestiert. 4.2.3.Winfried Härle Härle definiert Sünde als „Verfehlung der Lebensbestimmung, als Verlorenheit, Scheitern oder 11 Misslingen des Lebens“ - eben nicht als „mutwilliges, hybrides Aufbegehren gegen Gott und seinen Willen, sondern als Verfehlen des Zieles und Weges, den Gott dem Menschen zugedacht hat. ‚Sünde’ ist demzufolge primär Verlorenheit, Scheitern, Misslingen und nicht 12 primär Rebellion, Ungehorsam, Absage an Gott.“ Aus dem verkehrten Gottesverhältnis folgt 13 „ein verkehrtes Selbst- und Weltverhältnis“. Das menschliche Leben ist in Härle’s Schöpfungslehre als „Bestimmung zur Liebe“ qualifiziert, 14 Sünde ist demzufolge „ihrem Wesen nach stets Verfehlung der Liebe“ . Die mythologische Erzählung von Sündenfall macht deutlich, dass der Mensch fähig zur Sünde ist. Will sagen, dass er seine Bestimmung verfehlen kann. Und die Freiheit hat, sich zu verfehlen … „Dem Menschen ist sein Dasein nicht nur gegeben, sondern so gegeben, dass es 15 gelingen oder scheitern kann und dass er das auch weiß oder es doch ahnt.“ 16

Menschsein bedeutet somit um sich selbst und die von Gott gegebene Bestimmung zu wissen, gleichzeitig auch um die eigene Gefährdung zu wissen. Der Mensch ist das Geschöpf, das auswählen muss und kann – und damit die Freiheit zum Fehlen hat. Dass „Sünde“ eine Macht ist, die Menschen zu schaffen macht und zu der jede und jeder sich verhalten kann, wird erkennbar in Gen 4: Kain wird auf diese, auf seine Freiheit, zu handeln und Entscheidungen zu fällen, angesprochen: „Die Sünde lauert vor der Tür, und nach Dir hat sie Verlangen. Du aber herrsche über sie.“ (Gen 4, 7) Von der Freiheit wird also erzählt sich gegen die Macht der Sünde zu stellen, von der geschenkten Freiheit, sich zu verhalten. Claus Westermann macht die Freiheit am Gebot fest: „Im Gebot kann (der Mensch) sich zum Gebietenden stellen, so oder so. … Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, damit etwas zwischen Gott und diesem Geschöpf geschehen kann … (Der Mensch) kann sich an das Gebotene halten oder er kann es verweigern; in beidem verhält er sich positiv oder negativ zum Gebietenden. Die Freiheit dieses 17 Verhaltens entsteht erst am Gebot, es gäbe sie ohne das Gebot nicht.“ Die Schöpfungserzählungen beschreiben den Menschen als „frei“ zu handeln und zu entscheiden. Frei zum Guten und frei zum Bösen. Mir liegt an dieser Formulierung, weil ich weder Automatismen in die eine, noch die andere Richtung akzeptieren kann. Die paulinische Formulierung „die Menschen sind allesamt Sünder“ (Röm 3,23) ist eine Aussage über das Sein des Menschen – aber keine Aussage, die exclusiv so 10

vgl Härle, Winfried, Dogmatik. Berlin 1995; S. 476, Die Menschheitsgeschichte ist von Anfang an eine Geschichte, die von der Realität der Sünde entscheidend mitbestimmt ist 11 Härle, 1995; S. 477 12 Härle, 1995; S. 477 13 Axt-Piscalar, Ch., Art. ‚Sünde VII. Reformation und Neuzeit’ in TRE Bd 32. 428 14 Härle, 1995; S. 478 15 Härle, 1995; S. 482 16 in Anlehnung an Kierkegaards Gedanken in Angst und Krankheit zum Tode 17 Westermann, Claus, Schöpfung. Themen der Theologie Bd 12.Stuttgart 1979 3; S. 128

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stehen bleiben kann. Denn der Nachsatz, der Folgesatz gehört dazu: „sie werden ohne Verdienst gerecht allein aus Gnade durch die Erlösung“ (Röm 3,24). Dieser zweite Satz beschreibt ebenso das Sein des Menschen. Der Mensch – das will ich damit deutlich machen, ist nicht determiniert zum Bösen, auch wenn es die Möglichkeit zum Bösen hat. Genauso wenig stimmt es, wenn wir sagen, dass der Mensch an sich (nur) gut ist, dass er aber durch Verhältnisse, Erziehung, schlechte Erfahrungen … „versaut“ werden kann. Das Spannungsverhältnis muss stehen bleiben: Menschsein bedeutet, Gutes und Böses tun zu können. Und manchmal – aber das wäre der nächste Exkurs – ist gar nicht so klar, was denn 18 das Gute, was denn das Böse ist. Menschsein bedeutet, die Freiheit zur Entscheidung zu haben. Zumindest in Grenzen haben wir diese Freiheit – siehe: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich." (Römer 7,18f.) 4.2.4.Eine Zwischenbilanz: Und so taucht das Thema „Schuld“, das individuelle Versagen im Lebenslauf und „Sünde“, die bedrohliche Macht immer wieder auf – auch und gerade bei den Menschen, mit denen Sie es zu tun haben in der AltenPflegeHeimSeelsorge. - In Gesprächen mit den Sorgebedürftigen und Pflegebedürftigen Menschen, die ihre Lebensbilanz ziehen, sich an zerbrochene Beziehungen zu Kindern oder Eltern erinnern. Die von „Schuld“ reden und vom Krieg und der Nachkriegszeit erzählen. Die Männer, die vom Töten im Krieg erzählen (könnten), werden weniger – aber manche Taten wirken fort … stillschweigend, weil verschwiegen. Hilke Lorenz beschreibt dies in ihren Büchern zu den Kriegskindern und zitiert eine Leiterin einer Pflegeeinrichtung: 19 „Der Zweite Weltkrieg ist bei uns im Altenheim allgegenwärtig.“ - „Schuld“ taucht auch in den Gesprächen mit den Pflegenden, mit dem Personal der Heime auf: das manchmal diffuse Gefühl, den Menschen mit ihren Herausforderungen nicht gerecht zu werden. Ungeduldig geworden zu sein, harsch, abweisend … - „Schuld“ taucht auf bei Angehörigen, bei Töchtern und Söhnen. Ich erinnere mich an eine Frau, die ihre demente Mutter ins Heim gegeben hat – sie sagte mir nach der Bestattung: und immer wieder hatte ich das Gefühl, dass ich sie abgeschoben habe. Auch wenn mir klar war, dass es für sie, für mich, für meine Familie besser ist. Und auch wenn ich im Heim erfahren habe, dass es ihr gut geht … Wir sind angekommen bei einer Erfahrung, die auch Jakob machte: Konventionen übertreten. Er hat die Schwachheit seiner Mutter, seines Vaters, seines Bruders ausgenutzt. Das tut man nicht. Und die Tochter, die ihre Mutter ins Heim gibt?!?! Sie stößt auch an solch eine Grenze: „Man ist für die Eltern da.“ Kennen Sie den Satz: „Eine Mutter kann zwar für vier Kinder sorgen, aber vier Kinder offensichtlich nicht für eine Mutter.“ Kennen Sie den Satz – und was macht der mit Ihnen? Immer wieder stoßen wir an Grenzen – und subjektiv wahrgenommene „Schuld“ ist ebenso wie „objektiv“ feststellbares Versagen solch eine Grenze. Kann ich daran wachsen, mein Leben runden? 18 Dietrich Bonhoeffer macht deutlich, dass wir nicht die Wahl zwischen dem Absolut Guten und dem Absolut Schlechten haben, sondern uns mit dem Relativ Besseren bescheiden müssen – und können. Vgl. Bonhoeffer, Dietrich, Ethik (zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge) München 1949 – aber auch: Stationen auf dem Weg zur Freiheit 19 Lorenz, Hilke, Aus frühen Verlusten wird späte Trauer. Stuttgarter Zeitung vom Nr. 244 V1 20.10.2012: Hilke Lorenz schildert eine typische Situation: der Physiotherapeut sagt nichtsahnend zum knapp 80-jährigen Mann, der aufgrund eines Schlaganfalls seine Beweglichkeit verloren hatte: „Wir sind doch nicht auf der Flucht.“ Und weckt mit dieser Bemerkung die Erinnerungen, holt das Verdrängte nach vorne: Er war in seiner Kindheit auf der Flucht, er musste weglaufen; seine Beine hatten ihn damals getragen – und tragen nun nicht mehr. Mobilität war jetzt dahin. Und neben diesem schmerzlichen Verlust ist durch den unbedachten Satz die ganze Angst der Kindheit wieder da. vgl auch: Lorenz, Hilke, Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. Berlin 20094

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Nein: ich möchte nicht der Tyrannei des gelingenden Lebens verfallen. Ich möchte weder mich selbst, noch andere zwingen, alles rund zu machen und ganz und notfalls zwingen, beschönigend und glättend über das eigene Leben zu reden. Das kostet viel zu viel Kraft. Ich möchte Grenzen, emotionale Grenzerfahrungen nicht schön reden (müssen). Sondern auch und gerade hier in aller Bruchstückhaftigkeit festhalten: „Leben als Fragment zu verstehen, heißt nicht, erniedrigt zu werden, auf die Unvollkommenheit festgelegt zu werden, also klein gemacht zu werden… Verstehen wir unser 20 Leben als Fragment, können wir aufatmen und leben.“ „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete 21 und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Dietrich Bonhoeffer

4.3. Du kommst mir zu nahe – Vom Nutzen der Grenzen Grenzen müssen respektiert werden – auch die Grenze, die eine / einer zieht, wenn sie oder er nicht reden will über das, was war, was sie oder ihn belastet. Grenzen haben eine Schutzfunktion. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir selbst so, dass ich zu manchen Zeiten manche Dinge einfach ruhen lassen muss. Grenzen sind zu respektieren – ich habe dies gerade deutlich gemacht im Blick auf 4.3.1. Emotionale Übergriffe Das Selbstbestimmungsrecht zieht auch hier eine Grenze: es ist nicht die Aufgabe einer Seelsorgerin / eines Seelsorgers, Menschen zur Beichte zu verleiten – oder soll ich sagen: verführen. Auch in bester Absicht darf das nicht geschehen. Ich kann Mut machen, dass Menschen sich dem eigenen Leben stellen und zurückblicken auf das gelebte Leben. 22 Aber es gilt auch, wie Martin Luther formuliert: Schuld ist „in gewissen Fällen“ auch vor Menschen zu bekennen …

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Henning Luther Dietrich Bonhoeffer, aus der Bilanz „Nach zehn Jahren“ (1943) in: Widerstand und Ergebung. München Buße tun heißt: umkehren in die offenen Arme Gottes. Dazu gehört, dass wir die Sünden herzlich erkennen, vor Gott und in gewissen Fällen auch vor Menschen bekennen, bereuen, hassen und lassen und im Glauben an Jesus Christus in einem neuen Leben wandeln.

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4.3.2. Sexuelle Übergriffe Grenzen sind auch zu respektieren im Blick auf die physische Dimension meines Lebens. Ich denke an das Thema „sexuelle Übergriffe“ bei Schutzbefohlenen – und dazu gehören Alte und Pflegebedürftige Menschen auch. Allerdings muss ich dies auch rumdrehen: Manchmal scheint die Hand des Älteren Mannes wie zufällig über den Busen der Pflegenden zu streicheln. Und verbale Entgleisungen kennen Sie sicher auch. 4.3.3. Respekt vor der Person des anderen Alte Menschen sind nicht per se „Oma“ oder „Opa“ – oder wie die verallgemeinernden Formulierungen derzeit in der Pflege auch immer lauten mögen. Es sind Frau Müller und Herr Maier – und ich denke, jeder Entpersönlichung ist zu wehren. Auch das sind unerlaubte Grenzüberschreitungen.

4.4. Mit Grenzen leben In der Auseinandersetzung mit Grenzen, im Reiben an Grenzen werden wir zu den unverwechselbaren Menschen. Immer wieder, immer neu … Wir sind nie fertig – weder mit uns und hoffentlich auch nie mit anderen Menschen. Dass dies alles nicht nur einfach ist … ich brauche es nicht betonen. Meine engen Grenzen, meine Dunkelheit bringe ich vor Dich. Wandle sie in Weite … Herr, erbarme Dich! Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt, bringe ich vor Dich. Wandle sie in Stärke ... Herr, erbarme Dich. Mein verlornes Zutraun, meine Ängstlichkeit, bringe ich vor Dich. Wandle sie in Wärme … Herr, erbarme Dich. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit bringe ich vor Dich. Wandle sie in Heimat … Herr, erbarme Dich. 23

Das Gesangbuchlied nimmt Grenzen auf – und wandelt Grenzerfahrnungen in Heimat – bitte darum, dass Heimat da werde, wo Ohnmacht, Angst, Sehnsucht uns begleiten – bestimmen.

4.5. Hinweis / Exkurs: Rite de Passage / Rituell Übergänge gestalten An dieser Stelle möchte ich auf die Bedeutung von Ritualen hinweisen, die achtsame Gestaltung von Übergangen. Ich denke dabei an - Ruhestandsbeginn - Wohnungsaufgabe / Wechsel - Tod und Sterben - Einzug ins Pflegeheim Wie können wir solche Übergänge gut gestalten und begleiten?

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Evangelisches Gesangbuch Nr. 589. Text; Eugen Eckert. Melodie: Winfried Heurich (1981)

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5. Theologisches Nun ist manches en passent bereits aus dem Bereich „Theologie“ angeklungen. Im letzten Schritt werde ich dies bündeln.

5.1. Hebräische Bibel – Altes Testament Wenn ich recht sehe, finden sich in der Hebräischen Bibel eine Menge Erzählungen von Grenzen und Grenzüberschreitungen oder Ausweitungen. Immer wieder ist von Aufbrüchen die Rede, von Übertritten und Ausweitung. Eigentlich ist – religionsgeschichtlich gesehen – die Geistesgeschichte, die zum Bundesgottes Jahwe geführt hat, eine Geschichte von Grenzüberschreitungen und Ausweitungen: Attribute, die 24 einzelnen Stammesgöttern zugeordnet waren, werden inkorporiert; aus dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, einem Stammesgott also, wird der Befreier eines Volkes aus der Unterdrückung, der Gott, der einen Bund mit zwölf Stämmen schließt … Die Deutungsleistung der einzelnen Traditionen wird immer mehr ausgeweitet – was einem Volk, einer Person galt, wird universalisiert. Und Menschen, die sich auf diesen Gott einlassen, werden permanent herausgelockt und herausgeführt aus Gewohntem und Vertrautem: - „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen werde.“ Abrahams Berufung Gen 12,1 - „Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr, siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben.“ (Abraham und Sara Gen 18,10) - „Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf – und er hinkte an seiner Hüfte.“ Gen 32 - Josef und seine Brüder: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“ Gen 50, 20f - Moses Berufung – „Zieh deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort auf dem Du stehst ist heiliges Land.“ „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs. – Ich bin, der ich sein werde.“ (Exodus 3, 5. 6. 14 …) - Exodus aus Ägypten – und die Wüste lebt (Manna) Ihnen fallen weitere Grenzüberschreitungen ein – weitere Grenzerfahrungserzählungen – biblische Narrative, die das Leben deuten helfen.

5.2. Christentum als Grenzüberschreitung Auch in der Neutestamentlichen Traditionen mache ich nur Andeutungen: 5.2.1. Gottes Bundesschluss ist universal – „Allversöhnung“ Der Bund, der mit dem Volk Israel geschlossen wird, wird durch den Zimmermannssohn Jesus aus Nazareth zum universalen Bund. Paulus müht sich im Römerbrief damit ab, 25 deutlich zu machen, dass die Treue Gottes gegenüber Israel nicht dadurch ins Wanken kommt, dass die Versöhnung in Christus der ganzen Welt gilt, den Juden und den Heiden. Dazu dient die Adam-Christus-Typologie in Röm 5 ebenso wie die Kapitel 9-11, die von hinten her zu lesen und interpretieren sind: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes.“ (Röm 11, 29.33)

5.2.2. Paulus als der Grenzüberschreiter 24

Wir reden vom Traditionsstrang des „Elohisten“ und meinen die Gruppe von Menschen, die in der Zusammenstellung und Verschriftlichung der mündlichen Traditionen den Gottesnamen „Elohim“ – einen Plural – verwendet haben. hier als theologische Qualifikation zu lesen, nicht als geo-politische Aussage

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So will ich Paulus auch als den Grenzüberschreiter beschreiben – angestoßen von dem, was er über den „Herrn Jesus“ (1. Kor 11, 23b) erfahren hat, was ihm erzählt wurde von Menschen, die vor Paulus von der Weite Jesu infiziert waren. Die Grenzüberschreitung bei Paulus wird ganz deutlich in seinem Umgang mit den jüdischen Gesetzen, die für ihn nicht mehr heilsrelevant sind. Wenn ich die Gesetzestradition des Judentums richtig verstanden habe, dienen die Gesetze dem Schutz des Menschen, sie stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Menschen sich bewegen können, ohne zu sündigen. Ein Territorium wird begrenzt, innerhalb dessen das „gute Leben“ stattfinden kann. Außerhalb dann nicht. Paulus bricht diese Grenze auf – weil er das, was er vom Leben und Sterben Jesu weiß, nur so interpretieren kann, dass der Bund Gottes ausgeweitet ist. Dass das Territorium, auf und in dem „gutes“, von Gott begeistertes Leben möglich ist, weiter ist als das, was durch die Gebote und Verordnungen im Judentum abgesteckt wurde. Dieses Denken und Wissen zwingt Paulus zu seiner ruhe- und rastlosen Missionstätigkeit: Wenn Gottes Güte nicht begrenzt ist, wenn der Bundesschluss allen gilt, dann muss das doch auch bis an die Grenzen der damals bekannten und bewohnten Erde erzählt werden. 5.2.3. Erzählungen in den Evangelien: Jesus aus Nazareth – ein Grenzüberschreiter Wenn ich die Erzählungen der Evangelien anschaue, dann entdecke ich sehr viele Begegnungen an Grenzen. Der Begriff „Austauschzone“ wird hier geradezu sprechend. Und gerne können Sie die folgende Aufzählung, die ich zunächst entlang des Markusevangeliums gemacht habe, ergänzen - Jesus fasst die Schwiegermutter Simons an der Hand, als sie fiebernd nieder liegt und richtet sie auf. – der Beginn der Krankenheilungserzählungen durch Berührung. (Mk 1, 29ff). Wenn Johannes erzählt, dass Jesus in den Sand spuckt und den Brei dann auf die Augen eines Blinden schmiert, wird diese Grenzüberschreitung noch deutlicher. (Joh 9) Auch Mk erzählt von dieser Heilungsmethode: Mk 7. 33 „und berührte seine Zunge mit Speichel“ - Die Heilung der Aussätzigen – schon am Begriff „Aussatz“ wird die gezogene Grenze erkennbar (Mk 1,40ff) - Sündenvergebung bei dem Gelähmten, der durch das Dach runter gelassen wird (Mk 2, 5) – hier eine Einmischung in Gottes Angelegenheit - Berufung der Zöllner – und das Mahl mit den Zöllner – Mk 2, 13 - Übertretung der Regeln / Gebote: Fasten Mk 2.18: Wie können Hochzeitsgäste fasten Ährenraufen am Sabbat Mk 2, 27: der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht Heilung am Sabbat Mk 3 - Familienbande „Wer Gottes willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Mk 3, 35 - Grenze zum Tod: Auferweckung der Tochter des Jairus Mk 5, 35 - Völker-Grenzen: Frau aus Syrophönizien (Mk 7,24ff) Jesus lässt sich erweichen und verschenkt seine Wohltaten nicht nur den Kindern des Volkes Israel sondern auch an die Fremden, die befremdlicherweise in Bildwort als „Hunde“ auftauchen. - …. - Man könnte noch viele solche Grenzübertretungen oder Erzählungen über die Austauschzonen anführen. Und an all diesen Stellen wird mir deutlich: es geht um Austausch – um Veränderung, Erneuerung, Neubeginn. Ich möchte nur eine letzte Grenze benennen: -

Kreuzestod und Auferstehung:

Der Gott am Kreuz – eine ungeheure Provokation. Der leidende Gott – hier punktuell 26 festgemacht in der Kreuzeserfahrung. Die Dynamik, die darin steckt, hat Dietrich Bonhoeffer aufgenommen in „Christen und Heiden“ Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,

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Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Neuausgabe 1977; S.403

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um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden. Hans Jonas geht in seinem Vortrag „Der Gottesgedanke nach Ausschwitz“ einen deutlichen Schritt weiter: es geht ihm nicht um den einmal leidenden Gott, um den „einmaligen Akt, durch den die Gottheit zu einer bestimmten Zeit, und zu einem besonderen Zweck der Erlösung des Menschen, einen Teil ihrer selbst in eine bestimmte Leidenssituation sandte (die Fleischwerdung und Kreuzigung). … Das Verhältnis Gottes zur Welt (beinhaltet) vom Augenblick der Schöpfung an, und gewiss von der Schöpfung des Menschen an, ein Leiden 27 seitens Gottes“. Wir reden selbstverständlich vom Leiden der Schöpfung / Kreatur (Röm 8, 18ff) Nicht so selbstverständlich vom – ich formuliere bewusst zugespitzt – permanent leidenden Gott. Dabei ist die Frage zu stellen: „Begegnen wir nicht auch in der hebräischen Bibel Gott, wie er sich vom Menschen missachtet und verschmäht sieht und sich um ihn grämt? Sehen wir ihn nicht einmal sogar bereuen, dass er den Menschen schuf, und häufig Kummer leiden an der Enttäuschung, die er 28 mit ihm erfährt – und besonders mit seinem erwählten Volk?“ Gott, der in der Beziehung und durch die Beziehung zum Menschen und zur Kreatur leidet … der Prophet Hosea wählt ja zutreffend die Liebesklage als Stilmittel. Wie auch immer: ein leidender Gott, ein gekreuzigter Gott – eine Provokation in den theologischen und religiösen Deutungskonzepten um die Zeitenwende – und auch heute noch. Und mit dem Theologumenon „Auferstehung“ wird auch die Grenze, die der Tod zieht, aufgebrochen und überschritten. Zeit und Ewigkeit werden ineinander gebracht – miteinander verbunden. Das Leben wird transzendiert … Damit bin ich an meinem Zielpunkt angelangt: Transzendierung meiner Grenzen. Nicht selbstgemacht, sondern als Geschenk. 29 Von Eugen Eckert als Bitte formuliert: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor Dich. Wandle sie in Weite … Herr, erbarme Dich.“ Transzendierung als Widerfahrnis, als Zufallendes, als … Heiliges und Profanes sind nicht mehr getrennt: Der Vorhang im Tempel zerreißt, der Blick ins Allerheiligste ist möglich (Mt 27, 51) – mehr noch: Das Wort ist Fleisch und wohnt unter uns. Der Logos, das ewige, weltdurchwirkende Gestalten Gottes ist unter uns. (Joh 1,14 ff). Christus lebt in mir und ich in Christus (Gal 2,20). Göttliches im Menschlichen, ungetrennt – gut vermischt … Für mich ist das die Grenzerweiterung, die in den Erzählungen über den Zimmermannssohn und seine Wirkungsgeschichte in den Evangelien und den Briefen im Neuen Testament erkennbar wird. 27 28 29

Jonas, Hans, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Suhrkamp 1987; S. 25f Jonas, 1987; S. 26 Evangelisches Gesangbuch Nr. 589.

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Die Grenze zwischen Gott und Mensch, zwischen Erde und Himmel ist aufgehoben. Mein Leben ist und wird transzendiert – entgrenzt, die Grenzen meines Lebens werden überschritten. Das Reich Gottes ist mitten unter uns.

5.3. Hoffnung kann das Herz erquicken - Grenzen Grund der Hoffnung Ein retardierendes Element muss ich in diese, meine Entgrenzungstheologie einbauen: „Auf den Wegen zu sich selbst kommt die Menschheit nur voran, wenn sie ihre eigene 30 Begrenztheit erkennt, bejaht und verarbeitet. Grenzenlose Wege führen nicht voran.“ Wir wissen, dass diese Welt Grenzen hat, dass unser leibliches Leben begrenzt ist – dass es ein Ziel hat und „ich davon muss“ (Psalm 90). „Hoffend sich auf die eigene Grenzen zu beziehen, bedeutet, die Begrenztheit des menschlichen Seins und die Begrenztheit der Welt zu bejahen. Hoffend nimmt der Mensch ernst, dass ihm 31 Grenzen gesetzt sind. … Grenzenlos sein hieße hoffnungslos sein.“ Und so bin ich wieder beim „Schon und Doch-Noch-Nicht“ des Reiches Gottes. Es ist mitten unter uns – und doch noch nicht da. Ich lebe in „engen Grenzen“, die ich permanent weiten möchte – und spüre: ich brauche sie auch, weil diese Grenzen mich schützen – auch vor Überforderung. Das Reich Gottes ist schon da – ja; und es wird in der Fülle da sein, kommen – diese Hoffnung hält am Leben, wenn ich mich an Grenzen abarbeite, stoße, wenn Spuren meines Lebens in meiner Seele zurückbleiben. Dann ist zu sagen: „Die Liebe – das ist eben … die Macht, die den Menschen menschlich und immer noch menschlicher macht. Im Glauben an diese Macht und in der Hoffnung auf ihren Sieg hört der Mensch niemals auf, Mensch zu werden. … In der Liebe (und Jüngel meint damit „in Gott“ JLB) 32 werden wir Seiende, die nicht aufhören können, zu werden.“

6. Gesprächsrunde: Anmerkungen / Aufregungen / Ergänzungen / Weitungen / Hinweise / …. Was ich noch sagen will …

7. Zum Abschluss: Himmelsleiter Die Sonne war untergegangen. Es war Nacht – wieder mal. „Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf uns sprach: … Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in das Land. Denn ich will dich nicht verlassen.“ (Gen 28, 12f. 15) Kirchenrat Joachim L. Beck Fortbildung für Gemeinde und Diakonie Bildungszentrum der Evangelischen Landeskirche Mail: [email protected] Tel.: 0711 458049440 www.fgd-bildungszentrum.de 30 31 32

Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Tübingen 1977. S. 540 Jüngel, 1977. S. 541 Jüngel 1977. S. 543

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