Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen Globalen Lernens

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen Globalen Lernens Inaugural-Dissertation in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-...
Author: Oskar Walter
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Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen Globalen Lernens

Inaugural-Dissertation in der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

vorgelegt von

Matthias Huber aus Erlangen

D 29

Tag der mündlichen Prüfung: 20.07.2005

Dekanin:

Universitätsprofessorin Dr. Elisabeth Erdmann

Erstgutachterin:

Universitätsprofessorin Dr. Annette Scheunpflug

Zweitgutachter:

apl. Professor Dr. Dr. Uwe Krebs

Abstract Die vorliegende Arbeit untersucht Lernherausforderungen Globalen Lernens aus einer naturwissenschaftlich anthropologischen Perspektive. Im ersten Teil der Arbeit (Gliederungspunkt 2) wird dargestellt, welche grundlegenden Lernherausforderungen in den im deutschsprachigen Raum dominanten Konzepten Globalen Lernens formuliert werden. Die Analyse zeigt, dass sich drei wesentliche Lernherausforderungen beschreiben lassen. In sachlicher Perspektive ist dies die Fähigkeit zum Umgang mit zunehmender globaler Komplexität und Vernetzung. In zeitlicher Hinsicht wird die Förderung eines zukunftsbewussten Handelns und im sozialen Focus die Entstehung einer globalen Solidarität und Gerechtigkeit angestrebt. Im zweiten Teil der Arbeit (Gliederungspunkt 3) werden diese drei Lernherausforderungen aus naturwissenschaftlich anthropologischer Perspektive reflektiert. Die naturwissenschaftliche Anthropologie beschreibt den Menschen vor dem Hintergrund seiner evolutionären Entwicklung und Angepasstheit. Die evolutionären Entwicklungsprozesse lassen sich nicht nur in physischen Merkmalen wie z.B. den Körperbau, sondern auch in psychischen Faktoren wie z.B. bei kognitiven Möglichkeiten und sozialen Verhaltensweisen belegen. Es lassen sich Faktoren beschreiben, die im steinzeitlich prägenden Zeitalter der menschlichen Entwicklung evolviert wurden und bei der Lösung aktueller Herausforderungen nicht vernachlässigbar sind. Untersuchungsergebnisse verschiedener Forschungsrichtungen, die mit dem evolutionären Paradigma arbeiten, verdeutlichen die menschlichen Möglichkeiten und Grenzen der in Konzepten Globalen Lernens formulierten Lernherausforderungen. Es wird argumentiert, dass die Kenntnis des evolutionären Erbes die Chance birgt, globale Lernherausforderungen präzise zu formulieren. Eine Reflexion der Lernherausforderungen Globalen Lernens anhand der Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Anthropologie ermöglicht es, didaktische Überforderungen zu vermeiden und den menschlichen Möglichkeiten angemessene didaktische Vorschläge hinsichtlich einer Didaktik Globalen Lernens zu machen.

1. Einleitung

1

1.1 Problemkontext

1

1.2 Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit

5

1.3 Naturwissenschaftliche Anthropologie

5

1.4 Aufbau der Arbeit

7

1.5 Methodischer Zugang

9

2. Konzepte Globalen Lernens

11

2.1 Lernherausforderungen Globalen Lernens

11

2.1.1 Umgang mit Komplexität und Globalität

13

2.1.2 Entstehung von zukunftsbewusstem Handeln

32

2.1.3 Förderung von weltweiter Solidarität und globaler Gerechtigkeit

43

2.2 Methodische Zugänge Globalen Lernens

54

2.3 Zusammenfassung und Konkretisierung der Fragestellung

65

3. Lernherausforderungen Globalen Lernens aus der Perspektive

68

naturwissenschaftlich anthropologischer Erkenntnisse 3.1 Erkenntnisse zum Umgang mit komplexen und globalen Problemen

68

3.1.1 Bewältigung komplexer Strukturen aus psychologischer Sicht

70

3.1.1.1 Merkmale komplexer Situationen

70

3.1.1.2 Exkurs: Computersimulationen als Untersuchungsmethode

73

3.1.1.3 Untersuchungsergebnisse zur Komplexitätsbewältigung

75

3.1.1.4 Erklärungsansätze für komplexe Problemlösungskompetenz

88

3.1.2 Erkenntnisfähigkeit komplexer globaler Strukturen aus

90

evolutionstheoretischer Sicht 3.1.2.1 Evolutionäre Entwicklung

90

3.1.2.2 Evolutionäre Angepasstheit

93

3.1.2.3 Raumerweiternde kognitive Möglichkeiten

96

3.1.2.4 Bewegung in unterschiedlichen Erkenntnisräumen

98

3.1.3 Folgerungen für Globales Lernen: Teil 1

102

3.1.3.1 Komplexe Problemlösungsfähigkeit

102

3.1.3.2 Spezifizierung der Anforderungen

107

3.1.3.3 Didaktische Perspektiven vor dem Hintergrund des Mesokosmos der Erkenntnis

109

3.2 Erkenntnisse zum Umgang mit Zeit und Zukunft

112

3.2.1 Kompetenzen bei zeitabhängigen Problemen aus psychologischer Sicht

114

3.2.1.1 Monotone exponentielle Entwicklungen

115

3.2.1.2 Inkonstante Entwicklungsstrategien

118

3.2.1.3 Erklärungsansätze für den kognitiven Umgang mit Zukunftsperspektiven

121

3.2.2 Die Zukunftsperspektive in der evolutionären Anpassung aus evolutionär

124

erkenntnistheoretischer Sicht 3.2.3 Die Gegenwartsbezogenheit des Verhaltens aus soziobiologischer Sicht

126

3.2.4 Folgerungen für Globales Lernen: Teil 2: Umgang mit Zeit und Zukunft vor

128

dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse 3.3 Erkenntnisse zur Entstehung von Solidarität

135

3.3.1 Soziale Prägungen aus Sicht der Evolutionären Erkenntnistheorie

137

3.3.2 Solidarität aus Sicht der Soziobiologie

140

3.3.2.1 Mutualismus

141

3.3.2.2 Altruismus

143

3.3.2.3 Beobachtungsaltruismus bzw. Prestigeakkumulation

147

3.3.3 Soziale Verhaltensstrategien aus Sicht der Spieltheorie

149

3.3.3.1 Erfolgreiche Kooperationsstrategien

150

3.3.3.2 Gerechtigkeitsvorstellungen

162

3.3.4 Kognitive Fähigkeiten zur Überprüfung von Regeln aus Sicht der

167

Evolutionären Psychologie 3.3.5. Folgerungen für Globales Lernen: Teil 3: Förderung von globaler Solidarität 174 vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse 3.3.5.1 Weltweite Solidarität und sozialer Mesokosmos

174

3.3.5.2 Weltweite Solidarität und Mutualismus, Altruismus und Prestigeakkumulation

180

3.3.5.3 Weltweite Solidarität, Gerechtigkeit und spieltheoretische Überlegungen

186

3.3.5.4 Weltweite Solidarität und evolutionspsychologische Erklärungsansätze

192

4. Fazit und Ausblick

195

5. Literaturverzeichnis

205

Dank

-

an Prof. Dr. Annette Scheunpflug für die fürsorgliche Promotionsbetreuung

-

an apl. Prof. Dr. Dr. Uwe Krebs für die Unterstützung und Zweitkorrektur

-

an Prof. Dr. Heinz S. Rosenbusch für die Förderung

-

an meine Mutter Hilga Huber

-

an meine Frau Birgit und meinen Sohn Hannes

1

Einleitung

1.

Einleitung

1.1

Problemkontext

Die politische Herausforderung Spätestens seit den großen UN-Konferenzen der neunziger Jahre ist es allgemeine Übereinstimmung, dass sich die Welt globalisiert und immer mehr Probleme der Menschheit globale Herausforderungen geworden sind. Diese komplexen globalen Herausforderungen

sind

so

umfassend,

dass

sie

von

manchen

Autoren

Überlebensprobleme genannt werden (vgl. UNDP, 1999). Darunter fallen z.B. Umweltprobleme, Ernährungsprobleme, Armutsprobleme, Probleme der Über- und Unterentwicklung. Diese Probleme sind als solche nicht neu; viele dieser Herausforderungen begleiten die Menschheit von Anbeginn. Neu ist allerdings seit einigen Jahrzehnten deren Qualität bzw. deren Bedrohungspotenzial für die Menschheit. Diese neue Qualität ist u.a. in ihrer weltumfassenden Vernetztheit und die globalen, alles Leben betreffenden Auswirkungen beschreibbar. Diese neue Bedeutung wird seit Anfang der 1980er Jahre auch unter dem Begriff der „Globalisierung“ diskutiert (vgl. SEITZ, 2002, S. 50f.). Die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Globalisierung hat sich in den letzten Jahren stark intensiviert (vgl. a.a.O., S. 81). Globalisierungsentwicklungen gewinnen in vielen Bereichen der Gesellschaft zunehmenden Einfluss. Sie zeigen sich – abgesehen von den oben benannten Problemen – auf vielfältigen Ebenen, so in der Entwicklung von Finanzund Kapitalbeziehungen, der Entstehung globaler Märkte oder der weltweiten Verfügbarkeit

von

Technologien.

Durch

die

Globalisierung

verändern

sich

Lebenswelten und kulturelle Muster (vgl. STICHWEH, 1994; SCHEUNPFLUG, 2003c). In politischer Perspektive ist die durch die Globalisierung „angeregte Infragestellung der Grundprämisse des modernen Nationalstaates, in dem die Konturen der Gesellschaft als

weitgehend

identisch

mit

denen

des

Nationalstaats

gedacht

wurden“

(SCHEUNPFLUG, 2003c, S. 2) charakteristisch. Während die Globalisierung einerseits Wohlstand und Sicherheit ermöglicht, werden gleichzeitig aber auch die eingangs genannten Probleme von Armut, Krankheit und Unsicherheit internationalisiert.

1

S EITZ stellt im Jahr 2002 fest, dass „mehr als drei Viertel der hierzu verarbeiteten Literatur in den Jahren 1997 – 2001 publiziert worden sind“ (SEITZ , 2002, S. 8).

Einleitung

2

Die Ursachen für diese komplexen Herausforderungen sind unterschiedlich. Zum einen sind sie auf natürliche bzw. zum anderen auf menschliche Faktoren zurückzuführen. Allerdings ist eine eindeutige Ursachenunterscheidung oft auch nur schwer möglich und umstritten. Einen natürlichen Faktor stellt beispielsweise der Tsunami dar, der Ende des Jahres 2004 im südostasischen Raum verheerende Auswirkungen nach sich zog. Oft allerdings gründen Überlebensprobleme aber auf menschliches Handeln. So ist beispielsweise die individuelle Mobilität eine Ursache für den zunehmenden Verbrauch von nicht erneuerbaren Energien und der Verringerung der Luftqualität. Soziale Standards in Betrieben gelten nicht gleichermaßen in allen Regionen dieser Erde. Nicht immer werden ökologisch sinnvolle Strategien durch Firmen verfolgt; häufig sind kurzfristige Gewinnmargen attraktiver. Die Folgen von individuellem Handeln können räumlich weitreichender sein als je zuvor. Lokale Umweltverschmutzung kann leicht zu einem globalen Problem werden (Beispiel: Ozonlochbildung durch FCKW-haltigen Treibstoff in Spraydosen2). Die pädagogische Herausforderung Im Kontext dieses Problemhorizonte wird die Frage gestellt, warum trotz des vorhandenen Wissens über diese weltumspannenden und lebensbedrohlichen Herausforderungen die unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung der Situation im Vergleich zum Ausmaß der Bedrohung zurückhaltend sind. Auf der Suche nach Gründen für diese Zurückhaltung werden weitere Fragen aufgeworfen: Können sich Menschen deshalb gleichgültig verhalten, weil sie sich von Gefahren, die erst in der Zukunft relevant lebensbedrohlich werden können, nicht betroffen fühlen? Verhalten sich Menschen global verantwortungslos, weil sie nur regional emotionale Verantwortung empfinden können? Ist indirekte Betroffenheit kein ausreichender Motivationsgrund für Handeln? Neben der politischen Herausforderung, die Überlebensprobleme der Menschheit zu meistern, kann diese Situation auch als ein pädagogisches Problem betrachtet werden. Pädagogisch interessant ist dabei zum einen, wie Menschen für diese Probleme 2

P ÖGGELER konstatiert: „Der Umgang mit der Spraydose stimuliert ein neues kosmisches Denken, seitdem wir wissen, dass das große Ozonloch über dem Südpol nicht nur langfristig das Klima verschlechtern, sondern das Überleben der Menschheit gefährden wird, eine neue, freilich selbstverschuldete und durch Vernunft zu behebende Bedrohung des Überlebens“ (P ÖGGELER, 1990, S. 18).

Einleitung

3

sensibilisiert werden können und zum anderen, wie sie lernen können, mit diesen Anforderungen umzugehen. Diese Fragen stehen im Mittelpunkt von denjenigen erziehungswissenschaftlichen Konzepten, die Fragen weltumspannender Herausforderungen explizit bearbeiten. Zwar sind diese Konzepte nach der Einschätzung von PÖGGELER (1990) nicht im Mainstream der Erziehungswissenschaft angekommen; da die Erziehungswissenschaft diese globale Herausforderung für sich noch nicht benannt habe: „Die Erziehungswissenschaft hat bisher eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin gesehen, Erziehungs- und Bildungspersonal für einen einzelnen Staat auszubilden und für dessen Erziehungs- und Bildungssystem Grundsätze und Methoden bereitzustellen. Inter- oder gar übernationale, ja weltweite Engagements sind in der Erziehungswissenschaft immer noch Ausnahmen von der Regel“ (PÖGGELER, 1990, S. 9). Die Suche nach einer auf diese Herausforderung reagierende Konzeption führe, so PÖGGELER, „nicht nur zu neuen Kategorien und Prinzipien, sondern auch zu einer radikalen Ausweitung des pädagogischen Denkens und Handelns in Richtung auf die ´eine Welt´“ (a.a.O., S. 10). Eine dominante erziehungswissenschaftliche Diskussionsrichtung, die sich auf das Zusammenleben in der „Einen Welt“ bezieht, wird unter „Globalem Lernen“ subsumiert. Unter dem Begriff Globales Lernen firmieren seit der Schrift des Schweizer FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT Mitte der Neunziger Jahre (FORUM, 1996) im deutschsprachigen Raum Theorien und Konzepte, die als „eine pädagogische Reaktion auf die Entwicklungstatsache zur Weltgesellschaft“ (SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK 2002 S. 10; vgl. SCHEUNPFLUG/ SEITZ 1995 TREML 1992b, S. 129) verstanden werden können. Der Begriffsgebrauch „Globales Lernen“ ist im wissenschaftlichen Diskurs nicht einheitlich geklärt. Ähnliche Explikationen finden sich bei weiteren Autoren. SCHREIBER (2000) versteht Globales Lernen „als pädagogische Antwort auf die Globalisierung“ (S. 38). Laut FÜHRING (2003) bezeichnet der Begriff Globales Lernen ebenfalls „die pädagogische Antwort auf zunehmende Globalisierungsprozesse und ihre Auswirkungen bis in den Alltag eines jeden von uns, umfasst also eine breites Feld von ökonomischen, ökologischen, sozialen und psychischen Faktoren“ (S. 10 ; ähnlich bei SELBY/ RATHENOW, 2003, S. 9). SEITZ bezeichnet Globales Lernen als „eine Chiffre für die Antworten der Pädagogik auf die Entwicklung zur Weltgesellschaft“

4

Einleitung

(2002, S. 366; vgl. auch 2000, S. 17). Eine allgemeine Zusammenfassung der in ihrer Anlage und Reichweite unterschiedlichen Ansätze gibt Susanne LIN (1999): „Globales Lernen bezeichnet seit Ende der 80er-Jahre ein neues, offenes, vorläufiges Konzept allgemeiner und politischer Bildung. Globales Lernen will eine erweiterte und übergreifende Bildungsperspektive angesichts von Problemen und Chancen der Globalisierung vermitteln. Globales Lernen problematisiert, was und wie wir zukünftig lernen sollen, um in der zusammenwachsenden Weltgesellschaft Orientierung gewinnen, Handlungskompetenz erwerben und Verantwortung wahrnehmen zu können“ (LIN, 1999, S. 144). Die verschiedenen vorliegenden Konzeptionen Globalen Lernens haben sich aus einer Vielzahl pädagogischer Traditionen (wie z.B. der Entwicklungspädagogik, der Dritte-Welt-Pädagogik, der ökologischen Bildung, der interkulturellen Pädagogik3) entwickelt. Konkrete Herausforderungen für pädagogische Konzepte sind beispielsweise der Umgang mit einer steigenden Komplexität in vielen Bereichen menschlichen Lebens, der verantwortungsvolle Umgang mit Produktivität und mit globalem Ressourcenverbrauch, die Sensibilisierung für die weltweit wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen und die Verminderung von Fremdenfeindlichkeit. Wie kann über Lernen zur Verminderung dieser Herausforderungen beigetragen werden? Die

Konzepte

Globalen

Lernens

unterscheiden

sich

dabei

in

der

Problembeschreibung und den praktischen Perspektiven, die für die Lernprozesse daraus abgeleitet werden (vgl. SEITZ, 2002, S. 366ff.). Konzepte Globalen Lernens sind vorrangig auf die Praxis der schulischen und außerschulischen Bildung ausgerichtet. Eine theoretische Auseinandersetzung und Fundierung findet nur bei wenigen Autoren (so bei TREML 1996, 1998, 1999; BÜHLER 1996; SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK 2000; SEITZ 2002) explizit statt. In den meisten Konzepten Globalen Lernens werden nur knapp theoretische konzeptionelle Überlegungen für Globales Lernen vorgestellt und darauf aufbauend unterrichtspraktische Vorschläge aufgezeigt. An verschiedenen Stellen wird die theoretische Fundierung dieses Konzeptes als unbefriedigend beschrieben (vgl. SCHEUNPFLUG/ SEITZ 1993, S.63; TREML 1998, S.9, ASBRAND 2002, S.14). 3

Vergleiche zur Debatte um die Begriffsbildung im Kontext von Entwicklungsproblemen: T REML , 1982, S. 15.

5

Einleitung

1.2 Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit Mit der hier vorliegenden Arbeit soll zu diesem Desiderat, der mangelnden theoretischen Fundierung von Konzepten Globalen Lernens, ein Beitrag geleistet werden. Dabei geht es darum, durch eine theoretische Fundierung und Reflexion die Debatte um Möglichkeiten und Grenzen Globalen Lernens zu erweitern. Die Arbeit stellt die anthropologischen Bedingungen Globalen Lernens in den Mittelpunkt. Es wird untersucht, welches implizite Menschenbild sich in Konzepten Globalen Lernens erkennen lässt. Dieses Menschenbild wird auf seine erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen befragt bzw. mit neueren Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Anthropologie konfrontiert. Von dieser Theoriekontrastierung wird eine weitere theoretische Fundierung Globalen Lernens erwartet. Die Arbeit gliedert sich mit diesem Ansatz in eine neuere pädagogische Strömung ein, die über eine rein geisteswissenschaftliche Anthropologie hinaus Ergebnisse aus den naturwissenschaftlichen

Forschungsarbeiten

fruchtbar

machen

(vgl.

TREML

2000;

SCHEUNPFLUG 2001).

1.3 Naturwissenschaftliche Anthropologie Die Naturwissenschaftliche Anthropologie basiert auf der Evolutionstheorie. Wie alle Organismen ist auch der Mensch nach der Argumentation der Evolutionstheorie eine Entwicklung der Evolution4. „Mit dem Begriff ´Evolution´ bezeichnet man häufig unterschiedslos das kosmische Werden vom Urknall über die Bildung der Atome und Moleküle bis zur Entwicklung der Organismen einschließlich der Kulturleistungen des Menschen“ (EIBL-EIBESFELDT, 1988, S. 16). Die Evolutionstheorie macht plausibel, dass sich der Mensch im Laufe seiner Hominisation – also der Entwicklung zum heutigen Homo sapiens sapiens – in Anpassung an seine Umwelt entwickelt hat5. Wesentlicher Faktor der Entwicklung waren dabei zufällige Mutationen oder Variatio4

Menschliches Leben gibt es erst seit relativ kurzer Zeit, wie folgender Vergleich verdeutlicht: „Stellt man sich das Evolutionsgeschehen seit der Entstehung der Erde auf einen Tagesablauf von 24 Stunden übertragen vor, so zeigte sich das erste Leben etwa am Morgen um 4.10 Uhr, die ersten mehrzelligen Lebewesen erschienen dann erst um 20.20 Uhr, die Wirbeltiere begannen mit ihrer Entwicklung gegen 21.30 Uhr. Die Abspaltung der ersten menschenähnlichen Wesen vom Uraffen erfolgte gegen 23.57, und der heutige Mensch betrat die Welt knapp 2 Sekunden vor Mitternacht“ (E CCLES/ ZEIER , 1980. S. 69). 5

Es soll im Zuge dieser Einleitung nicht versucht werden, eine Einführung in die Evolutionstheorie zu entwerfen, wie es schon an vielen anderen Stellen geleistet wurde. Für eine prägnante Zusammenfassung wichtiger Gedanken der Evolutionstheorie sei auf T REML (2004, insb. S. 31ff. und 63 ff.) verwiesen.

Einleitung

6

nen. Waren diese Mutationen für spezielle Anforderungen der Umwelt besonders hilfreich, hatten die Träger dieser Merkmale bessere Überlebenschancen und mehr Chance auf Fortpflanzung. Im Zuge der Fortpflanzung konnten die zufälligen Mutationen weitergegeben werden, so dass sie sich über einen langen Zeitraum in einer Population ausbreiten konnten. „Im Verlauf der Entwicklung der Menschheit haben sich so genetische Dispositionen für alle Aspekte der Lebensgestaltung – körperlicher wie psychologischer oder kognitiver Art – entwickelt, und zwar ungeplant und zwangsläufig im Hinblick auf eine optimale reproduktive Effizienz“ (SCHEUNPFLUG, 2001, S. 27). Da es aufgrund des langsamen Generationenwechsels des Menschen sehr lange dauert, bis sich Änderungen in der Genausstattung manifestieren und somit genetisch gespeicherte Informationen sehr lange Zeiträume überdauern können, ist eine zentrale These evolutionären Denkens, dass der heutige Mensch viele Anpassungsleistungen seiner Vorfahren in seinen Genen trägt. Da das Pleistozän die längste Zeitspanne der menschlichen Entwicklung darstellt, wird aus evolutionstheoretischer Sicht angenommen, dass viele auch noch heute beobachtbare Aspekte der physischen und psychischen menschlichen Ausstattung in diesem Zeitraum evolviert wurden. Diese evolvierten physischen und psychischen Merkmalen sind in unterschiedlichen Bereichen feststellbar6. Interessant für die vorliegende Arbeit ist die zu erwartende Diskrepanz zwischen pleistozäner Angepasstheit des Menschen und aktuellen globalen Problemstellungen, wie sie in Konzepten Globalen Lernens formuliert werden7. 6

Auch das Gehirn als zentrales Steuerungsorgan wurde in einem Anpassungsprozess entwickelt. „Das Gehirn des Menschen bildet das zentrale Regulationsorgan für jegliche Art menschlicher Tätigkeit. Da sich dieses Gehirn im Verlaufe der biologischen Evolution entwickelt hat, müssen sich auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen, die an das Gehirn und den darin stattfindenden Informationsfluss gebunden sind, nach und nach entwickelt haben. Die evolutionsgeschichtliche Vergangenheit des Gehirns bildet somit den wesentlichen und prägenden Aspekt der menschlichen Vorgeschichte. Viele Hirnfunktionen, die im Verlaufe dieses Entwicklungsprozesses entstanden sind, spielen heute noch eine wichtige Rolle“ (ECCLES/ ZEIER, 1980. S. 65). 7

„Da unser Verstand entscheidend in den Frühzeiten der Menschheit geprägt wurde, treffen seine Denk- und Verhaltensmechanismen heute, in der übervölkerten Industriegesellschaft, oftmals auf Situationen, denen unsere Altvorderen in dieser Form niemals begegnet wären. Die Evolution wirkt auf die Verhaltensmechanismen, die letztlich das Gesamtverhalten hervorbringen, nicht jedoch auf das Verhalten selbst. In einer Welt mit völlig neuen Umweltkonstellationen reagieren deshalb Menschen manchmal in einer Form, die dem ursprünglichen Zweck, zu dem

7

Einleitung

Der

Einbezug

naturwissenschaftlich

anthropologischer

Forschungsergebnisse

ermöglicht aufschlussreiche Erkenntnisse über die Erziehungs- und Lernmöglichkeiten des Menschen, dem zentralen Gegenstand pädagogischen Handelns und Nachdenkens. Die natürliche „Mitgift“ des Menschen ist für Lernen im Allgemeinen und natürlich für „Globales Lernen“ im Besonderen grundlegend. In der vorliegenden Arbeit werden besonders solche naturwissenschaftlich anthropologische Erkenntnisse gesammelt und diskutiert, die diese Konzeptionen theoretisch fundieren. Besonders folgende Subdisziplinen naturwissenschaftlich anthropologischer Forschung sind für die vorliegende Arbeit interessant: -

Die Soziobiologie untersucht Sozialverhalten vor dem Hintergrund biologischer Angepasstheit und legt dadurch Motivationen zur Entstehung von Solidarität offen.

-

Die Spieltheorie untersucht beispielsweise, welche Verhaltensstrategien sich in Kooperationsbeziehungen wahrscheinlich durchsetzen können.

-

Die Evolutionäre Psychologie und die Evolutionäre Erkenntnistheorie gibt Erklärungsmodelle über menschliche Denkfähigkeiten vor dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte. Mit Hilfe der Erklärungsansätze lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen von kognitiven und sozialen Fähigkeiten beschreiben. Die Forschung in diesem Bereich ist interdisziplinär, sie berührt gleichermaßen die Biowissenschaft, die Psychologie und die Philosophie (vgl. beispielsweise VOLLMER, 1988, S. 116ff.). Deshalb werden auch in der vorliegenden Arbeit Forschungsergebnisse über die Disziplingrenzen hinweg vorgestellt.

1.4 Aufbau der Arbeit Im Folgenden Dreischritt lässt sich der Aufbau der Arbeit zusammenfassen: In einem ersten Schritt wird untersucht, welche besonderen Lernherausforderungen durch Konzepte Globalen Lernen vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen formuliert werden. Von der Vielzahl der pädagogischen Ansätze, die sich mit Herausforderungen der weltgesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen, werden die Ansätze Globalen Lernens in die Analyse einbezogen, die den deutschsprachidiese Verhaltensmechanismen entstanden sind, diametral entgegengesetzt ist“ (A LLMAN , 1999, S. 55f.).

8

Einleitung

gen Diskurs dominieren (vgl. SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK 2002, S. 13ff.): Zu den im deutschsprachigen Raum dominierenden Konzepten Globalen Lernens sind (in chronologischer Reihenfolge) zu zählen: -

das Schweizer FORUM „SCHULE

FÜR EINE

W ELT“ (1989, 1996), das als Leitziel

pädagogischer Bemühungen den „souveränen Mensch“ sieht, der globale Entwicklungen mit lokaler Handlungsfähigkeit in Übereinstimmung bringen kann. -

BÜHLER (1996), der Globales Lernen als ein integriertes Konzept formuliert, das „inklusives Denken“ und „Perspektivenwechsel“ propagiert.

-

FOUNTAIN (1996) die im Auftrag der UNICEF methodische Vorschläge für eine Entwicklungspädagogik in fünf Lernfeldern, z.B. zu „Wechselseitiger Abhängigkeit“ und zu „Sozialer Gerechtigkeit“ anbietet.

-

FÜHRING (1996), die in ihrem Konzept einen Lernprozess beschreibt, der auf der Basis gestalttheoretischer Ansätze über „unausweichliche Irritation“ in Gang gesetzt wird. Der Lernprozess hat die Auseinandersetzung und beginnende Selbstreflexion von Fremdheit zum Ausgangspunkt.

-

TREML (1998, 2000), der an einer Konzeption zur weltbürgerlichen Erziehung arbeitet, die Erkenntnisse aus Biowissenschaften und Evolutionstheorien für die Pädagogik fruchtbar macht.

-

SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK

(2000/

2002),

die

Globales

Lernen

aus

evolutionstheoretischer Perspektive analysieren, den stark moralischen Charakter der Theoriediskussion kritisieren und Erklärungsansätze für das Scheitern der handlungstheoretischen Konzeptionen bieten. -

SEITZ (2002), der gesellschaftstheoretische Grundlagen Globalen Lernens aufzeigt und eine handlungstheoretische Auseinandersetzung mit dem evolutionären Paradigma liefert.

-

SELBY (2000, 2003), der in vier Dimensionen (Raum/ Themen und Inhalte/ Zeit/ das Innere) ein Konzept Globalen Lernens ausgearbeitet hat und zusammen mit RATHENOW im Jahr 2003 ein Praxishandbuch Globalen Lernens vorgelegt hat.

Nicht in die Analyse einbezogen werden Theorien der Bildung für Nachhaltigkeit, die in Deutschland in jüngster Zeit besonders als im Anschluss an die Agenda 21 der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 entwickelt wurde (vgl.

Einleitung

9

HAAN/ HARDENBERG, 1999). Die Aufarbeitung dieser umweltpädagogischen Bildung wird in einer vergleichbaren Weise wie bei der vorliegenden Arbeit in der Dissertation von SCHMIDT (in Vorb.) geleistet. Die Lernherausforderungen, die in der Diskussion Globalen Lernens dominant sind, werden in diesem Kapitel dargestellt und analysiert. Es wird sich zeigen, dass sich drei übergreifende Lernherausforderungen zusammenfassen lassen. In einem zweiten Schritt der Arbeit werden naturwissenschaftlich anthropologische Erkenntnisse zu den Lernherausforderungen Globalen Lernens überblicksartig zugänglich gemacht und im Hinblick auf den theoretischen Forschungsertrag für Konzepte Globalen Lernens ausgewertet. Es wird diskutiert, wie sich die Lernherausforderungen Globalen Lernens vor dem Hintergrund von Ergebnissen naturwissenschaftlicher Anthropologie darstellen. Grundlage der naturwissenschaftlich anthropologischen Reflexion sind Erkenntnisse z.B. der Soziobiologie (exemplarisch VOLAND 2000) und der evolutionären Psychologie (exemplarisch TOOBY/COSMIDES 1992; EUROPEAN PSYCHOLOGIST 2000; BARRETT 2002). Diese werden im Hinblick auf Aussagen zu den zentralen Lernherausforderungen Globalen Lernens ausgewertet. Der dritte Schritt dient einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick.

1.5 Methodischer Zugang Die Arbeit entstand als Literaturarbeit. Die den deutschsprachigen Diskurs dominierenden Konzepte Globalen Lernens wurden untersucht. Bei der Auswahl der Konzepte wurden Autoren berücksichtigt, die in den letzten zehn Jahren explizit zu dem Themenbereich Globalen Lernens deutschsprachige Veröffentlichungen vorgelegt haben. Die verschiedenen Konzepte Globalen Lernens wurden exzerpiert und die von den Autoren formulierten Lernherausforderungen systematisiert und zusammengefasst. Dabei wurden in einem ersten Schritt ähnliche Lernherausforderungen in Gruppen und in einem zweiten Schritt ähnliche Gruppen zu insgesamt drei Kategorien zu-

Einleitung

10

sammengefasst. Die zusammengefassten Lernherausforderungen konnten bei allen Autoren belegt werden. Es wurde im Sinne eines hermeneutischen Vorgehens versucht, die Bedeutung der Texte zu erfassen und die Intention der Autoren herauszuarbeiten. Wie bei hermeneutischen Arbeiten unvermeidbar, ist auch die Analyse der Lernherausforderungen in Konzepten Globalen Lernens nicht voraussetzungslos entstanden. Als expliziter Bezugsrahmen des hermeneutischen Zirkels dienten Ergebnisse naturwissenschaftlicher anthropologischer Forschung, vor deren Hintergrund die Texte analysiert wurden. Nachdem sich nach intensiver Literaturarbeit drei Kategorien von Lernherausforderungen Globalen Lernens herauskristallisiert hatten, wurde im Bereich der naturwissenschaftlich anthropologischen Literatur nach Ergebnissen gesucht, die für die Lernherausforderungen Globalen Lernens weiterführende Hinweise ermöglichten. Ausgangspunkt für die naturwissenschaftlich anthropologische Literaturarbeit waren bereits veröffentlichte themenbezogene Publikationen und daran anschließend weiterführende eigenständige Literaturrecherchen. Die naturwissenschaftlich anthropologischen Untersuchungen einerseits sowie die Lernherausforderungen Globalen Lernens andererseits wurden im Laufe der Arbeit einander gegenübergestellt und fokussiert.

Konzepte Globalen Lernens

11

2. Konzepte Globalen Lernens Versuche, pädagogisch auf die Herausforderungen der globalen Entwicklungen zu reagieren, werden in Konzepten Globalen Lernens vorgenommen. In diesen Konzepten werden Überlegungen angestellt und Vorschläge gemacht, welche Fähigkeiten und Kompetenzen für beispielsweise ein gerechtes und zukunftsfähiges Leben in der Weltgesellschaft wesentlich sind und wie diese erreicht werden können. Ziel des folgenden Kapitels ist es, diese zentrale Lernherausforderungen, die in Konzepten Globalen Lernens formuliert werden, zu systematisieren und zusammenzufassend darzustellen.

2.1 Lernherausforderungen Globalen Lernens Wie in der Einleitung skizziert, wurden im Rahmen dieser Arbeit die Konzepte Globalen Lernens hinsichtlich ihrer Ziele und Methoden analysiert. Alle in den unterschiedlichen Theorien formulierten Lernherausforderungen wurden exzerpiert und tabellarisch erfasst. Anschließend wurden thematisch vergleichbare Lernherausforderungen in Kategorien zusammengefasst. Bei diesem Vergleich kristallisierten sich drei Lernherausforderungen heraus, die von den Autoren überwiegend als grundlegend für Globales Lernen angesehen werden. Dabei handelt es sich um: -

Umgang mit Komplexität, Förderung von vernetztem Denken und Einsicht in globale Zusammenhänge

-

Entstehung von Zukunftsbewusstsein und verantwortungsbewusstem Handeln

-

8

Anbahnung von weltweiter Solidarität und globaler Gerechtigkeit8

S EITZ (2002) stellt ähnlich fest, dass „das Spektrum der vorliegenden Lernzielkataloge eine große Heterogenität“ (S. 438) aufweist. Für ihn ist „denkbar, gemeinsame Prioritäten im Sinne der „Top Ten der Schlüsselkompetenzen für das 21. Jahrhundert“ durch Schnittmengenbildung zu identifizieren – und zu diesen wären dann vermutlich u.a. das systemische Denken, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und die Lernfähigkeit zu zählen“ (ebd.).

Konzepte Globalen Lernens

12

Diese drei Kategorien von Lernherausforderungen werden im Folgenden Text bei den verschiedenen Autoren belegt. Nachdem diese drei Arten von Lernherausforderung herausgearbeitet worden waren, wurden die vorliegenden Veröffentlichungen zu Globalem Lernen vor diesem Blickwinkel in mehreren weiteren Durchgängen untersucht. Im Sinne eines hermeneutischen Zirkels wurde versucht, die unterschiedlichen Explikationen der einzelnen Autoren herauszuarbeiten. Die vorliegende Arbeit beansprucht nicht, durch diese drei Kategorien von Lernherausforderungen jedes der unterschiedlichen Konzepte Globalen Lernens in seiner Unterschiedlichkeit umfassend darzustellen. Es werden aber im Folgenden Abschnitt drei für alle Konzepte dominante Lernherausforderungen beschrieben. Die drei zentralen Schnittpunkte von Konzepten Globalen Lernens werden im Folgenden Text mit einer kursorischen Darstellung der einzelnen Konzepte ausgeführt. Die Ausarbeitungen zu den Themengebieten in den untersuchten Konzeptionen unterscheiden sich stark in ihrem Ansatz und Umfang. Während BÜHLER (1996) beispielsweise eine 296-seitige Monografie zu Globalem Lernen vorgelegt hat, legen SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) ihre Überlegungen in einer 33-seitigen Broschüre dar, von denen sich elf Seiten Methoden Globalen Lernens widmen. Die theoretischen Überlegungen von FOUNTAIN (1996) umfassen insgesamt 18 Seiten9. Dieser quantitativen Unterschied hat Auswirkungen auf die Ausführlichkeit der im Folgenden vorgestellten Überlegungen der einzelnen Autoren10. Neben dem quantitativen Unterschied war eine weitere Schwierigkeit der Untersuchung, dass nur in wenigen der untersuchten Konzepte eine Zusammenfassung der Lernherausforderungen zu finden war und diese in der vorliegenden Arbeit zusammengetragen und systematisiert werden mussten.

9

Die 18 Seiten ergeben sich aus acht einleitenden Seiten und jeweils zwei weiteren Seiten zu jedem der fünf ausgearbeiteten Themenfelder. 10

Der folgende Überblick wird zeigen, dass die meisten Autoren, die sich im Bereich Globalen Lernens betätigen, eher unsystematisch und schlagwortartig argumentieren. Erschwerend bei der Analyse war folgendes, von SEITZ (2002) herausgearbeitete Manko: „Gemessen an der ambitionierten Aufgabenstellung, der sich das Programm des Globalen Lernens verschrieben hat, lässt indes ein großer Teil der im deutschsprachigen Raum vorliegenden Beiträge eine befriedigende theoretische Fundierung vermissen“ (S. 23f.).

13

Konzepte Globalen Lernens

2.1.1 Umgang mit Komplexität und Globalität Eine zentrale Herausforderung für Lernen, die in fast allen untersuchten Konzepten Globalen Lernens genannt wird, ist die zunehmende Vernetzung lokaler und globaler Ereignisse. Diese Vernetzung geht einher mit einer Steigerung von „Komplexität“, deren Bewältigung dementsprechend einen Orientierungspunkt Globalen Lernens darstellt. Komplexe Situationen zeichnen sich aus durch eine Vielzahl von Handlungsanforderungen pro Zeiteinheit, wobei das Ausmaß der individuell empfundenen Komplexität subjektiv ist. Im vorhergehenden einleitenden Kapitel wurden verschiedene miteinander vernetzte Entwicklungstendenzen aufgezeigt, die sich in räumlicher, zeitlicher, sachlicher und sozialer Perspektive insbesondere durch eine Zunahme der im alltäglichen Leben zu berücksichtigenden Faktoren beschreiben lassen und somit eine Zunahme an Komplexität darstellen. Der folgende Text zeigt im Überblick, in welcher Weise die Lernherausforderung in den verschiedenen Konzepten Globalen Lernens beschrieben werden. Wie in der Einleitung genannt, werden in der vorliegenden Arbeit die den deutschsprachigen Diskurs dominierenden Autoren berücksichtigt. Dazu zählen das FORUM „SCHULE FÜR EINE

W ELT“, BÜHLER, FOUNTAIN, FÜHRING, TREML, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, SEITZ,

SELBY/ RATHENOW . Die Bearbeitung der einzelnen Konzepte in der folgenden Arbeit folgt einer chronologische Reihenfolge, da sich die verschiedenen Konzepte aufeinander beziehen bzw. zumindest das zuvor Geschriebene zur Kenntnis nehmen. Für das FORUM SCHULE

FÜR EINE

WELT ist „unsere Zeit [...] in einem Ausmaß wie

noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit durch eine globale Vernetzung charakterisiert“ (FORUM SCHULE

FÜR EINE

WELT, 1989, S. 35). Die Globalisie-

rungsentwicklungen erfordern deshalb eine ganzheitliche Weltsicht. Das Schweizer FORUM (1996) versteht „unter Globalem Lernen [...] die Vermittlung einer globalen Perspektive und die Hinführung zum persönlichen Urteilen und Handeln in globaler Perspektive auf allen Stufen der Bildungsarbeit. Die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten und ganzheitlichem Zusammenhang zu sehen, bezieht sich nicht auf einzelne Themenbereiche. Sie ist vielmehr eine Perspektive des Denkens, Urteilens, Fühlens und Handelns, eine Beschreibung wichtiger sozialer Fähigkeiten für die Zukunft“ (FORUM SCHULE

FÜR EINE

W ELT, o.J., S. 9).

14

Konzepte Globalen Lernens

Durch Bildung soll die Fähigkeit gefördert werden, die Einheit der menschlichen Gesellschaft in der einen Welt zu erkennen und die globalen Zusammenhänge wahrzunehmen. Die Autoren gehen davon aus, dass eine Ausrichtung des Denkens und Handelns auf globale Zusammenhänge nur dann möglich ist, „wenn sich der Heranwachsende seiner eigenen Identität, seiner Verwurzelung in der lokalen und nationalen Gemeinschaft bewusst wird und seinen Platz in ihr finden kann“ (FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT, 1989, S. 13). Das FORUM SCHULE

FÜR EINE

WELT betont die Vernetzung aller Lebensbereiche.

Durch Globales Lernen soll eine globale Perspektive vermittelt und die Fähigkeit gefördert werden, globale Zusammenhänge wahrzunehmen. Eine nationale Verwurzelung ist für das FORUM grundlegend für die Möglichkeit der Erkenntnis globaler Zusammenhänge.

Für BÜHLER ist Globalisierung durch eine ständig zunehmende Komplexität gekennzeichnet (vgl. BÜHLER, 1996, S. 199, S. 107) Die Zunahme der Komplexität habe eine negative Folge auf verantwortungsvolles Handeln. Ein verantwortungsvolles Handeln erscheine nämlich aufgrund der faktischen Komplexität als „immer unmöglicher oder gar hoffnungsloser“ (a.a.O., S. 38)11. BÜHLER geht davon aus, dass eine intensivere Pflege der Verstehenshorizonte und Kreativitätspotentiale dieser Entwicklung entgegenwirkt und verantwortungsvolles Handeln möglich wird. BÜHLER illustriert seine Vorstellung des Begriffes „Komplexität“ durch zwei Definitionen von Komplexität, die DÖRNER12 (1989) und GELL-MANN13 (1995) gegeben haben 11

Es ist bedauerlich, dass B ÜHLER in seinem Text nicht angibt, auf welche Quellen er seine Thesen zur „Hoffnungslosigkeit verantwortungsvollen Handelns“ stützt. 12

„Die Existenz von vielen, voneinander abhängigen Merkmalen in einem Ausschnitt der Realität wollen wir als ´Komplexität´ bezeichnen. Die Komplexität eines Realitätsausschnittes ist also umso höher, je mehr Merkmale vorhanden sind und je mehr diese voneinander abhängig sind. Der Grad der Komplexität ergibt sich also aus dem Ausmaß, in dem verschiedene Aspekte eines Realitätsausschnittes und ihre Verbindungen beachtet werden müssen, um eine Situation in dem jeweiligen Realitätsausschnitt zu erfassen und Handlungen zu planen. ... Nicht die Existenz vieler Merkmale allein macht die Komplexität aus. Sind die Variablen eines Systems unverknüpft und können sie sich wechselseitig nicht beeinflussen, so ist die Situation nicht komplex“ (DÖRNER , 1989, S. 60, zitiert nach: B ÜHLER , 1996, S. 105f.).

Konzepte Globalen Lernens

15

und durch eine Geschichte14. BÜHLER selbst lässt diese drei Annäherungen unkommentiert und gibt keine weiterführende Definition von Komplexität15. BÜHLER greift evolutionstheoretische Überlegungen auf und geht davon aus, dass „wir Menschen [...] heutzutage noch nicht darauf vorbereitet [sind], mit [...] [Ambivalenz und Komplexität] richtig umzugehen. Vielmehr haben wir noch weitgehend eine Wirklichkeitswahrnehmung, die maximal für vor-industrielle, großfamiliäre Vergesellschaftungsformen geeignet ist“ (BÜHLER, 1996, S. 107)16. Rückgreifend auf DÖRNER (1992) (siehe Kapitel 3.1.1) hält BÜHLER fest, dass in computersimulierten komplexen Systemen erhebliche Unterschiede im Umgang mit Komplexität zwischen den Probanden festgestellt wurden. Er nennt einige Merkmale von Versuchspersonen, die für die erfolgreiche Bewältigung von komplexen Problemen hilfreich sind. Zu diesen Merkmalen zählt BÜHLER (vgl. a.a.O., S. 108): -

Wissen

13

„Wir definieren die effektive Komplexität eines Systems in bezug auf ein komplexes adaptives System, von dem es beobachtet wird, als die Länge des Schemas, das zur Beschreibung seiner Regelmäßigkeiten angewandt wird. Wir benutzen den Begriff ´interne effektive Komplexität´, wenn das Schema auf irgendeine Weise das betreffende System steuert (wie die im Gehirn gespeicherte Grammatik das Sprechen steuert) und nicht bloß von einem externen Beobachter, wie dem Verfasser eines Grammatiklehrbuchs benutzt wird“ (GELL-MANN , 1995, S. 101, zitiert nach: B ÜHLER, 1996, S. 106). 14

Die Geschichte lautet folgenderweise: „Ein Mann legt einer Frau ein paar Banknoten in die Hand und bekommt dafür eine Flasche mit Batteriesäure gepanschten Gins. Die Frau gibt das Geld ihrem Mann, der dafür mit der Tochter ihres Kunden ins Bett geht. Die Tochter händigt das Geld ihrem Vater aus, der wiederum bei der Frau mehr Alkohol dafür kauft. Unterbrochen wird der Kreislauf nur durch einen Sohn, der aus Polizeikombis Benzin abzapft, um seiner Mutter Tee und Zucker zu besorgen, die sie wiederum an Wanderpriester weiterverkauft, welche ihrerseits versuchen, den Sohn zu ihrem Glauben zu bekehren“ (SIMONE, A. M., 1993, zitiert nach: B ÜHLER, 1996, S. 199). Es bleibt bei B ÜHLERS Darstellung unklar, in welcher Weise der skizzierte Kreislauf „unterbrochen“ wird. Im Zitat werden m.E. lediglich zwei separate Handlungsstränge darstellt, die zwar einen Schnittpunkt in Person der Mutter haben, aber jeweils „autark“ ablaufen. B ÜHLER erläutert nicht, weshalb diese Geschichte für ihn ein Beispiel für Komplexität darstellt. Insofern erweist sich die Geschichte B ÜHLERS als gutes Beispiel dafür, dass Komplexität keine objektive, sondern eine subjektive Größe ist, wie DÖRNER (1989, S. 61) herausstellt. 15

Ein Grund dafür ist in einer späteren Veröffentlich zu finden. Für BÜHLER ist „ ´Komplexität´ [...] ´autologisch´ (Luhmann), entzieht sich also einer klassischen Definition und den daran anschließenden Verifizierungs- und Falsifizierungsansätzen, wie sie in der Tradition des kritischen Rationalismus üblich waren“ (B ÜHLER , 2000b, S. 305). 16

B ÜHLER gibt nicht an, auf welche Untersuchungen er diese Thesen stützt. Es bleibt zu vermuten, dass sich B ÜHLER bei dieser Aussage auf die evolutionstheoretisch geprägten Arbeiten von T REML (1998) und S CHEUNPFLUG (2002) bezieht, in denen die menschliche Angepasstheit an Kleingruppen betont wird.

Konzepte Globalen Lernens

-

reflektiertem Umgang mit Erfahrung

-

kluge Formulierung von Zielvorstellungen

-

ständige Verfeinerung von aufgestellten Hypothesen

-

Fähigkeit zum Aushalten von Ambivalenz über längere Zeiträume.

16

BÜHLER zieht das Fazit, „dass erfolgreichere Probanden mehr inklusiv, erfolglosere dagegen mehr exklusiv denken“ (ebd.). An dieser Stelle wird deutlich, dass für BÜHLER die Befähigung zum inklusiven Denken zentrales Ziel seiner Konzeption globalen Lernens ist. Um „angesichts dieser Komplexität unsere Verstehenshorizonte und Kreativitätspotentiale ständig so zu pflegen, dass sie weit genug reichen [...] [,] ist inklusives Denken hilfreich, das darauf ausgelegt ist, vor einer Entscheidung die Palette der Argumente möglichst weit auszudehnen, (auch) um Kurzschlusshandlungen zuvorzukommen“ (a.a.O., S. 38). Inklusives Denken ist für BÜHLER ein „Prozess der Erschließung von Verstehenshorizonten innerhalb des holistischen Paradigmas“ (a.a.O., S. 33)17. Zum inklusiven Denken „zählt möglichst viel- und sorgfältiges Abwägen von Fragestellungen nach dem Modus ´sowohl als auch´“ (a.a.O., S. 34). BÜHLER warnt allerdings davor, dass inklusives Denken allein für die Bewältigung der komplexen Herausforderungen nicht genügt und nennt weitere ergänzend wichtige Faktoren. „Inklusives Denken wird jedoch nicht ausreichen, denn man kann vor lauter Verstehensarbeit auch verrückt werden, wenn man alle Hintergründe erkannt hat und trotzdem nicht handeln kann oder gar soll. Innere Ruhe, Routine und Erfahrung, Klugheit, Geduld vielleicht sogar Bescheidenheit werden dazukommen müssen“ (ebd.).

17

BÜHLER definiert inklusives Denken folgenderweise: „Wir kennen aus der klassischen Logik die Unterscheidung zwischen Disjunktion (entweder – oder) und Konjunktion (und)“ (BÜHLER, 1996, S. 33). BÜHLER ordnet den beiden Aussageverknüpfungen zwei kognitive Modi zu: „Den kognitiven Modus, der auf „entweder – oder“ Verknüpfungen basiert“ (ebd.), bezeichnet er „als exklusives Denken, denjenigen, der auf einer „sowohl-als-auch“ Verknüpfung basiert“ (ebd.), bezeichnet er als inklusives Denken. „Exklusives Denken ist eine Teilmenge inklusiven Denkens“ (ebd.). „Inklusives Denken ist jedoch nicht identisch mit der aus der klassischen Aussagelogik bekannten „Konjunktion“, denn es geht nicht um eine statische Reihung von Argumenten durch „und“-Verknüpfungen im deterministischen Paradigma, der prinzipiell, zuweilen aber auch praktisch nicht zum Abschluss gebracht werden kann“ (ebd.). Warum BÜHLER die Zuordnung von inklusiven Denken zu einer „sowohl-als-auch Verknüpfung“ für sinnvoll hält, wenn er inklusives Denken nicht für identisch mit einer Konjunktion hält, wird nicht weiter erläutert. „Inklusives Denken kann dem Verstehen, exklusives dem Handeln zugeordnet werden“ (a.a.O., S. 34).

Konzepte Globalen Lernens

17

BÜHLER hält die Fähigkeit zum abstrakten Denken für eine wesentliche Kompetenz zum Umgang mit Komplexität und kritisiert das Fehlen einer Schulung dieser Fähigkeit bei den vorliegenden Konzepten Globalem Lernens. Für die Erhöhung der Kompetenz im Umgang mit Komplexität ist für ihn „die Einführung in Logik (inklusive inklusives Denken), der Umgang mit Dilemmata, mit Ambivalenzen und mit Modellen (Konstruktion und Destruktion)“ wesentliche Grundlage“ (a.a.O., S. 199). Zum Umgang mit der ständig zunehmenden Komplexität habe auch die Schule einen Beitrag zu leisten. Dabei hält BÜHLER didaktisch „Einseitigkeit sowohl durch übertriebene Reduktionen als auch durch nicht mehr überschaubare Komplexität“ (a.a.O., S. 156) für falsch. Es sei für Schule wichtig, „Simplifizierungen (auch didaktisch wohl gemeinter Art) durch zunehmende Schulung des Abstraktionsvermögens zu ergänzen. So kann sie einen notwendigen Beitrag zum Umgang mit ständig erhöhter Komplexität leisten“ (a.a.O., S. 199f.). Für BÜHLER ist „Projektunterricht [...] in aller Regel die vorherrschende Methode [...], mit der „globales Lernen“ als ganzheitliches Lernen in Schulen Eingang finden sollte“ (BÜHLER, 1996, S. 199). Um Kindern komplexe Abläufe wie z.B. den „Treibhauseffekt oder weltwirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse“ (a.a.O., S. 199) verständlich zu machen, sei „darauf zu achten [...], dass der kritische und damit kompetente Umgang mit sehr abstrakten, wissenschaftlichen Modellen selbstverständlich wird“ (ebd.). BÜHLER schließt sich dem Rat von DÖRNER (1989, S. 307) an, dass Menschen sich, trotz des „phylogenetisch bedingten Hinterherhinkens hinter der durch die Technisierung bedingten Komplexität, [...] weiterhin „unseres gesunden Alltagsverstandes“ [...] bedienen sollten“ (BÜHLER, 1996, S. 156). BÜHLER begründet die Berufung auf den gesunden Alltagsverstand lapidar: „wir haben nichts anderes und er scheint allemal besser zu sein als Überreaktionen vom Aktionismus bis hin zum ´Kopf in den Sand stecken´“ (ebd.). B ÜHLER sieht in der Förderung der Kompetenz im Umgang mit Komplexität eine wesentliche Herausforderung Globalen Lernens. Diese Kompetenz im Umgang mit Komplexität kann erhöht werden mit der Schulung abstrakten Denkens durch bspw. die Einführung in Logik (inklusive inklusives Denken), den Umgang mit

Konzepte Globalen Lernens

18

Dilemmata, mit Ambivalenzen und mit Modellen (Konstruktion und Destruktion). Darüber hinaus ist es für ihn wichtig, Verstehens- und Kreativpotentiale zu pflegen. Der kritische Umgang mit abstrakten, wissenschaftlichen Modellen sollte nach B ÜHLER selbstverständlich werden. Vorherrschende Methode Globalen Lernens soll nach B ÜHLER die Projektunterricht sein.

Ausgangspunkt der Überlegungen von FOUNTAIN (1996) ist die Feststellung, dass „die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts [...] nur von Menschen bewältigt werden [können], die in weltweiten Zusammenhängen denken und sich dafür engagieren“ (S. 6). Dieses globale Denken und Handeln ist das Ziel der Konzeption von FOUNTAIN. „Die Probleme werden immer komplexer und erreichen soziale, wirtschaftliche, politische, kulturelle, technologische und ökologische Dimensionen, die man erst verstehen muss, bevor man zu Lösungsansätzen kommen kann“ (ebd.). FOUNTAIN unterscheidet in ihrem Konzept Globalen Lernens thematisch fünf Lernfelder (vgl. a.a.O., S. 7f.)18. Unter dem Lernfeld „Wechselseitige Abhängigkeit“ thematisiert FOUNTAIN systemische Perspektiven und den Umgang mit Komplexität: Unter dem Begriff „wechselseitige Abhängigkeit“ versteht FOUNTAIN das komplexe und fein gesponnene Netzwerk von Beziehungen (vgl. ebd.), das „in unserer Gesellschaft [...] Orte, Ereignisse, Themen und Menschen [...] miteinander“ (ebd.) verbindet. Für FOUNTAIN entsteht aus der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander der Zwang, „die Welt als System19 zu sehen, das Netz der Beziehungen in diesem System zu verstehen, das empfindliche Gleichgewicht zwischen den Teilen des Netzes richtig einzuschätzen und sich darüber klar zu werden, dass Veränderungen eines Teils des Systems das System als ganzes beeinflussen“ (a.a.O., S. 14). Für eine Lösung von globalen Problemen ist für FOUNTAIN das Verständnis dieser Probleme Voraussetzung: „Das Verständnis dieser wechselseitigen Abhängigkeit erleichtert es den Kindern und Jugendlichen, den systemischen Aufbau der Welt, in der wir leben, zu durchschauen“ (a.a.O., S. 7).

18

Die Lernfelder lauten: Wechselseitige Abhängigkeit, Bilder und Wahrnehmungen, Soziale Gerechtigkeit, Konflikte und Konfliktlösungen, Wandel und Zukunft. 19

„System meint die Anordnung von Teilen zu einem vereinigten Ganzen. Der Verlust oder die Fehlfunktion eines Teils hat Auswirkungen auf alle anderen Teile und kann dazu führen, dass das System als Ganzes nicht mehr funktioniert“ (FOUNTAIN , 1996, S. 14).

19

Konzepte Globalen Lernens

Die wechselseitige Abhängigkeit ist für FOUNTAIN aber nicht allein ein inhaltlicher Themenbereich ihrer Konzeption. Auch dem Lernverlauf wird sie zugrunde gelegt (vgl. a.a.O., S. 14): „Um bestimmte Aufgaben zu bewältigen, müssen die Schülerinnen und Schüler in gegenseitiger Abhängigkeit agieren“ (FOUNTAIN, 1996, S. 14). FOUNTAIN hält es deshalb für sinnvoll, die Aktivitäten in diesem Themenbereich kooperativ zu strukturieren. Für FOUNTAIN ist es zur Bewältigung der komplexen Anforderungen wichtig, in weltweiten Zusammenhängen zu denken. Ein Verständnis der komplexen Probleme soll ermöglichen, den systemischen, interdependenten Aufbau der Welt zu begreifen und Lösungsansätze für Probleme zu gewinnen.

Nach FÜHRING beschäftigt sich Globales Lernen „damit, wie Erziehung und Bildung den weltweiten Prozessen begegnen und Einsicht in die komplexen Zusammenhänge gewährleisten können, ohne die Menschen zu überfordern“ (FÜHRING, 1998, S. 7). Für sie geht es im Bereich Globalen Lernens „darum, wie der einzelne sein Leben als Teil des Weltgeschehens begreifen, seinen Platz darin finden und ihn in Verantwortung für sich und die Gemeinschaft ausfüllen kann“ (ebd.). Für FÜHRING ist es die zentrale Aufgabe von entwicklungsbezogener Bildung, zu verdeutlichen, „dass einzelne Individuen oder Staaten sich bei der Betrachtung ihrer eigenen Lebensqualität und Zukunftsbewältigung nicht singulär begrenzen können, sondern in ihren Interessen vielfältig in globale Zusammenhänge eingebunden sind“ (a.a.O., S. 149). Ziel ihrer Konzeption ist es, diese globalen Zusammenhänge „schrittweise mit den am Lernprozess Beteiligten in ihrer lokalen und persönlichen Bedeutung zu erhellen“ (ebd.). Globales Lernen vermittelt laut FÜHRING „Informationen über die Vernetzung von wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und sozialen Faktoren auf lokaler und globaler Ebene“ (2003, S. 10)20. FÜHRING sieht ein grundlegendes Wissen als handlungsvoraussetzend zur Lösung von globalen Problemlagen. Um eine Einstellung auf globale Veränderungen, „die in den aktuellen Zeiten raschen Kulturwandels unser aller Leben bestimmen werden“ 20

F ÜHRING führt an dieser Wettbewerbsausschreibung an.

Stelle

die

Beschreibung

Globalen

Lernens

aus

einer

20

Konzepte Globalen Lernens

(FÜHRING, 1998, S. 147), zu ermöglichen, sei eine Erweiterung des Wissens „von unseren eigenen Gewordenheit unter den spezifischen kulturellen und historischen Bedingungen in größeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen“ (ebd.) notwendig. Neben diesem grundlegenden Wissen sei eine Sensibilisierung erforderlich, dass die globalen Probleme auch lokal an Bedeutung gewinnen können und deshalb der Bezug zu „´fernen´ Themen und Menschen [...] in eigenem Interesse geschaffen werden kann“ (a.a.O., S. 154). Wichtiges Ziel sei, eine Einsicht der Beteiligten zu erreichen, dass jeder Mensch als Individuum mit allen anderen Menschen und Systemen verknüpft ist. Erst diese Einsicht „erlaubt die Wahrnehmung der eigenen Existenz in personaler und struktureller Einbindung in das Weltganze“ (ebd.). Da diese Zusammenhänge und Bedingungen aber konzeptuell komplex sind, sind einfache Antworten und eine simple Reduktion nicht möglich und erlaubt. Wichtig sei „ein Höchstmaß an Einlassen auf Ambivalenzen“ (ebd.). Laut FÜHRING soll durch Globales Lernen Einsicht in komplexe Zusammenhänge gewährleistet werden. Die globalen Zusammenhänge, in die jedes Individuum eingebunden ist, sollen erhellt werden. Für FÜHRING ist es einerseits wichtig, das Wissen jedes Einzelnen von den wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen zu erhöhen, um sich auf die globalen Veränderungen einstellen zu können. Globales Lernen hat zum Ziel, diese Informationen zu vermitteln und den Bezug zwischen der individuellen Lebenswelt und globalen (fernen) Themen herzustellen.

Auch TREML konstatiert eine „zunehmende Komplexität dieser global vernetzten Systeme“ (2001, S. 199). Für ihn bedeutet Globalisierung „eine Art abstrakte Vernetzung mit der durch den Globus symbolisierten ganzen Welt“ (a.a.O., S. 181). Es bedarf nach TREML deshalb „spezifischer Kompetenzen der Anschlussfähigkeit an diesen weiten – eben globalen – Raumbezug“ (ebd.). TREML erläutert drei Arten von Räumen, in denen Menschen sich bewegen können: der Handlungsraum, der Vorstellungsraum

und

der

Abstraktionsraum

(vgl.

2001,

S.

181ff.

und

Gliederungspunkt 3.1.2). Diese „Raumbegriffe implizieren [...] eine räumliche und zeitliche Bewegung, die sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese nachweisbar ist, nämlich die vom Nahen zum Fernen. Wir Menschen erobern den Raum, und das sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch gesehen, durch eine

21

Konzepte Globalen Lernens

Bewegung, die von der subjekt- und körpernahen konkreten Handlung über die geistige Distanzierung in analoge Vorstellungsräume bis zur Eroberung völlig unanschaulicher abstrakter Räume geht“ (a.a.O., S. 193). TREML stellt fest, dass die Eroberung der verschiedenen Räume unterschiedlich schwierig ist, „weil der Anteil an phylogenetisch erworbener Mitgift unterschiedlich groß ist“ (a.a.O., S. 194). Die Bewegung im Handlungsbereich als Nahbereich falle den Menschen besonders leicht, da sie an diesen besonders gut angepasst seien. Für die Bewegung in abstrakten Räumen besteht nach TREML ein „evolutionär bedingtes strukturelles Handicap“ (a.a.O., S. 195). Zur Bewältigung weltgesellschaftlicher Entwicklungen müsse nach TREML die Bewegungsfähigkeit im Vorstellungs-21 und Abstraktionsraum besonders geschult werden. TREML sieht vor dem Hintergrund „einer immer globaler werdenden Welt deutlich eine gegenläufige Entwicklung: immer größer werdende grenzenlose Ausweitung durch passive Raumerfahrung und immer kleiner werdende Realisierung einer aktiven Bewegung“ (a.a.O., S. 200). Er sieht den Zwang zu adaptiven Lernprozessen und beschreibt

die

kompensatorische

und

die

qualifikatorische

Funktion

einer

weltbürgerlichen Erziehung. Die kompensatorische Funktion hat zur Aufgabe, die physischen und psychischen Schäden, die durch die Zunahme der körperlichen Passivität im konkreten Raum entsteht (d.h. Bewegungsmangel), zu kompensieren. Eine

Kompensation

sei

beispielsweise

„durch

Sport,

durch

therapeutische

Maßnahmen oder medizinische Behandlung“ (ebd.) möglich. Die qualifikatorische Funktion der weltbürgerlichen Erziehung gründet auf „die Zunahme der passiven Raumerfahrung“ (ebd.). Daraus entsteht für TREML der Zwang „zum Lernen einschlägiger Kompetenzen, mit dem Ziel des Aufbaus oder der Erhaltung von Anschlussfähigkeit an praktisch unbegrenzte Raumdimensionen“ (ebd.). Auf welche Weise Globales Lernen die qualifikatorische Funktion erfüllen kann, führt TREML an dieser Stelle nicht weiter aus. In einer anderen Arbeit nennt TREML vier „basale Fähigkeiten und Fertigkeiten für ein Leben in der Weltgesellschaft [...]: Lernfähigkeit,

internationale

Kommunikationsfähigkeit,

Selektionsfähigkeit

und

Anschlussfähigkeit“ (TREML, 1998, S. 11). Für die Lernherausforderung, mit globalen 21

Beispiel: „Der Vorstellungsraum wird durch die vermehrten Erfahrungen des unbegrenzten Reisens, der räumlichen Mobilität, vor allem aber durch den zunehmenden Medienkonsum erheblich angeregt. Die Wahrscheinlichkeit, etwas aus dem Fernsehen, Radio oder der Zeitung zu erfahren, ist weitaus größer, als es selbst zu erleben“ (T REML, 2001, S. 198).

22

Konzepte Globalen Lernens

Vernetzungen umgehen zu lernen, ist die „globale Lernfähigkeit“ ein wesentliches Kriterium: „Globale Lernfähigkeit bedeutet die formale Fähigkeit des Lernens nicht nur reflexiv auf sich selbst anwenden zu können (Lernen des Lernens), sondern auch Beliebiges in den Kontext seiner globalen Bezüge zu stellen“ (a.a.O., S. 12). Beim konstruktiven Umgang mit Komplexität kann Selektionsfähigkeit von Vorteil sein: „Selektionsfähigkeit impliziert die Fähigkeit, [...] das individuelle und kulturelle Gedächtnis in der Weise selektiv zu behandeln, dass auf der Basis von Identität die Vielzahl der Differenzerfahrungen erträglich abgearbeitet werden können. Das schließt Vergessen (qua negative Selektion) als auch Erinnerung (qua positive Selektion) gleichermaßen ein. Zur reflexiven Selektionsfähigkeit wird sie, wenn wir uns bewusst machen, dass jeder selektive Zugriff auf Vergangenheit selbst selektiv ist (so ist er in der Regel individuell und kulturell limitiert) und immer mehr aus- als einschließt“ (ebd.). TREMLS Arbeiten zur konzeptionellen Aufarbeitung der globalen Lernherausforderungen sind im Vergleich zu den zuvor dargestellten Autoren auf einem abstrakten und theoretischen Niveau. Deshalb fällt eine knappe Zusammenfassung und Zuordnung seiner Überlegungen im Rahmen dieses Kapitels besonders schwer. TREMLS Argumentation ist evolutionstheoretisch. Deshalb werden seine Ausführung im

Rahmen

der

vorliegenden

Arbeit

im

zweiten

Teil

dieser

Arbeit

im

Gliederungspunkt 3.1.2 wieder aufgegriffen. TREML stellt eine Zunahme der Komplexität und der abstrakten Vernetzung der Welt fest. Er differenziert verschiedene Raumebenen, auf denen Menschen mit diesen Herausforderungen umgehen können und konstatiert (anlehnend an evolutionstheoretische Untersuchungen) kognitive Schwierigkeiten im Umgang mit dem Vorstellungsraum und Abstraktionsraum. Die Schulung der Anschlussfähigkeit an diese unbegrenzte Raumdimension ist laut TREML die qualifikatorische Funktion Globalen Lernens. TREML führt nicht explizit aus, auf welchem Weg dieses Ziel erreicht werden kann, hält es aber für sinnvoll, Lerngegenstände ausgehend vom Handlungsraum in den Vorstellungsraum und dann in den Abstraktionsraum zu überführen. In einer weiteren Veröffentlichung finden sich Hinweise auf Fähigkeiten und Fertigkeiten, die TREML als wesentlich für Globales Lernen ansieht: globale Lernfähigkeit und Selektionsfähigkeit.

Konzepte Globalen Lernens

23

Für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) bedeutet „Globalisierung [...] eine Komplexitätssteigerung in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Auswirkungen“ (S. 8). In einem konstruktiven Umgang mit Komplexität sehen die beiden Autoren ein wesentliches Element Globalen Lernens. Ein weiteres wichtiges Ziel Globalen Lernens ist für SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK das „Qualifizieren für ein Leben in einer global vernetzten Welt“ (a.a.O., S. 29). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK geben keine explizite Definition von Komplexität, SCHEUNPFLUG definiert an anderer Stelle Komplexitätszunahme „als eine Informationssteigerung pro Zeiteinheit“ (2000b, S. 316). Um mit der Lernherausforderung „Umgang mit Komplexität“ theoretisch konzeptionell angemessen umgehen zu können, plädieren SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) für den Einbezug von Ergebnissen der naturwissenschaftlich anthropologischen Forschung. Theoretisch befruchtend sei es, evolutionär entwickelte Angepasstheiten der Menschen zu berücksichtigen, die den Umgang mit Komplexität erschweren. SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK zeigen zwei Schwierigkeiten des Umgangs mit Globalen Herausforderungen auf: einerseits „scheinen Menschen in ihrer spontanen Problemlösefähigkeit auf Erfahrungen im Nahbereich spezialisiert zu sein“ (2002, S. 7), zum anderen lösen Menschen Probleme spontan durch Verhaltensmuster, die für die neuen Herausforderungen nicht immer funktional sind“ (ebd.). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK gehen davon aus, dass Menschen „durch Sprache und abstraktem Denken und damit durch Lernen [...] die mangelhafte spontane Problemlösefähigkeit im Nahbereich, die Schwierigkeiten mit dem Erkennen abstrakt vermittelter, sinnlich nicht wahrnehmbarer Problemzusammenhänge, mit ungewollten Nebenfolgen, mit komplizierten Wechselwirkungen, mit Wahrscheinlichkeiten und mit neuen Qualitäten“ (a.a.O., S. 8) kompensieren. Ähnlich wie BÜHLER (siehe oben) beziehen sich SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) auf die Untersuchungen von DÖRNER (1989). Im Unterschied zu BÜHLER führen SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) die besonderen Fähigkeiten von erfolgreichen Problemlösern nicht explizit auf „inklusives Denken“ zurück. Zu den Faktoren, die zur Lösung eines komplexen Problems hilfreich sind, sind nach SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK folgende Eigenschaften (vgl. ebd.) zu zählen: -

erhöhte Nachdenklichkeit und gleichzeitig geringere handelnde Aktivität

-

vermehrte Entscheidungsproduktion pro Absicht

24

Konzepte Globalen Lernens

-

geringere Ablenkbarkeit von der Arbeit

-

Fähigkeit, Probleme früh zu erkennen

-

häufige Reflexion der getroffenen Entscheidungen

-

Strukturierungskompetenz

für

das

eigene

Verhaltens

sowie

für

unterschiedlichste Probleme -

Übernahme von Verantwortung

-

gutes Zeitmanagement

-

gutes Allgemeinwissen, aber kein spezielles Fachwissen

-

Fähigkeit, Unbestimmtheit zu ertragen

-

reflektierte Selbstsicherheit bei wenig Angst.

Für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK zeigen erfolgreiche Problemlöser zusammenfassend „damit eine hohe Eigenkomplexität zur Verarbeitung der sie umgebenden Probleme.“ (2002, S. 9). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK gehen von der Erlernbarkeit der genannten für komplexes Problemlösen zuträglichen Fähigkeiten aus (vgl. ebd.). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) nennen drei Möglichkeiten des Umgangs mit Komplexität: Reduzierung der Außenkomplexität (z.B. durch Eintritt in eine Sekte), pädagogisch intendierte Reduktion der Komplexität (z.B. in der Schule durch didaktische Fokussierung) und Erhöhung der Eigenkomplexität (vgl. S. 8f.). Die Eigenkomplexität könne durch Lernen gesteigert werden. Unverzichtbar zur Steigerung der Eigenkomplexität wären zum einen „Kenntnisse über die Eine Welt“, besonders wichtig ist den Autoren aber unter Berücksichtigung der Zukunftsunsicherheit das Erlernen von vielfältigen Fertigkeiten und Problemlösefähigkeiten (vgl. a.a.O., S. 9). Für die Autoren ist es im Bezug auf die Vermittlung von Fähigkeiten zur Komplexitätsbewältigung wichtig, bei der thematischen „Darstellung den Umgang mit Nichtwissen im Blick [zu] behalten“ (a.a.O., S. 16). Situationen seien so komplex, dass sie nicht hinreichend verstanden werden können. Deshalb sei es ein Lernziel Globalen Lernens, ein Verständnis für die ´Unmöglichkeit der Verstehbarkeit von Situationen´ zu entwickeln. SCHEUNPFLUG nennt dieses Lernziel an anderer Stelle das ´Verstehen des Nichtverstehens´ (vgl. SCHEUNPFLUG, 2000b, S. 321). Eine besondere Herausforderung besteht für SCHEUNPFLUG in der Verbindung von komplexen Prozessen und Emotionen. In diesem Zusammenhang sieht sie zwei

25

Konzepte Globalen Lernens

Gefahren. Zum einen sei es in Anbetracht der Komplexität globaler Prozesse möglich, dass „uns moralische Gefühle oder Empathie für bestimmte Bevölkerungsgruppen enorm betrügen“ (a.a.O., S. 325). Sie nennt die Gefahr der unrealistischen Idealisierung von Menschen. Andererseits sieht SCHEUNPFLUG vor dem

Hintergrund

der

globalen

Komplexität

die

Schwierigkeit,

„überhaupt

Einfühlungsvermögen für andere Menschen zu entwickeln“ (ebd.). Sie hält es für „angemessen, einerseits moralische Appelle vorsichtig zu verwenden und andererseits über globale Spielregeln und deren Einhaltung (zum Beispiel in Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten) nachzudenken“ (ebd.). Aufgrund der Verankerung der menschlichen Gefühlswelt im Nahbereich bedient sich Globales Lernen für SCHEUNPFLUG „häufig des didaktischen Kunstgriffes, abstrakte Vernetzungen der Einen Welt durch Verankerung im Lokalen und Konkreten zu veranschaulichen“ (a.a.O., S. 324). Eine Veranschaulichung beispielsweise durch konkrete

Personifizierung

kommt

für

SCHEUNPFLUG

den

kognitiven

Erkenntnismöglichkeiten entgegen und sei deshalb ein legitimes Verfahren (vgl. ebd.). SCHEUNPFLUG warnt aber davor, diesen Kunstgriff der Veranschaulichung nicht als universell einsetzbar zu betrachten. Bestimmte Qualitäten von globalen Prozessen, wie zum Beispiel Rückkopplungseffekte, seien durch konkrete lokale Beispiele

nämlich

nicht

vermittelbar.

Zur

Veranschaulichung

von

Rückkopplungseffekte eignen sich nach SCHEUNPFLUG beispielsweise simulative Prozesse durch Computerspiele. Die Unter- und Entscheidung, „an welchen Stellen eine Übertragung und Veranschaulichung globaler Prozesse in die lokale Erfahrbarkeit möglich und sinnvoll ist und an welchen nicht“ (ebd.), sei eine wichtige didaktische Aufgabe. SCHEUNPFLUG stellt zusammenfassend eine didaktische Regel auf: „Übertrage in den lokalen Nahbereich, wo immer es geht, da dies dem menschlichem Lernen entgegenkommt. Lass´ dies aber sein, wenn die spezifische Qualität globaler Prozesse dadurch nicht erkannt wird!“ (a.a.O., S. 325). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK geben keinen festumrissenen Themenkanon zu Globalen Lernen, da „in einer eng vernetzten und globalisierten Weltgesellschaft [...] an vielen gesellschaftlichen Themen über diese Weltgesellschaft gelernt werden“ (2002, S. 16) könne.

26

Konzepte Globalen Lernens

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK nennen den „konstruktiven Umgang mit Komplexität“ als auch die Qualifikation für ein Leben in einer global vernetzten Welt als explizite Lernherausforderung Globalen Lernens. Die beiden Autoren nennen drei Möglichkeiten des Umgangs mit Komplexität: Reduktion der Außenkomplexität, pädagogisch intendierte Reduktion der Komplexität und Erhöhung der Eigenkomplexität. Die Erhöhung der Eigenkomplexität sei möglich durch Zuwachs von Kenntnissen, Fertigkeiten und Problemlösefähigkeiten. Didaktisch sei es wertvoll und dem menschlichen Lernen zuträglich, Probleme soweit als möglich und sinnvoll in den lokalen Nahbereich zu übertragen Auf einen festumrissenen Themenkanon wird aufgrund der vielfältigen Lernmöglichkeiten verzichtet.

Auch für SEITZ zielt Globales Lernen „auf die Befähigung zum Umgang mit hoher Komplexität“ (SEITZ, 2000, S. 20). SEITZ begründet diese Lernherausforderung damit, dass „die wechselseitigen Abhängigkeiten und Netzwerke inzwischen so dicht und kompliziert geworden sind, dass ein kurzschlüssiges lineares Ursache-WirkungsDenken in die Irre führen würde“ (ebd.). SEITZ sieht weiterhin ein Ziel Globalen Lernens in der „Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes hin zum Horizont der „Einen Welt“, weil im Zuge der Globalisierung unsere Lebenswelt inzwischen eng mit globalen Entwicklungen verflochten ist“ (ebd.). Jegliche Bildungsgegenstände könnten

nur

noch

durch

eine

Vermessung

im

Koordinatensystem

der

Weltgesellschaft begriffen werden. Inhalt Globalen Lernens sei darum eine räumlich erweiterte, sozial multiperspektivische und zeitlich antizipatorische Perspektive (vgl. SEITZ, 2002, S. 458). Wie auch BÜHLER (1996) und SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK (2000) verweist auch SEITZ auf die Studienergebnisse von DÖRNER (1989) bzw. von VESTER (1999) und stellt fest, dass diese Studien die Schwierigkeit des menschlichen Denkens im Umgang mit komplexen Problemen belegen. Auch weisen diese Studien laut SEITZ auf die Dringlichkeit zur Entwicklung eines vernetzten Denkens hin (vgl. SEITZ, 2002, S. 403). SEITZ befürwortet die Schulung des Abstraktionsvermögens, um die Komplexität weltgesellschaftlicher Probleme erschließbar zu machen. Ähnlich wie SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK ist für SEITZ „Lernen im Modus der Betroffenheit und der authentischen Erfahrung [...] in seiner Reichweite begrenzt“ (a.a.O., S. 383). Er hält es für

27

Konzepte Globalen Lernens

unmöglich, die Komplexität weltgesellschaftlicher Verhältnisse „in den Situationen eines authentischen, an den Problemen der Lebenswelt ansetzenden Lernens“ (ebd.) zu erschließen. Eine regionalspezifische Begrenzung des Denkens reicht nach SEITZ zum Verständnis der Einen Welt nicht aus. SEITZ kritisiert deshalb die Konzepte Globalen Lernens, die explizit ganzheitliche Lernformen propagieren und gleichzeitig kognitives Lernen diskreditieren (vgl. ebd.). SEITZ erinnert in diesem Zusammenhang daran, „dass die Folgen unseres individuellen Konsumverhaltens weit über den räumlichen wie zeitlichen Horizont unserer Alltagswelt hinausreichen“ (ebd.). Darum könnten sie „letztlich nur über das Abstraktionsvermögen antizipiert werden können“ (ebd.). Neben der Wahrnehmung der Vernetzung von lokalen Gegebenheiten in den globalen Kontext ist es auch ein Ziel von Globalem Lernen im Sinne von SEITZ, eine Befähigung zu vermitteln, „lokales Handeln in Einklang mit globalen Erfordernissen zu bringen“ (SEITZ, 2000, S. 20). Für SEITZ ist es nicht möglich, dass die durch Globales Lernen angestrebte globale Perspektive standortunabhängig ist (vgl. a.a.O., S. 460). Die globale Perspektive habe deshalb keinen hegemonialen Universalismusanspruch, „der eine spezifische Weltsicht und eine partikulare Interessenlage zum Anliegen der gesamten Menschheit verklärt“ (ebd.). Wichtig sei es sowohl in der pädagogischen Programmatik als auch im konkreten Bildungsprozess „den eigenen Kontext im Bewusstsein seiner Begrenztheit immer wieder zu überschreiten“ (ebd.). Zentrales Ziel der SEITZSCHEN Didaktik Globalen Lernen ist es deshalb, „eine vieldeutige komplexe Welt aus verschiedenen Perspektiven sehen zu lernen und mit entsprechenden Differenzerfahrungen konstruktiv umzugehen“ (ebd.). SEITZ sieht im Umgang mit hoher Komplexität und weltgesellschaftlichen Verflechtungen sowie in der Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes hin zu einer weltgesellschaftlichen

Perspektive

zentrale

Lernherausforderungen

globalen

Lernens. Wesentlich für eine globale Perspektive sei, Probleme aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen zu können. Besonders zur Erfassung komplexer weltgesellschaftlicher Verhältnisse ist kognitives Lernen und die Schulung des Abstraktionsvermögens bedeutsam.

Konzepte Globalen Lernens

28

Auch SELBY und RATHENOW bemühen sich in ihrer Konzeption Globales Lernens, die Komplexität der gesellschaftlichen Probleme zu berücksichtigen. Ähnlich der Konzeption von FOUNTAIN sind ihre Überlegungen besonders auch deshalb interessant, weil sie in ihren Bezügen und Verweisen nicht auf die deutschsprachige Literatur, sondern auf die nordamerikanische Diskussion zurückgehen, an der SELBY beteiligt ist. Die beiden Autoren greifen deshalb auf eine Definition Globalen Lernens zurück, die besonders aus der anglo-nordamerikanische Debatte resultiert. „Global Education“ wird als pädagogischen Ausdruck eines ganzheitlichen (holistischen), ökologischen und systemischen Paradigmas gesehen. Vergleichbar zur skizzierten deutschsprachigen Debatte um Lernherausforderungen Globalen Lernens werden auch in der Konzeption von SELBY die Verflechtungen sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Mensch und Natur auf personaler, kommunaler, nationaler und globaler Ebene als Lernherausforderung von Globalem Lernen formuliert. „Globales Lernen verbindet die vielfältigen Vernetzungen zwischen gesellschaftlich-kulturell entwickelten Phänomenen einerseits und naturgegebenen andererseits vor dem Hintergrund ihrer vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung. Alle Dimensionen des Menschen, das Kognitive, Affektive, Körperliche und Spirituelle sowie die Prozesse des Denkens, Fühlens und Handelns werden gleichermaßen beachtet“ (SELBY/ RATHENOW , 2003, S. 9). SELBY und RATHENOW betonen „Zusammenhänge zwischen und innerhalb allem, das wir gewohnt sind in Teilen und Gegensätzen zu sehen: lokal – global, menschlich – animalisch, Mensch – Umwelt, Natur – Kultur, Maskulinum – Femininum, Geist – Körper22“ (a.a.O., S. 16). Mögliche „Dualitäten, wie beispielsweise ´Ursache – Wirkung´, ´Verstand – Gefühl´, ´lokal – global´, ´Beobachter – Beobachtete´“ (a.a.O., S. 25) sollten in allen Lernprozessen vermieden werden. Wichtig sei es dagegen, systemisch zu denken und zu handeln und Phänomene, Themen und Probleme in ihrem Zusammenhang vernetzend miteinander verschränkt zu begreifen (vgl. ebd.). SELBY und RATHENOW nennen als Beispiel für die Vielschichtigkeit eines Problems die Brandrodungen des tropischen Regenwaldes und fordern, dass im Unterricht die komplizierte Dynamik solcher Probleme immer wieder verdeutlicht werden soll. Den Lernenden könne auf diese Weise vermittelt werden, dass jeder Problemlösungsan22

Ob SELBY und RATHENOW mit der Verwendung des Wortes „wir“ sich selber meinen oder Bezug auf eine Untersuchung nehmen, wird nicht angegeben.

Konzepte Globalen Lernens

29

satz wiederum zu neuen Problemen führen kann (vgl. a.a.O., S. 19). SELBY und RATHENOW halten es für eine wichtige Lernerfahrung, „sensibel mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten anstelle von Sicherheiten umzugehen“ (ebd.). Für SELBY und RATHENOW erfordern „globale Themen [...] holistisches Denken vor dem Hintergrund eines nicht linearen, inklusiven Bezugrahmens“ (ebd.). Methodisch legen SELBY und RATHENOW im Zusammenhang mit dem Erlernen von systemischen Denken Wert auf kooperative Lernformen. Sie gehen von einer Auswirkung gelingender Kooperation in Lernsituationen auf das systemische Empfinden der Beteiligten aus: „Je öfter sich Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Formen kooperierenden Lernens wiederfinden und sich dabei partnerschaftlich und nicht als losgelöste Individuen wahrnehmen, desto eher empfinden sie sich als Angehörige eines Systems, in welchem sie sich gegenseitig beeinflussen, unterstützen und voneinander lernen (aber manchmal zweifellos auch gegeneinander agieren)“ (a.a.O., S. 30). Für SELBY und RATHENOW ist ein Perspektivenwechsel eine zentrale Möglichkeit, die Vernetztheit der Lebensbedingungen zu erkennen. Eine Förderung von Perspektivbewusstsein (perspective consciousness) sei deshalb wesentlich. „Die Schüler sollen erkennen, dass ihre Sicht der Realität nur eine unter vielen ist. Die eigene Sichtweise als Ergebnis von Sozialisationserfahrungen zu sehen und das Verhalten und die Werte anderer Menschen und anderer sozialer Gruppen nicht nur aus der eigenen Perspektive zu betrachten, sollte gefördert werden (Perspektivenwechsel)“ (a.a.O., S. 25). SELBY und RATHENOW nehmen an, dass ein gelingender Perspektivenwechsel die Entdeckung der Lernenden nach sich zieht, dass das individuelle Leben fest mit globalen Problemen und Sichtweisen von räumlich weitentfernten Menschen verbunden ist. SELBY und RATHENOW gehen davon aus, dass aus dieser Entdeckung globaler Zusammenhänge eine selbstkritische Reflexion der „eigenen Voraussetzungen, Sichtweisen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen“ (ebd.) folge und zu einer Verhaltensänderung führe. Nach SELBY und RATHENOW ist es wichtig, die Komplexität von gesellschaftlichen Problemen zu berücksichtigen. Die Autoren betonen besonders die Vernetzungen und Verflechtungen der globalen Herausforderungen, die in ihrer Konzeption

30

Konzepte Globalen Lernens

Globalen Lernens verbunden werden. Für sie ist ein systemisches und vernetzendes Denken wesentlich. Vermieden werden sollte dualistisches Denken, da globale Themen eine holistische Sichtweise erfordern. In kooperativen Lernformen könnten Lernende sich als Angehörige eines Systems begreifen. Ein Perspektivenwechsel könne

zur

Entdeckung

der

globalen

Vernetztheit

führen

sowie

eine

Verhaltensänderung bewirken.

Zusammenfassung Im vorstehenden Überblick wurde gezeigt, in welcher Weise das Lernziel des „Umgangs mit Komplexität bzw. mit Vernetzungen“ in den verschiedenen, den deutschsprachigen Raum dominierenden Konzepten thematisiert wird. Die Beschreibung der Lernherausforderung erfolgt in konzeptionell unterschiedlicher Weise. Quer durch alle Konzeptionen wird eine Zunahme von Komplexität bzw. weltweiter Vernetzung konstatiert, zu deren kompetenter Umgang es einer besonderen Qualifikation bedürfe. Außer bei BÜHLER und SCHEUNPFLUG finden sich keine Definitionsversuche bzw. Begriffsbeschreibungen von Komplexität. Das Fehlen einer begrifflichen Auseinandersetzung bei den meisten anderen Autoren erschwert einen präzisen Vergleich. Alle Konzepte formulieren die Lernherausforderung eines kompetenteren Umgangs mit komplexen und vernetzten Problemen. Alle Konzepte sehen die Möglichkeit, durch pädagogische Beeinflussung diese Problemlösekompetenz zu verbessern. Alle Konzepte nennen als weitere Lernherausforderung die Schulung des Denkens in globalen, d.h. weltweiten Zusammenhängen. Die verschiedenen Autoren unterscheiden sich darin, wie sie die Dualität lokal-global thematisieren. Einige Autoren halten es zum Verständnis globaler Vernetzungen für wichtig, eine Verankerung der Probleme im unmittelbaren Handlungsraum vorzunehmen. Im Nahraum gewonnene Erfahrungen hätte die Förderung der Kompetenz zur Folge, auch globale Problemzusammenhänge zu verstehen (vgl.

31

Konzepte Globalen Lernens

FOUNTAIN). Andere Autoren betonen, dass zum Verständnis von globalen Herausforderungen besondere Abstraktionsprozesse nötig seien (vgl. TREML, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, BÜHLER, SEITZ) und dass ein Verständnis der „Nichtverstehbarkeit“ (vgl. SCHEUNPFLUG) von komplexen Situationen wichtig sei. In manchen Konzepten (vgl. BÜHLER, FÜHRING) wird gefordert, dass Lernende bei Entscheidungen lernen sollen, global zu denken, d.h. in einer weltumfassenden Dimension, und das gewonnene Wissen in lokalen Entscheidungen zu berücksichtigen. Der oft bemühte Slogan lautet dazu: Global denken, lokal handeln. Einige Konzepte heben sich von den anderen ab, indem ein Zusammenhang zwischen dem Verständnis bzw. der Einsicht und der Lösungskompetenz von komplexen Zusammenhängen angenommen wird. Die Erkenntnis von Zusammenhängen sei einer Problembewältigung zuträglich (vgl. FORUM SCHULE

FÜR

EINE

WELT, FOUNTAIN). Andere Autoren schließen einen solchen Zusammenhang aus und fordern eine Schulung abstrakten Denkens (vgl. BÜHLER, TREML, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, SEITZ). In manchen Konzepten (z.B. SEITZ, BÜHLER, FÜHRING, SELBY) wird betont, dass die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, zuträglich zum Umgang mit global vernetzten Problemen sei. Die Konzeptionen unterscheiden sich darin, ob eine theoretische Fundierung ihrer Überlegungen vorgestellt werden. BÜHLER, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, TREML und SEITZ beziehen sich beispielsweise in unterschiedlich starkem Ausmaß auf Ergebnisse evolutionstheoretischer und psychologischer Forschung. FÜHRING bezieht sich auf von ihr persönlich gemachte Erfahrungen und ihre Praxis. Insofern von den Autoren überhaupt Untersuchungsergebnisse zu Möglichkeiten und Grenzen des kognitiven Umgangs mit dieser Lernanforderung angeführt werden (vgl. BÜHLER, SCHEUNPFLUG, SEITZ), beschränken sich diese zumeist auf Hinweise auf die Arbeiten von DÖRNER in den 70er und 80er Jahren. Eine Auseinandersetzung mit aktuelleren Forschungsarbeiten ist nur in geringem Umfang zu finden.

32

Konzepte Globalen Lernens

2.1.2 Entstehung von zukunftsbewusstem Handeln Die zweite Lernherausforderung, die im Rahmen der vorliegenden Analyse von Konzepten Globalen Lernens herausgefiltert wurde, betrifft die Entstehung von Zukunftsfähigkeit

und

verantwortungsbewusstem

Handeln.

Einige

weltgesell-

schaftliche Herausforderungen, die in der Einleitung angedeutet wurden, gewinnen ihre eigentliche Brisanz erst in Verbindung mit der Zeitdimension. Vergleicht man die vorliegenden Konzepte Globalen Lernens hinsichtlich ihrer Ausarbeitungen zu der Lernherausforderung der Entstehung von Zukunftsfähigkeit und verantwortungsbewusstem Handeln, so ist festzustellen, dass der Umfang in den meisten Arbeiten durchwegs deutlich knapper ist als die Ausarbeitungen zu dem oben aufgezeigten Themenbereich „Komplexität“. Für das FORUM SCHULE FÜR EINE WELT ist es ein wichtiges Ziel von Globalem Lernen, dass Bildung die Fähigkeit zur Reflexion von Entscheidungen und Handlungen in Bezug auf zukünftige soziale und ökologische Folgen fördert. „Das Kind und der Jugendliche sollen ermutigt werden, an der Gestaltung der Zukunft aktiv teilzunehmen und ein verantwortungsbewusstes Mitglied der globalen Gesellschaft zu werden“ (FORUM SCHULE

FÜR EINE

W ELT, 1989, S. 13). Das FORUM geht von der

Möglichkeit aus, dass die Folgen des individuellen Handelns planbar und vorhersehbar seien. „Wünschenswerte Entwicklungen können unterstützt, schädliche abgewendet und Alternativen entwickelt werden“ (a.a.O., S. 40). Wichtig sei es, durch zukunftorientiertes Lernen die globalen Auswirkungen lokaler, nationaler und regionaler Aktionen zu erkennen. Das FORUM legt verschiedene didaktisch-methodische Folgerungen dar, in denen auch

Hinweise

zu

zukunftsorientierendem

Lernen

gegeben

werden.

Zu-

kunftorientiertes Lernen im Sinne des FORUMS bereitet auf Eventualitäten im Gegensatz zu Gewissheiten vor. Dafür sei es wesentlich, langfristige Alternativen in Betracht zu ziehen. Als didaktische Hilfsmittel zukunftorientierten Handelns werden Prognosen, Simulationsmodelle und Szenarien genannt. Für das FORUM S CHULE

FÜR EINE

W ELT ist die Zukunftsbezogenheit eine Lernher-

ausforderung Globalen Lernens. Es sei wichtig, eigene Entscheidungen und Handlungen im Hinblick auf die Zukunft zu reflektieren. Das FORUM gibt einige

Konzepte Globalen Lernens

33

Hinweise zu speziellen Methoden, die sie in diesem Lernbereich präferieren. Dazu gehören Hilfsmittel wie Prognosen, Simulationsmodelle und Szenarien.

Für BÜHLER (1996) ist „globale Verantwortung“ eine der „vier Dimensionen für ´globales Lernen´, die notwendig sind, um eine ´globale Weltsicht zu erreichen´“ (S. 196). Globale Verantwortung begreift „den Globus als ´Oikos´ [...], der allen Menschen gleichzeitig offen steht und gleichzeitig allen zum sorgsamen Umgang und zur gemeinsamen Pflege anvertraut ist“ (ebd.). Dieser Anspruch wird für BÜHLER durch das Konzept der „Zukunftsfähigkeit“ zum Ausdruck gebracht. BÜHLER versteht unter dem Konzept der Zukunftsfähigkeit keinen neuen Puritanismus, „sondern vielmehr konkrete Utopien eines guten Lebens für alle“ (ebd.). Im weiteren Verlauf seiner Arbeit konkretisiert BÜHLER nicht, was er unter „Zukunftsfähigkeit“ versteht. Es bleibt offen, welche besonderen methodischen und didaktischen Implikationen sich zur Erreichung dieser Lernherausforderung ergeben. Bei BÜHLER wird das Konzept der „Zukunftsfähigkeit“ als konkrete Utopie eines guten Lebens für alle erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.

Für FOUNTAIN ist die Vorbereitung von Lernenden auf die Zukunft ein wesentliches Ziel von Bildungseinrichtungen, das durch Globales Lernen besonders gefördert werden soll. Nur die Zukunft könne Unterrichtsbemühungen einen Sinn geben (vgl. FOUNTAIN, 1996, S. 179). FOUNTAIN beschreibt ihre Überlegungen zur Zukunftsbezogenheit Globalen Lernens im Lernfeld „Wandel und Zukunft“23: FOUNTAIN skizziert als Grundlage für zukunftsbezogenes Lernen, dass Ereignisse der Vergangenheit die Gegenwart und ebenso Handlungen der Gegenwart die Zukunft verändern. Dabei geht sie davon aus, dass sich die aktuellen Veränderungen im Vergleich zu früheren Epochen erheblich schneller vollziehen. Die Schnelligkeit der Veränderung auf lokaler, nationaler und globaler Ebene wecke „in vielen Kindern und Jugendlichen das Gefühl, überwältigt oder gar hilflos zu sein und die Kräfte, die ihr 23

Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, dass FOUNTAIN insgesamt fünf Lernfelder formuliert hat: Wechselseitige Abhängigkeit, Bilder und Wahrnehmungen, Soziale Gerechtigkeit, Konflikte und Konfliktlösungen, Wandel und Zukunft.

Konzepte Globalen Lernens

34

Leben beeinflussen, nicht kontrollieren zu können“ (ebd.)24. Es ist ein Anliegen der Konzeption von Globalem Lernen von FOUNTAIN, den Lernenden zu vermitteln, dass zukünftige Entwicklungen nicht determiniert sind. Dazu sei es sinnvoll, die Ursachen für unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten zu analysieren. Der Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Handeln und zukünftigen Ereignissen müsse herausgestellt werden. Dadurch könne Lernenden vermittelt werden, dass die Zukunft gestaltbar sei. Wichtig sei es, den Lernenden das heutige Handeln als Grundlage für die zukünftige Realität zu vermitteln und alternative Möglichkeiten aufzuzeigen. Durch die Erforschung realistischer Möglichkeiten sei es möglich, den Lernenden ein Gefühl von Stärke zu vermitteln und einer Hoffnungslosigkeit entgegenzuwirken (vgl. a.a.O., S. 8, S. 179). Folgende Kenntnisse sollen laut FOUNTAIN angestrebt werden: „Kenntnisse über bedeutende Entwicklungen und Tendenzen in Vergangenheit und Gegenwart“ (a.a.O., S. 180), „Kenntnisse über die Hauptfaktoren, die Veränderungen herbeiführen“ (ebd.), „Verständnis über den Unterschied zwischen kurzfristigem und langfristigem Wandel und zwischen erwünschtem und unerwünschtem Wandel“25 (ebd.) und „Verständnis für die individuellen Möglichkeiten, Wandel herbeizuführen“ (ebd.). FOUNTAIN stellt zwei Forderungen hinsichtlich des zukunftbezogenen Lernens. Zum einen sei es wichtig, dass Lernende die Überzeugung entwickeln, auf den Veränderungsprozess Einfluss nehmen zu können zum anderen sei es wesentlich, dass Lernende den Willen zur Veränderung entwickeln (vgl. ebd.). FOUNTAIN formuliert mehrere Fähigkeiten, die sie als wesentliche Ziele in diesem Themenbereich ansieht (vgl. ebd.). Sie nennt die -

Fähigkeit zum hypothetischen Denken

-

die Fähigkeit zur Vorstellung einer Vielzahl von Alternativen und ihrer Folgen

-

die Fähigkeit zum Analysieren und Bewerten von Alternativen

-

die Fähigkeit zur Umsetzung von Kenntnisse und Fähigkeiten in konkreten Aktionen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene.

24 25

FOUNTAIN gibt keine Quelle für diese These an.

Es wird von F OUNTAIN nicht geklärt, was sie unter erwünschtem und unerwünschtem Wandel versteht. Es ist anzunehmen, dass diese wertbesetzten Begrifflichkeiten unterschiedliche Interpretationen erfahren können.

Konzepte Globalen Lernens

35

Für FOUNTAIN ist die Zukunft eine für alle Lerngebiete relevante Dimension. Fächerübergreifendes Lernen bietet sich nach FOUNTAIN für zukunftorientiertes Lernen besonders an (vgl. a.a.O., S. 179). Für FOUNTAIN ist die Vorbereitung auf die Zukunft eine der fünf von ihr formulierten Lernfelder. Die Dimension der Zukunft sei für alle Unterrichtsthemen relevant. Schülern kann vermittelt werden, dass Zukunft nicht festgelegt, sondern offen für Veränderung ist. Es sei sinnvoll, alternative Entwicklungen zu lernen, die die Grundlage für Entscheidungen in der Gegenwart darstellen können. Durch das Erforschen realistischer Möglichkeiten könne Lernenden ein Gefühl von Stärke vermittelt und einer möglichen Hoffnungslosigkeit entgegengewirkt werden. FOUNTAIN nennt verschiedene Fähigkeiten und Kenntnisse, die in diesem Lernbereich erzielt werden sollen, ohne sie theoretisch zu begründen.

Laut FÜHRING zielt Globales Lernen „auf eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung unserer Gesellschaft in der ´Einen Welt´“ (FÜHRING, 2003, S. 10). Für sie geht es beim Globalen Lernen „darum, wie der Einzelne sein Leben als Teil des Weltgeschehens begreifen, seinen Platz darin finden und ihn in Verantwortung für sich und die Gemeinschaft ausfüllen kann“ (FÜHRING, 1998, S. 7). FÜHRING verknüpft die Lernherausforderungen „Zukunftsbewältigung“ und die „Verbundenheit in globalen Zusammenhängen“. Eine singuläre Begrenzung von einzelnen Individuen oder Staaten sei für eine Zukunftsbewältigung nicht möglich, da alle Interessen in globale Zusammenhänge vernetzt seien (vgl. FÜHRING, 1996, S. 149). FÜHRING geht – wie bei den obigen Ausführungen zu der Lernherausforderung „Umgang mit Komplexität“ bereits beschrieben - davon aus, dass eine Vermehrung des individuellen Wissens Voraussetzung zum Umgang mit globalen Veränderungen ist (vgl. a.a.O., S. 147). Eine Erhellung dieser weltumspannenden Zusammenhänge in ihrer lokalen Bedeutung ist deshalb ein Ziel ihrer Konzeption. Allerdings geht FÜHRING nicht davon aus, dass sich an eine Informationsübermittlung automatisch eine Einstellungsänderungen anschließt. Dazu müssten subjektbezogene Komponenten stärker berücksichtigt werden. Methodisch hält es FÜHRING (1996) im Sinne einer Zukunftsvorbereitung nicht für sinnvoll, objektivierte und geschlossene Systeme vorzugeben, sondern „den fragen-

Konzepte Globalen Lernens

36

den, reflektierenden, kommunikativen und potentiell aktiven Anteilen bei den Schülerinnen und Schülern mehr Beachtung“ zu schenken“ (S. 148). Dies wäre auch einer Erweiterung der Entscheidungs- und Handlungskompetenz der Lernenden zuträglich. Zur Stärkung des Erkenntniswillens der Lernenden sei es sinnvoll, von den individuellen Situationen und Gefühlen auszugehen. Motivationen über moralische Appelle oder Katastrophenandrohungen, die FÜHRING dem herkömmlichen entwicklungspolitischem Unterricht zuschreibt, sind dagegen nach FÜHRING nicht fähig, Vorurteilsstrukturen bei Lernenden zu verändern. Im Hinblick auf globale Zukunftssicherung steht für FÜHRING nicht ein materieller Verzicht, sondern eine Definition von Lebensnotwendigem, die Gewinnung von einer neuen Qualität von Beziehungen und Lebensinhalten im Zentrum Globalen Lernens (vgl. a.a.O., S. 149). FÜHRING geht davon aus, dass durch Erhöhung von Wissen Menschen eine verantwortungsvollere Rolle bei der Umgestaltung unserer Gesellschaft spielen können. Durch die Thematisierung der eigenen Situation der Schüler und der Ansprache ihrer Gefühle wird der Erkenntniswille gestärkt. Methodisch regt FÜHRING (1996) für die Lernherausforderung „Zukunftsvorbereitung“ an, weniger objektivierte, geschlossene Systeme vorzugeben, sondern den fragenden, reflektierenden, kommunikativen und potentiell aktiven Anteilen bei den Schülerinnen und Schülern mehr Beachtung zu schenken. Durch Information erfolge nicht automatisch eine Einstellungsänderung. Moralische Appelle, wie sie im herkömmlichen entwicklungspolitischen Unterricht zur Motivation verwendet wurden, sind nicht geeignet, Vorurteilsstrukturen bei Schülern zu beeinflussen.

In TREMLS evolutionstheoretischem Ansatz werden im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Konzepten keine konkreten didaktischen oder inhaltlichen Fragestellungen diskutiert, sondern ein eher allgemeines theoretisches Konzept angedacht. Der Zukunftsbezug wird mit der Schlüsselqualifikation „kognitive Anschlussfähigkeit“ diskutiert. TREML verwendet den Begriff „Anschlussfähigkeit“ synonym zu dem Begriff „Evolutionsfähigkeit“ und definiert: „Evolutionsfähig bleibt ein System, wenn es seiner Umwelt überlebensrelevante Varianten anbieten kann, die einen Selektionsvorteil besitzen (´Selektionsofferten´)“ (TREML, 1998, S. 12). Eine

37

Konzepte Globalen Lernens

Anschlussfähigkeit an Zukunft als an eine neue und unbekannte Umwelt ist durch die Bereitschaft zu erreichen, sowohl bei den individuellen Erwartungen als auch im Umgang mit neuen Situationen flexibel zu sein. Dies sei auf der Grundlage von erworbenen Kenntnissen durch Lernen möglich. (vgl. ebd.). TREML formuliert seine Überlegungen nicht weiter aus, d.h. er konkretisiert nicht, welche konkreten Fähigkeiten zu einer Anschlussfähigkeit gehören. Dies scheint aus seiner Sicht auch nicht möglich, da sich richtig und falsch bzw. relevant und nicht relevant in evolutionärer Perspektive nur im Rückblick bestätigen. TREML diskutiert die Lernherausforderung „Zukunftsfähigkeit“ in theoretisch grundlegender Weise. Für ihn bleibt ein System nur anschlussfähig an neue und bislang unbekannte Umwelten („der Zukunft“) und damit evolutionsfähig bzw. überlebensfähig, wenn eine grundlegende Lernfähigkeit gegeben ist. Weitere Konkretisierungen werden bei TREML bislang nicht vorgestellt.

Die Konzeption Globalen Lernens von SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK ist explizit „dem Leitbild verpflichtet, unsere Welt gerecht, zukunftsfähig und ökologisch zu gestalten und

orientiert

sich

deshalb

an

gesellschaftlichen

Herausforderungen

und

Problemlösungen“ (SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, 2002, S. 16). In ihrer Analyse der menschlichen

Möglichkeiten,

mit

zukünftigen

Aspekten

umzugehen,

zeigen

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK eine grundlegende Schwierigkeit auf. Es wäre für Menschen problematisch, mit gänzlich neuen qualitativen Anforderungen umzugehen, da diese nicht auf bereits Erlebtes zurückgeführt werden können. Die Entscheidung auf der Basis von bereits erlebten Entscheidungen oder Erfahrungen wäre für Menschen als sogenannte ´Rückspiegel-Realisten´ aber normal. Diese Grundlage für Entscheidungen entpuppt sich für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK beispielsweise beim Umgang mit der Ökologiekrise als eine Falle der Vernunft: „Nur weil sich die Wachstumsstrategie über mehr als ein Jahrtausend bewährt hat, glauben wir, dass sie sich auch weiter bewähren müsse. Dies ist aber nicht wahrscheinlich“ (a.a.O., S. 8). In der inhaltlichen Zielbestimmung Globalen Lernens betonen die Autoren - wie unter der Lernherausforderung „Umgang mit Komplexität“ bereits angeführt - besonders,

38

Konzepte Globalen Lernens

den „Umgang mit Nichtwissen“ im Blick zu behalten. Sie halten fest, „dass letztlich alle

entwicklungspolitischen

Entscheidungen

unter

dem

Vorbehalt

unserer

unsicheren Zukunft gefällt werden und dass auch eine, es noch so gut meinende, Nichtregierungsorganisation nicht die Rezepte für die unbekannte Zukunft von Morgen bereit hält“ (a.a.O., S. 16.). Das Anbieten von pauschalen und eindimensionalen Lösungsperspektiven sollte deshalb vermieden werden. Da kein sicheres zukunftsweisendes Wissen auf der Sachdimension beschreibbar ist, würden die Lernenden auf der Sachdimension mit Unsicherheit konfrontiert. Eine Kompensation dieser Unsicherheit sei möglich, wenn die Lernenden die Erfahrung machen könnten, „ihren Verstand selbstständig einsetzen und gebrauchen zu können“ (ebd.). Für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK ist die Zukunftsfähigkeit ein Leitbild Globalen Lernens. Da aufgrund der Ungewissheit der Zukunft keine Patentrezepte gelehrt werden können, sei es wichtig, die Lernenden auf den Umgang mit Ungewissheit und Nichtwissen vorzubereiten. Deshalb ist bei SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK die Lernherausforderung der Zukunftsfähigkeit eng mit der Lernherausforderung Umgang mit Komplexität verbunden.

SEITZ sieht das zentrale Ziel seiner Konzeption Globalen Lernens „als Beitrag zur Beförderung einer zukunftsfähigen Entwicklung der Weltgesellschaft“ (2002, S. 380). Als Lernherausforderung formuliert SEITZ „die Kompetenz, dynamische Prozesse und Langzeitwirkungen überschauen und das eigene Handeln auf die Anforderungen der Zukunft hin orientieren zu können“ (SEITZ, 2000, S. 20). Vergleichbar zu SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK nennt SEITZ die Schwierigkeit, dass die Zukunft ungewiss ist und nicht „als bloße Fortschreibung gegenwärtiger Trends, in ihren Konturen vorhersehbar“ (ebd.) ist. Eckpfeiler einer zukunftsfähigen Entwicklung verdeutlicht SEITZ (2002, S. 241) in einem „magischen Hexagon“. Als Eckpunkte nennt er die ökologische Nachhaltigkeit, die kulturelle Selbstbestimmung, die soziale Gerechtigkeit, eine gewaltfreie Konfliktkultur, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die demokratische Partizipation (vgl. a.a.O., S. 242). Die Eckpunkte sind in der SEITZSCHEN Konzeption aber nicht unabhängig von einander, sondern miteinander komplex vernetzt.

39

Konzepte Globalen Lernens

SEITZ thematisiert Probleme, die bei einer Ausweitung von Verantwortung in einen weltweiten Beziehungskontext für die Individuen entstehen können. Er sieht dabei beispielsweise die Gefahr eine moralischen und kognitiven Überforderung. Auch sei es bei der Analyse von global vernetzten Problemlagen überhaupt nicht möglich, die Verantwortung direkt den Handlungen von Einzelpersonen zuzuordnen. Er konstatiert das Fehlen eines weltbürgerlichen „Ethos, das auch im alltäglichen Handeln Orientierung ermöglicht und dennoch die Komplexität der Weltverhältnisse nicht unnötig vereinfacht“ (a.a.O., S. 384). Es ist für ihn nicht möglich, „´globale Verantwortung´ nach dem Muster der Extrapolation jener Kategorien, die für die Nahbereichsethik Gültigkeit haben, auf die Weltgesellschaft begründen. Gerade diese Übertragung der Modi, die das menschliche Zusammenleben im Nahbereich prägen, auf die gesamte Menschheit bietet Anlass für Missverständnisse über die Möglichkeit

einer

weltbürgerlichen

Erziehung

und

formuliert

uneinlösbare

Überforderung“ (a.a.O., S. 431f.). SEITZ warnt vor unzumutbaren moralischen Ansprüchen Globalen Lernens und fürchtet ein Abdriften in eine konsequenzenlose Gesinnungspädagogik. Deshalb sieht er für die Didaktik Globalen Lernens die Notwendigkeit,

„die

Ansprüche

an

ein

verantwortliches

Handeln

in

der

Weltgesellschaft auf ein realistisches Maß des psychologisch wie gesellschaftlich Machbaren und Möglichen zurückzuführen“ (a.a.O., S. 385)26. Nach SEITZ soll Globales Lernen dazu beitragen, das Handeln an den Anforderungen der Zukunft orientieren zu können. Zukunft ist für SEITZ dabei nicht gewiss und in ihren Konturen nicht vorhersehbar. SEITZ warnt vor einer kognitiven Überforderung, wenn die Reichweite der individuellen Verantwortung ins globale ausgedehnt werden soll. Eine Didaktik Globalen Lernens muss sich an einem realistischen Maß des

26

Ausführlich stellt SEITZ dar: „Charakteristisch für die neue Qualität des sozialen Handelns und Erlebens in der Weltgesellschaft sind die Entgrenzung von Handlungsräumen und die Verdichtung von sozialen Interdependenzen. Sie führen zu Simultanpräsenz auch räumlich entfernt liegender Ereignisse. Die Wirkungen weit voneinander entfernter Ereignisse durchdringen einander wechselseitig. Entfernung schützt daher weder davor, in Mitleidenschaft gezogen zu werden, noch kann sie davor bewahren, für die (Fern-) Wirkungen des eigenen Handelns Rechenschaft ablegen zu müssen. Unter diesen Bedingungen kann die Kompetenz zur Orientierung für ein kompetentes und verantwortungsvolles Handeln in der Weltgesellschaft nicht aus einer Hermeneutik des sozialen Nahbereichs gewonnen werden. Vielmehr sind die weltumspannenden Verweisungszusammenhänge, in die jede lebensweltliche Erfahrung eingebettet ist, zu entschlüsseln, müssen Horizonte überschritten und Kontexte erweitert werden“ (SEITZ, 2002, S. 458).

40

Konzepte Globalen Lernens

psychologisch

und

gesellschaftlich

Machbaren

orientieren.

Eine

detaillierte

Ausformulierung der didaktischen Überlegungen wird nicht vorgelegt.

Für SELBY und RATHENOW ist die Entwicklung von Zukunftsperspektiven für Globales Lernen auf allen Ebenen des Bildungsgeschehens eine wesentliche Herausforderung. Alle Themen, mit denen Lernende konfrontiert werden, wie beispielsweise internationale oder ökologische Entwicklung, werden bezogen auf die Forderung nach Zukunftsfähigkeit (vgl. 2003, S. 18). Ziel sei die Vermittlung der Auswirkungen gegenwärtigen Handelns oder Unterlassens auf die Zukunft (vgl. a.a.O., S. 21ff.). Orientierungsrahmen sind für SELBY und RATHENOW dabei alternative Zukunftsvorstellungen, die von ihnen in drei Kategorien einer möglichen27, wahrscheinlichen28 und wünschenswerten29 Zukunft angedeutet werden. Für sie gehört das Zusammenwirken der drei Kategorien zum wesentlichen Merkmal jedes Bildungsprozesses. Für SELBY und RATHENOW erstreckt sich Zukunftserziehung „lediglich in einem sehr begrenzten Sinne auf die Frage nach dem, was sein wird. Darüber hinausgehend müssen wir sie als eine Chance auffassen, das zu ergreifen, was möglich sein könnte“ (a.a.O., S. 23). Ein wichtiges Ziel zukunftsorientierter Bildungsarbeit ist für SELBY und RATHENOW , vielen Lernenden zu ermöglichen, ihre Vorstellungen, Wünsche und Ideen in die Tat umzusetzen (vgl. ebd.)30. Sie sehen in der regional verankerten, aber global bezogenen

Projektarbeit

eine

wichtige

Methode

der

Umsetzung

dieser

Lernherausforderung. 27

„Mögliche Zukunftsperspektiven sind alle nur vorstellbaren Szenarien und bilden somit die breiteste Kategorie. Sie schließen Ideen kurzer, mittlerer und langer Reichweite ein, Szenarien, die sich aus den unterschiedlichsten Kultur- und Wertperspektiven ergeben und die nicht eingebunden sind in vorherrschende Zukunftsbilder. Pädagogisch gewendet eröffnet die Kategorie möglicher Zukunftsvorstellungen Schülerinnen und Schülern das Potenzial, aus völlig unterschiedlichen Perspektiven zu lernen und laterales, divergierendes Denken ebenso zu schärfen wie die Fähigkeit zur Imagination kreativ zu entwickeln“ (SELBY/ RATHENOW , 2003, S. 22).

28

„Vorstellungen über eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Zukunft gehören insofern zur engsten Kategorie, als sie sich in den meisten Fällen auf Vorstellungen kurzer Reichweite im Wechselspiel gegenwärtiger kultureller, ökonomischer, politischer und sozialer Trends beziehen“ (SELBY / RATHENOW , 2003, S. 22). 29

Wünschenswerte Zukunftsperspektiven entwickeln „sich aus unserem System von Werten und Zielvorstellungen“ (SELBY/ RATHENOW , 2003, S. 22). SELBY und RATHENOW unterlassen im Folgenden eine Erläuterung, welche Werte und Zielvorstellungen ihrem System entsprechen. 30

Die beiden Autoren gehen dabei nicht auf die Problematik von egoistischen Wünschen der Lernenden ein, die gerade im Alter von Jugendlichen auch erwartbar sind.

Konzepte Globalen Lernens

41

SELBY und RATHENOW formulieren weiterhin als Lernziel die „Bereitschaft, Verantwortung für das Wohlergehen des Planeten zu übernehmen“ (2003, S. 26). Ein „Bewusstsein universellen Beteiligtseins [zu] fördern und Bereitschaft [zu] entwickeln, Verantwortung zu übernehmen“ (ebd.), ist eine der langfristigen Zielvorstellungen für SELBY und RATHENOW . SELBY und RATHENOW formulieren die Entwicklung von Zukunftsperspektiven und eine zukunftsorientierten Bildungsarbeit als Ziel Globalen Lernens. Globales Lernen orientiert sich an einer wünschenswerten Zukunft. Die Projektarbeiten, die Schule und Lebenswelt verknüpfen, könnten Schülern helfen, ihre Träume, Visionen und Ideen praktisch umzusetzen. Alle Themen, mit denen Schüler in dem Konzept von SELBY und RATHENOW konfrontiert werden, sind bezogen auf die Forderung nach Zukunftsfähigkeit.

Zusammenfassung Im vorausgegangenen Gliederungspunkt wurde gezeigt, dass die Lernherausforderung „Zukunftsfähigkeit“ bei allen untersuchten Autoren Globalen Lernens diskutiert wird. Die Konzepte setzen sich dabei mit der Problematik auseinander, ob und wie Lernende lernen können, ihr eigenes Handeln unter Berücksichtigung von zukünftigen Zeiten auszurichten. Die vorliegenden Konzepte unterscheiden sich in ihren Darstellungen in verschiedenen Punkten. Es gibt Konzepte, in denen von einer langfristigen Planbarkeit der Folgen von Handeln ausgegangen wird (vgl. FORUM, FOUNTAIN). Für andere Autoren stellt sich die Zukunft unplanbar und unvorhersehbar dar (vgl. S CHEUNPFLUG, TREML , SEITZ ).

Manche Konzepte gehen davon aus, dass die globalen Auswirkungen von Handlungen erkannt (vgl. FORUM) oder überschaut (vgl. SEITZ) werden können.

42

Konzepte Globalen Lernens

In verschiedenen Konzepten wird ausdrücklich formuliert, dass moralische Appelle nicht nützlich dafür sind, Verhaltensänderungen bei Lernenden auszulösen (vgl. TREML , S CHEUNPFLUG/SCHRÖCK, SEITZ). In manchen Konzepten (vgl. FOUNTAIN,

SELBY)

wird wertend zwischen er-

wünschten und unerwünschtem Wandel differenziert. In der Konzeption TREMLS wird wertneutral eine Anschlussfähigkeit an Zukunft durch Lernen diskutiert. In manchen Konzepten wird vor unzumutbaren moralischen Gesinnungsansprüchen gewarnt, die zu einer Überforderungen führen könnten (vgl. SEITZ, S CHEUNPFLUG). Als Zielvorstellung bei FÜHRING wird formuliert, dass ein fundiertes Wissen über Geschehenes zuträglich für die Einstellungsmöglichkeit auf zukünftige Veränderungen ist. Einige Autoren (T REML , S CHEUNPFLUG, SEITZ) beziehen evolutionstheoretische Überlegungen in ihre Ausarbeitungen mit ein und warnen vor einer kognitiven Überforderung aufgrund der evolutionären Ausstattung der Menschen. Überwiegend werden in den verschiedenen Konzepten die diskutierten Annahmen und Planungen zu dem Themenfeld objektiv unbegründet und mit geringem detaillierten Bezug zu grundlegenden Forschungsarbeiten vorgestellt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die verschiedenen Aussagen unplausibel sind, lediglich der fundierte theoretische Bezug zu grundlegenden und weiterführenden Forschungsarbeiten wird als Desiderat festgestellt. Die vorliegende Arbeit nimmt dieses Desiderat in Gliederungspunkt 3.2 zum Ausgangspunkt grundlegender Überlegungen des menschlich kognitiven Umgangs mit Zukunftsaspekten.

43

Konzepte Globalen Lernens

2.1.3 Förderung von weltweiter Solidarität und globaler Gerechtigkeit Ein dritter Komplex von Lernherausforderungen, der in den unterschiedlichen Konzepten Globalen Lernens thematisiert wird, ist die Anbahnung einer weltweiten Solidarität. Unmittelbar verbunden mit einer weltweiten Solidarität wird in vielen Konzepten die Entstehung einer globalen Gerechtigkeit gefordert. Begründend auf faktisch vorliegende weltweite Differenzen (z.B. in Entlohnung, Lebensverhältnissen, etc.), wie sie auch in der Einleitung der vorliegenden Arbeit aufgeführt wurden, formulieren verschiedene Konzepte Globalen Lernens die Forderung der Anbahnung einer weltweiten Solidarität. Das FORUM SCHULE

FÜR EINE

WELT formuliert seine Position zu den Lernheraus-

forderungen „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ explizit: „Durch eine ´globale Weltsicht´, durch die globale Perspektive wird ein solidarisches Handeln gefördert und ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit angestrebt“ (FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT, 1989, S. 13). Die Autoren gehen somit von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Entstehung einer globalen Perspektive und aktiver Solidarität aus. Zur Entwicklung von solidarischem Bewusstsein hält das FORUM zwei Faktoren für wesentlich:

einerseits

Information

bzw.

Erkenntnis

Empathieübungen (vgl. a.a.O., S. 37). Das FORUM SCHULE

und FÜR EINE

andererseits W ELT sieht

methodisch beispielsweise durch audiovisuelle Medien die Möglichkeit gegeben, einen emotionalen Bezug zu weit entfernten Problemen (wie zu Kriegen und zu Naturkatastrophen) aufzubauen. So könnten auch räumliche Grenzen bedeutungslos werden und es könne die Erkenntnis gefördert werden, dass weltweit alle Menschen aufeinander angewiesen sind. Die zu angestrebte globale Solidarität und Toleranz müsse bewusst in modellhafter Form eingeübt werden. Als ideale Möglichkeit dazu nennen die Autoren Spiele, Theater, Rollenspiele, selbstständige Gruppenarbeiten und Klassengespräche (vgl. a.a.O., S. 41). Das FORUM formuliert die Folgerung: „Weg von Methoden, die Konkurrenz und Wettstreit betonen, hin zu Methoden, die Zusammenarbeit und Solidarität fördern“ (a.a.O., S. 42). Eine Ausweitung der im Klassenraum erworbenen Fähigkeiten hin zu global verantwortlichem Handeln sei nach dem Prinzip ´Global denken, lokal handeln´ möglich (vgl. a.a.O., S. 41).

Konzepte Globalen Lernens

44

Das FORUM SCHULE FÜR EINE WELT geht davon aus, dass durch eine globale Weltsicht solidarisches Handeln gefördert werden kann. Ziel ist ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Bloße Information bspw. durch Medien helfe wenig, wichtig für solidarisches Bewusstsein sei die Einübung des Sich-Hineinversetzens in die Lage der anderen. Durch bewusste Einübung könne Solidarität entstehen, die auf der Erkenntnis des gegenwärtigen Aufeinander-Angewiesenseins aller gründet. In der Schulklasse kann solidarisches Handeln mit Spielen, Theater, Rollenspielen, selbstständigen Gruppenarbeiten und Klassengesprächen in modellhafter Form eingeübt und dann zu einer globalen Perspektive ausgeweitet werden.

Neben dem in Abschnitt 2.1.1 ausgeführten Umgang mit „Komplexität“ ist für BÜHLER „Gerechtigkeit für alle“ (BÜHLER, 1996, S. 74) ein Orientierungspunkt Globalen Lernens. Die beiden Orientierungspunkte sind bei BÜHLER wechselseitig miteinander verbunden. Gerechtigkeit für alle ist für ihn ohne Beachtung der Komplexität kultureller System nicht möglich. BÜHLER legt an dieser Stelle nicht genauer dar, was er unter „Gerechtigkeit für alle“ versteht und wie das Ziel durch Globales Lernen erreicht werden soll. Seinen Standpunkt zum Thema Solidarität führt BÜHLER in der Inklusion „Egoismus und Parteilichkeit“ (a.a.O., S. 163 ff.) aus31: „Egoismus und Parteilichkeit befinden sich in einem antinomischen Verhältnis zueinander, denn Egoismus lebt von der Exklusivität des Narzissmus, während Parteilichkeit sich gegenüber dem/der unbekannten Anderen offenhält und wo notwendig und möglich mit ihm/ihr teilt“ (ebd.). BÜHLER geht davon aus, dass egoistische Einstellungen in der heutigen Gegenwart einen bisherigen Höhepunkt der Verbreitung gefunden haben32. Gleichzeitig stellt er aber eine Generalisierung der menschlichen Verhältnisse fest, die eine bis heute einmalige „Verbreitung des ´abstrakten´ Anderen“ (ebd) mit sich gebracht hätte und damit die Möglichkeit eines weltweiten solidarischen Denken und Handelns vorbereitet hätte (vgl. ebd.). BÜHLER führt dabei nicht aus, was mit „Generalisierung der menschlichen Verhältnisse“ und dem „abstrakten Anderen“ zu verstehen ist.

31

B ÜHLER verwendet anstatt des Begriffes „Solidarität“ den Begriff „´Parteilichkeit´ nach JOUHY , bei dem es darum geht, „die gesellschaftlichen Ursachen des neurotischen Handelns zu erkennen und zu beseitigen“ (M ERGNER , 1995, S.158, zitiert nach: B ÜHLER, 1996, S. 163). 32

B ÜHLER (1996) gibt keine Quellen an, auf die er seine Überlegungen zur Ausbreitung von Egoismus stützt.

Konzepte Globalen Lernens

45

Für BÜHLER „stellt sich die Frage, wie in einer Weltgesellschaft moralische Erziehung ohne Indoktrination versucht werden kann, das einerseits den Pluralismus der Werte als eines der Fundamente der Demokratie nicht aufgibt, anderseits aber soziale Gerechtigkeit verwirklicht“ (a.a.O., S. 164). Für BÜHLER ist „Gerechtigkeit für alle“ und „Parteilichkeit“ (Solidarität) ein wichtiger Orientierungspunkt Globalen Lernens. Parteilichkeit soll sich dem unbekannten Anderen offen halten und mit ihm teilen, d.h. BÜHLER zielt auf die Entstehung von Solidarität mit individuell Fremden. BÜHLER stellt eine Generalisierung der menschlichen Verhältnisse fest, die zu einer Verbreitung des abstrakten Anderen geführt hat und dadurch den Weg für Solidarität vorbereitet hat. BÜHLER führt dabei nicht aus, was mit „Generalisierung der menschlichen Verhältnisse“ und dem „abstrakten Anderen“ zu verstehen ist. Für BÜHLER ist offen, wie in einer Weltgesellschaft moralische Erziehung ohne Indoktrination versucht werden kann, ohne den Pluralismus der Werte aufzugeben und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. BÜHLER gibt keine speziellen Hinweise darauf, wie die Orientierungspunkte „Gerechtigkeit für alle“ und „Solidarität“ methodisch und didaktisch erreicht werden können.

FOUNTAIN gibt als explizites Ziel ihrer Konzeption Globalen Lernens an, dass bei Lernenden Einstellungen und Werte wie z.B. weltweite Solidarität, Frieden, Toleranz, soziale Gerechtigkeit gefördert werden sollen (vgl. FOUNTAIN, 1996, S. 6). FOUNTAIN begründet den Unterrichtsgegenstand soziale Gerechtigkeit mit dem Postulat, dass jedes Individuum, „einfach aus der Tatsache heraus, dass es ein menschliches Wesen ist“ (a.a.O., S. 105), das Recht auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen habe. Gerechtigkeit sei für die Weiterentwicklung von Einzelnen, aber auch von Gesellschaften und Ländern grundlegend. Zentral für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist für FOUNTAIN der Begriff der Menschenrechte. FOUNTAIN formuliert zu der Zielstellung Entstehung von „Sozialer Gerechtigkeit“ ein eigenständiges Lernfeld. Ein Verständnis von der Auswirkung faktisch existierender Gerechtigkeit auf die Ausschöpfung individueller Möglichkeiten könne als Bedingung für einen dauerhaften Frieden Lernende zu mehr nationaler und globaler Gerechtigkeit bewegen (vgl. a.a.O., S. 7).

Konzepte Globalen Lernens

46

Das Lernen sozialer Gerechtigkeit soll nach FOUNTAIN mehr umfassen als Vertrautheit mit rein institutionell rechtlichen Fakten und abstrakten Rechtsbegriffen (vgl. a.a.O., S. 105). Sie fordert darüber hinaus den Bezug der Bedeutung von Gerechtigkeit auf das individuelle Leben der Lernenden. Die Lernenden sollen „über Reaktionen wie Beschuldigung, Zuweisung von Verantwortung oder Ablehnung hinausgehen und stattdessen einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass Gerechtigkeit und Gleichheit auf allen Ebenen gefördert wird, sei es auf persönlicher, institutioneller, nationaler oder globaler Ebene“ (ebd.). Für FOUNTAIN sind weltweite Solidarität und soziale Gerechtigkeit explizit genannte Lernherausforderungen Globalen Lernens. Sie geht davon aus, dass das Verständnis wesentlicher Zusammenhänge junge Menschen bestärkt, für mehr Gerechtigkeit einzutreten. FOUNTAIN begründet die Wichtigkeit der sozialen Gerechtigkeit mit der Erfüllung von Grundbedürfnissen, die jedem Individuum zustehen.

Im Sinne FÜHRINGS zielt Globales Lernen „auf eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung unserer Gesellschaft in der ´Einen Welt´ im Sinne einer ´Globalisierung der Solidarität´“ (FÜHRING, 2003, S. 10)33. Ein ebenso wichtiges Ziel ist die Förderung der „Fähigkeit zu gewaltfreier Auseinandersetzung sowie zum Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Frieden“ (ebd.). Beim Globalen Lernen ist es für FÜHRING wesentlich, Standpunkt zu beziehen und Globalisierung vor der Zielperspektive einer solidarischen zukunftsfähigen Entwicklung mitzugestalten und nicht eine wertneutrale Beobachterrolle einzunehmen (vgl. ebd.). Durch einen Perspektivenwechsel soll Globales Lernen ermöglichen, „andere Denkweisen und Lebenswelten erfahrbar zu machen“ (ebd.). In einer früheren Veröffentlichung stellt FÜHRING fest, dass die Sorge um die Nöte anderer für fast alle Menschen unserer Gesellschaft nicht real und naheliegend sind (vgl. FÜHRING, 1996, S. 147). Sie geht davon aus, dass es für die Entstehung einer Empfindung von globaler Solidarität für Lernende wesentlich ist, Auswirkungen von struktureller Gewalt im individuellen Lebensumfeld zu erkennen und dann auf globale Bezüge auszuweiten. Durch die bewusste Reflexion der individuel33

F ÜHRING bezieht sich in ihrer Beschreibung von Globalem Lernen auf die „FEPWettbewerbsausschreibung „Entwicklungsräume gestalten – Wie trägt Globales Lernen zur Schulerneuerung bei?“ (FÜHRING , 2003, S. 10).

47

Konzepte Globalen Lernens

len Bedürfnisse entstehe die Grundlage für verantwortungsvolles und solidarisches Handeln (vgl. a.a.O., S. 149). Für FÜHRING sind eine „Globalisierung der Solidarität“ und das „Eintreten für eine soziale Gerechtigkeit“ Ziele von Globalem Lernen. Durch Perspektivenwechsel werden andere Denkweisen und Lebenswelten erfahrbar. FÜHRING stellt fest, dass die Sorgen und Nöte anderer für die meisten Menschen unserer Gesellschaft nicht real und naheliegend sind. Für FÜHRING hängt das Empfinden von Solidarität davon ab, wie Menschen die Wirkung von struktureller Gewalt im Nahraum erkennen und weltweite Verbindungen herstellen können und wollen. Für verantwortungsvolles und solidarisches Handeln ist eine bewusste Reflexion der eigenen Bedürfnisse wichtig.

TREML (1998) formuliert das Ziel einer sozialen Gerechtigkeit und globalen Solidarität nicht. Ganz im Gegenteil den vorangegangenen Konzepten äußert er sich aus evolutionstheoretischer Perspektive skeptisch zu der Bemühung, im Nahraum gewonnene Erfahrungen auf einen weltweiten Bezugsraum auszudehnen. Er sieht deutliche Grenzen für eine weitere Ausdehnung der familialen Semantik. So sei es beispielsweise paradox, die ganze Welt als Heimat zu bezeichnen, weil Heimat nur in der Abgrenzung zur restlichen Welt begriffen werden kann. Auch das in

anderen

Konzepten

geäußerte

Ziel

einer

Fremdenliebe

und

Koope-

rationsbereitschaft mit allen Menschen sei vor dem Hintergrund der angeborenen Bevorzugung des Nahen und Vertrauten skeptisch zu sehen (vgl. TREML, 1998, S. 11). TREML fordert, bei der Erziehung für die globale Weltgesellschaft auf im sozialen Nahbereich verankerten Begrifflichkeiten wie beispielsweise Liebe zu verzichten. Dagegen fordert er „eine Erziehung, die die Achtung vor jenem abstrakten Gesetz kultiviert, das das Leben in der globalen Weltgesellschaft menschenwürdig macht“ (ebd.). Wie deutlich wird, haben TREMLS Arbeiten einen naturwissenschaftlichen evolutionstheoretischen Hintergrund. Eine Ausarbeitung dieser Gedanken erfolgt in Kapitel 3.3. In TREMLS Arbeit findet sich die Forderung einer „sozialen Gerechtigkeit“ und „globalen Solidarität“ nicht. Er steht der Verwirklichung dieser, in anderen Konzepten

48

Konzepte Globalen Lernens

Globalen Lernens geforderten Lernherausforderungen, skeptisch gegenüber und begründet dies mit Ergebnissen aus der naturwissenschaftlichen Anthropologie.

In der Arbeit von SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK erfahren die Lernherausforderungen „Solidarität“

und

„soziale

Gerechtigkeit“

keine

umfangreiche

Beachtung34.

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK konstatieren, dass durch die durch Globalisierungsentwicklungen bedingten Herausforderungen neue Beurteilungsmaßstäbe, Verstehenshorizonte und Handlungsperspektiven „für die Beurteilung des eigenen Verhaltens sowie für Fragen von Solidarität und Gerechtigkeit“ (SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, 2002, S. 6) erforderlich seien. Für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK (2002) bezieht sich Globales Lernen „thematisch auf die sachliche Dimension der Einen Welt [...]. Themen wie Entwicklungsfragen, die Veränderung unserer natürlichen Umwelt, Migration oder die Bewahrung des Friedens stehen im Mittelpunkt Globalen Lernens. Diese Bereiche stehen alle unter der Perspektive von Gerechtigkeit und bieten so einerseits eine Orientierung an den Problembereichen der Weltgesellschaft, ohne andererseits einen festumrissenen Themenkanon zu präsentieren“ (2002, S. 15f.). Globales Lernen ist für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK „dem Leitbild verpflichtet, unsere Welt gerecht, zukunftsfähig und ökologisch zu gestalten“ (2002, S. 16). Im Gegensatz zu beispielsweise BÜHLER, FÜHRING und FOUNTAIN sprechen SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK nicht von dem Ziel einer „Globalisierung der Solidarität“. SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK explizieren nicht, welche Kriterien sie an die genannten Beurteilungsmaßstäbe, Verstehenshorizonte und Handlungsperspektiven für die Beurteilung des eigenen Verhaltens sowie für Fragen von Solidarität und Gerechtigkeit anlegen und wie diese konkrete Zielstellungen durch Konzepte Globalen Lernens erreicht werden sollen. Sie subsumieren diese Teilbereiche in ihrer Konzeption Globalen Lernens unter der Oberkategorie „Lernen und Komplexität“, die in Abschnitt 2.1.1 dargestellt wurde.

34

S CHEUNPFLUG hat an anderer Stelle (2001, S. 141ff.) Erklärungsansätze für die Entstehung von Kooperation und Konkurrenz aus soziobiologischer und spieltheoretischer Perspektive zusammengefasst und diskutiert, die für die Entstehung von Solidarität interessant sind und deshalb in Kapitel 3.3 aufgegriffen werden.

49

Konzepte Globalen Lernens

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK erwähnen die Begriffe „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ und sehen dafür die Erfordernis neuer Beurteilungsmaßstäbe, Verstehenshorizonte und Handlungsperspektiven. Die Autoren stellen nicht explizit dar, auf welche Weise ihre Konzeption Globalen Lernens dazu beiträgt, sondern subsumieren den Themenbereich unter dem Leitmotiv „Lernen und Komplexität“. Alle Themen Globalen Lernens stehen für SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK unter der Perspektive von Gerechtigkeit. Der Begriff Gerechtigkeit wird aber nicht weiter erläutert.

Für SEITZ ist „die Ausbildung individueller und kollektiver Handlungskompetenz im Zeichen weltweiter Solidarität“ (SEITZ, 2000, S. 23) ein explizites Ziel Globalen Lernens. Neben einer weltumspannenden Solidarität formuliert SEITZ auch das Ziel einer

globalen

Empathiefähigkeit.

Die

Fähigkeit

und

Bereitschaft

zur

Berücksichtigung der Interessen der durch Globalisierung benachteiligten Menschen soll gefördert werden. Orientierungspunkte für Denken und Handeln sollten die soziale Gerechtigkeit, ein friedlicher Interessensausgleich und die Erhaltung der Menschenrechte sein (vgl. a.a.O., S. 20). Solidarität in der Weltgesellschaft kann nach SEITZ nicht die Ausdehnung der nahbereichsbezogenen Sympathiegefühle bedeuten, da dies zu einer Überforderung führen würde. Wichtig sei es, die gegenseitige Achtung aller Menschen zu lernen. Auch unter Berücksichtigung von Einschränkungen, die durch die evolutionärer Verhaltensforschung aufgezeigt wurden (vgl. a.a.O., S. 431) hält SEITZ eine Schulung der

Wahrnehmungsfähigkeit

dahingehend

für

möglich,

die

„Verantwortung

gegenüber ´dem fernen Nächsten´ ähnlich intensiv zu empfinden wie gegenüber den unmittelbaren Angehörigen“ (vgl. ebd.). Während interkulturelle Empathie auch über real stattfindende soziale Gemeinschaftserfahrung erlernbar sei35, verdeutlicht SEITZ für die Entstehung von Solidarität in globalen Zusammenhängen die Notwendigkeit einer neuen, nicht dem 35

S EITZ beruft sich auf empirische Befunde, „die zeigen, dass z.B. Schüler, die den reflektierten Umgang mit Heterogenität in Integrationsklassen von behinderten und nicht-behinderten Kindern erfahren haben, in der Regel auch eine hohe interkulturelle Empathie und eine entsprechende Kompetenz in der Handhabung von Differenz- und Ambiguitätserfahrungen in interkulturellen oder internationalen Zusammenhängen aufweisen“ (SEITZ , 2002, S. 460f.).

Konzepte Globalen Lernens

50

unmittelbaren Erfahrungshorizont entnehmbare Qualität der Wahrnehmung (vgl. SEITZ, 2002, S. 431f.). Für SEITZ ist es zur Entstehung von sozialer Solidarität in der Weltgesellschaft unerlässlich, die konventionelle Gruppen- und Nationenbindung zu schwächen36. Die entstehende weltbürgerliche Solidarität müsste sich dann „nicht auf Sympathie, sondern auf ein weltbürgerliches Verantwortungsbewusstsein und auf abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien stützen“ (a.a.O., S. 461). Zur Förderung einer weltumspannenden Solidarität hält es SEITZ vor dem Hintergrund von Untersuchungen der Netzwerkforschung methodisch für hilfreich, weltweite persönliche Beziehungen aufzubauen. Durch Netzwerke wäre die durch strukturelle Fremdheit geprägte Weltgesellschaft beispielhaft wahrnehmbar (vgl. a.a.O., S. 462). SEITZ weist daher pädagogischen Ansätzen internationaler Begegnungsmaßnahmen einen bedeutenden Stellenwert für Globales Lernen zu, da dadurch die Bildung solcher Netzwerke gefördert werde (vgl. ebd.). S EITZ sieht keine Möglichkeit der Ausdehnung der Empathie- und Verantwortlichkeitsgefühle aus dem Nahbereich auf einen weltumspannende Dimension und begründet dies mit Ergebnissen der evolutionären Verhaltensforschung. Durch Schulung der Wahrnehmung sei es aber möglich, Verantwortung gegenüber dem „fernen Nächsten“ ähnlich intensiv zu empfinden wie gegenüber dem unmittelbaren Angehörigen. Wichtig sei die Förderung einer weltbürgerlichen Solidarität, deren Grundlage nicht allein Sympathie, sondern weltbürgerliches Verantwortungsbewusstsein und abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien sind. Ziel ist die Ausbildung einer kosmopolitischen Identität. SEITZ geht davon aus, dass kognitive Bildungsprozesse verhaltensrelevant werden können.

Ziel von Globalem Lernen ist für SELBY und RATHENOW „die Bildung eines eigenen politischen Standortes und ein solches Verständnis von Rechten und Pflichten, das sich am Wohl des Planeten (´health of planet´) und der Idee sozialer Gerechtigkeit orientiert und daher Partei für die in Globalisierungsprozessen Unterlegenen ergreift“ (SELBY/ RATHENOW , 2003, S. 26).

36

Damit widerspricht er den Überlegungen des Schweizer Forums S CHULE FÜR EINE W ELT.

Konzepte Globalen Lernens

51

SELBY und RATHENOW sehen in der Stärkung des Selbstwertgefühls der Schülerinnen und Schüler eine Möglichkeit, die genannten Ziele zu erreichen. Beispielsweise könne dies durch ein angenehmes und nicht durch Konkurrenz gekennzeichnetes Klassenklima, in dem sich jeder gut integriert und keiner ausgegrenzt fühlt, angestrebt werden (vgl. a.a.O., S. 30). Die beiden Autoren beziehen sich auf frühere Forschungsarbeiten von SELBY und gehen davon aus, dass eine Verstärkung des individuellen Selbstwertgefühls nicht nur mit der Erreichung „kognitiver intellektueller Ziele, sondern auch mit der Ausbildung sozialen, altruistischen Engagements im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit und die Bereitschaft, sich für die Veränderung ungerechter Bedingungen auch außerhalb der Schule zu engagieren“ (SELBY/ RATHENOW, 2003, S. 30)37 korreliert. Zentral für SELBY und RATHENOW ist die Bildung eines individuellen Verständnisses, das sich an sozialer Gerechtigkeit orientiert und Partei für die in Globalisierungsprozessen Unterlegenen ergreift. Auch an anderer Stelle stellen sie zwar nicht wie alle im vorherigen Abschnitt besprochenen Autoren den Begriff „Solidarität“ ins Zentrum, sondern greifen auf die Wortwahl des „altruistischen Engagements“ zurück. Wie noch zu zeigen sein wird (vgl. Abschnitt 3.3.2), greifen sie aus biologischer Perspektive damit einen speziellen Teilbereich solidarischen Handelns heraus. Eine Verstärkung des individuellen Selbstwertgefühls trägt laut SELBY und RATHENOW zur Erreichung von globaler Gerechtigkeit und Solidarität bei.

Zusammenfassung Im vorangehenden Gliederungspunkt wurde gezeigt, dass in allen untersuchten Konzepten (außer in der Konzeption von TREML) die Förderung von weltweiter Solidarität und globaler Gerechtigkeit ein Bezugspunkt für Globalen Lernen ist. Die Ausführungen in den verschieden Konzepten fallen dabei meist knapp aus. Es lassen sich zwei Kategorien von Konzeptionen unterscheiden, wenn die Überlegungen hinsichtlich einer Berücksichtigung bzw. Beschreibung einer besonderen Qualität von räumlicher Differenzierung analysiert werden. In manchen 37

S ELBY und RATHENOW verweisen als Beleg für diese methodischen Anregungen auf Untersuchungen von P IKE/SELBY 1988, SELBY 1995.

52

Konzepte Globalen Lernens

Konzeptionen ist keine begriffliche Unterscheidung zu finden, wenn sie die Entstehung von globaler Solidarität (zu weit entfernten Menschen) im Vergleich zur Entstehung von Solidarität im lokalen Umfeld beschreiben (vgl. SELBY/RATHENOW , FOUNTAIN). Andere Konzeptionen weisen auf die Bedeutsamkeit einer differenzierten Betrachtung von lokaler und globaler Solidarität hin (vgl. SEITZ, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, TREML). In einigen Konzeptionen wird die Überzeugung formuliert, dass durch Wissensvermittlung und daraus folgender Erkenntnis globaler Herausforderungen wie beispielsweise sozialer Ungerechtigkeiten ein Gefühl einer globalen Solidarität entstehen könne (vgl. FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT, FÜHRING, FOUNTAIN). Ein Perspektivenwechsel könne laut mancher Autoren helfen, die Welt aus Sicht der Benachteiligten zu sehen (vgl. BÜHLER, FÜHRING, SELBY/ RATHENOW ). Es sei notwendig, einen direkten Bezug zum Leben der Lernenden aufzubauen, um globale Solidarität aufbauen zu können (vgl. FÜHRING, FOUNTAIN). Neben der Wissensvermittlung wird in verschiedenen Konzepten formuliert, dass eine modellhafte Einübung von solidarischem Handeln in der Lerngruppe hilfreich ist, globale Solidarität zu fördern (vgl. FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT). In den Konzeptionen von den Autoren des Forums SCHULE

FÜR EINE

W ELT, von

BÜHLER, von FOUNTAIN wird formuliert, dass Unterrichtsmethoden, die keine soziale Konkurrenz fördern, auch begünstigende Wirkung auf eine weltweite Solidarität hätten. Für FÜHRING ist es wesentlich zur Entstehung von globaler Solidarität, Auswirkungen von struktureller Gewalt im Nahraum zu erkennen. Andere Konzeptionen (vgl. TREML, SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK, SEITZ) stehen einer Ausweitung der im Nahbereich gemachten Solidaritätserfahrungen hinsichtlich einer globalen Solidarität skeptisch gegenüber, da dies eine evolutionstheoretisch begründbare Überforderung darstellen würde. Durch den weltweiten Bezugsrahmen wären ganz neue Qualitäten der Wahrnehmung und Beurteilung erforderlich.

Konzepte Globalen Lernens

53

Ein erschwerender Faktor bei der Untersuchung der verschiedenen Konzepte Globalen Lernens war, dass die Autoren nur in einem geringfügigem Maße eine Auseinandersetzung um den Begriff der globalen Solidarität führen. Lediglich SEITZ bemüht sich um eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Begriffen der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit und arbeitet an einer theoretischen Fundierung des Themenbereichs. Das Fehlen einer begrifflichen Auseinandersetzung und Darlegung der autorenspezifisch individuellen Begriffsbelegung erschwert eine theoretische fruchtbare Diskussion der Vorschläge. In den vorgestellten Konzepten fehlen auch weitgehend Hinweise darauf, durch welche Motivationen eine solidarische Grundhaltung bzw. soziale Gerechtigkeit entstehen kann (Ausnahme: SEITZ). Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen wird, ermöglicht eine soziobiologische, spieltheoretische und evolutionspsychologische Betrachtungsweise von Solidarität eine genauere Analyse von Bedingungsfaktoren. Die vorliegende Arbeit will aus naturwissenschaftlich anthropologischer Sicht Begriffspräzisierungen ermöglichen und verschiedene Möglichkeiten der Entstehung von Solidarität diskutieren. In Gliederungspunkt 3.3 werden über Begriffsabgrenzungen hinaus Möglichkeiten und Grenzen der Entstehung von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit vorgestellt.

54

Konzepte Globalen Lernens

2.2. Methodische Zugänge Globalen Lernens Im Folgenden Abschnitt werden die zentralen Aussagen der verschiedenen Autoren zu lerntheoretischen und methodischen Gesichtspunkten zusammengefasst. Ziel ist, einen tieferen Einblick in die teils ähnlichen, insgesamt aber sehr heterogenen Vorstellungen der Autoren zu diesen Themen zu vermitteln. Es werden besonders die Aspekte der konzeptionellen Überlegungen der einzelnen Autoren dargestellt, die im Abschnitt 2.1 noch nicht zugeordnet werden konnten. Die Aussagen zu lerntheoretischen, didaktischen und methodischen Überlegungen Globalen Lernens befinden sich meist auf einer sehr allgemeinen Ebene. Das FORUM SCHULE

FÜR EINE

WELT sieht folgende sechs didaktischen und methodi-

schen Grundsätze als entscheidend für ihre Vorstellungen von Globalem Lernen: „Denken in Zusammenhängen“, „Lernen von der Zukunft (antizipatorisches Lernen)“, „Soziales, teilhabendes Lernen (partizipatorisches Lernen)“, „Personenzentriertes Lernen“, „Lernen in konkreten Situationen (situatives Lernen)“ und „Ganzheitliches Lernen“ (vgl. GRAF-ZUMSTEG, o.J., S.11f.). Mit den Schlagworten „Lernen durch Tun“38, „Konkretes Lernen“39, „Bezug zum Lebensraum“40 und „Phantasie, Kreativität, Emotionen“41 stellt das FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT

ihre bevorzugten Methoden detaillierter dar.

38

„Das selbstständige, aktive Lernen ist für die Erziehung zu einer ´globalen Weltsicht´ von großer Bedeutung, denn es schafft eine persönliche Beziehung zum Lerngegenstand und ermöglicht Lernerfahrungen in der direkten Auseinandersetzung. Das Lernen durch Tun schafft zudem soziale Beziehungen und fördert die Handlungsfähigkeit. Deshalb planen die Schüler selbst, probieren aus, stellen selbst her“ (FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT , 1989, S. 41). 39

„Lernen am konkreten Gegenstand vermittelt lebensnahe Erfahrungen. Obwohl die Abstraktionsfähigkeit der Schüler mit zunehmendem Alter größer wird, bleibt das konkrete Lernen über alle Altersstufen hinweg ein wichtiges Anliegen. Es schafft gefühlsmäßige Verbundenheit und damit innere Anteilnahme. Konkretes Lernen ermöglicht konkrete Handlung. Deshalb treten die Schüler in einen nahen Kontakt mit dem Lerngegenstand. Ein ´offenes´ Schulhaus schafft Kontakte mit Fachleuten, Eltern, Gastarbeitern und andern Besuchern; eigene Aktivitäten außerhalb der Schule (z.B. Besuche von Institutionen, Besichtigungen, das Gestalten von Ausstellungen) erweitern die Gelegenheiten konkreten Lernens“ (FORUM SCHULE FÜR EINE W ELT, 1989, S. 41). 40

„Die Schüler lernen für sich, für ihr Leben, für die Gegenwart und für die Zukunft. Den Ausgangspunkt des Lernens bilden die Kenntnisse und Erfahrungen, die die Schüler schon haben und in den Lernprozess einbringen. Von hier aus können sie Ähnliches und Gemeinsamkeiten mit dem ganz andern entdecken. Fremdes wird auf diese Weise vertraut, Fernes wird nah“ (FORUM S CHULE FÜR EINE W ELT, 1989, S. 42). 41

„Im Sinne des ganzheitlichen Lernens bilden die Schüler ihre schöpferischen Kräfte und geben ihnen Ausdruck; ebenso wird auch die emotionale Seite des Lernens bewusst in den Lernprozess einbezogen. Konstruktive Gefühle wie Anteilnahme, Lernbereitschaft, Freude und Optimismus werden gefördert, ebenso positive Einstellungen, vor allem den Personen im engeren

55

Konzepte Globalen Lernens

Das FORUM S CHULE

FÜR EINE

W ELT bevorzugt handlungsorientierte Lernformen,

die sich auf den konkreten Nahbereich beziehen.

Globales Lernen im Sinne BÜHLERS sollte auf einseitige kognitive Instruktion verzichten, die BÜHLER dem traditionellen Unterricht zuschreibt. Er bevorzugt vielfältige ganzheitliche Lernansätze und geht davon aus, dass durch ganzheitliche Ansätze gelernt werden kann, sich selbst als auch andere besser zu verstehen. Wichtig ist für ihn, dass aus der Erkenntnis auch handelnde Aktivität im Sinne eines partizipatorischen Lernens entsteht. Für ihn ist deshalb der zentrale Slogan seiner Konzeption Globalen Lernens das Motto ´Global denken, lokal handeln´. Er beansprucht, dass Unterschiede zwischen Handeln und Verstehen überwunden werden können (vgl. BÜHLER, 1996, S. 183 und 192). BÜHLER setzt sich von den Konzepten Interkultureller Pädagogik ab, die davon ausgehen, dass Verstehen alleine eine Verhaltensänderung bewirkt42. Die Begrenzung der Wirksamkeit von insbesonders verbaler Aufklärung sei besonders bei solchen Verhaltens- und Einstellungsänderungen deutlich, „deren Nutzen für den einzelnen spontan und momentan noch größer sind als deren Kosten“ (vgl. a.a.O., S. 184). Man könne deshalb nicht mehr von einem monokausalen Zusammenhang zwischen Verständnis und Handlungsfähigkeit ausgehen. BÜHLER fordert in der von ihm formulierten „konkreten Utopie Globalen Lernens“ (vgl. a.a.O., S. 174) eine methodische Gelassenheit und begründet seine Utopie mit dem von ihm in persönlicher Erfahrung gewonnenen Wissens „um die Stärke des Teilens in sozial organisierten Systemen“ (ebd.). BÜHLER geht davon aus, dass „totale Konzepte“ nicht möglich sind und fordert behutsame kleine Schritte, die beispielsweise am „behutsamen Umgang mit sich und anderen“, am behutsamen Umgang mit Ressourcen und am behutsamen Umgang mit Ideen erkennbar wären. Lebensbereich, dem (noch) Unbekannten, anderen Kulturen, Völkern und Lebensweisen gegenüber. Lernen mit einer globalen Weltsicht verlangt emotional engagiertes Lernen, das Phantasie und Kreativität zulässt und fördert. Deshalb erhalten die Schüler die Gelegenheit, im Spiel zu lernen, beim Theater- und beim Rollenspiel. Sie führen Konfliktgespräche und spielen selbst Erlebtes nach. Sie erhalten Anstöße und Anregungen, suchen eigenständige Lösungen. Sie planen und gestalten – ihrer Entwicklungsstufe gemäß – ihren eigenen Lernprozess und – verlauf selbst“ (FORUM S CHULE FÜR EINE W ELT , 1989, S. 42). 42

B ÜHLER gibt als Beispiel das Rauchen: „Raucher werden sofort verstehen, was gemeint ist, wenn behauptet wird, dass Verstehen nicht ausreiche, um zu handeln“ (B ÜHLER, 1996, S. 184).

Konzepte Globalen Lernens

56

Ganzheitliches Lernen im Sinne seiner Konzeption Globalen Lernens ist für BÜHLER besonders durch Projektunterricht möglich. Er fordert deshalb, Projektunterricht als vorherrschende schulische Unterrichtsmethode zu verwenden (vgl. a.a.O., S. 199). Selbständiges Organisieren von Lernprozessen durch Lernende ist für ihn Grundlage Globalen Lernens. Globales Lernen im Sinne BÜHLERS favorisiert ganzheitliche Lernansätze. Mit dem zentralen Slogan ´Global denken, lokal handeln´ wird beansprucht, Unterschiede zwischen Handeln und Verstehen überbrücken zu können. BÜHLER hält Projektunterricht als die vorherrschende Methode für Globales Lernen in der Schule für sinnvoll.

Für FOUNTAIN ist Globales Lernen „eine Vorgehensweise mit Lernabläufen, die sich von denen traditioneller Fächer unterscheiden“ (FOUNTAIN, 1996, S. 8). FOUNTAIN (1996) teilt den Verlauf Globalen Lernens in einen Zyklus mit drei Phasen auf: die Erforschungsphase43, die Reaktionsphase44 und die Phase des „Aktiv werden“45. FOUNTAIN hält alle drei Phasen für gleich bedeutsam für Globales Lernen. „In allen Teilen des dreistufigen Lernzyklus geschieht Lernen interdisziplinär46 und kooperativ47 sowie handlungs- und erfahrungsorientiert“ (vgl. a.a.O., S. 8f.). Ähnlich wie 43

„Die Erforschungsphase ist in erster Linie eine kognitive Phase. Schülerinnen und Schüler sammeln, analysieren und synthetisieren Informationen zu einem bestimmten Thema“ (FOUNTAIN , 1996, S. 8). 44

„In dieser zweiten Phase formen die Schülerinnen und Schüler eine persönliche Antwort auf das erarbeitete Material. Sie werden mit verschiedenen Betrachtungsweisen eines Themas vertraut und bilden ihre eigene Sichtweise oder ihren eigenen Standpunkt heraus. Sie werden sich der menschlichen Dimension des Themas bewusst. Sie entwickeln Einfühlungsvermögen und einen Sinn für Engagement und Verpflichtung“ (FOUNTAIN , 1996, S. 8). 45

„Die Lernenden erarbeiten in der Praxis Handlungsweisen, die sich mit dem betreffenden Thema befassen. Entscheidend ist, dass reale Möglichkeiten, sich zu engagieren, geboten werden. Dies ist nicht nur ein folgerichtiges Ergebnis des Lernverlaufs, sondern auch ein wichtiges Mittel, neue Kenntnisse, neue Fähigkeiten und Einstellungen zu verstärken“ (FOUNTAIN, 1996, S. 8). 46

„Interdisziplinäre Methoden arbeiten problemorientiert, so dass die Lernenden den Beitrag der verschiedenen Fächer zu existierenden globalen Fragestellungen erfahren können“ (FOUNTAIN, 1996, S. 8). 47

„Beim kooperativen Lernen werden die Einstellungen gefördert, die für globales Denken und Handeln benötigt werden. Die ständige Arbeit in kooperativen Lerngruppen trägt dazu bei, Vorurteile aufzubrechen, so dass Kinder, die sich in ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und physischen Merkmalen unterscheiden, immer mehr Sympathie für einander entwickeln (Johnson and Johnson, 1983). Und komplexe Themen (wie jene, die dem globalen Lernen zugrunde lie-

Konzepte Globalen Lernens

57

BÜHLER hält FOUNTAIN den Projektunterricht für eine wichtige Methode Globalen Lernens (vgl. a.a.O., S. 8 und S. 212ff.). FOUNTAIN bevorzugt interdisziplinäre, kooperative, interaktive, sowie handlungs- und erfahrungsorientierte Methoden. Sie stellt einen dreiphasigen Zyklus Globalen Lernens vor, bei der an eine kognitive Phase der Erkenntnis und der Standpunktbildung eine Phase der Aktivität anschließt.

Wichtiger als die Erfüllung von zuvor festgelegten Lernzielen und Lerninhalten ist für FÜHRING im Sinne einer Subjektorientierung die Förderung von Lern- und Kommunikationsprozessen zwischen den Lernenden (vgl. 1996, S. 150). Nach FÜHRING sei eine radikale Veränderung des herkömmlichen Unterrichts notwendig, da immer „bei der Befindlichkeit und den Vorerfahrungen sowie den Projektionen der SchülerInnen anzusetzen“ (ebd.) sei. Um diese Subjektorientierung zu ermöglichen fordert FÜHRING einerseits eine offene pädagogische Grundhaltung und zum anderen die „Anwendung von kreativitäts- und phantasie-anregenden interaktiven Methoden [...], die es erlauben, der jeweiligen (von Tag zu Tag und Gruppe zu Gruppe unterschiedlichen) Befindlichkeit zum Ausdruck zu verhelfen“ (ebd.). Trotz der Forderung nach Offenheit legt FÜHRING mit dem „Phasenschema des interkulturellen Lernprozesses“ auf der Basis gestalttheoretischer Ansätze ein Strukturmuster für den Unterrichtsaufbau vor (vgl. a.a.O., S. 151f.). Das von FÜHRING ausgeführte Strukturmuster besteht aus den fünf Phasen Vorkontakt, Kontaktanbahnung, Kontaktnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt48. gen) werden besser verstanden, wenn kooperative und nicht wetteifernde oder individualisierende Lernwege eingeschlagen werden (Johnson and Johnson, 1975)“ (F OUNTAIN, 1996, S. 8f.). 48

„Der Vorkontakt ist die Vorbereitungs- und Ankunftssituation. Hier werden die aktuellen thematischen, räumlichen und personellen Bedingungen und Voraussetzungen abgeklärt, bzw. neu gestaltet, soweit es die Gegebenheiten gestatten (Sitzordnung, freier Bewegungsraum, Plakate, etc.). Während der Kontaktanbahnung wird der Bezug der einzelnen TeilnehmerInnen zum Lerngegenstand herausgearbeitet und die genaue Fragestellung fokussiert. Da dies das Ausgangsmaterial für die weitere Bearbeitung darstellt, kommt dieser Phase eine tragende Bedeutung zu. [...] In dieser Phase schälen sich die für die jeweilige Lerngruppe zentrale Fragestellung heraus, die dann weiterbehandelt werden soll [...]. In der Phase der Kontaktnahme werden verschiedene Herangehensweisen zur Beantwortung der Fragen erprobt. Es herrscht eine Atmosphäre der kreativen Suche nach Lösungen. Hier wird der Kontakt zum Thema sowie zu den Einsichten und Assoziationen der anderen aufgenommen. Neue Erkenntnisse werden gesucht und mit alten Erfahrungen verknüpft. Die Anregung von Perspektivenwechsel fördert die irritierende Konfrontation mit alternativen Lösungsansätzen und Antworten, woraus sich

Konzepte Globalen Lernens

58

Wichtig ist für FÜHRING dabei, dass der Lernprozess mit dem individuellen Bezug zum Thema beginnt. Deshalb könnten zwar Themenkomplexe vorgegeben werden, es soll aber die Möglichkeit für die Lernenden geschaffen werden, den Zugang zu den Themen individuell zu finden. Durch Globales Lernen könnten Lernende auf ihrem interkulturellen Lernprozess begleitet bzw. zu diesem angeregt werden. Ausgangslage dazu ist für FÜHRING der primäre Ethnozentrismus des Lernenden. Spiralförmig führe der Lernprozess hin zu einer autonomen partnerschaftlichen „Persönlichkeit mit differenzierter Einstellungsund Handlungskompetenz“ (a.a.O., S. 128). Die Stufen der interkulturellen Lernspirale umreißen „die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, die Kommunikations-, Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in Bezug auf Begegnung mit Neuem und als Teilhabe am Leben in der ´Einen Welt´“ (a.a.O., S. 150) und könnten als orientierende Leitlinien für Globales Lernen hinzugezogen werden. Für FÜHRING sind besonders die Lern- und Kommunikationsprozesse wichtig. Für den Unterrichtsaufbau schlägt FÜHRING ein fünfphasiges gestaltpädagogisches Strukturmodell des interkulturellen Lernprozesses vor. Wesentlich ist für FÜHRING besonders der Subjektbezug.

TREML (1998) zieht zu Beginn seiner Ausführungen zu lerntheoretischen Überlegungen Globalen Lernens eine ernüchternde Bilanz bisheriger Bemühungen um Globalen Lernens. Er stellt pauschal fest, dass bislang trotz aller Anstrengungen und Appelle sowohl Politik als auch Pädagogik den nationalstaatlichen Beschränkungen möglicherweise neue Fragen und Erkenntnisse ergeben. Es ist eine Phase, in der auch Unsicherheit vorherrschen und ein Bewusstsein der eigenen Grenzen deutlich werden kann. Eine Phase größter Unsicherheit ist es auch für die Lehrkraft: Sie weiß nicht, welchen Verlauf das Unterrichtsgeschehen nehmen wird. Sie kann nur Angebote zur klareren Wahrnehmung unter Nutzung verschiedenster Sinne machen, um zu versuchen, den verschiedenen Lernzugängen gerecht zu werden und durch neue Konfrontation immer wieder die Begegnung mit Neuem anzuregen [...]. Auf diese Weise kann der Kontaktvollzug eingeleitet werden. Jeder Teilnehmer an der Lernsituation hat die Chance, auf seine Frage eine Antwort zu finden oder eine neue Erkenntnis zu gewinnen. Es geht um die unmittelbare Begegnung, um das offene Wahrnehmen und Sich-Einlassen, um die konzentrierte Beschäftigung bis zur Vollendung der Gestalt. [...] Als Nachkontakt bezeichnet man die bewusste oder unbewusste Assimilation des Gelernten und Erfahrenen in die Ganzheit der Person. Hier gibt es die Chance, den soeben vollzogenen Lernprozess zu reflektieren und bewusst zu machen. Es kann sich um eine beglückende Erfahrung des gemeinsamen Suchens, um eine Wahrnehmung lebensweltlich Bedeutsamen, um Erweiterung der Identität, um Veränderung des Wertekanon und/oder um weitere Fragen handeln. Die Energie, die zur Bewältigung der eben noch zu lösenden Fragen aufgebracht wurde, ist wieder abgeflaut; die Sinne sind wieder frei für neue Wahrnehmungen“ (F ÜHRING , 1996, S. 152f.).

Konzepte Globalen Lernens

59

verhaftet bleiben und nicht unter Berücksichtigung der ganzen Menschheit Entscheidungen fällen (vgl. a.a.O., S. 9). Für TREML ist Globales Lernen daher „weitgehend ein kontrafaktischer Appell geblieben“ (ebd.). Damit bringt er zum Ausdruck, dass die Umsetzung der in den verschiedenen Konzepten Globalen Lernens formulierten Ideen seiner Meinung nach bislang gescheitert ist. TREML sieht den Grund für das Scheitern in der evolutionären Angepasstheit der Menschen. Er geht davon aus, dass es in der menschlichen Entwicklungsgeschichte ein Selektionsvorteil war, „Relevanzstrukturen auf den Nahbereich sinnlicher Erfahrungen zu begrenzen“ (ebd.). Dieser Selektionsvorteil sei als Anpassungserfolg in der evolutionären Entwicklung selektiert und genetisch weitergegeben worden. Bei Bemühungen um Globales Lernen müssten diese Angepasstheiten der Menschen berücksichtigt werden. TREMLS Ausführungen schließen in der grundlegenden Feststellung, das durch die bisher vorgelegten Arbeit zu Globalem Lernen noch keine überzeugende Antwort gegeben wurde, wie globales Lernen möglich sei (vgl. a.a.O., S. 11). Auch TREML gibt auf diese konkrete Frage keine methodische oder didaktische Antwort, sieht aber den Bedarf „der expliziten Erziehung, um diese natürlichen Vorlagen zu transzendieren – eine Erziehung zu einem allgemeinen weltbürgerlichen Zustand“ (ebd.). In methodischer Sicht hält es TREML mit dem Verweis auf experimentelle Untersuchungen für sinnvoll, logische Probleme anschaulich zu präsentieren, da dies die Lernleistung steigern würde (vgl. Treml, 2001, S. 196). TREML hält es deshalb für einen klugen und sehr erfolgreichen didaktischen Gedanken, „die Sachen der Welt (konkreter Raum) in einem Buch als Bilder [...] [Vorstellungsraum] zu zeigen und erst dann den Begriffen [...] [Abstraktionsraum] zuzuordnen“ (ebd.), wie es COMENIUS in dem Werk „Orbis pictus“ vorgenommen hat. Die theoretischen und sachanalytischen Arbeiten von TREML werden in der vorliegenden Arbeit im Folgenden naturwissenschaftlich anthropologischen Teil aufgegriffen. TREML sieht den Bedarf einer expliziten Erziehung zu einem allgemeinen weltbürgerlichen Zustand. Er formuliert zwei Funktionen (die qualifikatorische bzw. kompensatorische Funktion) einer weltbürgerlichen Erziehung und beschreibt evolutionär bedingte menschliche Schwierigkeiten, diese zu erreichen. TREML

Konzepte Globalen Lernens

60

hält es für sinnvoll, Lerngegenstände im Handlungsraum zu verankern und davon ausgehend andere Abstraktionsebenen anzustreben.

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK plädieren für Lernarrangements, durch die die Eigenaktivität der Lernenden gefordert wird (vgl. 2002, S. 19). Auf diese Weise könne Globales Lernen zum Aufbau von personalen Kompetenzen wie beispielsweise Selbstvertrauen, Toleranz, Engagement und Empathiefähigkeit beitragen. Da Globales Lernen eigenverantwortliches Arbeiten der Lernenden ermöglichen soll, halten die Autoren kooperative und kommunikative Lernformen für erforderlich (vgl. a.a.O., S. 18f.). SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK schlagen eine Gliederung des Unterrichts in drei Phasen vor. Unterricht solle mit einer Sensibilisierungsphase49 beginnen, an die sich in Phase zwei die Erarbeitung und Bearbeitung des Themas50 und als drittes die Problematisierungsphase51 anschließt.

49

„Es empfiehlt sich, den Unterricht so zu gestalten, dass in einer Sensibilisierungsphase erst einmal Vorstellungen, Vorwissen und Voreinstellungen der Schülerinnen und Schüler mobilisiert werden. Je stärker Schülerinnen und Schüler einen Themenbereich mit ihren Erfahrungen in Verbindung bringen können und je aktiver, kreativer und kommunikativer die Arbeitsformen sind, desto offener stehen sie den verschiedenen Themenbereichen gegenüber. Methodisch kann dies z.B. über ein Brainstorming, Assoziationsbilder, ein Erstellen von Mind-Maps oder das Bewerten und Begründen von Thesen geschehen“ (S CHEUNPFLUG / SCHRÖCK , 2002, S. 19). 50

„In einer zweiten Phase erfolgt die Erarbeitung und Bearbeitung des Themas. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich grundlegende Sachinformationen, um Probleme beschreiben zu können, Folgen abzuschätzen, Ursachen und Hintergründe zu analysieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Lernaktivitäten wie Recherchen, die Auswertung von Texten, Expertenbefragungen, Vorbereitung von Pro- und Kontra-Debatten, Gestalten von Plakaten und Wandzeitungen, das Lösen bzw. die Herstellung von Rätseln, das Durchlaufen eines Lernzirkels etc. sind von elementarer Bedeutung. Sie fördern nicht nur das zielgerichtete Erarbeiten von Fachinformationen, sondern ebenso die Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz von Schülerinnen und Schülern. Die Ausgangsprobleme werden nun differenzierter und neue Fragen tauchen auf“ (S CHEUNPFLUG / S CHRÖCK , 2002, S. 19). 51

„In der Problematisierungsphase können dann politisch-gesellschaftliche Sachverhalte mit den reflektierten Stellungnahmen der Schülerinnen und Schüler verbunden werden. Durch eine Pro- und Kontra-Debatte, ein Hearing oder ein Konferenzspiel, bei dem die Rollen, der an Entscheidungs- und Handlungsprozessen Beteiligten zu erarbeiten und zu vertreten sind, wird die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Engagement weiterentwickelt werden. Auch die Ergebnispräsentation kann neue Fragen aufwerfen und weitergehende Probleme sichtbar machen. Allerdings ist auch hier methodische Kreativität gefordert, um nicht den Frontalunterricht der Lehrkraft durch einen Frontalunterricht von Schülerinnen und Schülern abzulösen. Möglichkeiten, den Austausch von Arbeitsergebnissen spannend zu gestalten und jeden Einzelnen in den Kommunikationsprozess einzubeziehen, bieten z.B. das Gruppen-Puzzle, der Doppelkreis, eine Fish-Bowl, die Galeriemethode oder eine Stafettenpräsentation“ (S CHEUNPFLUG / S CHRÖCK , 2002, S. 19).

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Konzepte Globalen Lernens

SCHEUNPFLUG und SCHRÖCK plädieren in ihrer Konzeption Globalen Lernens für kooperative und kommunikative Lernformen, die ein eigenverantwortliches Arbeit der Schüler ermöglichen. Die Autoren schlagen eine dreiphasige Gliederung des Unterrichts vor.

SEITZ (2000) beschreibt seine methodischen Überlegungen zu Globalem Lernen als einem multidisziplinären und ganzheitlichen Ansatz des Lehrens und Lernens (vgl. SEITZ, 2000, S. 20ff.). Der Lernprozess Globalen Lernens wird als partizipatorisch und lebenslang beschrieben. SEITZ fordert Methodenvielfalt und einen Perspektivenwechsel, da dadurch ein Beitrag zur Durchschauung von Komplexität und zum Ertragen von Ungewissheit und unlösbaren Widersprüchen ermöglicht werden könne. Methodisch könne sich Globales Lernen nicht auf Erkundungen im realen Nahbereich reduzieren, da so der globalen Vielfalt nicht gerecht werden würde. In der Medienerziehung sieht er deshalb eine sinnvolle Ergänzung. SEITZ hält es im Lernprozess für notwendig, die gewonnenen Einsichten und Erfahrungen praktisch umzusetzen. Somit habe Globales Lernen auch Auswirkungen auf die Bildungsmethoden und Bildungseinrichtungen, da auch diese die im Lernprozess erarbeiteten Werte und Ziele berücksichtigen müssten. Weitere methodische Ziele Globalen Lernen, die die Bildungseinrichtungen betreffen, sind für SEITZ die „Öffnung der Schule“, die „Pluralisierung der Lernorte“ und die „Verknüpfung von schulischen und außerschulischen Lernfeldern“ (a.a.O., S. 22). Globales Lernen wird für ihn damit auch wichtig für eine innovative Schulentwicklung. SEITZ stützt sich in seiner Arbeit (2002) „auf einen pädagogischen Optimismus, der davon

ausgeht,

dass

individuelle

kognitive

Bildungsprozesse

tatsächlich

verhaltensrelevant werden können und damit auch in beobachtbaren Veränderungen in der sozialen Welt zum Ausdruck kommen“ (SEITZ, 2002, S. 462). Für SEITZ ist Globales Lernen ein multidisziplinärer Ansatz, der auf einen ganzheitlichen, partizipatorischen und lebenslangen Lernprozess ausgerichtet ist. Er hält Methodenvielfalt und Perspektivenwechsel für wesentlich.

Konzepte Globalen Lernens

62

In der Konzeption Globales Lernen von SELBY und RATHENOW (2003) werden experimentelle, interaktive, schülerorientierte und auf Veränderung gerichtete partizipatorische Methoden favorisiert (vgl. a.a.O., S. 9f.). S ELBY und RATHENOW kritisieren die meisten Schulen „als die Zitadellen mechanistischen Denkens“ (ebd.), da sie dem Globalen Lernen zuträgliche Methoden zugunsten des Fächerprinzips vernachlässigen würden. Wichtig wäre dagegen die Bevorzugung von ganzheitlichen Lern- und Lehrformen. Als methodische Implikationen ihrer Konzeption Globalen Lernens stellen S ELBY und RATHENOW beispielsweise heraus, kooperative Unterrichtsformen vorzuziehen, da dadurch eine Verbundenheit erfahrbar werden würde (vgl. a.a.O., S. 27). Die Autoren fassen unter fünf Überschriften methodische Vorschläge zur Realisierung Globalen Lernens zusammen. -

Sie betonen Schlüsselwerte wie z.B. die Auseinandersetzung mit der Friedensfrage, die nicht nur Auswirkung auf Lerninhalte, sondern auch auf Lernmethoden haben sollen.

-

Sie skizzieren die Idee des „Lernen über - Lernen für - Lernen in“ (vgl. a.a.O., S. 28)52.

-

Sie grenzen sich ab von Verständnisweisen wie „die sich total setzende Rationalität“ (a.a.O., S. 29) oder objektive Erkenntnis. Sie fordern eine Ergänzung der Rationalität durch komplementäre, aber gleichwertige Erkenntniswege wie beispielsweise durch Entwicklung von Empathie und von subjektiven Erfahrungen (vgl. ebd.).

-

Sie mahnen Lernprozesse an, durch die Multiperspektivität entwickelt werden kann (vgl. ebd.).

-

Sie fordern auf, auf Vielfalt wert zu legen und Gleichheit zu fördern (vgl. a.a.O., S. 30).

52

„Lernen über ist zunächst fakten- und wissensorientiert. Schülerinnen und Schüler erkennen die Bedeutung von Menschenrechten, indem sie anhand von Fallstudien beispielsweise Menschenrechtsverletzungen und den erfolgreichen Kampf gegen sie kennen lernen. Lernen für bezieht sich darauf, dass die Klasse Fähigkeiten und Fertigkeiten erwirbt, ihre eigenen Rechte im sozialen Organismus der Schule zu erkennen und sie ebenso wie die Rechte anderer zu verteidigen. Lernen in hat mit dem Lernprozess und Klassenklima zu tun, mit dem ´heimlichen´, mitschwingenden Curriculum und stellt sicher, dass Lernen in einem Klima stattfindet, welches den Geist der Menschenrechte atmet. Während man sich Lernen über als relativ statisch und lehrerzentriert vorstellen kann, heißt es bei Lernen für und Lernen in, die Verantwortlichkeit für die Organisation der Lernprozesse, soweit es geht, auf die Schülerinnen und Schüler zu übertragen, mindestens aber sie für den Lernprozess mitverantwortlich zu machen“ (SELBY / R ATHENOW , 2003, S. 28f.).

63

Konzepte Globalen Lernens

Für wichtig halten SELBY und RATHENOW „ein Nebeneinander der unterschiedlichsten Lernansätze und nicht die Dominanz eines einzigen, weder des klassischen Frontalunterrichts noch eines Unterrichts, der sich ausschließlich des [von ihnen] vorgestellten methodischen Repertoires Globalen Lernens verschreibt“ (a.a.O., S. 32). Für besonders bewährt halten die Autoren für Globales Lernen aber die Kleingruppenarbeit, Erfahrung vermittelnde Übungen, Rollenspiele, Planspiele und imaginative Aktivitäten (vgl. a.a.O., S. 30f.). In der Konzeption von SELBY und RATHENOW werden ganzheitliche Lehr- und Lernformen und experimentelle, interaktive, schülerorientierte und auf Veränderung gerichtete partizipatorische Methoden bevorzugt.

Zusammenfassung Bei der Beschreibung der unterschiedlichen Autorenmeinungen zu methodischen und didaktischen Standpunkten konnte ein breites Spektrum an Vorschlägen aufgezeigt werden. Ein präziser Vergleich der methodischen Vorschläge in den verschiedenen Konzeptionen fällt schwer, da die Autoren überwiegend darauf verzichten, Begriffe detaillierter zu definieren. Es wird in den verschiedenen Konzeptionen eine Vielzahl von methodischen Begriffen schlagwortartig genannt, aber kaum weitergehend erläutert. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können, wird in der folgenden Zusammenfassung ein Überblick zur Verdeutlichung dieser Vielfalt gegeben. Zu den häufiger genannten methodischen Begriffen zählen z.B. „ganzheitliche Unterrichtsmethoden“ (FORUM, BÜHLER, SEITZ, SELBY/RATHENOW ), „Perspektivenwechsel“ (BÜHLER,

FÜHRING,

SEITZ),

„handlungsorientiertes

Lernen“

(FORUM,

BÜHLER,

FOUNTAIN, SEITZ), „kooperativer Unterricht“ (FOUNTAIN, SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK, SELBY), „partizipatorisches Lernen“ (FORUM, BÜHLER, SELBY). Weitere, von weniger Autoren genannte Begrifflichkeiten sind „methodische Gelassenheit“ (BÜHLER) „Methodenvielfalt“ (SEITZ), „personenzentriertes Lernen“ (FORUM), „konkretes Lernen“ (FORUM), „Interdisziplinärer Unterricht“ (FOUNTAIN), „Erfahrungsorientiertes Lernen“ (FOUNTAIN), „Subjektorientierung“ (FÜHRING), „Eigenaktivität fördernde Lernarrangements“ (SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK), „Multidisziplinärer Unterricht“ (SEITZ), „Experimentelles Lernen“ (SELBY/RATHENOW ), „Interaktive Methoden“ (SELBY/

Konzepte Globalen Lernens

64

RATHENOW ), „Schülerorientierte Methoden“ (SELBY/RATHENOW ), „Multiperspektivisches Lernen“ (SELBY/RATHENOW ). In den vorliegenden Konzeptionen wird die Entscheidung weitgehend dem Leser überlassen, ob beispielsweise der von FOUNTAIN geforderte „interdisziplinäre Unterricht“ mit dem von SEITZ propagierten „multidisziplinären Unterricht“ vergleichbar ist. Dasselbe gilt für den Unterschied zwischen „Subjektorientierung“ bei FÜHRING und den „schülerorientierten Methoden“ von SELBY/RATHENOW . Noch schwieriger stellt sich der Sachverhalt, wenn die Autoren dieselben oder ähnliche Begriffe verwenden. Auch dann ist es nämlich nicht gesichert, ob dieselbe Intention mit dem Begriff ausgedrückt wird. Die von FOUNTAIN, FÜHRING und SCHEUNPFLUG/SCHRÖCK vorgelegten Phasenschema bzw. Strukturmuster für den Unterricht unterscheiden sich stark. FOUNTAIN bevorzugt beispielsweise einen rein kognitiven Beginn in ihrem dreiteiligen Lernzyklus, während SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK vorschlagen, Unterricht Globalen Lernens mit einer Sensibilisierungsphase zu beginnen, in der an den Erfahrungshorizont der Lernenden anknüpfen wird.

Konzepte Globalen Lernens

65

2.3 Zusammenfassung und Konkretisierung der Fragestellung Viele Aspekte der vorgestellten Lernherausforderungen werden in den Konzepten Globalen Lernens nur schlagwortartig genannt und nicht weiter erläutert. Vermisst wird in den meisten Konzeptionen ein Belegung oder Begründung der aufgestellten methodischen Thesen. So stellen sich nach der Durchsicht der Lernherausforderung bei den verschiedenen Autoren einige Fragen: Fragen zur Bewältigung von komplexen und globalen Herausforderungen: -

Was ist Komplexität?

-

Welche Untersuchungsergebnisse gibt es zur Komplexitätsbewältigungsfähigkeit?

-

Erfordert das Lernen des Umgangs mit globalen Zusammenhängen andere Anforderungen als das Lernen des Umgangs mit Problemen im Nahbereich?

-

Auf welche Weise werden räumlich weite Strukturen erkennbar?

-

Warum fällt der Umgang mit komplexen und globalen Situationen schwer?

-

Kann der Umgang mit komplexen Problemen gelernt und gelehrt werden?

-

Welche inhaltliche Ausrichtung ist zum Erlernen von weltweiter Komplexität sinnvoll?

-

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem persönlichen Befinden in komplexen Situationen und einer Lösungskompetenz?

-

Welche Auswirkung hat ein Perspektivenwechsel auf die Problemlösungskompetenz?

Fragen zu Zukunftsfähigkeit: -

Kann Zukunft erkennbar sein?

-

Wie stellen sich in Untersuchungen die menschlichen Fähigkeiten dar, Zeitvariablen in Problemlösungssituationen zu berücksichtigen?

-

Ist es möglich, Folgen von individuellem Handeln zu planen?

-

Welche Zukunft ist wünschenswert?

-

Lohnt es sich, sein Handeln an langfristige Perspektiven, die länger als das eigene Leben dauern, zu orientieren?

Konzepte Globalen Lernens

-

66

Gibt es einen Zusammenhang zwischen individuell vorhandenem abstrakten Wissen über Entwicklungsprozesse und individuellen Handlungstendenzen?

Fragen zu Solidarität: -

Was ist Solidarität?

-

Wie entsteht Solidarität?

-

Ist die Entstehung von Solidarität über den konkreten Nahbereich hinaus, d.h. im weltweiten Bezugsrahmen überhaupt möglich?

-

Wie unterscheidet sich die Qualität von Nah- und Fernbeziehungen?

-

Ist Solidarität in anonymen, gesichtslosen Beziehungen möglich?

-

Welche Methoden fördern Solidarität? Ist kooperatives Lernen der Entstehung von globaler Solidarität zuträglich?

-

Ist Subjektorientierung zur Entstehung von Solidarität notwendig?

-

Fördern handlungsorientierte Methoden die Entstehung von Solidarität?

-

Kann solidarisches Handeln sich nicht als Falle entpuppen und leicht ausgenutzt werden, d.h. sind solidarisch Handelnde die „Dummen“?

-

Lohnt sich Solidarität überhaupt?

-

Wie kann globale Solidarität motiviert werden?

Die Lernherausforderungen übergreifende Fragen: -

Wie stellt sich das Verhältnis zwischen Lernen und Verhalten dar?

-

Welches Verständnis von Verhalten bzw. von Verhaltensveränderungen wird in den untersuchten Konzeptionen erkennbar?

-

Welche Faktoren werden als das Verhalten beeinflussende Variablen beschrieben?

Die genannten Fragen bleiben in den meisten der vorliegenden Konzepten Globalen Lernens weitgehend unbeantwortet. SEITZ (2002) beispielsweise bescheinigt seiner eigenen Untersuchung explizit, dass „die stets prekäre Beziehung zwischen pädagogischen Absichten und subjektiven Lernprozessen [...] ebenso wie die Kluft, die Wissen und Handlungsmotivation trennt, und der Graben, der Kompetenz und Performanz scheidet, [...] weitgehend unbeachtet“ (SEITZ, 2002, S. 463.) blieb. Er fordert, dass „für

Konzepte Globalen Lernens

67

die Ausarbeitung einer Didaktik Globalen Lernens [...] in weitaus stärkerem Maße empirische Befunde der pädagogischen Wirkungsforschung und der Lernpsychologie herangezogen werden müssen, als dies bislang der Fall ist“ (ebd.). Andererseits bemühen sich Autoren wie TREML oder auch SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK um die Klärung der oben zusammengestellten grundlegenden Fragen aus einer naturwissenschaftlich anthropologischen Perspektive. Diese Perspektive wird in der vorliegenden Arbeit weiter verfolgt und detailliert ausgearbeitet. Im Folgenden Teil der Arbeit wird daher versucht, durch weitere Theorieüberlegungen die Möglichkeiten und Grenzen der drei herausgefilterten Lernherausforderungen weiter zu erhellen. Die Erarbeitung erfolgt aus einer naturwissenschaftlich anthropologischen Sichtweise.

68

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

3. Lernherausforderungen Globalen Lernens aus der Perspektive naturwissenschaftlich anthropologischer Erkenntnisse In diesem Kapitel werden die drei im vorherigen Kapitel herausgearbeiteten Lernherausforderung von Konzepten Globalen Lernens – Umgang mit globalen und komplexen Problemen, Entwicklung eines zukunftsbezogenes Denkens, Förderung einer weltweiten Solidarität und sozialen Gerechtigkeit - aus naturwissenschaftlich anthropologischer

Sichtweise

dargestellt.

Es

wird

im

Bereich

der

naturwissenschaftlich anthropologischen Forschung gezielt nach Forschungsarbeiten gesucht, die für die Bearbeitung der Lernherausforderungen Globalen Lernens einen Beitrag leisten. Ein erstes Anliegen der Arbeit ist, Forschungsarbeiten, die im Bereich der

naturwissenschaftlich

anthropologischen

Forschung

geleistet

wurden,

entsprechend den Lernherausforderungen Globalen Lernens zu sammeln, zu analysieren und zu systematisieren. Der Aufbau des vorliegenden Kapitels gliedert sich entsprechend den drei Teilen des zweiten Kapitels (siehe Gliederungspunkt 2) in drei Teile. Im ersten Abschnitt des Kapitels (Gliederungspunkt 3.1) stehen Fragen der „Bewältigung von Komplexität“, der „Förderung von vernetztem Denken“ und der „Einsicht in globale Zusammenhänge“ im Vordergrund. Im Gliederungspunkt 3.2 wird die „Zeitperspektive“ und im Gliederungspunkt 3.3 das Thema „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ aus naturwissenschaftlich anthropologischer Perspektive betrachtet.

3.1 Erkenntnisse zum Umgang mit komplexen und globalen Problemen Fragen der „Einsicht in globale Zusammenhänge“, des „Umgangs mit Komplexität“ und der „Förderung von vernetztem Denken“ sind kognitive Anforderungen an die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Erkenntnis kann nach VOLLMER (1985, S. 58) definiert werden als „eine adäquate Rekonstruktion und Identifikation äußerer Strukturen im Subjekt“. Menschliche Erkenntnis wird ermöglicht und entsteht „durch ein Zusammenwirken objektiver Strukturen (der realen Welt) und subjektiver Strukturen (des Erkenntnisapparates)“ (ebd.).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

69

Es lassen sich bei den formulierten Lernherausforderungen zwei grundlegende Anforderungen an die menschliche Erkenntnisfähigkeit unterscheiden: Zum einen wird eine räumliche Ausdehnung des Erkenntnisrahmens hin zu einer globalen, d.h. weltumspannenden Dimension und zum anderen der kompetente Umgang mit komplexen Zusammenhängen und Vernetzungen angestrebt. Für eine realistische Einschätzung dieser Lernherausforderungen wird in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen, die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, wie sie aus naturwissenschaftlich anthropologische Perspektive dargestellt werden, zu berücksichtigen. Auf den folgenden Seiten werden deshalb zentrale naturwissenschaftliche anthropologische Erkenntnisse zu den menschlichen Lernfähigkeiten hinsichtlich komplexer und globaler Zusammenhänge dargestellt. Im ersten Schritt sollen Forschungsergebnisse zu den Lernherausforderungen „Umgang mit Komplexität“ und „Förderung von vernetztem Denken“ aufgezeigt werden. Da Vernetztheit das grundlegende Kennzeichen für Komplexität darstellt (vgl. 3.1.1.1), sind diese Lernherausforderungen definitorisch miteinander verbunden. Empirische Forschungen hierzu entstammen besonders der Psychologie und dort dem Bereich „Problemlösendes Denken“. Im zweiten Schritt sollen anschließend an allgemein evolutionstheoretische Überlegungen zur Genese der Erkenntnisfähigkeit die Möglichkeiten einer Erkenntnis von räumlich weit auseinanderliegenden und komplexen Strukturen diskutiert werden, die für eine Einsicht in globale Zusammenhänge wesentlich sind. Es wird aufgezeigt, für welche räumlichen Dimensionen die menschliche Erkenntnisfähigkeit besonders optimiert ist. Anschließend wird problematisiert, welche Anforderungen zu leisten sind, wenn der Rahmen der Erwartungen (der Raum) zum Verständnis eines weltweiten Zusammenhangs ausgedehnt werden soll. Im dritten Schritt erfolgt der theoretische Bezug der dargestellten Ergebnisse auf die in Gliederungspunkt 2.1.1 herausgearbeiteten Lernherausforderungen Globalen Lernens. Es wird dargestellt, wie die in der naturwissenschaftlichen Anthropologie diskutierten Ergebnisse für Konzepte Globalen Lernens fruchtbar gemacht werden können.

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

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3.1.1 Bewältigung komplexer Strukturen aus psychologischer Sicht Im Folgenden sollen die Ergebnisse der psychologischen Forschungsrichtung „komplexes Problemlösen“53 vorgestellt werden. Die Arbeiten von DÖRNER zur Komplexitätsforschung nehmen einen zentralen Stellenwert ein. Sowohl verschiedene Konzepte Globalen Lernens (vgl. SCHEUNPFLUG, 2000b, S. 32254, SCHEUNPFLUG/ SCHRÖCK, 2002, S. 9, BÜHLER, 1996, S. 108, SEITZ, 2002, S. 403, TREML, 2004, S. 220) als auch Arbeiten der naturwissenschaftlichen Anthropologie (vgl. VOLLMER, 1991, S. 1162ff, RIEDL, 1987) verweisen und stützen sich in ihrer Argumentation auf DÖRNER. Obwohl das letzte größere zusammenfassende Werk zur Problematik im Umgang mit Komplexität von DÖRNER im Jahr 1989 veröffentlicht wurde, wird auch noch in aktuellen Darstellungen zu komplexem Problemlösen (vgl. FUNKE, 2003, S. 151) auf diesen Band verwiesen. 3.1.1.1 Merkmale komplexer Situationen Zur Untersuchung von Verhalten in komplexen Situationen ist eine Offenlegung des Begriffsverständnisses von Komplexität grundlegend. Die Definitionen des Begriffes „Komplexität“ sind weit gestreut und an unterschiedlichen Kriterien angelegt (vgl. zum Beispiel die von B ÜHLER (1996) vorgestellten Definitionen (siehe Abschnitt 2.1.1)). FUNKE hält Komplexität für einen schwierigen Begriff und nennt ihn mit Bezug auf CASTI den am meisten strapazierten und zugleich am schlechtesten definierten Begriff der Systemtheorie (vgl. 2003, S. 128): „Of all the adjectives in common use in the system analysis literature, there can be little doubt that the most overworked and least precise is the descriptor ´complex´. In a vague intensive sense, a complex system refers to one whose static structure or dynamic behavior is ´unpredictable´, ´counterintuitive´, ´complicate´, or the 53

Der Begriff „komplexes Problemlösen“ hat sich seit Mitte der 1980er Jahre „als Oberbegriff für eine Forschungsrichtung eingebürgert, die sich allgemein mit dem Denken und Handeln von Menschen in unbestimmten, dynamischen und komplexen Situationen beschäftigt“ (DÖRNER / S CHAUB / STROHSCHNEIDER , 1999, S. 198). Zur Begrifflichkeit des Forschungsgebiets stellt F UNKE fest: „Die Bezeichnung ´komplexes Problemlösen´, die diesem Gebiet gegeben wurde, erweist sich eigentlich als unglücklich, denn ob das Problemlösen tatsächlich komplexer als bei anderen Aufgaben erfolgt, ist längst nicht erwiesen. Inzwischen hat sich dieser Begriff zur Kennzeichnung dieses Forschungsgebietes allerdings eingebürgert. Gemeint ist eigentlich die Komplexität der Anforderungen, die im Vergleich zu den Anforderungen beim ´einfachen´ Problemlösen erheblich größer ausfällt“ (2003, S. 126). 54

„Viele Experimente des Psychologen DIETRICH DÖRNER (vgl. z.B. DÖRNER 1989) bestätigen die auch von Biologen (vgl. im Überblick NEUMANN u.a. 1999) oder Philosophen (vgl. VOLLMER 1993) geäußerte Position, dass wir in unserem Denken noch zu wenig die heutige Globalisierung und Komplexität bewältigen“ (SCHEUNPFLUG, 2000b, S. 322).

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like. In short, a complex system is something quite complex – one of the principal tautologies of system analysis!” (CASTI, 1979, S. 40f.). Da im Folgenden Abschnitt vorwiegend auf die Arbeiten von DÖRNER zurückgegriffen wird, wird sein Begriffsverständnis in den Vordergrund gestellt: Grundlegende Kennzeichen von komplexen Situationen sind für DÖRNER die Anzahl und Vernetztheit55 der beteiligten Merkmale (vgl. DÖRNER, 1989, S. 60f.). Wesentlich ist bei dieser Definition von komplexen Situationen, dass stets beide Kennzeichen vorhanden sein müssen. Eine Situation, die durch viele Merkmalen gekennzeichnet ist, ist unkomplex, solange die Merkmale nicht miteinander verbunden sind und sich nicht gegenseitig beeinflussen können. Ebenso kann eine Situation als unkomplex gelten, wenn die Merkmale zwar miteinander verbunden sind, aber insgesamt nur wenige Merkmale vorhanden sind. Der Grad der Komplexität einer Situation nimmt mit der Anzahl und dem Stärke der Abhängigkeit der beteiligten Variablen zu und ab. Aus der Vernetztheit der Variablen resultiert, dass zum Verständnis und zur Lösung von komplexen Situationen eine Beschäftigung mit einer einzelnen Variablen nicht ausreicht, da diese einzelne Variable stets Neben- und Fernwirkungen haben kann56. DÖRNER nennt neben dem wesentlichen Merkmal der Anzahl und Vernetztheit der Variablen weitere Kennzeichen, die komplexe Handlungssituationen charakterisieren: Intransparenz57, Dynamik58, Unvollständigkeit oder Falschheit der Kenntnisse 55

„Vernetztheit bedeutet, dass die Beeinflussung einer Variablen nicht isoliert bleibt, sondern Nebenund Fernwirkungen hat“ (DÖRNER, 1989, S. 61), d.h. dass sich die Variablen „untereinander mehr oder minder stark beeinflussen“ (a.a.O., S. 58f.). 56

Auch F UNKE (2003) sieht in der Komplexität und Vernetztheit zwei wesentliche Anforderungen komplexer Probleme. Er stellt fest, dass „die Anforderungen der Komplexität und Vernetztheit konzeptuell kaum voneinander zu unterscheiden“ (S. 134) sind und plädiert „angesichts der unklaren Definition des Komplexitätsbegriffs“ (ebd.) dafür, „den operational besser fassbaren Begriff der Vernetztheit zu verwenden. Vernetztheit ist ein charakteristisches Attribut komplexer Systeme. Vernetztheit bedeutet, dass zwei oder mehr Variablen untereinander direkte oder indirekte Abhängigkeiten aufweisen“ (ebd.). 57

„Viele Merkmale der Situation sind demjenigen, der zu planen hat, der Entscheidungen zu treffen hat, gar nicht oder nicht unmittelbar zugänglich“ (D ÖRNER, 1989, S. 62), d.h. „man sieht nicht alles, was man sehen will“ (a.a.O., S. 58f.). Beispiel: „In einer medizinischen Notfallsituation liegen der Notärztin u.U. nur einige wenige Parameter vor, die Auskunft über den Zustand des Verletzten geben – einige Informationen können mit entsprechendem Aufwand beschafft werden (z. B. Röntgenbilder), andere stehen selbst mit modernsten Techniken nicht zur Verfügung (z. B. Belastbarkeitsgrenzen aller Organe)“ (FUNKE , 2003, S. 127). 58

Dynamisch nennt DÖRNER Systeme, die sich selber weiterentwickeln: „Die Realitätsausschnitte sind nicht passiv, sondern – in gewissem Maße – aktiv“ (DÖRNER, 1989, S. 62). Dynamisch bedeutet somit,

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über das jeweilige System59 (vgl. DÖRNER, 1989, S. 59). FUNKE (2003) nennt das Kennzeichen der „Polytelie“ (Vielzieligkeit)60. VOLLMER formuliert weitere Merkmale komplexer Systeme: sie können weiterhin nichtlinear61, nicht vollständig vorhersagbar62, nicht wirkungssicher63 und „möglicherweise sogar mit Zufallsmomenten ausgestattet sein“ (VOLLMER, 1991, S. 1167). Anschaulich vergleicht DÖRNER beispielsweise den Akteur in einer komplexen Handlungssituation mit „einem Schachspieler [...], der mit einem Schachspiel spielen muss, welches sehr viele (etwa: einige Dutzend) Figuren aufweist, die mit Gummifäden aneinander hängen, so dass es ihm unmöglich ist, nur eine Figur zu bewegen. Außerdem bewegen sich seine und des Gegners Figuren auch von allein, nach Regeln, die er nicht genau kennt oder über die er falsche Annahmen hat. Und obendrein befindet sich ein Teil der eigenen oder fremden Figuren im Nebel und ist nicht oder nur ungenau zu erkennen“ (DÖRNER, 1989, S. 66).

dass die Systeme „auch unabhängig von Eingriffen des Problemlösers [...] die Variablen von einem simulierten Zeittakt zum nächsten ihren Zustand verändern“ (PUTZ-OSTERLOH, 1987, S. 65). In anderen Worten: „Dieses Merkmal beschreibt die Tatsache, dass die Eingriffe in ein komplexes, vernetztes System Prozesse in Gang setzen, deren Auswirkungen möglicherweise nicht beabsichtigt waren. Eine besondere Variante stellt die Eigendynamik dar, mit der zum Ausdruck kommt, dass in vielen Fällen ein Problem nicht auf die problemlösende Person und ihre Entscheidungen wartet, sondern sich die Situation über die Zeit hinweg von selbst verändert“ (FUNKE, 2003, S. 127). Beispiel: „Viele Prozesse in der Natur weisen Eigendynamik auf. So warten Waldsterben oder Ozonloch nicht darauf, bis groß angelegte Forschungsprogramme die Ursachen benannt haben, sondern entwickeln sich einfach weiter“ (ebd.). „Während die Vernetztheit vor allem strukturelle Aspekte des Systems charakterisiert, kommt mit Dynamik der prozessuale Aspekt eines Systems in Form seiner zeitlichen Charakteristik ins Spiel“ (a.a.O., S. 134). 59

„Ein System ist eine Menge von Variablen, die durch ein Netzwerk von kausalen Abhängigkeiten miteinander verbunden sind“ (D ÖRNER , 1989, S. 109). DÖRNER stellt fest, dass in seinen Untersuchungen „die Akteure (also die Versuchspersonen) keine vollständigen Kenntnisse aller Systemeigenschaften besaßen, ja sogar darüber falsche Annahmen hatten“ (DÖRNER , 1989, S. 59). 60

„Intransparenz gibt es auch in Hinblick auf die zu erreichenden Ziele. In einer komplexen Situation gibt es meist nicht nur ein Ziel, sondern es müssen mehrere Ziele simultan beachtet werden. Polytelie verlangt das Abwägen und Balancieren von eventuell kontradiktorischen Zielen. Beispiel: als Führungskraft in einem Unternehmen (z. B. Lufthansa) muss man einerseits an eine gute Honorierung von Mitarbeitenden (z. B. Piloten) denken, andererseits darf dies nicht soweit führen, dass kein Gewinn mehr abfällt oder die Gehaltsunterschiede zu anderen Mitarbeitenden (z.B. Kabinenpersonal) zu groß ausfallen“ (F UNKE, 2003, S. 127). 61

„Die Verdopplung einer Eingabegröße als Ursache braucht keine Verdopplung der Wirkung zur Folge haben“ (VOLLMER , 1991, S. 1167). 62

„Es gibt immer wieder Überraschungen“ (VOLLMER , 1991, S. 1167).

63

„Es gibt keine Patentrezepte“ (VOLLMER, 1991, S. 1167).

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Zusammenfassen bleibt aber festzuhalten, dass trotz aller Bemühungen eine definitorisch eindeutige Klärung des Begriffes Komplexität nicht möglich ist, da Komplexität letztlich keine objektive erfassbare Größe ist, sondern subjektiven Faktoren unterliegt (vgl. DÖRNER, 1989, S. 61). Verschiedene Personen können die selbe Situation als unterschiedlich komplex erleben64.

3.1.1.2 Exkurs: Computersimulationen als Untersuchungsmethode Seit Beginn der 1970er Jahre wurde in der deutschsprachigen denkpsychologischen Forschung das Handeln in komplexen Situationen verstärkt erforscht. Die ersten Arbeiten entstanden unter Leitung von Dietrich DÖRNER. DÖRNER hat die Besonderheiten des menschlichen Denkens im Umgang mit komplexen Problemen empirisch untersucht65. Ziel der Forschungsarbeit ist die Beantwortung der Frage, „inwieweit die menschlichen kognitiven Fähigkeiten hinreichend sind, um komplizierte Probleme in dynamischen Bereichen wirklich bewältigen zu können“ (DÖRNER/ SCHAUB/ STROHSCHNEIDER, 1999, S. 198)66. Als Forschungsmethode wurden bei den Untersuchungen

DÖRNERS

computersimulierte

Planspielen

verwendet.

Zum

Verständnis dieser Methode werden drei Simulationen namens „Lohhausen“, „Schneiderwerkstatt“ und „Tanaland“ kurz skizziert. Eine der Simulationen von DÖRNER widmet sich der Entwicklung der fiktiven Kleinstadt „Lohhausen“ in einem deutschen Mittelgebirge. Die Versuchspersonen konnten in der Rolle des Bürgermeisters das Schicksal der Stadt beeinflussen (vgl. DÖRNER, 1983 oder 1989, 64

D ÖRNER gibt für die Subjektivität der Komplexität folgendes Beispiel: „Man denke beispielsweise an die alltägliche Handlungssituation des Autofahrens. Für den Anfänger ist sie sehr komplex; eine Vielzahl von Merkmalen will zugleich beachtet werden und macht das Fahren in einer belebten Großstadt zu einem schweißtreibenden Geschäft. Den erfahrenen Autofahrer hingegen lässt die gleiche Situation völlig kalt“ (DÖRNER , 1989, S. 61f.). 65

F UNKE würdigt die Leistungen folgenderweise: „Was in diesen frühen Arbeiten geleistet wurde, war bahnbrechend. Versuchspersonen mussten keine Puzzles lösen oder Scheiben von Ausgangs- auf den Zielstab verschieben, sondern sie wurden in eine Art Rollenspiel versetzt, bei dem sie mal einen Entwicklungshelfer in Schwarzafrika, mal eine Bürgermeisterin einer deutschen Kleinstadt, mal den Chef einer kleinen Hemdenfabrik spielen sollten. Das Besondere an diesen Rollenspielen: Sie erfolgten computergestützt, d.h. ein Computerprogramm simulierte den jeweiligen Gegenstandsbereich, und zwar sowohl dessen strukturelle Abhängigkeiten (z. B. die Abhängigkeiten der Hemdenproduktion vom Rohmaterial, den Maschinen und den daran Arbeitenden) als auch dessen zeitliche Dynamik (z. B. die allmähliche Absenkung des Grundwasserspiegels beim Bau von Brunnen“ (F UNKE, 2003, S. 126). 66

Eine zweite Forschungsrichtung, die sich in den 1970er Jahren mit komplexen Problemlösen beschäftigte, waren die Forschung von B ROADBENT. Diese baut auf formalen Aufgabenanalysen auf, ist „der experimentellen Forschung verpflichtet und benutzt daher sehr einfache dynamische Aufgabenstellungen“ (FUNKE, 2003, S. 135).

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S. 32ff.)67. In einer zweiten Simulation programmierte DÖRNER das Szenario „Schneiderwerkstatt“ (Tailorshop), in der Versuchspersonen den Produktions- und Verkaufsprozess von Hemden managen mussten. Eine andere Simulationen stellt Zusammenhänge in einem Land namens „Tanaland“ dar, ein fiktives Gebiet in Ostafrika, in dem die Probanden Entwicklungshilfe leisten sollten68. Diese drei Simulationen stellen nach FUNKE Initialarbeiten dar, „auf die sich später Nachfolger wie Kritiker bezogen“ (2003, S. 146). Um die „Funktionsweise“ und den Aufbau der Untersuchungen von DÖRNER zu verdeutlichen, wird im Folgenden das Szenario von Tanaland69 dargestellt. Den Versuchspersonen wurde die Aufgabe gestellt, das Wohlergehen der zwei im ostafrikanischen Raum liegenden Tanaland lebenden Bevölkerungsgruppen, die einerseits Ackerbau70 und andererseits Viehwirtschaft71 betrieben und auch das Wohlergehen der Region zu gewährleisten (vgl. DÖRNER, 1989, S. 22f.). In der Simulation „Tanaland“ sind 50 Variablen miteinander verknüpft (vgl. PUTZ-OSTERLOH, 1987, S. 65), welche die Probanden beeinflussen konnten. Die Versuchspersonen hatten zur Durchführung der Aufgabe unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Zu möglichen Eingriffsweisen zählten beispielweise Maßnahmen zur Jagd, zur Ackerpflege, zur Bewässerung, zur Geburtenkontrolle und zur medizinischen Versorgung. Bei den Versuchen wurde eine Zeitdauer von 10 Jahren simuliert. Die Versuchspersonen konnten sechs Zeitpunkte bestimmen, an denen sie sich informieren, Maßnahmen planen und Entscheidungen fällen konnten (vgl. DÖRNER, 1989, S. 22f.). Die Ergebnisse von DÖRNER basieren bei der Computersimulation von Tanaland auf der Auswertung der Handlungen von 12 Versuchspersonen, bei der Computersimu-

67

„Lohhausen“ ist mit mehr als 2000 Variablen simuliert (vgl. F UNKE, 2003, S. 135).

68

D ÖRNERS Arbeiten waren Pionierarbeiten in diesem Forschungsgebiet (vgl. F UNKE , 1999, S. 194). Es wurden in den Folgejahren eine Vielzahl von computersimulierten komplexen Systemen entwickelt (z.B. die Simulationen „Schneiderwerkstatt“ (ein hemdenproduzierender Betrieb aus 24 Variablen), „PowerPlant“ (ein Kohlekraftwerk aus 4 Variablen), „LEARN“ (ein Betrieb der gegen drei Konkurrenzbetriebe antreten muss) (vgl. W ITTMANN/ S Üß / OBERAUER, 1996, S. 11). 69

Diese Simulation wird manchmal auch nach einem in Tanaland lebenden Stamm „Moro“ genannt.

70

Der sogenannte Stamm der Tupi.

71

Der sogenannte Stamm der Moros.

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75

lation von Lohhausen auf der Auswertung der Handlungen von 48 Versuchspersonen.

3.1.1.3 Untersuchungsergebnisse zur Komplexitätsbewältigung Grundlegendes Ergebnis der Forschungsarbeiten zu komplexen Problemlösen ist, dass die unterschiedlichen Versuchspersonen sich in der Kompetenz im Lösen mit komplexen Problemen sehr unterscheiden. Insgesamt hatten viele Probanten große Schwierigkeiten bei der Steuerung komplexer Simulationen. So zeigte sich beispielsweise in der Untersuchung von DÖRNERS Tanaland, dass eine durchschnittliche Versuchsperson Tanaland bis zum 88. Monat, d.h. nach etwas über sieben simulierten Jahren Arbeit in bester Absicht, in eine nicht wieder rückgängig zu machende Hungerskatastrophe führte. Dass die Stabilisierung der Verhältnisse in Tanaland tatsächlich möglich waren, konnte nur eine der insgesamt zwölf von DÖRNER analysierten Versuchspersonen zeigen. In der folgenden Auswertung gehen neben Ergebnissen aus der Untersuchung von „Tanaland“ auch andere Simulationen ein. Die Lösung von komplexen Simulationen macht Versuchspersonen besonders dann Schwierigkeiten, wenn „in dem jeweiligen System eine positive Rückkopplung (feedback) existiert. Während bei gewöhnlichen Kausalketten Ursache und Wirkung dadurch leicht zu unterscheiden sind, dass die Ursache zeitlich immer vor der Wirkung liegt, ist es bei rückgekoppelten Systemen nicht mehr so einfach und oft auch gar nicht mehr sinnvoll, Ursache und Wirkung zu identifizieren. Durch die Rückkopplung ist eine zyklische Struktur entstanden, in der Effekte auf ihre Ursachen zurückwirken und sie abschwächen oder verstärken. Hat diese Rückmeldung

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abschwächende Wirkung, so handelt es sich um negative72, andernfalls um positive73 Rückkopplung“ (VOLLMER, 1985, S. 123)74. Charakteristika für „erfolglose“ und „erfolgreiche“ Komplexitätsbewältigung DÖRNER führt einige Gründe an, die für ein schlechtes Abschneiden der Versuchspersonen kennzeichnend sind (vgl. DÖRNER, 1989, S. 27-45): -

Die Vernachlässigung von Neben- und Fernwirkungen von Maßnahmen75

-

Abnahme der zeitliche Investition in die Analyse der Situation und Zunahme der Anzahl von Entscheidungen76, d.h. sie dachten weniger nach und taten gleichzeitig mehr

-

Abnahme der zeitlichen Dauer der Versuchssitzungen insgesamt

-

Konzentration auf eine Aufgabe bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer notwendiger Aufgaben. DÖRNER nennt dies „Flucht in Projektmacherei“ (a.a.O., S. 32)

-

Geringe Überprüfung der selbst aufgestellten Hypothesen

-

Delegation von Verantwortung in Situationen von eigener Einfallslosigkeit

72

„Negative Rückkopplung kann den auslösenden Vorgang dämpfen und ganz zum Erliegen bringen; alle Regelkreise (Fliehkraftregler, Schwingkreis, Thermostat) arbeiten mit negativer Rückkopplung: Sinkt beim Thermostat die Temperatur untern den Sollwert, so wird sie wieder erhöht; steigt sie darüber hinaus, so wird sie erniedrigt“ (VOLLMER , 1985, S. 123). 73

„Positive Rückkopplung hat [...] ein wechselseitiges ´Aufschaukeln´ der gekoppelten Zustandsgrößen zur Folge. Ein positiv rückkoppelndes Thermometer würde also die Wärmezufuhr völlig sinnlos um so mehr erhöhen, je höher die Temperatur schon ist. Ähnlich können Alkohol und Drogen in positiver Rückkopplung den Bedarf erhöhen und Menschen süchtig machen (VOLLMER , 1985, S. 123).

74

VOLLMER kommt zu dem Schluss: „Für unsere Betrachtungen ist (...) entscheidend, dass wir rückgekoppelte Systeme kaum durchschauen und deshalb auch die Auswirkungen positiver Rückkopplung nicht intuitiv erfassen. Wir sind auf lineare, nicht auf zyklische Kausalität eingestellt“ (VOLLMER, 1985, S. 123). 75

Beispiel: „In einem System, wie es Tanaland darstellt, kann man nicht nur eine Sache tun. Man macht immer mehrerlei, ob man will oder nicht. [...] Die Erträge von Äckern und Gärten sind in Tanaland zunächst auch deshalb gering, weil Mäuse, Ratten und Affen sich in erheblichem Umfang an diesen Erträgen „beteiligen“. Naheliegend ist es also, diese „Schädlinge“ durch Jagd, Fallen und Gift ordentlich zu dezimieren, um auf diese Weise die Erträge zu steigern. [...] Die Dezimierung der Kleinsäuger und der kleinen Affen wirkt sich zwar zunächst einmal positiv auf die Acker- und Obstbauererträge aus. Zugleich aber können sich nun Insekten, die auch eine Beute der Kleinsäuger darstellen, ungehemmter vermehren. Und zugleich wird den großen Raubkatzen ein Teil ihrer Beute entzogen, worauf sich diese dem Viehbestand „zuwenden“. Es ist also demnach möglich, dass die Dezimierung der Kleinsäuger und der Affen „unter dem Strich“ nicht nur nichts nützt, sondern schadet“ (DÖRNER , 1989, S. 27). 76

DÖRNER stellt fest, dass sich die Versuchspersonen offensichtlich [...] „von zögerlichen ´Philosophen´ zu entscheidungsfrohen ´Tatmenschen´“ (DÖRNER, 1989, S. 28f.) entwickeln.

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-

Vernachlässigung des vernetzten Systemcharakters

-

Höchstens Rekapitulationen, aber keine Selbstmodifikation des eigenen Verhaltens

Die verschiedenen Mängel traten allerdings nicht bei allen Versuchspersonen auf. DÖRNER stellte fest, dass sich gerade die schlechten Versuchspersonen sehr unterschiedlich verhielten (vgl. a.a.O., S. 45). Bei erfolgreichen Versuchspersonen fanden sich dagegen als wesentliche Eigenschaften (vgl. DÖRNER, 1989, S. 27-45)77: -

Generierung von einer im Vergleich zu schlechten Versuchpersonen höheren Anzahl von Entscheidungen

-

Einbezug von verschiedenen Aspekten des gesamten Systems bei Entscheidungen78

-

Bessere und schnellere Diagnosefähigkeit von grundlegenden Problemen

-

Überprüfung der gebildeten Hypothesen durch Nachfragen

-

höheres Interesse an kausalen Bezügen79

-

kontinuierliche Verfolgung der Lösung wichtiger und Vernachlässigung unwichtiger Problembereiche

-

Reflexion und Selbstmodifikation des eigenen Verhaltens 80

-

bessere Strukturierungsfähigkeit des Verhaltens81.

77

Diese Charakteristika folgerte DÖRNER vor allem aus der Simulation der Bewältigung des Bürgermeisteramtes in der Kleinstadt Lohhausen. Die Ergebnisse der Simulationen von Tanaland eignen sich nicht für die Darstellung erfolgreichen Problemlösungsverhaltens in komplexen Situationen, da wie oben angegeben, nur eine Versuchsperson in der Lage war, die Simulation erfolgreich zu lösen. Auch P UTZ-OSTERLOH (1987) bestätigt in der Auswertung der Ergebnisse der Erforschung der „Schneiderwerkstatt“ vier Faktoren, die DÖRNER analysiert hat, als kennzeichnend für bessere Problemlöser: bessere Problemlöser stellten „bereits im ersten Drittel der Problembearbeitung mehr Fragen“ (S. 68), sie analysierten „mehr Variablenbeziehungen richtig“ (ebd.), generierten „häufiger richtige Hypothesen“ (ebd.) und beabsichtigten „seltener irrelevante Maßnahmen“ (ebd.). 78

D ÖRNER sieht es als wesentlichen Faktor für gelingendes Problemlösen an, den Systemcharakter der komplexen Situationen bei den Eingriffen zu berücksichtigen. „Es ist ganz offensichtlich, dass es von großem Vorteil ist, einen Missstand nicht isoliert zu betrachten, sondern eingebettet in sein System, also eingebettet in das Gefüge von positiven oder negativen Rückkopplungen, Abpufferungen; eingebettet in die Abhängigkeiten von kritischen Variablen und eingebettet in ein System von Indikatorvariablen, die unter Umständen schon frühzeitig Gefahren für den Gleichgewichtszustand erkennen lassen“ (D ÖRNER, 1989, S. 112). 79

Die besseren Versuchspersonen stellten mehr ´Warum-Fragen´ als ´Gibt-es-Fragen´ als die ´schlechten´ Versuchspersonen (vgl. DÖRNER, 1989, S. 40f.). 80

W ITTMANN u.a. nennen drei weitere Untersuchungen, die „positive Korrelationen mit Selbstreflexion fanden“ (W ITTMANN / S Üß / OBERAUER, 1996, S. 6). In didaktischer Hinsicht ist interessant, dass „ein Selbstreflexions-Training von P UTZ-OSTERLOH (1985) [...] jedoch keine Wirkung“ (ebd.) zeigte.

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Intelligenz, Expertise, Wissen und Training als Einflussfaktoren auf die Problemlösekompetenz In den folgenden Unterpunkten werden Ergebnisse der Forschungsrichtung „komplexes Problemlösen“ vorgestellt, die aus pädagogischen Gründen besonders interessant sind, da sie einer äußeren Einflussnahme beispielsweise durch schulisches Lernen zugänglich sind. Intelligenz und komplexe Problemlösungskompetenz Eine kontrovers diskutierte Frage ist, in welchem Zusammenhang Intelligenz und komplexe Problemlösungsfähigkeit stehen, d.h. die Frage, ob intelligentere Versuchspersonen besser in der Lage sind, komplexe Probleme zu lösen als weniger intelligente Probanden. DÖRNER stellte fest, dass es keinen nennenswerten „Zusammenhang zwischen den Intelligenztestwerten und den Leistungen in dem Lohhausenversuch oder sonst einem komplizierten Problemlösungsexperiment“ (DÖRNER, 1989, S. 46) gibt. Einen gegensätzlichen Standpunkt begründet SÜß (1999) mit neueren Forschungsarbeiten und argumentiert, „dass eine differenzierte Evaluation der Befundlage durchaus schon eine gut begründete Stellungnahme erlaubt: Intelligenz ist ein valider Prädiktor für komplexe Problemlöseleistungen“ (a.a.O., S. 221). SÜß gibt an, „dass die Höhe des Zusammenhangs durch eine Vielzahl von Einflussgrößen moderiert wird“ (ebd.) und zeigt dies mit einer theoretischen Analyse und Zusammenstellung empirischer Befunde. Er zieht das Fazit, dass „die These von DÖRNER etal. (1983), nach der psychometrische Intelligenztests keine geeigneten Prädiktoren für komplexe Problemlöseleistungen sind, [...] heute nicht mehr haltbar [ist]. Ein substantieller Zusammenhang kann aufgezeigt werden, wenn die Kriteriumsleistungen die notwendigen methodischen Voraussetzungen erfüllen“ (a.a.O., S. 226). Auch FUNKE kommt wie SÜß zu einem ähnlichen Ergebnis, dass durch verbesserte, differenziertere Testverfahren in den 1990er Jahren positive Zusammenhänge zwi-

81

„Es finden sich in ihrem ´lauten Denken´ häufiger als bei den ´schlechten´ Versuchspersonen Sequenzen wie: ´Erst muss ich mich mit A beschäftigen, dann mit dem Problem B, und dann darf ich nicht vergessen, mich um C zu kümmern´“ (DÖRNER , 1989, S. 44).

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schen Intelligenz und komplexer Problemlösungsfähigkeit gefunden wurden (vgl. 2003, S. 218). Expertise und komplexe Problemlösungskompetenz Eine weitere interessante Fragestellung ist, ob sogenannte Experten besser als Laien zur Lösung eines komplexen Problems in der Lage sind. Eine Expertise wird in der Forschung solchen Versuchspersonen bescheinigt, die in einem speziellen Bereich eine im Vergleich umfangreiche Erfahrung besitzen. FUNKE gibt als häufig angewendetes Kriterium für Expertise die Beschäftigung in einem Fachgebiet mit einer Dauer von 10000 Stunden an (vgl. FUNKE , 2003, S. 178). 10000 Stunden Berufserfahrung sind bei einer 38-Arbeitsstundenwoche und 6 Wochen Urlaub im Jahr nach ungefähr 6 Berufsjahren erreicht. REITHER veröffentlichte 1981 Ergebnisse einer Vergleichsstudie, die die Expertise von Experten in Frage stellte. Er untersuchte Unterschiede in der Leistung zwischen erfahrenen und unerfahrenen Entwicklungshelfern bei der Lösung eines komplexen Problems aus dem unmittelbaren Kontext der Versuchspersonen, nämlich des Entwicklungshelfer-Szenario namens „Dagu“. Als „erfahren“ wurden diejenigen Entwicklungshelfer eingestuft, die 10 Jahre Entwicklungshelfererfahrung in Dritte-WeltLändern hatten. Als „unerfahren“ galten ausgebildete Entwicklungshelfer vor dem ersten Einsatz (vgl. FUNKE, 2003, S. 177). REITHER stellte fest, „dass beide Gruppen mit dem System schlecht umgingen. Sowohl bei Novizen wie bei Experten sank die Zahl der Einwohner im simulierten Landstrich dramatisch nach 20 Jahren als Folge von Hungerkatastrophen“ (ebd.)82. REITHER arbeitete auch strategische Unterschiede zwischen Experten und Novizen heraus. Er stellte fest, dass die Experten von Beginn der Simulation an mehr Entscheidungen trafen und mehr Aktionen machten. Allerdings stellte er auch fest, dass Experten lediglich Standardstrategien verwendeten und nicht in der Lage waren, sich veränderten Aufgabenbedingungen anzupassen. REITHER nennt dieses Verhalten ´blindness of the specialists´“ (ebd.). P UTZ-OSTERLOH (1987) untersuchte die Auswirkung von Fachwissen und allgemeines Systemwissen auf die Effektivität des Verhaltens von Probanden bei 82

F UNKE merkt zu diesem Ergebnis an, dass sich die Frage stellt, „ob erfahrene Experten tatsächlich nicht in der Lage waren, diese Entwicklung vorherzusehen, oder ob das simulierte System die Wirklichkeit nicht in einer validen Form abbildet“ (FUNKE, 2003, S. 177).

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intransparenten Problemen (vgl. S. 66). Sie ließ Versuchspersonen die Simulation „Schneiderwerkstatt“ steuern, in der Hemden produziert und verkauft werden müssen. Als Experten für die Untersuchung wurden Professoren der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre ausgewählt.. In Abhängigkeit von dem Fachwissen der Professoren wurde erwartet, dass diese Experten besser zur Steuerung des transparenten ökonomischen System „Schneiderwerkstatt“ fähig waren als die vergleichsweise unerfahrenen Studenten. Die Erwartung wurde in der Untersuchung bestätigt. „Sechs der sieben Experten erreichten bei der Schneiderwerkstatt höhere Gütewerte als die Hälfte der Nichtexperten“ (FUNKE, 2003, S. 177). Kritisch ist bei diesen Untersuchungen nach FUNKE (ebd.) aber zu berücksichtigen, dass aufgrund des Altersunterschiedes zwischen Professoren und Studierenden neben der Expertise auch noch andere Faktoren, wie zum Beispiel Lebenserfahrung, eine Rolle spielen können. PUTZ-OSTERLOH stellte auch fest, dass wirtschaftswissenschaftliche Experten nicht nur bei der Lösung von transparenten ökonomischen Problemen besser abschnitten, sondern auch bei intransparenten ökonomischen und auch ökologischen Problemen (vgl. PUTZ-OSTERLOH, 1987, S. 80). Unterschiede zu Nichtexperten waren einerseits im Erwerb von Wissen über das System und andererseits in der Zahl von erfolgreichen Problemlösungsstrategien83 festzustellen. Nach PUTZ-OSTERLOH können diese Unterschiede nicht durch die Existenz von bereichsspezifisches Wissen erklärt werden, und werden deshalb von ihr „auf generalisierbares Systemwissen und auf Unterschiede in heuristischen Strategien zurückgeführt“ (ebd.). DÖRNER verglich in der Computersimulation „Tanaland“ die Leistung von Managern großer Industrie- und Handelsfirmen mit der Leistung von Studenten (vgl. DÖRNER, 1989, S. 296). Hierbei wurde festgestellt, „dass die Manager (P) mit dem Moro-System erheblich besser zurechtkommen als die Studenten (L)“ (ebd.)84.

83

Beispiele für erfolgreiche Problemlösungsstrategien: Generierung von mehr richtigen Hypothesen, häufigere richtige Analyse von Verknüpfungen zwischen Variablen, häufigere richtige Planung der Effekte der getroffenen Entscheidungen (vgl. PUTZ-OSTERLOH , 1987, S. 80). 84

Die folgende Abbildung ist entnommen: DÖRNER , 1989, S. 297

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81

DÖRNER stellt heraus, dass sich die Experten in den wichtigen Kriterien „Kapital“, „Rinder“ und „Vegetationsflächen“ hochsignifikant von den Laien unterschieden (vgl. a.a.O., S. 296). DÖRNER führt die problemadäquateren Leistungen der Manager auf Merkmale der „operativen Intelligenz“ zurück und versteht darunter „all das, was jemand mitbringt an Wissen über den Einsatz seiner intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (a.a.O., S. 298). SCHAUB und STROHSCHNEIDER, die die Untersuchung von DÖRNER auch ausgewertet haben, kommen zu dem Schluss, dass die Experten „insgesamt eine ausführlichere Exploration des Szenarios vornehmen und sich vorsichtiger an die Aufgabenstellung anpassen “ (FUNKE, 2003, S. 177)85. Bislang liegen keine Untersuchungen vor, in denen systematisch Experten aus verschiedensten Berufsgebieten in ihrer Lösungskompetenz von komplexen Problemen verglichen werden. Von REITHER (1981) wurden Entwicklungshelfer und von PUTZOSTERLOH (1987) und DÖRNER (1989) jeweils betriebswirtschaftlich spezialisierte Experten untersucht. Als offenes Forschungsgebiet stellt sich demnach ein systematischer Vergleich von Experten aus verschiedenen Berufen dar. Vorstellbar wäre auch eine Studie, die die komplexe Problemlösungskompetenz von akademischen und nichtakadamischen Experten untersucht. Wissen, Wissensvermittlung und komplexe Problemlösungskompetenz Als weitere didaktisch interessante Fragestellung wird untersucht, inwieweit Wissen und Vermittlung von Wissen auf die Problemlösungskompetenz Auswirkungen ha85

Auch bei dieser Untersuchung ist aber zu beachten, dass die Manager durchschnittlich 25 Jahre älter waren als die Studenten und daher ihre Expertise nicht unabhängig von ihrer größeren Lebenserfahrung betrachtet werden kann (vgl. F UNKE, 2003, S. 177).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

82

ben. FUNKE stellt ganz allgemein fest, dass Wissen ein bedeutsamer Faktor der Steuerungsleistung zu sein scheint (vgl. FUNKE, 2003, S. 178). Zu dieser Forschungsfrage liegen verschiedene Untersuchungen vor. Ein Zusammenhang von Wissensvermittlung auf die Problemlösefähigkeit ist in den verschiedenen Forschungsarbeiten umstritten. Ein Vergleich der Untersuchungen fällt schwer, da die unterschiedlichen Autoren von verschiedenen Begriffsbedeutungen und Begriffsdifferenzierungen ausgehen, mit Systemen unterschiedlicher Komplexität arbeiten und die unterschiedlichen Formen von Wissen mit verschiedenen Methoden erfassen (vgl. W ITTMANN/ SÜß/ OBERAUER, 1996, S. 6). Im Folgenden werden Untersuchungsergebnisse aufgeführt, die diese Aspekte verdeutlichen. DÖRNER unterscheidet zwischen Fachwissen und Systemstrukturwissen. Ein Fehlen von Fachwissen ist nach DÖRNER kein Grund für Erfolg und Misserfolg, dagegen ist aber Systemwissen wichtig (vgl. DÖRNER, 1989, S. 27). Systemwissen ist nach DÖRNER zur Voraussage des zukünftigen Zustands des Systems und zur Abschätzung der Folgen des eigenen Handelns wesentlich (vgl. DÖRNER, 1989, S. 118). Systemwissen kann laut DÖRNER beispielsweise durch Sammlung von Information (vgl. ebd.) als auch über einen Analogieschluss (vgl. a.a.O., S. 117) erworben werden. Unter einem Analogieschluss versteht DÖRNER die Möglichkeit, das Wissen von bekannten Systemen auf das neue, unbekannte System zu übertragen. Zum wichtigen Systemwissen gehört nach DÖRNER die Kenntnis der kausalen Abhängigkeit der Zielvariablen von anderen Variablen, d.h. es umfasst die Kenntnis des Wirkungsgefüges des Systems zur gezielten Beeinflussung und ein detailliertes Wissen darüber, wie einzelne Bestandteile des Systems im Ganzen eingebettet und in Teile zerlegbar sind. Nur mit Systemwissen könne einerseits die unbekannte Struktur des Systems beispielsweise durch Analogieschlüsse ergänzt werden und andererseits unbekannte Beziehungen zwischen den Bestandteilen konkretisiert werden (vgl. a.a.O., S. 116f.). Die Untersuchungen von DÖRNER zum Einfluss von Wissen auf die komplexe Problemlösungskompetenz wurden in anderen Forschungsarbeiten differenziert. In einer von SÜß und OBERAUER entwickelten Taxonomie wird einerseits zwischen Sach- und Handlungswissen, andererseits zwischen deklarativem und prozeduralem

83

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Wissen

unterschieden86.

PREUßLER

(1998)

unterscheidet

ähnlich

zwischen

Strukturwissen87 und Eingriffswissen88. WITTMANN u.a. stellen fest, dass “in der Forschung zum Lösen komplexer computersimulierter Probleme […] die an Wissen interessierten Forschungsgruppen hauptsächlich deklaratives Sachwissen über die Struktur der eingesetzten Systeme erhoben oder manipuliert” (1996, S. 5) haben89. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse sind widersprüchlich. WITTMANN u.a. nennen einerseits sechs verschiedene Forschungsarbeiten, in denen „positive Zusammenhänge zwischen verbalisiertem Sachwissen und der Systemsteuerungsleistung“ (a.a.O., S. 6.) herausgefunden wurden. Beispielsweise 86

„Sachwissen unterscheidet sich vom Handlungswissen dadurch, was eine Person weiß: Sachwissen ist Wissen darüber, dass etwas der Fall ist. Handlungswissen ist Wissen darüber, dass – in einer gegebenen Situation bei einem gegebenen Ziel – etwas bestimmtes zu tun ist. Prozedurales Wissen unterscheidet sich vom deklarativen Wissen dadurch wie (in welcher Form) eine Person etwas weiß. Deklaratives Wissen ist die Kompetenz, Fragen zu beantworten. Prozedurales Wissen ist die Kompetenz, in einer Situation erfolgreich zu handeln. Neben diesen beiden Unterscheidungsdimensionen lässt sich Wissen noch nach anderen Dimensionen differenzieren, beispielsweise nach seiner Genauigkeit, seiner Generalität und natürlich nach seiner inhaltlichen Domäne“ (W ITTMANN / SÜß/ OBERAUER , 1996, S. 4f.). Übersichtstabelle: Taxonomie von Wissensformen mit Beispielen aus der Steuerung eines simulierten Kohlekraftwerkes (entnommen aus: W ITTMANN/ SÜß/ OBERAUER, 1996, S. 5) Sachwissen: Was ist der Fall?

Handlungswissen: Was ist zu tun?

Deklaratives Wissen: Fragen beantworten können

Wie wirkt die Kohlezufuhr auf Wie kann ich die Energieleistung den Dampfdruck? schnell erhöhen?

Prozedurales Wissen: Erfolgreich handeln können

Antizipation der Verlaufskurve Zusammenstellung einer optides Dampfdrucks nach einer malen Eingriffskombination zur Eingriffkombination Erzeugung einer Sollkurve für die Energieleistung

87

„Das Strukturwissen bezieht sich auf die Variablen eines Systems und deren kausales Wirkungsgefüge (P UTZ -OSTERLOH , 1993). Es beinhaltet allgemeine Kenntnisse darüber, wie ein System funktioniert. KIERAS und POLSON (1985) bezeichnen dieses Wissen deshalb auch als `how-it-works knowledge´“ (P REUßLER , 1998, S. 219). 88

„Mit Eingriffswissen ist demgegenüber die Kenntnis spezifischer Steuerungsprozeduren gemeint (KLUWE, 1997; K LUWE & HAIDER, 1990). Dabei handelt es sich um „Wenn-dann-Regeln“, mit denen gewünschte Änderungen des Systemzustandes herbeigeführt werden können“ (P REUßLER , 1998, S. 219). 89

Zum selben Ergebnis kommt auch P REUßLER (2001): „Bei der Erforschung des steuerungsrelevanten Wissens stand bisher das Systemwissen im Vordergrund des Interesses; besonders intensiv wurde dabei das Strukturwissen untersucht [...]. Das Eingriffswissen wurde dagegen in empirischen Untersuchungen nur selten berücksichtigt“ (S. 215).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

84

konnte PREUßLER zeigen (vgl. 1998), dass sich Vermittlung von Strukturwissen auf die Steuerungsleistung positiv auswirkt: „Das Strukturwissen ermöglichte [...] bessere Steuerleistungen. Auch bei der Systemsteuerung unter geänderten Bedingungen (Transfer) war das Strukturwissen erwartungsgemäß eine Hilfe“ (PREUßLER, 1998, S. 235). PREUßLER bezog sich bei der Analyse der Nützlichkeit von Strukturwissen auf die Systemsteuerung auf Untersuchungen mit linear additiven Systemen. Sie vermutet aber einen ähnlichen Zusammenhang bei der Lösung von exponentiellen Entwicklungen (vgl. a.a.O., S. 237). Zusammengenommen stützen die von PREUßLER „vorgestellten Befunde die Auffassung, dass explizites Wissen über die Systemstruktur die Steuerung komplexer dynamischer Probleme erleichtert. Problemlöser kommen mit solchen Systemen sowohl beim Lernen als auch beim Transfer weitaus besser zurecht, wenn sie vor der Steuerung mit der Systemstruktur vertraut gemacht wurden“ (ebd.). Anderseits führen W ITTMANN u.a. sieben verschiedene Untersuchungen an, die allerdings keine derartigen Zusammenhänge gefunden (vgl. W ITTMANN, u.a., 1996, S. 6). Sie verweisen zur Unterstützung dieser These z.B. auf Untersuchungen von BROADBENT, der mit seiner Arbeitsgruppe „die mehrfach replizierte Dissoziation von verbalisiertem Strukturwissen und Steuerungsleistung [...] mit relativ einfachen Systemen aus vier vernetzten Variablen festgestellt hat. In diesen Studien wirkt sich verbal vermitteltes Strukturwissen nicht auf die Steuerungsleistung aus“ (ebd.)90. WITTMANN u.a. nennen einige Gründe, die zu den widersprüchlichen Ergebnissen beitragen konnten (vgl. ebd.). So sind in den unterschiedlichen Forschungsarbeiten zum einen verschiedenen Systeme verwendet worden. Zum anderen haben die Wissenschaftler eventuell doch differierende Formen von Wissen erfasst und auch zu der Erfassung selber unterschiedliche Methoden verwendet. Zum dritten sei es nach WITTMANN u.a. „nicht in jedem Fall gesichert, ob das erhobene Wissen für eine erfolgreiche Systemsteuerung überhaupt benötigt wird“ (ebd).

90

Es ist wird von den Autoren W ITTMANN , SÜß und OBERAUER nicht herausgearbeitet, an welcher Stelle ihrer eigenen Aufgliederung von Wissensarten sie das Strukturwissen von B ROADBENT einordnen.

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

85

Für W ITTMANN u.a. ist aber der Befund sehr robust, „dass die Vermittlung von deklarativem Sachwissen über ein System beim problemlösenden Umgang mit diesem System – sei es die Steuerung oder die Reparatur eines Systems – nicht hilfreich ist“. Sie bezeichnen „die Schwierigkeit, gelerntes deklaratives Sachwissen für problemlösendes Handeln nutzbar zu machen [...] als ´träges Wissen´“ (ebd.).

Trainingseffekte und komplexe Problemlösungskompetenz Wichtig für Überlegungen zu einer Steigerung einer komplexen Problemlösungsfähigkeit ist neben der Frage der Bedeutung einer Wissensvermittlung auch, ob sich Übungs- oder Trainingseffekte der Versuchspersonen nachweisen lassen. Übungsund Trainingseffekte wurden in verschiedenen Studien untersucht, wobei sich die angewandten Arten des Trainings stark unterschieden. Eine in mehreren Studien angewandte Übungsmethode war, dass die Versuchspersonen mehrmals hintereinander mit derselben Simulation konfrontiert wurden. FUNKE verweist neben eigenen Untersuchungen (FUNKE 1985) auch auf Untersuchungen von DÖRNER und PFEIFFER (1992) und HEINEKEN/ ARNOLD/ KOPP/ SOLTYSIAK (1992) und stellt fest, dass „die wiederholte Bearbeitung eines Szenarios zu Übungseffekten und damit zu besserer Problemrepräsentation und –bearbeitung führen“ (2003, S. 178) konnte. HEINEKEN/ ARNOLD/ KOPP/ SOLTYSIAK (1992) konnten in einem Experiment nachweisen, „dass mit zunehmender Übung sowohl die Güte der Regelung zugenommen als auch die Latenz der Entscheidungszeiten abgenommen haben“ (FUNKE, 2003, S. 202)91. Eine zweite Trainingsmethode, von der berichtet wird, bestand darin, mit derselben Versuchspersonengruppe nacheinander zwei verschiedene Simulationen durchzuführen. PUTZ-OSTERLOH beispielsweise führte mit denselben Versuchspersonen sowohl die Simulation der Schneiderwerkstatt als auch die Simulation von Tanaland durch (vgl. 1987). Sie fand heraus, dass „alle Problemlöser bei dem zweiten Problem durchschnittlich eine höhere Systematik in der Abfolge verbalisierter Problemlö91

Die Autoren „gestalteten [...] ein Experiment, in dem 36 Versuchspersonen insgesamt 6 Durchgänge zu je 200 Interaktionen mit einem dynamischen System T EMPERATUR zu bearbeiten hatten. Das System bestand aus einer Strukturgleichung, in der die zu regelnde Temperatur im Wesentlichen von der Temperatur zum vorherigen Zeittakt sowie einer manipulierbaren Stellgröße abhing, die entweder mit 0, 2 oder 8 Takten Verzögerung Wirkung entfaltete“ (F UNKE , 2003, S. 202).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

86

sungsprozesse aufweisen als bei dem ersten Problem. Hierin [...] [sieht PUTZOSTERLOH] einen generalisierbaren Übungseffekt von einem intransparenten Problem auf ein zweites“ (1987, S. 80). Eine dritte Trainingsmethode bestand darin, die Versuchspersonen zur Reflexion des eigenen Denkens und Tuns anzuregen. REITHER (1979, vgl. DÖRNER, 1989, S. 300) „arbeitete mit zwei Gruppen von Versuchspersonen, einer Versuchs- und einer Kontrollgruppe. Die Probanden der Kontrollgruppe musste nach jeder Lösung ihre Hypothesen über die Wirkung der Tasten [mit denen das System gesteuert wurde] beschreiben. Die Probanden der Experimentalgruppe mussten einfach nur über ihr eigenes Denken nachdenken. Sie mussten also darüber reflektieren, was sie bei der Lösung des letzten Problems alles gemacht und gedacht hatten, um zu einer Lösung zu kommen“ (DÖRNER, 1989, S. 302). Die Anleitung zur Selbstreflexion hatte eine Verbesserung der Problemlösungsfähigkeit der Versuchspersonen im Vergleich zur Kontrollgruppe zur Folge. Allein die Anregung zum eigenständigen Nachdenken führte zu einer Verbesserung (vgl. ebd.). Eine vierte Methode bestand in einem Training im sogenanntem induktiven Denken, d.h. Aufdecken von Regelhaftigkeiten (Gemeinsamkeiten oder Unterschieden). KLAUER (1996) führte zu dieser Thematik zwei Trainingsexperimente durch. Er übte mit Schulkindern anhand eines „Denktrainings für Kinder“ das induktive Denken. Eine Kontrollgruppe ging in dieser Zeit einer anderen Aktivität nach. Eine Verbesserung der Leistung im induktiven Denken hatte im Vergleich zur Kontrollgruppe auch eine Verbesserung der Leistung im komplexen Problemlösen zur Folge. W ITTMANN/ SÜß/ OBERAUER bezeichnen den von KLAUER bestätigten Zusammenhang zwischen induktivem Denken und Problemlösungsfähigkeit als „eindrucksvoll“ (1996, S. 4). KLAUER vermutet, „dass induktives Denken auch in anderen Fällen das Bearbeiten komplexer Probleme begünstigt, wenn davon Gebrauch gemacht wird“ (KLAUER, 1996, S. 85). Fünftens bleibt aber auch festzuhalten, dass nicht in allen Versuchen Trainingseffekte eine Verbesserung der Problemlösefähigkeit nach sich ziehen. So zeigte DÖRNER beispielsweise anhand des Lohhausen-Versuchs, „dass komplizierte Strategien der Belehrung fehlschlagen können“ (1989, S. 302). DÖRNER hatte bei

87

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

diesem Experiment die Versuchspersonen „in drei Gruppen aufgeteilt: eine Kontrollgruppe, eine Strategiegruppe und eine Taktikgruppe. Die Strategiegruppe und die Taktikgruppe wurden in der Anwendung bestimmter, mehr oder minder komplizierter Prozeduren

für

den

Umgang

mit

komplexen

Systemen

unterrichtet.

Den

Versuchspersonen der Strategiegruppe wurden Begriffe wie ´System´, ´positive Rückkopplung´, ´negative Rückkopplung´, ´kritische Variable´ usw. beigebracht, und sie wurden darin unterrichtet, dass man Ziele zu bilden habe, Schwerpunkte zu formulieren und zu ändern habe usw. Die Versuchspersonen der Taktikgruppe wurden

in

einem

Verfahren

zur

Entscheidungsfindung,

nämlich

in

der

Zangemeisterschen Nutzwert-Analyse [...] unterrichtet“ (DÖRNER, 1989, S. 303). In den Ergebnissen von DÖRNER zeigten sich bei der Problemlösungskompetenz keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Versuchspersonengruppen. Es wäre pädagogisch reizvoll, aus den vorgestellten Ergebnissen eine Kombination aus verschiedenen Trainings- und Übungsmethoden zur Förderung der Problemlösungskompetenz zusammenzustellen92. Bei diesem Vorhaben ist es sinnvoll, einschränkende Faktoren zu beachten. So wird in verschiedenen Untersuchungen zwar festgestellt, dass durch Übung und Training die Versuchspersonen dazulernen können. Es ist aber nicht eindeutig geklärt, was die Probanten dabei wirklich lernen. So verweist FUNKE beispielsweise auf die Warnung von B REHMER, LEPLAT und RASMUSSEN, dass in dem Fall, dass die Simulationen sich von der Realität unterscheiden, auch kein auf die Realität übertragbares Problemlösen geübt werden kann (vgl. 2003, S. 230). Zweitens fehlt ein empirischer Beleg darüber, dass der in Simulationen nachweisbare Lerneffekt auch zu echtem Training, d.h. dem „Erwerb strategischer Kompetenz, die sich in verschiedensten Handlungsfeldern niederschlagen sollte“ (a.a.O., S. 257), führt93. 92

So lautet beispielsweise DÖRNERS zur Verbesserung der Problemlösungskompetenz von Versuchspersonen: „Es wäre wahrscheinlich vernünftig, eine Batterie sehr verschiedenartiger Szenarios mit sehr verschiedenartigen Anforderungen zusammenzustellen, und die zu trainierenden Personen einer solchen ´Anforderungssymphonie´ verschiedener Systeme auszusetzen. Man sollte aber zugleich ihr Handeln und Planen in solchen Situationen beobachten lassen durch Spezialisten, die in der Lage sind, die jeweiligen Denkfehler zu orten und ihre Determinanten auszumachen. In sorgfältig vorbereiteten Nachgesprächen könnte die Art und die Ursache der jeweiligen Handlungsfehler erläutert und den Versuchspersonen bewusstgemacht werden“ (1989, S. 305). 93

FUNKE warnt, „dass trotz allgemeiner Wertschätzung von Trainings mit computersimulierten Szenarios der empirische Nachweis über deren Wirksamkeit gering ausfällt. Selbst zu Trainingseinsätzen im Rahmen betrieblicher Weiterbildung werden keine empirischen Forschungsnachweise vorgelegt, sondern deren Wirksamkeit wird präsupponiert“ (FUNKE, 2003, S. 230).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

88

Pädagogisch interessant wären deshalb weitere Forschungsarbeiten, die zur fundierten Klärung dieser Zusammenhänge beitragen können.

3.1.1.4 Erklärungsansätze für komplexe Problemlösungskompetenz Folgende psychologische Faktoren sieht DÖRNER als hauptsächlich für die „Unzulänglichkeiten des Denkens beim Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität“ (1989, S. 288) an.

-

die Langsamkeit des Denkens94

-

die geringe Zahl gleichzeitig zu verarbeitender Informationen95

-

die Tendenz zum Schutz des Kompetenzgefühls96

-

die geringe „Zuflusskapazität“ zum Gedächtnis97

-

die Fixierung der Aufmerksamkeit auf die gerade aktuellen Probleme98

94

„Die erste Ursache für eine Reihe von Unzulänglichkeiten ist die schlichte Langsamkeit des Denkens“ (DÖRNER, 1989, S. 288). Diese Langsamkeit nötigt uns nach DÖRNER Abkürzungen auf und lässt uns „generell danach streben [...], mit der knappen Ressource möglichst ökonomisch umzugehen. Solche Ökonomietendenzen kann man im Hintergrund vieler der dargestellten Unzulänglichkeiten und Denkfehler ausfindig machen“ (DÖRNER, 1989, S. 289). 95

„Die Devise „first things first“ („eins nach dem anderen und das Wichtigste zuerst!“) mag dafür verantwortlich sein, dass Personen, wenn ihnen eine Aufgabe gestellt wird, statt sich um die Zielkonkretisierung, die Balancierung kontradiktorischer Teilziele, die Rangierung der Ziele zum Zweck der Schwerpunktbildung zu kümmern, sofort anfangen, das Handeln zu planen und Informationen zu sammeln. Das Problem ist da, also sollte man es lösen und nicht erst viel Zeit vergeuden, um sich über die genaue Gestalt des Problems Klarheit zu verschaffen“ (D ÖRNER, 1989, S. 289f.). 96

„Ein weiterer Grund für viele Unzulänglichkeiten und Fehler des menschlichen Denkens muss wohl ganz außerhalb des Bereiches der kognitiven Prozesse gesucht werden. Nach unserer Meinung spielt die Bewahrung eines positiven Bildes von der eigenen Kompetenz und Handlungsfähigkeit eine sehr große Rolle als Determinante der Richtung und des Ablaufs von Denkprozessen. Wenn Menschen handeln sollen, so werden sie dies nur tun, wenn sie sich zumindest in minimaler Weise dafür kompetent fühlen. Sie brauchen die Erwartung, dass ihr Handeln letztlich doch erfolgreich sein könnte“ (DÖRNER , 1989, S. 291f.). 97

„Eine weitere Determinante der Schwierigkeiten, die wir beim Umgang mit komplexen und zeitabhängigen Systemen haben, liegt wohl einfach in der relativ geringen Geschwindigkeit, in der neues Material in das Speichersystem des menschlichen Gedächtnisses hineingebracht werden kann. Das menschliche Gedächtnis mag eine sehr große Kapazität haben, seine „Zuflusskapazität“ ist eher gering“ (DÖRNER, 1989, S. 293).

98

„Die „Überwertigkeit des aktuellen Motivs“ [...] ist [...] ein weiterer Grund dafür, dass man in einer Entscheidungssituation zu wenig bedenkt und auf diese Weise Fehler macht“ (DÖRNER , 1989, S. 295).

89

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Für DÖRNER sind das „sehr einfache Ursachen für die Fehler, die wir beim Umgang mit komplexen Systemen machen. Zugleich sind es aber sehr fassbare Ursachen, und man sollte Möglichkeiten finden können, diese Faktoren als Fehlerbedingungen weitestgehend auszuschalten“ (DÖRNER, 1989, S. 295). DÖRNER begründet die schlechte menschliche Problemlösungsfähigkeit in komplexen Situationen evolutionstheoretisch. Menschen könnten anscheinend durchschnittlich deshalb

so

schlecht

mit

diesen

Herausforderungen

umgehen,

da

diese

Herausforderungen im Pleistozän als den entwicklungsgeschichtlich prägendsten Zeitraum der menschlichen Entwicklung keine Rolle gespielt haben und deshalb kein evolutionärer

Anpassungsdruck

vorhanden

war99.

Die

evolutionstheoretische

Argumentation, die ein besseres Verständnis der Ursachen für die menschlichen Schwierigkeiten im Umgang mit komplexen Problem ermöglichgt, werden im nächsten Abschnitt detailliert dargelegt.

99

DÖRNER beschreibt anschaulich: „Allem Anschein nach ist aber die ´Mechanik´ des menschlichen Denkens in der Evolution einmal ´erfunden´ worden, um Probleme ´ad hoc´ zu bewältigen. Es ging um das Feuerholz für den nächsten Winter. Es ging um einen Plan, wie man eine Pferdeherde so treiben könnte, dass sie in eine Schlucht stürzte. Es ging um den Bau von Fallen für einen Mammut. Alle diese Probleme waren ´ad hoc´ und hatten meist keine über sich selbst hinausgehende Bedeutung. Der Bedarf an Feuerholz für eine Steinzeithorde unserer Vorfahren gefährdete nicht den Wald, genauso wenig wie ihre Jagdaktivitäten den Wildbestand gefährdeten. Hier mag es auch immer einmal Ausnahmen gegeben haben. Es gibt Anzeichen dafür, dass bestimmte Tierarten in prähistorischer Zeit stark überjagt und vernichtet worden sind. Aber im großen und ganzen war es für unsere prähistorischen Vorfahren wohl nicht notwendig, in größeren Zusammenhängen zu denken. Der menschliche Geist spielte die Rolle eines Troubleshooters. Er wurde ausnahmsweise eingesetzt, um Situationen zu bewältigen, die mit Sitte und Tradition nicht zu bewältigen waren. Das Problem wurde bewältigt (oder auch nicht), und damit war es vorbei. Die Notwendigkeit, über die Situation hinauszudenken, die Notwendigkeit, die Einbettung eines Problems in den Kontext von anderen Problemen mitzubeachten, trat selten auf. Für uns dagegen ist eben dieser Fall die Regel“ (DÖRNER, 1989, S. 13f.). DÖRNERS Begründung, dass insbesonders ´ad hoc´ Probleme für die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Denkens prägend waren, ist aus Sicht der evolutionären Erkenntnistheorie (vgl. 3.1.2) und der Evolutionären Psychologie (vgl. 3.3.4) zuzustimmen. Allerdings ist diskussionswürdig, ob das Sammeln von Feuerholz für den nächsten Winter, das DÖRNER als Beispiel für ein ´ad hoc´ Problem anführt, tatsächlich ein ´ad hoc´ Problem ist. Das von DÖRNER genannte Sammeln von Feuerholz für den nächsten Winter impliziert ein Vorausplanen. Deshalb kann im Gegenteil zu DÖRNERS Annahme vermutet werden, dass der klimatisch bedingte Zwang zu einer längerfristigen Vorratssammlung von Feuerholz spezielle kognitive Anforderungen an die Bewohner gestellt hat.

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

90

3.1.2 Erkenntnisfähigkeit komplexer globaler Strukturen aus evolutionstheoretischer Sicht 3.1.2.1 Evolutionäre Entwicklung Evolutionstheoretische Argumentationslinien bauen darauf auf, dass sich in der Jahrmillionen dauernden Entwicklung von menschlichem Leben neben Körperbau und –funktionen auch die Erkenntnisfähigkeit entwickelt und vererbt hat. Trotz der großen interindividuellen Unterschiede wird durch evolutionstheoretische Untersuchungen ein allgemeiner Rahmen der kognitiven menschlichen Leistungen aufgezeigt, der Universalität aufweist (vgl. z.B. VOLLMER, 1985, 1990a, 1990b). Wie die Evolution spezieller kognitiver Leistungen plausibel gemacht werden kann, beschreibt EIBL-EIBESFELDT anschaulich mit folgendem Beispiel, das auf ERNST MAYR (1970, vgl. EIBL-EIBESFELDT, 1988, S. 17) zurückgeht: Ein „Affe, der sich von dem Ast, auf den er springen wollte, keine richtige Vorstellung machte, [war] bald ein toter Affe [...], der nicht zu unserer Ahnenreihe gehörte“ (ebd.)100. Es ist eine kognitive Erkenntnisleistung für baumbewohnende Affen, sich zu orientieren und aus der Vielzahl der Äste den auszuwählen, der einen Absturz verhindert. Nur ein Affe, der dazu fähig ist, wird überleben und seine Gene und im speziellen auch die Gene für einen guten Orientierungssinn an Nachkommen weitergeben können (vgl. FEHR/ RENNIGER, 2004, S. 35f.). Erkenntnis ist also nützlich „im biologischen Sinne: sie erhöht die Chancen für die Reproduktion“ (VOLLMER, 1985, S. 60). Die Erkenntnisfähigkeit ist evolutiv, d.h. im Laufe der Evolution, geschärft. Die Sicherheit, die heute bei der Fortbewegung von Affen zu beobachten ist, ist Produkt einer langen Entwicklungsgeschichte. Auch die menschliche Spezies hat im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte gelernt, mit unterschiedlichen Sinnesorganen und kognitiven Fähigkeiten ihren Lebensraum wahrzunehmen. Die evolutionstheoretische Antwort auf die Frage, warum es „eine weitreichende – wenn auch nicht vollständige – Übereinstimmung zwischen objektiven Strukturen (der realen Außenwelt) und subjektiven Strukturen (unseres

100

Noch knapper und pointierter formuliert der Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe GEORGE SIMPSON : „Ein Affe, der danebengreift, ist ein toter Affe“ (zitiert nach: FEHR / RENNIGER , 2004, S. 35).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

91

Wissens über diese Welt)“ (VOLLMER, 1985, S. 63f.) gibt, lautet: „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der (biologischen) Evolution. Unsere (subjektiven) Erkenntnisstrukturen passen auf die (objektiven) Strukturen der Welt, weil sie sich in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte“ (a.a.O., S. 64)101. 101

Die Entwicklungsbedingungen werden nach RIEDL besonders durch folgende Faktoren geprägt: die Zeit (oder der Ab-Lauf), der Raum (oder das Rund-Um), Wahrscheinlichkeit und Wahrheit (oder das anscheinend Wahre), Qualität und Quantität (oder das Vergleichen), Kausalität (oder die Ur-Sachen) und Finalität (oder das Wo-Zu). RIEDLS Überlegungen (zuerst 1987, dann 1990 veröffentlicht) sollen durch einige Textpassagen verdeutlicht werden. - Zur Zeit: „Die Reaktion auf Zeitintervalle ist ein Prinzip des Lebendigen schlechthin, und damit drei Milliarden Jahre alt. Die Zeitmessung im Organismus ist durch den Ablauf komplexer chemischer Reaktionen gegeben, von der Eigenbewegung über den Stoffwechsel bis zum Wachstum. Bei höheren Organismen spricht man zu Recht von einer physiologischen Uhr“ (RIEDL, 1990, S. 12). - Zum Raum: „In der frühen Phylogenie existieren keine Raumachsen, die Umwelt ist rundum gleichbedeutend. [...] Die erste Raumachse entsteht mit einer bevorzugten Bewegungsrichtung (und den Taxien) sowie über die radiäre Symmetrie der höheren Pflanzen und der sesshaften Seetiere (Korallen und Seeanemonen). Eine zweite und dritte Raumachse ist die Folge bevorzugter Bewegungsrichtung in Beziehung zu einem festen Substrat. Zum Vorne und Hinten kommt das Oben und Unten (von Rücken- und Bauchseite) und daraus jene Symmetrie, die wir als links und rechts bezeichnen“ (RIEDL, 1990, S. 13). - Zur Wahrscheinlichkeit und Wahrheit: „Der genetische Lernerfolg beruht auf einer Vorwegnahme von Lebensentscheidungen gegenüber den Bedingungen innerhalb und außerhalb der selbstreproduzierenden Systeme; wir nennen das eine Organisation, das andere Adaptierung. Dieser Mechanismus leistet eine Festschreibung von sich wiederholenden Koinzidenzen. Koinzidiert eine Änderung im System (einer Mutante) mit einer relevanten Bedingung zum besseren Reproduktionserfolg und in der Folge regelmäßig bei allen reproduzierten Folgesystemen, so wird sie (in der Spezies) erhalten“ (RIEDL, 1990, S. 14). „Dasselbe Prinzip setzt sich im assoziativen Lernen fort. Wo immer genetisch vorbereitete Leitungsbahnen in Verbindung treten können, werden sich wiederholende Koinzidenzen (wir sprechen von unbedingten und bedingten Reizen) verknüpft. Das heißt bekanntlich Assoziation. Diese wird durch stete Wiederholung gefestigt und durch deren Ausbleiben (durch Frustration gefördert) aufgelöst“ (RIEDL, 1990, S. 14). - Zur Qualität und Quantität: „Die Phylogenie der Wahrnehmung geht von der Reizbarkeit des Protoplasmas aus. Strömungs-, Schwere- und Temperatursinn, Nase, Gehör und Auge schneiden aus den Umweltbedingungen Ausschnitte heraus, die, in die Ebene des Bewusstwerdens vordringen, als unterschiedliche Qualitäten erlebt werden. [...] Das Wahrnehmbare wird in Qualitäten zerschnitten, und die Ausschnitte werden mit Bedeutungen verbunden; zunächst mit den elementarsten (oder abstraktesten), mit gut und schlecht (´hinzu!´ oder ´fort von da!´)“ (RIEDL, 1990, S. 15). - Zur Kausalität: „Ursachenbezügen zu folgen ist eine Bedingung aller Lebenserhaltung, Leben selbst ist Ursachenzusammenhang, und naturgemäß sind alle Lebensprozesse von den Abläufen der Reproduktion, des Stoffwechsels und der Sinne bis in die kompliziertesten, angeborenen Verhaltensmuster darauf bezogen. Nicht minder ist der assoziative Kenntnisgewinn, wie man sich erinnert, auf der Interpretation von Koinzidenzen (eigentlich Sukzidenzen) als eines Wenn-Dann-Zusammenhanges aufgebaut“ (RIEDL, 1990, S. 16). - Zur Finalität: „Hier ist ein Rückblick auf die Begriffsbestimmung voranzustellen. [...] Sucht man ein übergreifendes Prinzip, in dem auch das Platz hat, was wir als Zweck und Ziel, als Absicht und Intention, erleben, so ist es das Programm [...]. Programme sind nun, ebenso wie wir es für die Ursachenbezüge feststellten, eine Bedingung aller Lebenserhaltung. Leben selbst bedeutet Erhaltung erfolgreicher Programme; und Erfolg heißt zuerst Lebens- und Überlebenserfolg. Auf genetische Weise entstehen solche Programme durch zunächst zufällige Änderung oder Erweiterung der Instruktionscodices in der Aufbau- oder Betriebsanleitung der Phän- und

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

92

Wie DARWIN die Entstehung der Arten interpretiert die evolutionäre Erkenntnistheorie die heutige Bedingtheit der kognitiven Strukturen als das Ergebnis eines Anpassungsprozesses, der durch Mutation und Selektion beherrscht wird. So wie sich die physische Gestalt des Körpers, wie beispielweise die Sinnesorgane und das Gehirn, als Ergebnis der Evolution betrachten lässt, sieht VOLLMER auch die Funktionen dieser Organe wie beispielsweise das Sehen, Wahrnehmen oder Erkennen als Ergebnis der Evolution (vgl. a.a.O., S. 67). Auch EIBL-EIBESFELDT kommt zu dem Schluss: „Im Prozess der Anpassung informieren sich die Organismen gewissermaßen über ihre Umwelt, und sie speichern bei stammesgeschichtlicher Anpassung eignungsrelevante Information im Erbgut. Über Mutation und Selektion findet ein Erfahrungssammeln, ein Informationserwerb analog dem Lernen aus Versuch-und-Irrtum statt“ (EIBL-EIBESFELDT, 1988, S. 18)102. Für die Genese von evolutionär erfolgreichen Denkstrukturen werden von verschiedenen Autoren unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. RIEDL spricht in Anlehnung an LUDWIG BOLTZMANN von „Denkgesetzen“ als „ererbte Denkgewohnheiten“ (vgl. RIEDL, 1990, S. 9) oder auch von „Vorbedingungen der Vernunft“ (vgl. ebd.) , LORENZ nennt sie „angeborene Lehrmeister“ (vgl. ebd.). Die vorhergehenden Überlegungen lassen sich nach VOLLMER (1991) in der Hauptthese der Evolutionären Erkenntnistheorie zusammenfassen: „Unser Gehirn

Verhaltensmuster und der fortgesetzten Auswahl der zielführenden. [...] Der Erfolg der genetischen wie der assoziativen Programmbildung beruht darauf, dass stete Sukzessionen von Ereignissen in dieser Welt nun auch in Richtung auf das Folgeereignis (wir sagen: die Zukunft) wiederum meist nicht von zufälliger Art sind. Man sieht schon voraus, dass im langsamen Übergang vom reflektorischen (unbewussten) zum reflektierten (bewussten) Assoziieren, sowohl durch die Anlage im System als auch durch die Anleitung durch jene Naturgesetzlichkeit im Milieu, das Prinzip weiter verankert wird (RIEDL, 1987, S. 296ff.). RIEDL begründet seine Explikation folgenderweise: „Was ich vortrug, stützt sich auf das, was man heute von Entwicklungsbedingungen wissen kann. Ich argumentiere mit Plausibilitäten, weil ich die ganze empirische Dokumentation nicht bringen konnte. Ich bemühe mich jedoch, nichts auszusprechen, von dem die Gewinnung des empirischen Dokuments nicht wenigstens möglich sein wird. In diesem Sinne trachte ich mein Gebiet, die empirische Wissenschaft, nicht zu verlassen“ (RIEDL, 1987, S. 299). 102

Wenn sich bestimmte Fähigkeiten für den Überlebenskampf im Laufe der Entwicklung menschlichen Lebens als besonders relevant erwiesen haben, müsste sich die Ausbildung besonderer kognitiver Fähigkeiten experimentell nachweisen lassen. Tatsächlich findet sich ein Beispiel für eine sogenannte Modularität des menschlichen Gehirns in den Untersuchungen von T OOBY und C OSMIDES (1992). Sie zeigen, dass Probanten logische Aufgaben dann leichter lösen können, wenn die Aufgaben inhaltlich auf die Überprüfung sozialer Regeln aufbauen. Diese Ergebnisse werden in Abschnitt 3.3.4 dargestellt und diskutiert.

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mit seinen Funktionen, insbesondere mit seinen kognitiven Leistungen, ist ein Ergebnis der biologischen Evolution“ (S. 1164).

3.1.2.2 Evolutionäre Angepasstheit Nach der grundlegenden Darstellung der evolutionstheoretischen Sichtweise der Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit werden nun Erkenntnisse der naturwissenschaftlich anthropologischen Fachrichtung dargestellt, die explizit dazu beitragen können, die formulierten Lernherausforderungen Globalen Lernens in einer ergänzenden Perspektive zu betrachten. Zwei Argumentationslinien der evolutionstheoretischen Forschung scheinen für weiterführende Erkenntnisse über Möglichkeiten der Gewinnung von Einsicht in komplexe globale Zusammenhänge – also in einem weltweiten Bezugsraum - interessant. Zum einen ist dies die Darstellung von Raumstrukturen, für die die menschliche Erkenntnisfähigkeit besonders prädestiniert ist. Zum anderen sind die Herausforderungen zu diskutieren, wenn die Anforderungen an die Erkenntnisfähigkeit über den prädestinierten Bereich hinausgehen. Wie unter 3.1.2.1 dargestellt, begründet die Evolutionäre Erkenntnistheorie, dass sich die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit jeglichen Lebens im Laufe der Evolution in Anpassung an die individuelle Umwelt entwickelt hat. Dabei ist die Feststellung interessant, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit bei weitem nicht alle Ausdrücke der realen Welt wahrnehmen und verarbeiten kann. Beispielsweise bleiben Magnetfelder von der menschlichen Erkenntnisfähigkeit unentdeckt, während sich manche Fischarten (z.B. Haie, Rochen, Regenbogenforellen) und andere Tiere (z.B. Meeresschildkröten) daran orientieren können. Der menschliche Erkenntnisapparat hat sich im Laufe der Evolution somit nur an einen Ausschnitt der realen Welt angepasst. In der evolutionären Erkenntnistheorie wird dieser Ausschnitt der realen Welt, an den der menschliche Erkenntnisapparat angepasst ist, als „kognitive Nische“103 oder auch „Mesokosmos“ (vgl. VOLLMER, 1991104

105

, RIEDL, 1987106) be-

103

Diese Bezeichnung ist angelehnt an den biologischen Begriff der „ökologischen Nische“. Die ökologische Nische ist jener bestimmte Ausschnitt der realen Welt, an den ein bestimmter Organismus angepasst ist und den er wahrnehmend und handelnd bewältigt. 104

„Unser Mesokosmos ist [...] jener Ausschnitt der realen Welt, den wir wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch, bewältigen. [...] Der Mesokosmos ist - grob gesprochen –

94

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nannt. TREML (2004) konkretisiert: „Fast die gesamte Stammesgeschichte lebten unsere Vorfahren im Nahbereich sinnlicher Erfahrungsbegrenzungen, also im sog. Mesokosmos. Dieser durch die sinnliche Wahrnehmung konstituierte Radius ist in räumlicher Hinsicht auf das ´Nächstliegende´ – also auf kleine Räume und kurze Zeiten – begrenzt“ (S. 220). TREML nennt den Mesokosmos auch Handlungsraum oder konkreten Raum. Der Handlungsraum (oder konkrete Raum) ist das, „was ein Ich körpernah und handlungsorientiert als Möglichkeit der Bewegung erfährt. Im Begriff der Handlung, aber auch im Begriff der Beobachtung, kommt dieser Raumbegriff sinneine Welt der mittleren Dimensionen“ (a.a.O., S. 77), d.h. „eine Welt mittlerer Entfernungen, Zeiten, Gewichte, Temperaturen, eine Welt kleiner Geschwindigkeiten, Beschleunigungen, Kräfte, aber auch eine Welt von bescheidener Komplexität“ (V OLLMER , 1991, S. 1165). 105

VOLLMER fasst in einer Tabelle die mesokosmischen Größen und Bereichsgrenzen beim Menschen zusammen (vgl. a.a.O., S. 78): Größe Zeiten t Abstände s

Untergrenze Sekunden s Millimeter m

Beispiele Herzschlag Staub 0.05 mm Haar 0,1 mm

Geschwindigkeit

Ruhe V=0 Beschleunigung a gleichförmige Bewegung a = 0 Massen, Gewichte Gramm g Temperaturen

-10°C

Gefrierpunkt

Obergrenze Jahrzehnte Kilometer km

Beispiele Lebensdauer Horizont 20 km Tagesmarsch 30 km Hörweite (Donner) V = 10 m/s Sprinter V = 36 km/h Geschoss, Tiere a = 10 m/s² = Erd- Sprinter, beschleunigung freier Fall Tonnen Felsen, Bäume, Tiere 100°C Siedepunkt des Wassers

Er gibt an, dass „die Grenzen des Mesokosmos nicht scharf definiert [sind], sondern nur innerhalb von Größenordnungen, das heißt bis auf Faktoren von etwa fünf. Sie können individuell variieren und durch Erfahrung, Training und Aufmerksamkeit verändert werden“ (VOLLMER, 1985, S. 78). VOLLMER entwickelte den menschlichen Mesokosmos als eine Theorieperspektive. Die von ihm angegebenen Beispiele sind vor diesem theoretischen Hintergrund mit Bezug zu der menschheitsgeschichtlichen Relevanz entstanden. VOLLMER stellt die Grenzen des Mesokosmos ohne (ausdrücklichen) Bezug zu naturwissenschaftlichen Befunden auf. Eine empirische Überprüfung und Konkretisierung wäre interessant. Während einige Grenzen unmittelbar einsichtig wirken, scheinen andere Obergrenzen (z.B. bei Gewicht, Temperaturen und Abständen) etwas willkürlich aufgestellt zu sein. Wenn VOLLMER z.B. bei Gewichten als Obergrenze der Wahrnehmung „Tonnen“ angibt, kann bezweifelt werden, dass ein Mensch (selbst mit Training) überhaupt eine Tonne Gewicht „wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch, bewältigen“ (a.a.O., S. 77) kann. Wenn VOLLMER bei Temperaturen eine Obergrenze von 100°C annimmt, so scheint dies über die sichtbare Veränderung des Wasserzustandes am Siedepunkt einleuchtend. Es kann aber die Frage gestellt werden, ob die Obergrenze mit Bezug auf thermochromische Erkenntnisse weit höher angegeben werden könnte. Thermochromie ist der Ausdruck für die Änderung der Farbe eines Stoffes bei der Erhöhung der Temperatur. So ist beispielsweise bekannt, dass HgCl2 (Quecksilber(II)-chlorid) die Farbe bei 127°C von rot in gelb ändert und ZnO (Zinkoxid) bei 425° C die Farbe von weiß nach gelb ändert und bei Abkühlung wieder weiß wird. Auch die Obergrenze des Größenbereichs der Abstände ist mit der Möglichkeit der Betrachtung von Sternen und anderen Galaxien größer als die von VOLLMER angegebene Hörweite. 106

Auch RIEDL stellt fest, dass Menschen „dem Mesokosmos unserer Lebenswelt adaptiert“ (1987, S. 269) sind.

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bildlich zum Ausdruck: Raum ist im engeren Sinne das, was die Hände erreichen und die Augen beobachten können, im weiteren Sinne aber alles, was wir durch unsere Sinne erfahren können. Sinnliche Wahrnehmung ermöglicht und begrenzt das, was wir als konkreten Raum bezeichnen wollen“ (TREML, 2001, S. 183 f.)107. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie argumentiert, dass der menschliche Erfahrungshorizont in der längsten Zeit der evolutionären Entwicklung auf den Mesokosmos begrenzt war und deshalb die menschliche Erkenntnisfähigkeit besonders auf diesen Mesokosmos spezialisiert ist108. Umgekehrt ist in der Argumentation der Evolutionären Erkenntnistheorie die menschliche Erkenntnisfähigkeit an Anforderungen jenseits des Mesokosmos nicht gut angepasst, da solche Anforderungen in der prägenden Entwicklungsgeschichte der Menschheit nicht überlebensrelevant waren. Zu Anforderungen jenseits des Mesokosmos sind beispielsweise solche zu zählen, wie sie durch komplexe Systeme entstehen. So argumentiert beispielsweise TREML: „Dieses in Jahrmillionen bewährte Präadaptionsmuster produziert eine Reihe von Problemen, wenn wir gezwungen sind, den Mesokosmos zu verlassen. Diese Probleme sind experimentell inzwischen gut nachgewiesen und beziehen sich vor allem auf unsere Unfähigkeit, Eingriffe und ihre Folgen (und Nebenfolgen) in komplexen Systemen, die durch eine Vielzahl vernetzter Beziehungen von Variablen gekennzeichnet sind, über größere Zeiträume hinweg adäquat abzuschätzen“ (TREML, 2004, S. 220). Ähnlich wie TREML argumentiert

107

TREML gibt keine konkreten Beispiele für den Nahbereich, sondern gibt die Beschränkungen der Aufnahmefähigkeit durch die Aufnahmekapazitäten der einzelnen Sinneskanäle an: „Die Augen des Menschen sind seine am höchsten entwickelten Sinnesorgane; die Aufnahmekapazität des optischen Sinneskanals liegt bei 3.000.000 bit/sec. An zweiter Stelle folgt der Tastsinn; die Aufnahmekapazität des taktilen Kanals liegt bei 200.000 bit/sec. Der akustische Kanal bringt es noch auf 30-50.000 bit/sec, der olfaktorische Kanal auf 10-100 bit/sec und der gustative (Geschmacksinn) hat gerade noch 10 bit/sec Aufnahmefähigkeit [...]. Die sinnlichen Eindrücke, die selbst schon als eine Art Filter gegen die Umwelt wirken, werden durch die vorhandene cerebrale Verarbeitungskapazität noch einmal begrenzt. Von den 3.000.000 bit/sec, die das Auge aufnehmen kann, werden gerade mal 8 bit/sec im Gehirn verarbeitet und nur 0,7 bit/sec können schließlich gespeichert werden“ (TREML, 2001, S. 182). 108

„Sinnesorgane, Wahrnehmungsfähigkeit, Erfahrungsstrukturen, Alltagssprache und elementare Schlussweisen [sind] auf diesen Mesokosmos zugeschnitten; sie sind mesokosmischen Bedürfnissen angemessen. Dasselbe gilt für unsere Anschauungsformen. Unser Anschauungsvermögen hat sich den Alltagsbedürfnissen angepasst. Mesokosmische Strukturen sind also anschaulich. Das wird durch die Evolutionäre Erkenntnistheorie erklärt“ (V OLLMER , 1985, S. 78f.).

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VOLLMER109, RIEDL und SCHEUNPFLUG. Diese Autoren verweisen auf die Experimente von DÖRNER (1989), die oben ausgeführt wurden (siehe Abschnitt 3.1.1).

3.1.2.3 Raumerweiternde kognitive Möglichkeiten Neben dem Handlungsraum (oder auch konkreten Raum) können Menschen auch Dinge wahrnehmen und begreifen, die nicht dem unmittelbaren Nahraum entstammen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist nicht auf den Mesokosmos beschränkt. TREML (2001) hat grundlegende Gedanken veröffentlicht, die die Möglichkeiten der Erkenntnis jenseits des kognitiven Nahraums beschreiben. Er differenziert zwei weitere Arten von Raum: den Vorstellungsraum und den Abstraktionsraum. Der Vorstellungsraum ist gekennzeichnet durch die „Fähigkeit, einen erlebten Raum in einen geistigen Raum zu stellen, dort aufzubewahren, mit anderen Erlebnisinhalten zu verknüpfen und zu gewichten und sich seiner bei Bedarf wieder zu erinnern“ (TREML, 2001, S. 186). Diese Fähigkeit ist nach TREML grundlegend für Denken. „Denken beginnt damit, dass etwas Wahrgenommenes aus der aktuellen Anschauung in einem äußeren Raum verschwindet und gleichwohl vor ein inneres Auge gestellt und dort repräsentiert wird; deshalb sprechen wir hier von Vorstellung. Diese Vorstellung ist zunächst eine Art Verlängerung der Wahrnehmung [...] von einem konkreten in einen vorgestellten Raum hinein und kann deshalb auch als internalisiertes Handeln bzw. verinnerlichte Handlung bezeichnet werden“ (ebd.). TREML bezieht sich auf eine Aussage von KONRAD LORENZ und nennt Denken „ein fiktives Probehandeln in einem abstrakten Vorstellungsraum“ (a.a.O., S. 187)110. Durch Denken kann eine Person Handlungsmöglichkeiten in einem Vorstellungsraum durchprobieren und das Risiko des Scheiterns bei der später tatsächlich ausgeführten Handlung 109

V OLLMER : „Ein weiterer Bereich, in dem wir mit unseren mesokosmischen Mitteln oft oder sogar regelmäßig scheitern, sind eben die komplizierten Systeme. Hier kommt es nicht auf räumliche oder zeitliche Abmessungen, auf Geschwindigkeiten, Beschleunigungen oder andere physikalische Größen an, sondern auf den Vernetzungsgrad. [...] Wir sind wohl auf lineare Kausalität und auf kurze Kausalketten geprägt, nicht jedoch auf vernetzte Systeme, auf die Berücksichtigung von Neben- und Fernwirkungen, auf zyklische Kausalität, auf Rückkopplungseffekte, auf nichtlineares Wachstum oder auf unabhängige Zufallsereignisse“ (VOLLMER, 1985, S. 135f.). 110

L ORENZ definierte Denken folgenderweise: „Ich sehe nicht, was Denken grundsätzlich anderes sein soll als ein solches probeweise und nur im Gehirn sich abspielendes Handeln im vorgestellten Raum“ (LORENZ 1973/ 1997, S. 166f.).

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im konkreten Handlungsraum verkleinern. So ist es beispielsweise für den oben beschriebenen Affen hilfreich, sich vor dem tatsächlichen Absprung eine adäquate Vorstellung von der Weite des Sprunges auf den nächsten Ast zu machen (siehe Abschnitt 3.1.2.1). Für die Versuchsperson, die einen komplexen Problemzusammenhang steuern soll, ist es weiterführend, mögliche Folgen der Handlungen geistig abzuwägen. Das Denkvermögen hat im Vergleich zum Handeln dadurch einen wichtigen evolutionären Selektionsvorteil, „weil man damit auf eine Evolution auf Probe, auf eine Simulation von Variations- und Selektionsprozessen, zurückgreifen – und so anstelle seiner selbst Hypothesen sterben lassen kann“ (ebd.). In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit muss der Selektionsdruck zur Entwicklung des Vorstellungsraums besonders groß gewesen sein, sonst wären die heute vorhandenen kognitiven Möglichkeiten des Menschen als intelligentestes Wesen der Welt unwahrscheinlich. Jede Bewegung im Vorstellungsraum spielt sich allein in Gedanken einer Person ab. Menschen haben darüber hinaus aber die Möglichkeit, z.B. mit Hilfe von Sprache und Schrift über ihre Gedanken zu kommunizieren. Sprache und Schrift siedelt TREML in einem weiteren Raum an, dem sogenannten Abstraktionsraum (vgl. ebd.). Als Beispiel für einen Abstraktionsraum nennt TREML neben der Sprache den Euklidischen Raum der Mathematik111 und die Aristotelische Logik112. 111

T REML führt die Ursprünge des Euklidischen Raums auf Erfahrungen im Handlungs- und Vorstellungsraum zurück: „So dürfte etwa der Euklidische Raum, der aufgrund seiner hohen Abstraktionsleistungen sowohl von Handlungen als auch von Vorstellungen deutlich im Abstraktionsraum angesiedelt ist, ursprünglich in Erfahrungen gründen, die im Handlungsraum und im Vorstellungsraum gemacht wurden [...]. Mit anderen Worten: Es gibt in der Welt I wohl keinen Punkt, keine Gerade, keine Parallele oder keinen Winkel im streng geometrischen Sinne der Euklidischen Geometrie, gleichwohl verwenden wir auch heute noch diese Begriffe in unserem Alltag, um alltägliche Raumstrukturen zu beschreiben“ (T REML, 2001, S. 191). 112

T REML nennt für die zweiwertige Aristotelische Logik folgende Beispiele: - „Auf dem Stuhl, auf dem gerade meine Mutter sitzt, kann ich nicht auch gleichzeitig sitzen: Satz vom Widerspruch (A ∧ ¬ A). Ich kann nicht gleichzeitig auf diesem Stuhl und auf jenem Stuhl sitzen: Satz der Identität (A = A) Wenn ich mich auf den Weg mache, bin ich heute Abend bei dir. Ich mache mich auf den Weg. Also bin ich heute Abend bei dir. Modus ponens ponendo (a → b) ∧ A → B. Ich sitze auf dem Stuhl oder ich sitze nicht auf dem Stuhl. Es gibt keine dritte Möglichkeit: Satz vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur: A ∨ ¬ A“ (T REML , 2001, S. 191). An den Beispielen von T REML wird deutlich, dass es schwer fallen kann, für Zusammenhänge aus dem Abstraktionsraum Realitäten aus dem Handlungsraum zu finden. So können beispielsweise problemlos zwei Personen auf einem Stuhl sitzen (entgegen T REMLS Annahme zum Satz vom Widerspruch). Ebenso kann es im konkreten Handlungsraum viele Zufälle geben, die

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Wenn es zum Beispiel darum geht, kausale Verbindungen in komplexen Computersimulationen, wie sie in der Forschungsrichtung Problemlösendes Denken formuliert werden, zu lösen, sind diese kausalen Zusammenhänge meist nicht direkt sichtbar, hörbar oder fühlbar. Es bedarf der Entwicklung eines abstrakten Vorstellungsvermögens, das unabhängig von realen Gegenständen die Entdeckung kausaler Verbindungen ermöglicht. Wenn DÖRNER z.B. feststellt, dass erfolgreichere Versuchspersonen in der Lage waren, mehr Hypothesen zu erzeugen, konnten sie Probanten ihren Vorstellungsraum und Abstraktionsraum besser nutzen als die schlechten Versuchspersonen. Für TREML ist „der Abstraktionsraum [...] erst dann ganz erreicht, wenn er die Bewegungen im abstrakten Raum völlig von seinen bildlichen, analogen Wurzeln (in der ersten und zweiten Welt) löst und alleine durch formale Definitionen, Axiome und Ableitungsregeln aufgebaut werden kann. Erst jetzt ist der eroberte Abstraktionsraum ohne Anschauung und die darin vollzogene Bewegungen rein abstrakt, so dass ein deduktives Operieren möglich wird“ (TREML, 2001, S. 192).

3.1.2.4 Bewegung in unterschiedlichen Erkenntnisräumen Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit im evolutionären Prozess in dem und für den Mesokosmos der Erkenntnis optimiert wurde. Da Bewegungen im Vorstellungsraum und Abstraktionsraum weit über diesen Mesokosmos hinausgehen können, impliziert diese Aussage, dass jenseits des Mesokosmos andere Anforderungen an die Erkenntnisfähigkeit gestellt werden. TREML geht davon aus, dass Menschen den Handlungsraum, den Vorstellungsraum und den Abstraktionsraum zeitlich nacheinander kennen lernen und dass Menschen sich bei der Eroberung der drei Räume „unterschiedlich schwer tun, weil der Anteil an phylogenetisch erworbener Mitgift unterschiedlich groß ist“ (a.a.O., S. 194). Für TREML sind Menschen hinsichtlich ihrer evolutionären Ausstattung „an einen kleinen überschaubaren und immer konkreten Nahbereich angepasst, und haben deshalb Schwierigkeiten, ihn zu verlassen und [... sich] in abstrakten Räumen zu bewegen“ (ebd.). Die Anpassung an den Nahbereich führt nach TREML dazu, dass dafür sorgen, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem angegebenen Ort anzukommen (entgegen T REMLS Annahme zum Modus ponens ponendo).

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Menschen mit ihren Sinnen und Emotionen kurzsichtig sind und deshalb die Tendenz entwickeln, die im Nahbereich entwickelten Vorstellungen auch auf weltgesellschaftliche Zusammenhänge anzuwenden (vgl. ebd.)113. Am leichtesten fällt Menschen die Bewegung im konkreten Nahbereich, am schwersten ist das abstrakte Denken, das auf jede konkrete Anschaulichkeit verzichtet. In der Spanne zwischen diesen beiden Extremen können viele Nuancen von Anforderungen lokalisiert werden. TREML nennt die Schwierigkeiten der Bewegung im Abstraktionsraum ein „evolutionär bedingtes strukturelles Handicap“ (ebd.). Welche evolutionär bedingten Handicaps das kognitive Operieren jenseits des Mesokosmos erschweren können, versucht RIEDL in seinen Arbeiten offen zu legen. Es ist der Verdienst RIEDLS, Funktionsweisen und Vorbedingungen der Erkenntnisfähigkeit detaillierter aufgezeigt zu haben (vgl. 3.1.2.1)114. Er beschreibt unter dem Begriff „ratiomorpher Apparat“ das System der angeborenen Anleitungen, das das menschliche rationale Denken lenkt und leitet. Der ratiomorphe Apparat ist nach RIEDL mit einem System von Hypothesen ausgestattet. RIEDL nennt die Hypothesen auch „Voraus-Urteile“ (vgl., 1981, S. 37), die jedem Erkenntnisvorgang zugrunde liegen. RIEDL beschreibt diese Funktionsweisen der ratiomorphen Ausstattung anhand von vier Problemen (bzw. Hypothesen): dem Problem der Wahrheit und Wahrscheinlichkeit115, dem Problem der Quantität und Qualität116, dem Problem der Ursachen117 und dem Problem der Zwecke oder der Finalität118.

113

„Wir müssen davon ausgehen, dass wir Menschen uns schwer tun, den konkreten Nahraum zu verlassen, und über die Entwicklung unseres Vorstellungsvermögens zu einem abstrakten Denken zu gelangen, das in beliebigen konkreten Räumen angewendet werden kann. Etwas unmittelbar mit den Sinnen sehen ist einfach, weil es unwillkürlich ein phylogenetisch erworbenes Programm abruft; etwas empfinden ist schon schwerer, weil es die Kultivierung des Vorstellungsraumes voraussetzt, und über etwas nachdenken – gar noch im abstrakten Raum -, das fällt uns am schwersten, weil es nur durch lange Schulung erreichbar ist. Es besteht offenbar so etwas wie ein evolutionär bedingtes strukturelles Handicap beim Versuch, uns in abstrakten Räumen zu bewegen“ (T REML , 2001, S. 195). 114

Ausführlich hat RIEDL die Hypothesen in dem Band „Biologie der Erkenntnis“ (1981) dargestellt und begründet. 115

„Unsere ratiomorphe Ausstattung lässt uns erwarten, dass mit der Bestätigung einer Prognose die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Folgeprognose zunehmen werde. Dieses Prinzip herrscht durchgängig von den niedersten Formen assoziativen Kenntnisgewinns, vom bedingten Reflex, bis zu unserer experimentellen Forschung [...]. Wo immer nun unsere Prognostik lückenlos wird, nähern wir uns einer Deutung, die in unserer Redeweise ´die Wahrheit´ genannt wird. Da die Reflexion zeigt, dass auf solche Art absolute Gewissheit nicht zu erreichen ist, der Lebenserfolg aber mit dem Gewissheitsgrad der Prognosen steigen kann, wird nun in rationaler Weise die Möglichkeit von Gewissheit konstruiert“ (RIEDL, 1987, S. 270).

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Obwohl RIEDL die Hypothesen empirisch nicht absichern kann (vgl. RIEDL, 1987, S. 299) und auch von philosophischer Perspektive an einigen Punkten seiner Arbeit Kritik geäußert wurde (vgl. VOLLMER, 1982), ermöglicht seine Theorieperspektive, die Vorbedingungen der Vernunft anschaulicher zu machen. 116

„Unsere ratiomorphe Ausstattung leitet uns zum Weglassen und Hinzufügen an. Wir verhalten uns so, als ob man im Gleichen das Ungleiche weglassen sowie das vermeintlich Bekannte dem Wahrgenommenen hinzufügen dürfe. So lassen wir bei der Wahrnehmung eines (vermutlichen) Apfels die Unterschiede von Farbe und Größe ebenso unbedenklich weg, wie wir die Erwartung seiner Saftigkeit und Kerne hinzufügen. Wieder beruht der Selektionserfolg des Programms auf der Isomorphie mit einer Welt zumeist nicht beliebiger Kombinierbarkeit ihrer Merkmale [...]. Tatsächlich vermöchte kein Organismus ohne ein solches Programm zu überleben; ein Mensch nur unter Hospitalisierung. So trefflich das Programm der Welt entspricht, die Anleitung zum Weglassen und Hinzufügen führt in der rationalen Extrapolation zur Unterscheidung von Quantität und Qualität und folglich zu zwei Schwierigkeiten: nämlich bei der Wahrnehmung des Auftretens neuer Qualitäten und bei der Vorstellung, dass auch rein quantitative Änderungen das Auftretens neuer Qualitäten zur Folge haben müssen.“ (RIEDL, 1987, S. 271). 117

„Ratiomorph erwarten wir, dass gleiche Zustände oder Ereignisse dieselbe Ursache haben werden. Allerdings mit der einschränkenden Vorstellung unterlegt, dass solcherart Ursachen einen definitiven Anfang hätten, ein entgültiges Ende fänden und dass die Bahn zwischen den beiden einen distinkten (kanalisierten) Verlauf nähme. Daher reden wir ohne Zögern von Anstoß und Wirkung sowie von einer Ursachenkette, die wir uns meist in Form von Antrieben (Kraftübertragungen) versinnbildlichen, die – so meinen wir jedenfalls – mit Zwecken nichts zu tun haben. Die Isomorphie hängt mit dem Umstand zusammen, dass auch die Abfolgen von Zuständen und Ereignissen in unserer Mesowelt überwiegend von nicht zufälliger Natur sind. Das ist allerdings schon alles. Die Einschränkungen betreffen nachgerade irreführende Vereinfachungen. Erstens werden Materialursachen übersehen, zweitens Form- und Selektionsursachen als Finalität für Gegensätze der Kausalität gehalten. Drittens hat keine Ursachenkette definitive Anfänge und Enden; und viertens sind die Zusammenhänge in Wahrheit verzweigt und vernetzt, in einem Maße, dass letztlich jede Wirkung auf ihre eigene Ursache zurückwirkt“ (RIEDL, 1987, S. 273). „Ursachenbezügen zu folgen ist eine Bedingung aller Lebenserhaltung, Leben selbst ist Ursachenzusammenhang, und naturgemäß sind alle Lebensprozesse von den Abläufen der Reproduktion, des Stoffwechsels und der Sinne bis in die kompliziertesten, angeborenen Verhaltensmuster darauf bezogen. Nicht minder ist der assoziative Kenntnisgewinn, wie man sich erinnert, auf der Interpretation von Koinzidenzen (eigentlich Sukzidenzen) als eines Wenn-Dann-Zusammenhanges aufgebaut“ (RIEDL, 1990, S. 16). Folgen - „ersten Grades ist, dass wir uns der Komplexität zu entziehen trachten“ (RIEDL, 1990, S. 18) - „zweiten Grades ist, dass wir fast unfähig sind, mit komplexen Systemen systemgerecht umzugehen“ (ebd.). 118

Das Problem der Zwecke oder der Finalität „löst unsere ratiomorphe Erwartung mit der Annahme, dass gleiche Zustände oder Ereignisse demselben Zwecke dienten. Allerdings wieder mit einer gröblichen Vereinfachung, so, als ob Ziele und Zwecke den Dingen oder Handlungen vorgegeben wären, als ob sie aus einer Zukunft in unser Dasein wirkten und als ob ihre Setzung jeweils außerhalb der jeweiligen Dinge und Handlungen ihre independente Etablierung hätte. Die Isomorphie und damit der Selektionserfolg dieses Programms beruhen darauf, dass das, was wir als Zweck (Funktion oder Sinn) einer Sache erleben, tatsächlich vom jeweiligen Obersystem bestimmt wird; und dass (im Gegenlauf zu den Antrieben und Materialdispositionen aus den Untersystemen), auch aus den Obersystemen gesehen, die Kombinationen der Erhaltungsbedingungen überwiegend nicht von zufälliger Art sind. Aber wieder ist dies die Grenze der Isomorphie. Erstens entstehen alle Zwecke aus Auswahlbedingungen, also erst mit den Systemen, und zweitens hängt die Form einer Erhaltungschance nicht minder von der Disposition der verfügbaren Materialien ab [...]. Ergo sind Ziele und Zwecke nie independent von den Systemen, deren Zwecke sie beeinflussen“ (RIEDL, 1987, S. 274).

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Die vier Hypothesen können nach RIEDL als unreflektierter Alltagsverstand „erstaunliches“ (a.a.O., S. 36) leisten. Er geht davon aus, dass die Hypothesen die Menschen „im Rahmen dessen, wofür sie selektiert wurden, wie mit höchster Weisheit lenken“ (a.a.O., S. 37). Die Existenz des ratiomorphen Apparates kann an den Stellen bewusst gemacht werden, wo die angeborenen Hypothesen einer rationalen Logik widersprechen. RIEDL nennt dafür zum Beispiel die steigende Erwartung, dass eine bestimmte Zahl des Würfels eher fallen wird, wenn sie schon lange nicht mehr gewürfelt wurde. Probleme des ratiomorphen Apparates können sich bei dem Versuch ergeben, sich außerhalb des Rahmens zu bewegen, für den die Hypothesen selektiert wurden. Potenziert werden die Probleme, wenn sie aus einer Kombination der verschiedenen Hypothesen entstehen. Solche potenzierten Probleme sind nach RIEDL beispielsweise der Umgang mit Wirkungszusammenhängen vernetzter Systeme. Da hier kombinierte Wirkungen der Hypothesen wirksam sind, sind Menschen für diese Wirkungszusammenhänge besonders schlecht gerüstet119. Zu berücksichtigen ist, dass nicht alle Adaptierungsmängel heute ein Problem darstellen. Beispielsweise würde „unsere Unfähigkeit, Raum-Zeit-Kontinua vorstellen zu können“ (RIEDL, 1987, S. 269) nur dann sinnlich wahrnehmbar werden, wenn wir mit „annähernder Lichtgeschwindigkeit durch Dimensionen intergalaktischer Räume reisen“ (ebd.). Es gibt aber eine Reihe von Anschauungsformen, deren Fehldeutungen auf unserem Planeten relevant sind. „Sie betreffen Phänomene, die dimensionslos ihre Wirkung tun“ (a.a.O., S. 269f.). Wie gezeigt wurde, haben VOLLMER, RIEDL und TREML Überlegungen zur evolutionären Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit vorgelegt. Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze konnten Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Gemeinsam ist den drei Autoren, dass sie davon ausgehen, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit für den Mesokosmos der Erkenntnis evolutionär prädestiniert wurde. Sie stellen fest, 119

„Denn die erwähnten vier Probleme, die Welt anzuschauen, wirken ineinander. Folglich werden die Beispiele der Einzelproblematiken einigermaßen (vielleicht sogar höchst) abstrakt erschienen sein [...]. Viel lebensnäher sind dagegen ihre kombinierten Wirkungen. Ganz allgemein gehört hierher die Erfahrung, dass wir besonders schlecht gerüstet sind, die Wirkungszusammenhänge vernetzter Systeme zu begreifen. Eine Schwierigkeit, die zu alledem noch durch die lineare Struktur unserer Sprache angeführt wird. Aber freilich ist diese aus der Linearität unserer erblichen Anleitungen der Sprache entstanden, wie sie nicht minder auf unser Begriffsvermögen zurückwirkt“ (RIEDL , 1987, S. 275).

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dass an die Erkenntnisfähigkeit jenseits des Mesokosmos besondere Anforderungen gestellt sind. Darunter fällt die Auseinandersetzung mit räumlich weit entfernten Lerngegenständen wie die Fähigkeit des Lernens weltweiter Zusammenhänge. Die Erarbeitung von komplexen, vernetzten Systemzusammenhängen, die als eine dominante Lernherausforderung in Konzepten Globalen Lernens formuliert wird, setzt eine besondere Schulung der kognitiven Operationsmöglichkeiten im Vorstellungsund Abstraktionsraum voraus. Welche Probleme beim Umgang mit komplexen Systemen entstehen können, wurde durch (psychologische) Experimente anschaulich gezeigt.

3.1.3 Folgerungen für Globales Lernen: Teil 1 Vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse naturwissenschaftlicher Anthropologie können verschiedene weltweite Entwicklungen interpretiert und die Möglichkeiten des menschlichen Umgangs mit ihnen genauer beschrieben werden. Daraus lassen sich letztendlich Folgerungen ableiten, auf welche Weise durch Globales Lernen eine komplexe Problemlösefähigkeit gefördert werden könnte. 3.1.3.1 Komplexe Problemlösungsfähigkeit Der Umgang mit Komplexität ist eine Lernherausforderung, die in den meisten Konzepten Globalen Lernens formuliert wird. Unklar bleibt in den meisten Diskussionsbeiträgen (ausgenommen bspw. bei BÜHLER), auf welches Begriffsverständnis von Komplexität und Vernetzung sich die unterschiedlichen Autoren beziehen. Offen ist auch die Frage, warum in Konzepten Globalen Lernens begrifflich zwischen Komplexität und Vernetzung unterschieden wird, während in den vorgestellten psychologischen Untersuchungen beide Begriffe als miteinander vergleichbar dargestellt werden. Mit der vorliegenden Darstellung kann somit eine Präzisierung der Lernherausforderung versucht werden. Nach der Begriffsexplikation, die in Gliederungspunkt 3.1.1.1 vorgenommen wurde, scheint es naheliegend, die Begriffe der Vernetzung von Problemen und der Komplexität vergleichbar zu verwenden. Wenn die Kompetenzen im „Umgang mit Komplexität“ nach der vorliegenden Sammlung von Untersuchungsergebnissen zusammenfassend betrachtet werden,

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kann mit VOLLMER festgehalten werden, dass Menschen viel zu wenig auf die Aufgabe vorbereitet werden, Systeme zu steuern, die sie nicht durchschauen (vgl. VOLLMER, 1991, S. 1168). Eine Kompetenz im Umgang mit diesen undurchschaubaren Systeme sei in einer technischen und globalisierten Welt sowohl für ein alltägliches als auch für das berufliche Leben wichtig (vgl. ebd.). Die Förderung der Kompetenz im Umgang mit Komplexität wurde als Lernherausforderung in fast allen Konzepten Globalen Lernens nachgewiesen. Auch der Erkenntnistheoretiker VOLLMER schließt sich in diesem Punkt den pädagogischen Forderungen an, denn er hält es im Sinne der pädagogischen Überlegungen für notwendig, dass beispielsweise in Schule und Hochschule durch das Erlernen von vernetztem Denken und Handeln etwas tatsächlich Lebensrelevantes vermittelt wird. (vgl. ebd.). VOLLMER beschäftigt sich in seinen Überlegungen auch damit, auf welche Weise der Umgang mit Komplexität gefördert werden kann und kommt zu dem Schluss: „Es geht dabei weniger um Wissen als um Können, weniger um Theorie als um Praxis [...]. Der didaktische Auftrag geht dann nicht mehr dahin, alles durchsichtig zu machen; das ist ja leider unmöglich. Er lautet etwas subtiler: Bemühe dich um Anschaulichkeit und Verstehen, wo sie erreichbar sind! Wo sie nicht erreichbar sind, versuche, sie durch Analogien, durch Modelle, durch Kalküle und Algorithmen zu ersetzen! Beschränke dich jedoch nicht auf einfache, anschauliche, durchschaubare Sachverhalte, etwa auf lineare Systeme! Entwickle und lehre Strategien für den Umgang mit komplizierten, auch mit undurchschauten und undurchschaubaren Systemen!“ (VOLLMER, 1991, S. 1168). Was didaktisch den Lehrenden Globalen Lernens zur Vermittlung einer Problemlösekompetenz von komplexen Herausforderungen empfohlen werden kann, kann nach der vorliegenden Analyse des derzeitigen Forschungsstandes genauer formuliert werden120. In diesem Zusammenhang sei nochmals auf typische Merkmale von in

120

DÖRNER fasst den Nutzen seiner Untersuchungen folgendermaßen zusammen:

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komplexen Problemlösungsanforderungen erfolglosen und erfolgreichen Versuchspersonen verwiesen: Typische Fehler erfolgloser Versuchspersonen: - „lineares Denken, - lineare Extrapolationen, - lineare Prognosen, - Überwertigkeit des aktuellen Motivs, - Symptombehandlung, Ad-hoc-Maßnahmen, - Einkapselung der Versuchsperson, - Inkonsequenz, - Fluchttendenzen (Abweisen von Verantwortung), bis hin zur - Notfallreaktion (´alles auf eine Karte´), sogar - Gewaltanwendung“ (VOLLMER , 1991, S. 1167).

Typische Merkmale erfolgreicher Versuchpersonen: - „breites Wissen, - Vorrat an Strukturierungsprinzipien, - Selbstsicherheit (statt Angst), - Entscheidungsfreude, - bessere Einschätzung der Wichtigkeit von Problemen, - Bereitschaft, Hypothesen zu prüfen und zu korrigieren, - mehr und tiefere Warum-Fragen, - Fähigkeit, Unbestimmtheit zu ertragen“ (VOLLMER, 1991, S. 1168).

DÖRNER hat in frühen Veröffentlichungen (vgl. 1989, S. 305/308) empfohlen, durch Simulationsspiele am Computer das Verhalten zur Lösung komplexer Situationen zu trainieren. Eine allgemeine Übertragbarkeit von Kompetenzen, die in Computersimulationen gewonnen wurden, auf die Lösung von Problemen in der realen Welt ist aber bislang noch nicht fundiert nachgewiesen (vgl. FUNKE, 2003, S. 230). Über die Wirksamkeit von Trainingseinsätzen von Computersimulationen zur Herausbildung einer allgemeinen komplexen Problemlösungskompetenz können deshalb zum derzeitigen „Man kann daraus lernen, dass es notwendig ist, sich seine Ziele klarzumachen [...]. dass man nicht alle Ziele zugleich erreichen kann, da zwischen den Zielen Kontradiktionen existieren. Man kann also lernen, Kompromisse zwischen verschiedenen Zielen zu bilden. [...] dass man Schwerpunkte bilden muss, und zugleich, dass man Schwerpunkte nicht ewig beibehalten kann, sondern sie wechseln muss. [...] dass man beim Umgang mit einem bestimmten Gebilde sich ein ´Modell´ des Systems schaffen sollte, damit man die Neben- und Fernwirkungen von Maßnahmen nicht nur erleiden muss, sondern antizipieren kann. [...] wie man Informationen mit dem richtigen Auflösungsgrad sucht [...] was die Folgen einer allzu vorschnellen Reduktion aller Geschehnisse in einem bestimmten Bereich auf nur eine ´zentrale´ Ursache sind. [...] wie lange man Informationen sammeln und wann man damit Schluss machen sollte. [...] dass man mitunter zu ´horizontalen´ oder ´vertikalen´ Fluchtbewegungen neigt; und man kann lernen, sich in entsprechenden Situationen zu kontrollieren. [...] dass man mitunter nur deshalb etwas tut, weil man sich beweisen möchte, dass man etwas tun kann. Man kann daraus die Gefahren des unreflektierten Methodismus erlernen. Man kann daraus lernen, dass es notwendig ist, die eigenen Fehler zu analysieren und daraus Schlüsse für die Umorganisation des eigenen Denkens und Verhaltens zu ziehen“ (DÖRNER, 1989, S. 305f.).

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Zeitpunkt noch keine Aussagen getroffen werden. Vor diesem Hintergrund scheinen Forderungen, computersimulierte komplexe Szenarios zur Schulung von Kompetenzen im Umgang mit Komplexität einzusetzen, die in Konzepten Globalen Lernens formuliert wurden (vgl. SCHEUNPFLUG, 2000b, S. 324; SCHEUNPFLUG/ SCHMIDT, 2002, S. 133), verfrüht. Für weiterführende Hinweise für pädagogische Konzepte sind besonders Forschungsarbeiten interessant, die pädagogisch zugängliche Einflussfaktoren auf die Problemlösekompetenz untersuchen wie z.B. den Zusammenhang von Wissen oder von Übung auf die komplexe Problemlösungskompetenz. Zusammenfassend kann festgehalten werden:

-

Besonders in neueren Forschungsarbeiten wurde ein positiver Zusammenhang zwischen der Intelligenz und der komplexen Problemlösungsleistung belegt. Der festgestellte Zusammenhang zwischen Intelligenz und Problemlösungsfähigkeit deutet an, dass jegliches Lernen zum Umgang mit Komplexität hilfreich ist, das die Intelligenz von Lernenden fördert. Zur Schulung der Intelligenz sind keine speziellen Themen notwendig, die sich beispielsweise auf Armut in der Dritten Welt beziehen. Auch beispielsweise eine rein mathematische oder sprachliche schulische Ausbildung trägt hierbei zu einer Verbesserung bei. Die Schulung eines abstrakten Denkens zur besseren Bewältigung von komplexen Problemen, wie es zum Beispiel BÜHLER, TREML, S CHEUNPFLUG/ S CHRÖCK, SEITZ raten, erscheint vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse als relevante Möglichkeit, eine Verbesserung der komplexen Problemlösungsfähigkeit zu erreichen.

-

Versuchspersonen, die sich durch besondere Expertise über das System auszeichneten, waren in der Steuerung dieses Systems erfolgreicher als andere. Als Kriterium für Expertise wurde in den Studien eine Beschäftigung mit einem Fachgebiet mit mindestens 10000 Stunden angewendet. Alle skizzierten Untersuchungen konnten dabei nicht ausschließen, dass neben der Expertise der Versuchspersonen auch andere Faktoren für ihr besseres Abschneiden verantwortlich waren. Da eine Beschäftigung von

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10000 Stunden zeitintensiv ist, waren alle Experten beispielsweise erheblich älter als die Vergleichsgruppen in den Studien und wiesen dadurch auch andere Eigenschaften (wie z.B. Lebenserfahrung) auf. In den Untersuchungen von PUTZ-OSTERLOH (1987) und DÖRNER (1989) wurden als Experten Personen aus dem betriebs- und wirtschaftwissenschaftlichen Bereich (z.B. Manager) ausgewählt. Leider liegen keine Ergebnisse vor, wie Experten anderer Fachgebiete im Vergleich abgeschnitten haben.

-

Die in verschiedenen Untersuchungen vorgelegten Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Wissen über ein komplexes System und Steuerungsleistung dieses Systems sind nicht einheitlich. W ITTMANN u.a. (1996) stellten fest, dass z.B. deklaratives Sachwissen über ein System nicht hilfreich ist für den Umgang mit diesem System. PREUßLER (1998) dagegen zeigte einen positiven Zusammenhang zwischen Strukturwissen und Steuerungsleistung. Auch DÖRNER geht davon aus, dass es relevant ist, zu wissen, von welchen Variablen die Zielvariable kausal abhängig ist. Es ist hier weitere Forschungsarbeit nötig, um einen möglichen Zusammenhang fundiert zu klären. Wenn man den Forschungsergebnissen folgt, die einen Zusammenhang zwischen Wissen über ein System und Problemlösefähigkeit in diesem System feststellen, hat dies Konsequenzen für die Konzeptionen Globalen Lernens. Für Konzepte Globalen Lernens wäre es dann wichtig, in einem ersten Schritt die komplexen Probleme, deren kompetenter Umgang angestrebt wird, genau zu beschreiben und zugrundeliegende Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten.

-

In

unterschiedlichen Studien

wurden

verschiedene Trainingseffekte

nachgewiesen. Zu besseren Ergebnissen führte o eine wiederholte Bearbeitung der gleichen Simulation o eine Bearbeitung von verschiedenen Simulationen o die Anleitung zur Reflexion der eigenen Handlung o ein Denktraining (im induktiven Denken) bei Kindern. Keine positive Wirkung zeigten komplizierte Strategien der Belehrung. Aufgrund der aufgeführten Trainingserfolge wäre die logische Konsequenz für Konzeptionen Globalen Lernens, erfolgreiche Trainingsmethoden in

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das Methodenrepertoire aufzunehmen. Einschränkend ist aber nochmals darauf hinzuweisen, dass es bislang nicht fundiert nachgewiesen wurde, dass ein Training mit Computersimulation sich über die spezielle Simulation hinaus auch in verschiedenen realen Handlungsfeldern relevant niederschlägt. -

In manchen Konzepten (z.B. S EITZ, BÜHLER, FÜHRING, S ELBY) wird betont, dass die Einnahme von unterschiedlichen Perspektiven zuträglich zum Umgang mit global vernetzten Problemen sei. SELBY/ RATHENOW versteht unter Perspektivbewusstsein beispielsweise, dass die Schüler erkennen sollen, dass ihre eigene Perspektive nur eine von vielen Möglichen ist und dass andere Menschen andere Perspektiven haben. Aus dieser Vermittlung folge nach SELBY/RATHENOW die Entdeckung von globalen Zusammenhängen und eine selbstkritische Reflexion und Veränderung des eigenen Verhaltens. Die Auswirkung eines Perspektivenwechsels auf die komplexe Problemlösungsfähigkeit wurde in den vorgestellten Forschungsarbeiten nicht untersucht. Die vorliegenden Untersuchungen lassen diesen von S ELBY/RATHENOW geschilderten Prozess aber nicht als hauptsächlich zuträglichen Faktor für komplexes Problemslösen erscheinen.

3.1.3.2 Spezifizierung der Anforderungen Im

Folgenden

soll

betrachtet

werden,

welche

Anforderungen

die

Lernherausforderung „Einsicht in komplexe globale Zusammenhänge“ an die menschlichen kognitiven Fähigkeiten aus evolutionstheoretischer Sicht stellt. Nachdem in Gliederungspunkt 3.1.2 die Anforderungen an die menschliche Erkenntnisfähigkeit in verschiedenen Erkenntnisräumen bzw. -ebenen ausdifferenziert wurde, ist es zur Explikation von Lernherausforderungen gewinnbringend, diese den verschiedenen Erkenntnisebenen zuzuordnen. Dadurch wird verständlich, warum der Umgang mit unterschiedlichen Herausforderungen unterschiedlich schwer fällt. In vielen Konzepten Globalen Lernens wird eine differenzierte Darstellung nicht vorgenommen. Im Folgenden Absatz wird überlegt, welche Anforderungen durch globale Entwicklungen an das menschliche Denken in

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108

den unter Punkt 3.1.2 unterschiedenen Erkenntnisebenen gestellt werden. Hierzu hat TREML (2001) grundlegende Arbeiten veröffentlicht. TREML stellt fest, dass durch Globalisierung im konkreten Raum, dem Handlungsraum, eine Entgrenzung stattfindet (vgl. S. 196). Die Entgrenzung vollzieht sich mit wachsender technischer Entwicklung zunehmend schneller. Die Eindrücke, die Menschen heute sammeln können, haben sich stark gewandelt. Während sich die machbaren Erfahrungen über hunderttausende von Jahren auf das erlaufbare Umfeld begrenzt haben, ist über die Möglichkeit der Nutztierhaltung (Reittiere) zuerst eine langsame, dann über die Erfindung des Rades eine schnellere und im Zeichen der Industrialisierung eine mit allem davor Gewesenem unvergleichbare Möglichkeit und Chance entstanden, von dem weiter entfernten Raum Eindrücke zu sammeln. Für manche Menschen waren seit den 1960-er Jahren diese Möglichkeiten nicht einmal mehr auf den Planeten Erde beschränkt. Dabei haben sich nicht nur die menschlichen Fortbewegungsmittel verändert, sondern im selben Maße die Möglichkeiten, weit entfernte Gegenstände durch Medien wie Fernsehen und Zeitung in den Nahraum zu bringen. Es nehmen also sowohl die aktiven als auch die passiven Erfahrungsmöglichkeiten zu. Aus diesen Entwicklungen resultieren sich ständig schnell ändernde Lernanforderungen für die Menschen. So wird nach TREML der Vorstellungsraum „durch die vermehrten Erfahrungen des unbegrenzten Reisens, der räumlichen Mobilität, vor allem aber durch den zunehmenden Medienkonsum erheblich angeregt“ (a.a.O., S. 198). Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Art und die Menge der Wahrnehmungen, die im Vorstellungsraum der Menschen Eingang findet, im Laufe der Globalisierung erheblich gewandelt hat. Besonders groß ist nach TREML (vgl. a.a.O., S. 199) die Zunahme der Bedeutung der abstrakten Räume in der Weltgesellschaft, da „ohne die Deduktion fiktiver Systeme im abstrakten Raum [...] Technik gar nicht mehr denkbar“ (ebd.) sei. Dies zeigen auch die Untersuchungen von DÖRNER: Die erfolglosen Versuchspersonen zeigten, wie oben beschrieben (vgl. 3.1.1.3), verschiedene Fehler, die dem Abstraktionsraum zuzuordnen sind. Zu diesen von erfolglosen Versuchspersonen gezeigten Fehlern zählen die Linearität des Denkens, die Linearität bei Extrapolation und einer Linearität von Prognosen, aber auch die Tendenz, mit Ad-hoc-Maßnahmen nur Symptome

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zu behandeln. Genauso ist auch die Strukturierungsfähigkeit von Problemen und die Reflexionsfähigkeit von Hypothesen, die den erfolgreichen Versuchspersonen die Bewältigung von komplexen Problemen ermöglichte, einer adäquaten „Bewegungsfähigkeit“ im Abstraktionsraum zuzuordnen. TREML geht davon aus, dass sich „nur über Konstruktionen im abstrakten Raum [...] die technischen Systeme der Informationsvermittlung und des Güter- und Menschentransports entwickeln“ (ebd.) lassen. Die Fähigkeit für Konstruktionen im abstrakten Raum würden deshalb eine zentrale Rolle spielen. „Sie optimieren die Eigenkomplexität des Menschen, also die Fähigkeit, sich als eurökes Lebewesen an (relativ) beliebige Umwelten anpassen zu können und werden damit gewissermaßen der Motor der Globalisierung“ (ebd.). Nach der Argumentation der vorliegenden anthropologischen Übersicht erscheint es naheliegend, dass Menschen beim Umgang mit diesen Veränderungen vor große Lernherausforderungen gestellt werden.

3.1.3.3 Didaktische Perspektiven vor dem Hintergrund des Mesokosmos der Erkenntnis Wenn in Konzepten Globalen Lernens die Schulung der Erkenntnis von komplexen weltweiten Vernetzungen und von globaler Zusammenhänge angestrebt wird, dann ist dies über Lernen im konkreten Handlungsraum nur begrenzt möglich. Allein durch ein sogenanntes „Weltenbummeln“, also die konkrete Betrachtung in direkter oder medialer Vermittlung, können weltweite Vernetzungen zwar teilweise sinnlich erfahrbar gemacht werden, für eine konstruktive Verarbeitung sind aber andere kognitive Verarbeitungsebenen (Abstraktionsebenen) wesentlich. Die Berücksichtigung der naturwissenschaftlich anthropologischen Forschung im Bereich des Mesokosmos der Erkenntnis erlaubt bei der Bearbeitung der Lernherausforderungen Globalen Lernens eine präzisere Abschätzung der menschlichen Lernmöglichkeiten und Grenzen. Besondere Herausforderungen für die menschliche Erkenntnisfähigkeit können bei der Verarbeitung von Strukturen entstehen, die jenseits des Mesokosmos verankert sind. Laut VOLLMER „dürfen wir nicht erwarten, dass die

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Welt überall und durchweg dieselben Strukturen aufweist. In anderen Dimensionen können sich die Strukturen von den mesokosmischen erheblich unterscheiden. Deshalb kann unser Anschauungsvermögen dort versagen; unsere Anschauungsformen können nur näherungsweise gelten oder gänzlich unangemessen sein“ (VOLLMER, 1985, S. 79). Zu den „anderen“ Strukturen, die sich jenseits des Mesokosmos befinden, zählen meines Erachtens auch die globalen Problemzusammenhänge, mit denen sich Konzepte Globalen Lernens beschäftigen. Wenn Menschen in ihrer Erkenntnisfähigkeit auf den unmittelbaren Erfahrungsraum – den Mesokosmos – geprägt sind und ihnen deshalb die Verarbeitung von allem, was sich jenseits des Mesokosmos abspielt, schwer fällt, wird verständlich, warum man objektiv gesehen „unvernünftige“ Verhaltensweisen beobachten kann. So geht beispielsweise die Beziehung zwischen dem alltäglichen Autofahren und der steigenden Ozonbelastung oder zwischen den Billigprodukten im Supermarkt und den Lebensbedingungen in den Produktionsländern über den Mesokosmos der Erkenntnis hinaus und erscheint deshalb abstrakt, weit entfernt und damit für das eigene Verhalten konsequenzenlos. Dieser Zusammenhang wird treffend durch das Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ ausgedrückt. Vor besondere Schwierigkeiten werden die kognitiven menschlichen Möglichkeiten gestellt, wenn komplexe, d.h. vernetzte Probleme verarbeitet und gelöst werden sollen. Aus naturwissenschaftlich anthropologischer Sicht werden – wenn auch nur vereinzelt - Möglichkeiten zur Verbesserung der kognitiven Fertigkeiten umrissen. So meint RIEDL knapp: „im Prinzip ist jeder Anpassungsmangel unserer ratiomorphen Ausstattung und jede irrige Extrapolation zu korrigieren. Wir müssen lediglich, wie schon festgestellt, darauf achten, woran wir regelmäßig mit unseren Prognosen scheitern. So einfach ist dies im Prinzip, wie schwer aber in der Praxis“ (RIEDL, 1987, S. 276)121 122. 121

Auch in aktuelleren Texten äußert RIEDL sich ähnlich: „Dazu ist zu sagen, dass das Prinzip ebenso einfach wie schwer zu befolgen ist. Das Prinzip besteht darin zu erwarten, dass, wo immer wir regelmäßig an unseren Prognosen scheitern, etwas falsch sein muss. Die Schwierigkeit dagegen besteht in einer Art kollektiven Indolenz; nämlich darin, dass wir uns an das Scheitern schon allzu sehr gewöhnt haben, an das allgemeine Gewurstel der Zivilisation“ (1999, S. 42).

122

„Die Schwierigkeit, die es uns bereitet wahrzunehmen und, falls wahrgenommen, auch anzuerkennen, dass wir mit unseren Prognosen an der Erfahrung scheitern, hat mehrere Gründe. Zum einen spielt dabei die persönliche Unsicherheit eine Rolle (man redet auch von einem Mangel an Zivilcourage), zum zweiten die Gewöhnung. Es ist erstaunlich, wie sehr wir es akzeptieren, mit Unverstandenem und Widersprüchlichem zu leben. Offenbar sind wir schon von frühester Kindheit daran gewöhnt, von dem vielen Gehörten nur wenig zu verstehen [...].

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Es wurde gezeigt, das die menschliche Erkenntnis auf den Mesokosmos der Erkenntnis, d.h. den Nahbereich spezialisiert ist. In diesem Bereich ist anschauliches Denken und Lernen möglich. Die „Ad-hoc-Probleme“ wie z.B. die Nahrungssuche oder die Flucht vor einem Tier waren im prägenden Pleistozän alltägliche Anforderungen im unmittelbaren Handlungsraum des Menschen und wurden deshalb erfolgreich in der menschlichen Problemlösefähigkeit verankert. Alles, was sich jenseits des Mesokosmos abspielt, erscheint unanschaulich und abstrakt. Komplexe Probleme sind im unmittelbaren Handlungsraum nicht fassbar. Für ihre Lösung ist Abstraktion, die aus dem Handlungsraum herausführt, nötig. Aus didaktischer Perspektive erscheint es deshalb bei räumlich naheliegenden Lerngegenständen sinnvoll, diese soweit wie möglich im Mesokosmos zu belassen und ausgehend von im Mesokosmos gewonnenen Erkenntnissen weitergehende Abstraktionsniveaus anzustreben. Beispiel: Der Vorteil von Mülltrennung könnte in der vergleichsweise dicht besiedelten Bundesrepublik Deutschland anschaulicher und eindringlicher hervorgehoben werden, wenn ungetrennter Müll nicht regelmäßig einmal in der Woche von der Müllabfuhr abtransportiert werden würde und in einer begleitenden Unterrichtssequenz entsprechende zugrundeliegende Handlungen reflektiert werden würden. Wenn allerdings der Dreck regelmäßig und ohne weitere Auswirkungen aus dem Sicht- und Geruchsfeld der Akteure entfernt wird, wird einfaches und eingängiges Lernen erschwert123. Didaktisch geht TREML davon aus, dass es erfolgsversprechend ist, den phylogenetischen Lernprozesse (von der Bewegung im Handlungs-, Vorstellungs- und Abstraktionsraum) im ontogenetischen Lernprozess zu wiederholen (vgl. TREML, 2001, S. 196). TREML nennt als didaktisches Beispiel hierfür COMENIUS, der reale Gegenstände des konkreten Raums zuerst Bildern (Vorstellungsraum) und dann Begriffen (Abstraktionsraum) zuordnete (vgl. ebd.). Eine Didaktik Globalen Lernens kann hier Und zum dritten sind es Abhängigkeiten, die dazu beitragen, dass wir, fall wir unser Scheitern wahr-nehmen, dieses Scheitern doch nicht wahr-haben wollen (man redet hier von Zugzwängen)“ (RIEDL , 1987, S. 276f.). 123

Diese theoretische Überlegung bedarf selbstverständlich einer empirischen Überprüfung. Es sind natürlich auch Länder bekannt, in denen der Müll nicht regelmäßig abtransportiert wird und trotzdem kein höheres Umweltbewusstsein herrscht. Das Entstehen von Umweltbewusstsein hängt deshalb wahrscheinlich von vielen Faktoren ab: Faktoren können zum Beispiel die individuellen Hygiene- und Lebensstandards sein, die zwischen verschiedenen Ländern weltweit stark differieren. Meine Vermutung ist, dass bei hohen Hygiene- und Lebensstandards und gleichzeitig zunehmender Lebensraumknappheit die Vorteile von Mülltrennung durch Verbleib im Nahraum anschaulich motiviert werden könnten.

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von mathematikdidaktischen Grundprinzipien bereichert werden. Es wird hierbei vorgeschlagen, jede Begriffsbildung wenn möglich zuerst in der enaktiven (handelnden) Stufe zu beginnen, dann in die symbolische Stufe (Zeichnungen) überzugehen und erst als letzten Schritt die ikonische Stufe (Formel) anzustreben. Ein vorschnelles Überspringen einer Stufe zieht die Gefahr einer mangelnden Begriffsbildung nach sich (vgl. BRUNER, 1974; LEUTENBAUER, 2001, S. 14). Es wurde unter Gliederungspunkt 3.1.2.3 diskutiert, dass es Menschen möglich ist, den Mesokosmos als konkreten Nahbereich durch den Vorstellungs- und Abstraktionsraum zu übersteigen. Diese zwei weniger an reale Gegenstände gebundene Arten von Räumen gewinnen auch im Zusammenhang mit globalen Vernetzungen an Bedeutung. Es scheint zumindest theoretisch möglich, die globalen Vernetzungen, bzw. die globale Komplexität im Abstraktionsraum zu erfassen. Es ist aus didaktischer Sicht daher sinnvoll, die Bewegungsmöglichkeiten jenseits des konkreten Mesokosmos zu üben. Hierbei hat die Sprache eine wesentliche Grundfunktion, da nur die Sprache einen Austausch in diesen Erkenntnisräumen zulässt. In verschiedenen Konzepten Globalen Lernens (vgl. SELBY/RATHENOW ) wird empfohlen, die Gegensätze global und lokal in den Lernprozessen zu vermeiden. Nach den vorliegenden Erkenntnissen kann diesem Ratschlag nicht gefolgt werden. Die Unterscheidung in global und lokal muss bewusst gemacht und bewusst verwendet werden, um die positiven didaktischen Möglichkeiten der Verankerung von Lerngegenständen im Handlungsraum und eine anschließende Erweiterung auf die globale Ebene im Abstraktionsraum zu ermöglichen.

3.2 Erkenntnisse zum Umgang mit Zeit und Zukunft Im Folgenden Gliederungspunkt werden Möglichkeiten eines Umgangs mit Zukunftsbzw. Zeitaspekten aus naturwissenschaftlich anthropologischen Sicht diskutiert. Wie in Abschnitt 2.1.2 dargestellt, wird die Thematik einer Zukunftsorientierung in den meisten der im Teil 2 untersuchten Arbeiten als Lernherausforderung dargestellt. Da es bei komplexen Zusammenhängen schwierig ist, zukünftige Ereignisse in ihrer zukünftigen Gestalt vorauszusehen, stellt gerade auch diese Lernherausforderung eine

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kognitive Anforderung an den Menschen. Unter Zukunftsfähigkeit wird die Kompetenz verstanden, noch nicht Geschehenes gedanklich vorwegzunehmen und sein Verhalten danach auszurichten. Der Zukunftsaspekt wird in der vorliegenden Arbeit aus verschiedenen naturwissenschaftlich anthropologischen Perspektiven beleuchtet. In einem ersten Schritt werden verschiedene Forschungsergebnisse aufgezeigt, durch die menschliche Fähigkeiten im Umgang mit Zeitvariablen verdeutlicht werden können. Bei der Darstellung der Ergebnisse wird zwischen monotonen und nichtmonotonen zeitlichen Entwicklungen unterschieden. Wie sich die menschlichen Vorhersageleistungen sowohl bei monotonen wie auch bei exponentiellen und inkonstanten Entwicklungen – die in der realen Welt häufig anzutreffen sind - darstellen, ist durch verschiedene Untersuchungen empirisch belegt. Diese Ergebnisse werden diskutiert. Dabei werden auch verschiedene Erklärungsansätze aufgezeigt, die für die kognitiven Kompetenzen mit Zeitvariablen kennzeichnend sind. Zwei wesentliche Erklärungsmuster werden unter den Schlagworten Momentanextrapolation und Zentralideetendenz zusammengefasst. Wie sich zeigen wird, sind Prognoseleistungen und Zukunftseinschätzungen zum einen nämlich durch die Übertragung von Problemen der realen Gegenwart dominiert (Momentanextrapolation), zum anderen dadurch, dass die Zukunft analog zur Gegenwart konstruiert wird (Zentralideetendenz bzw. Strukturextrapolation). Eine wichtige menschliche Fähigkeit, die für den Umgang mit Zukunftsszenarien sehr bedeutsam scheint, ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Da aber Zukunft gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht sicher vorhersagbar ist, sind besonders die aufgezeigten Untersuchungen zu Wahrscheinlichkeitsabschätzungen bedeutsam. Zwei weitere Erklärungsansätze umfassen die „unbegründete Konstruktion von Zusammenhängen“ und die sogenannte „Falle des Kurzzeitdenkens“. Einschränkend muss aber schon hier darauf verwiesen werden, dass bei den für die vorliegende Arbeit unternommenen Recherchen zu diesem Forschungsbereich aus psychologischer Sicht nicht viele Veröffentlichungen gefunden wurden. Ich führe das darauf zurück, dass „der Umgang mit Zeitabläufen ein weithin unbeackertes Feld im Bereich der Kognitionspsychologie“ (S. 177) ist, wie DÖRNER 1985 festgestellt hat. Er benannte „psychologische Forschungen über die Psychodynamik der Entwicklung und Veränderung der Antizipation von Zukunft“ (S. 175f.) als

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„lohnendes und wichtiges Forschungsfeld“ (ebd.). Meiner Einschätzung nach hat sich trotz seiner Aufforderung zumindest in der deutschsprachigen Literatur die Zahl der Veröffentlichungen in den letzten 20 Jahren bis heute nicht stark erhöht. In einem zweiten Schritt wird diskutiert, in welcher Weise die Fähigkeit zum Umgang mit Zukunft in der menschlichen Erkenntnisfähigkeit adaptiert wurde. Dabei werden die grundlegenden erkenntnistheoretischen Überlegungen, die im Gliederungspunkt 3.1 zum Umgang mit komplexen Problemen dargestellt wurden, im Hinblick auf den Zeitaspekt pointiert. In einem dritten Schritt wird durch soziobiologische Überlegungen herausgearbeitet, dass aus genegoistischer Sicht ein „Einsatz“ für zukünftige Zeiten mit Abnahme des Anteils des eigenen weitervererbten Erbguts in seinen Nachkommen weniger „lohnt“. In einem vierten Schritt wird dargestellt und diskutiert, wie sich die Lernherausforderungen Globalen Lernens vor dem Hintergrund der aufgezeigten naturwissenschaftlich anthropologischer Untersuchungsergebnisse darstellen.

3.2.1 Kompetenzen bei zeitabhängigen Problemen aus psychologischer Sicht Naturwissenschaftlich anthropologische Arbeiten stützen ihre Aussagen über die menschlichen kognitiven Möglichkeiten im Umgang mit Problemen, die einen Zeitfaktor beinhalten, im besonderen auf empirisch fundierte Ergebnisse der psychologischen Forschung. In den vorliegenden psychologischen Forschungsarbeiten wird zwischen zwei Problemstellungen unterschieden, die mit Zeitfaktoren verknüpft sind. Einerseits Probleme mit einer monotonen, andererseits mit einer inkonstanten Entwicklungsrichtung. In psychologischen Arbeiten wird der Umgang mit Zeitfaktoren als ein spezieller Teil komplexer Szenarien untersucht und dargestellt. Der vorliegende Gliederungspunkt kann deshalb ergänzend zu Gliederungspunkt 3.1.1 betrachtet werden.

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3.2.1.1 Monotone exponentielle Entwicklungen Monotone exponentielle Entwicklungen sind dadurch gekennzeichnet, dass der Verlauf der Zu- oder Abnahme zwar konstant ist, die ursprünglich vorhandene Basis sich aber durch die Zu- oder Abnahme verändert. Dies geschieht dadurch, dass der Anteil, um den sich das beobachtete Objekt (Geld, Krankheit, etc.) vermehrt oder vermindert hat, nach einem bestimmten Zeitraum zu der Ausgangsbasis zugerechnet oder abgezogen wird. Die dadurch vermehrte oder verminderte Basis nimmt zwar prozentual im zweiten Beobachtungszeitraum nicht mehr zu als im ersten Beobachtungszeitraum, da aber die Basis im zweiten Beobachtungszeitraum nun größer oder kleiner ist, ist die Zu- oder Abnahme dementsprechend auch größer. Beliebte Beispiele, die in der naturwissenschaftlich anthropologischen Forschung beschrieben werden, sind u.a. Rechnungen mit Zinseszins und andere Wachstumsprozesse, wie zum Beispiel die Vermehrung von Seerosen oder die Produktionsentwicklung einer Firma. Die vorliegenden psychologischen Untersuchungen sind so angelegt, dass Versuchspersonen immer den zu erwartenden Verlauf von verschiedenen Entwicklungen schätzen sollen. Es werden deshalb hier rein kognitive Fähigkeiten der Versuchspersonen erfasst, da sie nicht handelnd tätig werden müssen. Zinseszins Bei Zinseszinsrechnungen muss berücksichtigt werden, dass die Zinsen einer Geldanlage am Ende eines Jahres zu dem angelegten Betrag dazugerechnet werden. Im nächsten Jahr ist also das Sparguthaben erhöht und auch der Zinsertrag ist dementsprechend für dieses Folgejahr höher. Mit jedem weiteren Jahr, in dem das Geld gespart wird, steigt der Gesamtbetrag deshalb exponentiell an. Mit Hilfe einer mathematischen Formel kann der Kapitalzuwachs relativ einfach und exakt berechnet werden. VOLLMER berichtet, dass aber, wenn das exakte Ergebnis der Sparanlage geschätzt werden soll, der langfristige Kapitalzuwachs regelmäßig unterschätzt wird. Die Unterschätzung sei umso größer, je länger der Zeitraum des Kapitalwachstums bei Zinseszins abgeschätzt werden soll (vgl. VOLLMER, 1991, S. 1162). VOLLMER führt diese langfristige Unterschätzung darauf zurück, dass eben gerade bei großen Zeiträumen die exponentielle Funktion des Zinseszins besonders deutlich wird. VOLLMER gibt in der zitierten Arbeit aber keinen Verweis auf die Quelle der von ihm genannten Untersuchungen.

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Seerosenverbreitung Ein weiteres Beispiel, an dem Schwierigkeiten der menschlichen Erkenntnis bei exponentiellen Entwicklungen deutlich werden können, findet sich bei DÖRNER: „In einem Teich mit einer Wasseroberfläche von 1300 Quadratmetern wächst eine Seerose. Zu Beginn des Frühjahrs hat sie ein Blatt. Ein Blatt hat eine Fläche von 100 Quadratzentimetern. Nach einer Woche hat die Seerose zwei Blätter. Nach der darauffolgenden vier. Nach sechzehn Wochen ist der halbe Teich bedeckt“ (DÖRNER, 1989, S. 161f.). Wird Versuchspersonen die Frage gestellt, wie viele Wochen es dann noch dauert, bis der ganze Teich bedeckt ist, haben nach DÖRNER (a.a.O., S. 162) viele Personen Schwierigkeiten, diese Aufgabe korrekt zu lösen124. Wenn nach sechszehn Wochen der halbe Teich bedeckt ist und die Seerosen die Zahl (und Fläche) ihrer Blätter in jeder Woche verdoppelt, wird sie nach einer weiteren Woche den ganzen Teich bedecken. DÖRNER begründet die schlechten Prognoseleistungen: „Wenn die Seerose immerhin 16 Wochen brauchte, um den halben Teich zu bedecken, so ist es nur schwer einzusehen, dass sie nun nur noch eine Woche braucht, um die andere Hälfte des Teiches zu überdecken“ (ebd.). DÖRNERS Ergebnisse sind ein gutes Beispiel dafür, dass es schwer fallen kann, in einer „Textaufgabe“ zwischen unwichtigen und wichtigen Informationen zu unterscheiden. Meine (M. H.) Vermutung ist, dass sich Versuchspersonen durch die Angabe der Flächengröße des Blattes und der Flächengröße des Teiches von den eigentlich zentralen Fakten der Aufgabenstellung (der wöchentlichen Flächenverdopplung und der Hälfte der bedeckten Seefläche nach 16 Wochen) abgelenkt wurden. Ich gehe davon aus, dass die Lösungsschwierigkeiten kleiner werden würden, wenn die Aufgabenstellung nur die zentralen Faktoren der exponentiellen Entwicklung beinhalten würde. Da DÖRNER den Versuch und die Auswertungen nicht detaillierter beschreibt, kann am vorliegenden Material diese These aber nicht überprüft werden125.

124

Leider finden sich bei DÖRNER keine weiterführende Hinweise auf Untersuchungen, die diese These stützen. 125

Ein weiteres von DÖRNER skizzierte Beispiel umschreibt eine ähnliche mathematische Aufgabe: Ein Erfinder wünschte sich als Entlohnung für seine Arbeit vom König soviel Reis, wie einem Schachbrett zugeordnet werden kann, „wenn man auf das erste Feld ein Korn, auf das zweite Feld zwei Körner, auf das dritte Feld vier Körner, auf das vierte Feld acht Körner usw. legen würde“ (DÖRNER , 1989, S. 162). Erst nach Berechnungen wurde dem König klar, dass er seine Bewilligung nicht erfüllen könnte, da auf das letzte Feld etwas 9223 372 036 000 000 000 Reiskörner entfallen würden, was ungefähr 153 Milliarden Tonnen Reis entspricht, „wenn man davon ausgeht, dass etwa 60 Reiskörner auf ein Gramm gehen“ (DÖRNER , 1989, S. 163).

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Prognoseleistungen der Wachstumsrate eines Traktorenwerkes Das Ergebnis der Aufgabe, ein 6-prozentiges jährliches Wachstum in der Produktion einer Traktorenfirma für einen Zeitraum von 100 Jahren zu schätzen, stellt sich folgenderweise dar126:

Die durchschnittlichen Ergebnisse der Schätzungen zeigte, „dass die Versuchspersonen das tatsächlich notwendige Wachstum stark unterschätzen“ (DÖRNER, 1989, S. 169). DÖRNER führt auch weitere Untersuchungen an (beispielsweise zur Prognose von Erdölfördermengen und Ausbreitung von AIDS), die zeigten, dass die Versuchspersonen im Durchschnitt das Wachstum stets unterschätzten (vgl. ebd.). Sind Experten die besseren Prognostiker? DÖRNER zeigt anhand von Prognosen für den Automobilbestand in Deutschland, dass ebenso wie Laien auch die meisten amtlichen Prognostiker in ihrer Voraussage fehlerhaft sind (vgl. 1989, S. 196f.). Die meisten Prognosewerte liegen unter der tatsächlichen eingetretenen Entwicklung127. 126

Abbildung entnommen aus: Dörner, 1989, S. 168

127

Die folgende Abbildung ist entnommen aus: DÖRNER, 1989, S. 196

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Interessant an den Fehleinschätzungen von Experten ist, dass diese – nicht so wie die Laien – sich nicht auf ihr “Gefühl” verlassen mussten, sondern auf verschiedene mathematische Wachstumsfunktionen zurückgreifen können. Selbst wenn die mathematischen Formeln eigentlich objektiv richtig sind, fließen gerade in die Auswahl aus den verschiedenen zur Verfügung stehenden Berechnungsmöglichkeiten subjektive Faktoren der Prognostiker ein, aus denen Fehler entstehen können.

3.2.1.2 Inkonstante Entwicklungsstrategien Neben Forschungsarbeiten zu monotonen Entwicklungen liegen auch Untersuchungen zu Entwicklungen vor, „die Richtungsänderungen aufweisen, also zum Beispiel schwingen oder plötzliche Kehrtwendungen zeigen“ (DÖRNER, 1989, S. 201). Weiterhin fallen in die Kategorie der inkonstanten Entwicklungsstrategien Systeme, in denen die Faktoren nicht unmittelbar, sondern zeitverzögert aufeinander reagieren. Die beschriebenen Untersuchungsmethoden zur Erforschung von menschlichen Fähigkeiten im Umgang mit inkonstanten Entwicklungen unterscheiden sich von den Untersuchungsansätzen von monotonen Entwicklungen, da die Versuchspersonen die Entwicklung von Variablen nicht mehr allein abschätzen, sondern steuernd beeinflussen sollen. Er werden neben kognitiven in diesem Forschungsbereich also auch manuelle Fähigkeiten untersucht.

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Das Kühlhausexperiment REICHERT (1988) stellte ein sogenanntes „Kühlhausexperiment“ vor. Hierbei waren die Versuchspersonen aufgefordert, mit Hilfe eines Stellrades die Temperatur eines Kühlhauses auf eine bestimmte Temperatur zu regeln. Die Versuchpersonen mussten dabei die genaue Wirkung des Stellrades auf den Kühlkreislauf (und somit auf die Temperatur) selber herausfinden. Die Herausforderung an dem System war, dass die Klimaanlage des Kühlhauses zeitlich nicht unmittelbar, sondern verzögert auf die vorgenommene Temperatureinstellungen des Stellrades reagierte (vgl. DÖRNER, 1989, S. 202). Solche Verzögerung sind in realen Systemen häufig vorzufinden. So wird beispielsweise die Raumtemperatur eines Zimmers nicht unmittelbar, sondern erst nach einiger Zeit durch einen Heizkörper auf die gewünschte Temperatur erwärmt, auf die der Heizungsthermostat eingestellt wurde (vgl. a.a.O., S. 203). DÖRNER stellt fest, dass die meisten Versuchspersonen davon ausgingen, dass sie durch das Stellrad die Temperatur unmittelbar beeinflussen konnten. Auf Dauer merkten die meisten Versuchspersonen aber den Irrtum ihrer Annahme und es gelang ihnen, die Temperatur im Kühlhaus über eine Periode von 100 Zeittakten hinweg dem vorgegebenen Zielwert anzunähern. DÖRNER beschreibt die Leistungsfähigkeit der Versuchspersonen aber trotzdem als unbefriedigend und nennt als „Ursache dafür [...] die geringe Fähigkeit, das `schwingende` Verhalten des Systems zu erfassen und angemessen zu berücksichtigen“ (a.a.O., S. 205). Auch FUNKE berichtet als Ergebnis dieser Untersuchung, dass zwar einerseits bei allen Beteiligten ein Lernerfolg im Umgang mit dem System festzustellen ist, aber nur wenige Versuchspersonen von zwei unabhängigen Beurteilern „in ihren Gesamtsteuerungsleistungen als erfolgreich bezeichnet“ (FUNKE, 2003, S. 188f.) werden. Räuber-Beute-Szenario Ein Beispiel für ein System, bei dem plötzliche Richtungsänderungen auftreten können, ist das „Räuber-Beute-Szenario“, das in biologischen Systemen beschrieben werden kann, in denen Räubertiere hauptsächlich von einer Beutetierart leben. DÖRNER (vgl. 1989, S. 213ff.) beschreibt dieses Szenario anhand der Populationsentwicklung von Luchsen und Karibus, FUNKE (vgl. 2003, S. 130ff.) nennt Füchse und Hasen. Beide Szenarien folgen einem ähnlichen Verlaufsschema. Die Räuber (Luchse bzw. Füchse) können sich auf Kosten der Beute (Karibu-Kälber) bzw. Ha-

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sen) so lange vermehren, bis die Beutepopulation aufgrund der immer zunehmenden Bejagung so stark dezimiert ist, dass keine ausreichende Futterquelle für die Räuber vorhanden ist. Dies hat zur Folge, dass die Räuberpopulation nun auch stark zurückgeht. Der Rückgang der Räuber gibt aber den Beutetieren wieder die Möglichkeit auf starke Vermehrung. Es entsteht ein zyklischer Verlauf, da sich bei ausreichenden Beutetieren nun auch die Räubertiere wieder solange vermehren können, bis sich die Futterquelle erneut vermindert128. Versuchspersonen bekamen in einem Experiment von PREUSSLER (1986) die Aufgabe, das Verhältnis von „Beute“- und „Räuber“-Population in einem fiktiven, aber dem eben beschriebenen ähnlichen Beispiel zu prognostizieren. Als Ergebnis stellte sich heraus, dass die Versuchspersonen wie auch bei den rein monotonen Aufgaben (Abschnitt 3.2.1.1) mit ihren Prognosen unter den tatsächlich eintretenden Werten lagen und zusätzlich von den plötzlichen Kehrtwendungen völlig überrascht wurden (vgl. DÖRNER, 1989, S. 219 u. S. 221). In einem weiteren von DÖRNER und PREUßLER (1990) vorgestellten Räuber-BeuteSystem hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, die Beutepopulation durch Steuerung der Räuberpopulation stabil zu halten. In dem Versuch wurden vier Faktoren manipuliert (die Rückmeldeverzögerung/ die Verzögerung der Eingriffe/ die Forderung einer Prognose/ der Zeitdruck) (vgl. DÖRNER/ PREUßLER, 1990, S. 205). Auch bei diesem Experiment stellte sich heraus, dass die Versuchspersonen Schwierigkeiten mit der Steuerung dieses zeitdynamischen Systems hatten. Besonders große Schwierigkeiten hatten die Probanden mit dem Faktor der Rückmeldeverzögerung. „Wenn eine um zwei Takte verzögerte Rückmeldung über den Systemzustand gegeben wurde, waren nicht nur die Entscheidungszeiten deutlich verlängert, sondern es kam auch zu größeren Sollwertabweichungen“ (FUNKE, 2003, S. 154). DÖRNER konnte zeigen, dass Versuchspersonen, die den Versuch in mehreren Zyklen wiederholten, ihre Prognoseleistungen verbesserten (vgl. DÖRNER, 1989, S. 221f.). Wie schon unter 3.1.3.1 diskutiert, ist Vorsicht angebracht im Hinblick auf die 128

D ÖRNER verweist bei der Beschreibung der Populationsentwicklung von Luchsen und Karibus auf die Arbeit von BERGERUD (1984). Von B ERGERUD wird nicht nur die zyklische Populationsentwicklung von Luchsen und Karibus beschrieben. In der artenarmen Säugerfauna Neufundlands sind die eigentlichen Hauptbeutetiere von Luchsen die Schneeschuhasen. Sobald die Hasenpopulation abnimmt, jagen Luchse auch Karibu-Kälber. Die Populationszyklen der beiden Beutetiere sind deshalb eng miteinander und mit ihrem Fressfeind gekoppelt.

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Übertragung der optimistisch stimmenden Ergebnisse der Erlernbarkeit des richtigen Umgangs mit Zeitvariablen aus den Experimenten auf die Realität, da in den Experimenten nahezu optimale und dadurch eher unrealistische Bedingungen geschaffen wurden. Beispielsweise hatten die Versuchspersonen „nur eine Aufgabe zu erledigen und wurden nicht durch andere Aufgaben von ihrer Prognoseaufgabe abgelenkt. Ein Teil der Versuchspersonen bekam die Informationen über die Entwicklung der „Beute“-Population mitgeliefert. Nach jeder Prognose bekamen sie die Rückmeldung über das Zutreffen oder Nichtzutreffen der Prognose, und sie bekamen den richtigen Wert“ (ebd.). Man kann davon ausgehen, dass es in der Realität erheblich schwieriger ist, Rückmeldungen über den Erfolg von Eingriffen in Systemen zu bekommen. DÖRNER gibt das Beispiel, dass in der Realität „der Bürger Zeitungsleser zum Beispiel [...] die Informationen über wirtschaftliche Entwicklungen, über die Entwicklung des Waldsterbens, über die Entwicklung der Ausbreitung von Epidemien usw. nicht kontinuierlich mit ständiger Korrektur [bekommt]. Vielmehr bekommt er sie häppchenweise. Es ist anzunehmen, dass er es dadurch noch erheblich schwerer hat also unsere Versuchspersonen, ein adäquates Bild von Entwicklungstendenzen zu gewinnen“ (ebd.). Noch dazu können in der Realität bei komplexen Zusammenhängen Steuerungsbefehle bzw. Inputs in ein System nicht nur von einzelnen Personen, sondern von einer Vielzahl gegeben werden. Auch kann angenommen werden, dass sich in einem realen System die verknüpften Faktoren nicht auf so wenige beschränken, wie es in den Simulationen gemacht wurde. Es ist anzunehmen, dass sich in der Realität diese zusammenwirkenden Faktoren potenzieren und die Anforderungen eines Umgangs mit diesen Systemen sehr hoch sind. Da selbst bei relativ einfachen Systemen – wie oben beschrieben – starke Schwierigkeiten der Versuchspersonen belegt werden konnten, sind in der Realität noch mehr Probleme zu erwarten.

3.2.1.3 Erklärungsansätze für den kognitiven Umgang mit Zukunftsperspektiven Im Folgenden werden fünf Faktoren beschrieben, die für den menschlichen Umgang mit Zukunft grundlegend sind. Dazu zu zählen sind die Momentanexploration, die Strukturexploration, die Strukturinversion, die unbegründete Konstruktion von Zu-

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sammenhängen und die Falle des Kurzzeitdenkens. Die fünf Faktoren können sich ergänzen und überlappen.

Momentanextrapolation Unter dem Begriff Momentanextrapolation wird der Einfluss von für eine Person gegenwärtig zentralen Erfahrungen auf die abzugebende Zukunftsprognose diskutiert. DÖRNER nennt als Beispiel ISAAC ASIMOV, einen Biochemieprofessor und Sciencefiction-Autor, der aufgrund der Ölknappheit von 1979 voraussagte, dass der Weltbedarf an Öl bereits im Jahr 1985 nicht mehr gedeckt werden könnte (vgl. DÖRNER, 1989, S. 160). ASIMOV hat mit seiner Prognose weit gefehlt. Auch im Jahr 2005 wird der Weltbedarf immer noch gestillt. Als weiteres Beispiel beschreibt DÖRNER die Einschätzungen von Befragten zum Verlauf der AIDS-Epidemie (vgl. 1985). Auch hier ist „die generelle Neigung von Menschen, nichtlinear ablaufende Wachstums- oder Zerfallsprozesse linear zu extrapolieren und damit massive Fehleinschätzungen in Kauf zu nehmen“ (FUNKE, 2003, S. 153f.) festzustellen. DÖRNER stellt zwei Faktoren fest, die in einer Momentanextrapolation verbunden sind. „Erstens die Einengung der Aufmerksamkeit des „Propheten“ auf das, was ihn augenblicklich positiv oder (meistens!) negativ stark anrührt, und zweitens die linear-monotone Fortschreibung der wahrgenommenen Entwicklung“ (DÖRNER, 1989, S. 160). Aus diesen zwei Faktoren folgen zwei Gefahren bei der Prognose: zum einen eine Überbewertung der aktuellen Umstände und zum anderen eine Ignoranz von exponentiellen oder auch inkonstanten Entwicklungslinien.

Strukturextrapolation Ein zweiter zentraler Faktor, der die menschlichen Fähigkeiten zur Vorstellung von Zukunft beeinflusst, wird durch den Begriff „Strukturextrapolation“ beschrieben. DÖRNER hält den Mechanismus der Strukturextrapolation für die Tendenz, sich neue und unbekannte Sachverhalte so vorzustellen wie entsprechende bekannte (vgl. DÖRNER, 1989, S. 190). Bei Planungen von Zukunft wird also auf bereits bekannte Komponenten und Relationen zurückgegriffen129. So erklärt DÖRNER den Sachver129

Der Strukturextrapolation kann eine sogenannte Zentralideetendenz zugrundeliegen. Diese „basiert auf einer „reduktiven Hypothesenbildung“ [...]. Sie besteht darin, dass ein Faktor zum eigentlich be-

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halt, dass die ersten Autos Pferdewagen mit Motor und ohne Pferde und anders für die Konstrukteure nicht vorstellbar waren (vgl. ebd.). Ein weiteres Beispiel für Strukturextrapolation ist die Entstehung des Blinkers an Automobilen. In den Anfänger wurden die Handzeichen der Fahrer durch „Winker“ ersetzt, erst eine weitere Entwicklung und Abstraktion ersetzte die (mechanisch störungsanfälligen) Winker gegen „Blinker“. Als dramatisches Beispiel für Strukturextrapolation nennt DÖRNER das Reiterregiment der „Ulanen“, das im ersten Weltkrieg sehr verlustreich gegen die mit modernen Kanonen und Maschinengewehren ausgerüsteten französischen Truppen kämpfte (vgl. a.a.O., S. 189). Anscheinend war es für die anführenden Offiziere nicht möglich, den verheerenden Verlauf des Kampfes vorauszusehen. Mit der heutigen Erfahrung könnte man aber die damaligen Befehle als Selbstmordkommando bezeichnen. Die Strukturextrapolation ist für DÖRNER „ein Beispiel für die geringe menschliche Fähigkeit, sich Zukunft, die strukturelle „Brüche“ enthält, vorzustellen“ (ebd.). Menschen scheinen für DÖRNER die starke Tendenz zu haben, sich „die Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart vorzustellen“ (ebd.). Strukturinversion DÖRNER nennt ergänzend zur Strukturextrapolation auch die Strukturinversion als mögliche Leitlinie einer Zukunftsvorstellung. Darunter bezeichnet er die Zukunftsvorstellungen, bei denen ein Mangel in einen Überfluss und ein Überfluss in einen Mangel verwandeln wird. „Aus zu viel Mühe und zu wenig Essen wird das Schlaraffenland mit geringer Mühe und viel Essen. Aus der Unterjochung und Einflusslosigkeit eines großen Teiles der Bevölkerung wird die Diktatur des Proletariats“ (a.a.O., S. 192.).

Die unbegründete Konstruktion von Zusammenhängen Ein weiterer Faktor, der die menschlichen Vorstellungen von Zukunft beeinflussen, ist eine intuitive Konstruktion von Zusammenhängen, die falsch sein kann. Als Beispiel nennt VOLLMER Roulette, Lotto oder Würfeln. Bei diesen Spielen sind die aufeinanstimmenden gemacht und der Rest des Weltgeschehens auf ihn bezogen wird“ (DÖRNER, 1989, S. 160f.).

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derfolgenden Wiederholungen vollkommen unabhängig voneinander. Trotzdem konstruieren laut VOLLMER Menschen beim Spielen intuitiv und fälschlicherweise Zusammenhänge nach dem Motto: „Weil schon so oft keine sechs gewürfelt wurde, wird die Sechs jetzt fallen“. Auch eine rationale Einsicht der Zusammenhangslosigkeit führt nach VOLLMER nicht zu einer Belehrung der Intuition. „An die Unabhängigkeit und Zufälligkeit der Ereignisse beim Glücksspiel kann sie sich einfach nicht gewöhnen. Anscheinend ist unser ratiomorpher Verrechnungsapparat, der vernunftähnlich, aber keineswegs immer vernünftig arbeitet, nicht in der Lage, sich auf unabhängige Zufallsereignisse einzustellen“ (VOLLMER, 1985, S. 126).

3.2.2 Die Zukunftsperspektive in der evolutionären Anpassung aus evolutionär erkenntnistheoretischer Sicht Durch die evolutionäre Erkenntnistheorie werden die im vorherigen Gliederungspunkt dargestellten Forschungsergebnisse in einem theoretischen Rahmen zusammengeführt. Wie in Abschnitt 3.1.2 ausführlich dargelegt, argumentiert die Evolutionäre Erkenntnistheorie, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit in Auseinandersetzung mit dem Mesokosmos bzw. dem Handlungsraum evolutionär entwickelt wurde. Der Mesokosmos wird in der evolutionären Erkenntnistheorie „als eine Welt der mittleren Dimension“ (VOLLMER, 1991, S. 1165) dargestellt. Detaillierter beschreibt VOLLMER den Mesokosmos als „eine Welt mittlerer Entfernungen, Zeiten, Gewichte, Temperaturen, eine Welt kleiner Geschwindigkeiten, Beschleunigungen, Kräfte, aber auch eine Welt von bescheidener Komplexität“ (ebd.) (vgl. 3.1.2.2). In VOLLMERS Beschreibung des Mesokosmos finden sich mit den Begriffen „Zeit“, „Geschwindigkeit“ und „Beschleunigung“ drei Variablen, die einen Zeitaspekt beinhalten und die die menschlichen Fähigkeiten im Umgang mit zeitverknüpften Aspekten begründen. VOLLMER davon aus, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit nicht durch weit in der Zukunft liegenden, sondern durch zeitlich nahe liegende Faktoren geprägt wurde. In der Welt des Mesokosmos spielen keine großen sondern kleine Geschwindigkeiten und Beschleunigungen die prägende Rolle. Mit kurzen Zeitabständen und langsamen, konstanten Veränderungen können Menschen in der Argumentation der Evolutionären Erkenntnistheorie deshalb am besten umgehen. Für die Einschätzung menschlicher Fähigkeiten im Umgang mit Zeit und Zukunft hat diese Aussage weitreichende Folgen. Wird die Anpassung an die unmittelbaren Le-

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bensherausforderungen konsequent interpretiert, wird die Schwierigkeit der Antizipation zukünftiger Ereignisse deutlich. RIEDL hält fest, dass „sich alle Kreatur nicht irgendwelchen Weltproblemen [adaptiert], sondern den meist viel einfacheren Lebensproblemen ihrer kleinen Welt. Nichts an kommender Lebensproblematik kann antizipiert werden. Nur den unmittelbaren Lebensanforderungen wird, mit zufälligen und manchmal erfolgreichen Mutationen, allmählich entsprochen“ (RIEDL, 1987, S. 268). Um die Lernherausforderungen Globalen Lernens vor einem naturwissenschaftlich anthropologischen Hintergrund differenziert betrachten zu können, hilft eine weitere begriffliche Unterscheidung von RIEDL. Er beschreibt zwei aufeinanderfolgende Arten von Evolution. Weltgesellschaftliche Probleme entwickeln sich nach RIEDL erst im Zuge der sogenannten zweiten Evolution. Die zweite Evolution entsteht durch das „Hellwerden des Bewusstseins, [...] der Sprache und der Tradierung von Kultur“ (RIEDL, 1987, S. 268). Diese zweite Evolution „gewinnt Wissen nicht in Jahrtausenden, sondern mit Glück und Geschick in Stunden. Sie speichert es nicht mehr in den Genen, sondern im Gedächtnis. Und wo sich früher ein neuer Versuch, der Erfolg einer Mutante, erst langsam im Genom einer Population durchsetzen musste, verbreitet sich nun eine Entwicklung wie ein Lauffeuer. Die erste Evolution, zwar in allem die Grundlage der zweiten, wird von der zweiten überrannt“ (RIEDL, 1987, S. 268f.). Auch die Herausforderungen, die heute durch Globalisierungsprozesse entstehen und als Lernherausforderungen in Konzepten Globalen Lernens diskutiert werden (vgl. Abschnitt 2.1), sind auf diese zweite Evolution zurückzuführen. Nach den Überlegungen VOLLMERS und RIEDLS erscheint der Mensch evolutionär schlecht dafür gerüstet, weit in der Zukunft liegende Perspektiven in seinen Überlegungen zu berücksichtigen. Allerdings gehe ich davon aus, dass in der evolutionären Entwicklung solche Leistungen belohnt wurden, die befähigten, verschiedenste Zukunftsszenarien zu bewältigen, d.h. prinzipiell zukunftsoffen zu sein. Lebewesen, die eingleisige Strategien verfolgen, sind durch überraschende Entwicklungen schneller selektierbar (Das wird zum Beispiel durch das Aussterben der Dinosaurier verdeutlicht). Für eine weiterführende Argumentation um den Mesokosmos der Erkenntnis kann auf den Gliederungspunkt 3.1.2 verwiesen werden. Zeitabläufe, die eine größere

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Zeitspanne umfassen, können im Nahbereich des Mesokosmos der Erkenntnis nicht mehr erfasst werden. Die menschlichen kognitiven Möglichkeiten liegen deshalb auch hier – wie auch im Umgang mit komplexen und globalen Problemen - im Vorstellungs- und Abstraktionsraum (vgl. 3.1.2.4).

3.2.3 Die Gegenwartsbezogenheit des Verhaltens aus soziobiologischer Sicht VOLAND bescheinigt den Menschen eine „exploitive Grundhaltung, momentane Ressourcenlagen maximal ausnutzen zu wollen“ (a.a.O., S. 145) und führt dies auf „ein tief in der menschlichen Naturgeschichte verwurzeltes Regulationssystem menschlichen Verhaltens zurück“ (ebd.). Da die Evolution „absolut ziel- und zukunftsblind“ (ebd.) sei, sieht VOLAND das Design von Organismen lediglich an aktuelle, nicht an zukünftige Problemlagen angepasst. Ein zweites, evolutionär entscheidendes Erfolgskriterium liegt nach VOLAND der menschlichen Grundhaltung zugrunde, bei der Nutzung von Ressourcen langfristige Vor- und Nachteil zu missachten. „Genetischer Reproduktionserfolg, das Maß aller Dinge im unendlichen Spiel der Evolution, beruht zu einem ganz wesentlichen Teil auf effizienter Ressourcenausnutzung – und zwar häufig in einem ganz einfachen linearen Sinn: Je mehr Ressourcen ausgebeutet werden können, desto höher fällt im Durchschnitt die reproduktive Fitness aus“ (ebd.). Auch EIBL-EIBESFELDT spricht von einer „Programmierung auf den Wettlauf im Jetzt“ (1998, S. 179) und hält diese Programmierung für die älteste Erbausstattung von Lebewesen. Er begründet das mit der Regel, „dass nur wer im Jetzt schneller läuft, das Rennen macht“ (ebd.). Aufgrund des alltäglichen Überlebenskampfes wurden die „altsteinzeitlichen Vorfahren mit einer gewinnmaximierenden, den Augenblick in opportunistischer Weise ausschöpfenden Natur ausgestattet“ (ebd.). Diese Erbausstattung ist auch heute noch für das menschliche Verhalten prägend: „Der moderne Mensch agiert ebenfalls in erster Linie opportunistisch-gegenwartsbezogen und gerät damit in die Falle des Kurzzeitdenkens, das langfristige, überlegte Planungen verhindert“ (ebd.). Diese aufgezeigten evolutionsgeschichtlichen Prägungen machen deutlich, dass eine Sorge um eine langfristige Zukunft eine nicht evolutiv verankerte menschliche Eigenschaft ist. Der Motivationsapparat von Menschen ist so eingerichtet, „dass wir schnell

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bereit sind, jetzt kleine Vorteile anzunehmen, selbst wenn diese später hohe Kosten verursachen könnten. Und umgekehrt: Wir sind nur schwer zu motivieren, jetzt kleine Kosten in Kauf zu nehmen, selbst wenn dadurch große Kosten zu einem späteren Zeitpunkt vermieden werden könnten“ (VOLAND, 2000b, S. 146). VOLLMER nennt diese Problematik unter Berufung auf EIBL-EIBESFELDT (1998) das Dilemma der Falle des Kurzzeitdenkens: „Die Vernunft mahnt uns zu mittel- und langfristigem Planen, zur Nachhaltigkeit; aber wir richten uns nicht danach. Größere Zeiträume können wir nicht überblicken, das Übermorgen verschwindet hinter dem Morgen. Immer noch wählen wir jene Politiker, die uns für das nächste Jahr Wohlergehen versprechen“ (VOLLMER, 2001, S. 25). In der soziobiologischen Betrachtungsweise von VOLAND hängt die Bereitschaft eines Organismus, kurzfristig kleine Kosten zu übernehmen, um langfristig große Kosten zu vermeiden, davon ab, wie wahrscheinlich „der Organismus die späteren Zeiträume auch tatsächlich erlebt, und dass somit die entstehenden [Anmerkung M.H.: großen] Kosten auch tatsächlich von ihm zu entrichten sind“ (ebd.). Die Zeitspanne des genegoistischen Interesses ist aber nicht allein auf die Lebensspanne des Individuums beschränkt. „Weil nämlich im Gegensatz zu den kurzlebigen Individuen das ´egoistische Gen´ als potentiell unsterbliches Medium der Evolution eine Chance hat, in die nächste Runde des Evolutionsspiels versetzt zu werden, sind phylogenetisch Verhaltensangepasstheiten entstanden, die durchaus zu generationenübergreifender Vorsorge führen können“ (a.a.O., S. 147). In dieser Argumentation schreibt auch EIBL-EIBESFELDT: „Dem ´Nach uns die Sinnflut´ kann schließlich unser affektiv betontes Interesse am Schicksal unserer Kinder abhelfen“ (1996, S. 128). Da jedes Allel aber nur eine 50% Chance auf Weitergabe hat, beschränkt sich die Sorge um die Zukunft nach VOLAND aber insbesondere auf den Zeitraum, in dem ein Individuum sowie die von ihm selbstgezeugten Nachkommen (als Ausdruck der sogenannten „direkten Fitness“) leben und nicht um erheblich fernere Zeiten. Interessante weitere Aspekte zur Gegenwartsbezogenheit des menschlichen Verhaltens finden sich in der englischsprachigen Diskussion unter den Stichwörtern „discounting“ oder auch „time preferences“. Auf eine Auswertung dieser Arbeiten wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet, da aus meiner Sicht die wesentliche Argumentationslinie schon durch das bisher vorgestellte Material herausgearbeitet werden

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konnte. Für weiterführende Verfeinerungen der Überlegungen sei deshalb verwiesen auf ROGERS (1997) und W ILSON u.a. (1998). Weitere Überlegungen Aus evolutionstheoretischer Sichtweise ist es auch eine interessante Frage, für welche Art von Zukunft und für welche Zeitspanne der Mensch überhaupt gerüstet sein soll (vgl. VOLAND, 2000b, S. 137). Die Frage führt über eine naturwissenschaftliche Anthropologie hinaus und schließt an die ethische Diskussion der Begründung von Normen an. Aus evolutionstheoretischer Sicht ist die evolutionäre Entwicklung und somit alles Leben „eine einzige Abfolge von Veränderungen, und wer die betrachteten Zeiträume gedanklich staucht, wird behaupten können, Naturgeschichte sei eine einzige Abfolge von Katastrophen“ (ebd.). Es ist aus evolutionärer Perspektive nicht möglich, vorherzusagen, wie sich die Welt entwickeln wird und auch nicht, wie sie sich entwickeln soll. „In der Natur gibt es keine Stasis. Der vielgebrauchte aber häufig missverstandene Begriff des ´ökologischen Gleichgewichts´ bezeichnet den momentanen Status eines dynamischen Fließgleichgewichts, keineswegs jedoch – wie einige Naturidealisten es sehen möchten – ein harmonisierendes Lebensprinzip, das offensichtlich nur durch den Menschen, den bedauerlichen Amokläufer der Evolution gestört wird. Stabilität ist biologisch nicht normal. Was aufgrund unseres eingeschränkten Wahrnehmungsfensters als ökologisch stabil erscheinen muss, lässt sich besser als Ausdruck einer relativ gebremsten Dynamik verstehen“ (a.a.O., S. 137f.). Die Maßstäbe einer ethischen, zukunftsorientierten Bildung können nicht aus evolutionstheoretischen Erkenntnissen abgeleitet werden. Der Versuch, vom Sein auf das Sollen zu schließen, wurde bekanntlich als sogenannter „naturalistischer Fehlschluss“ diskutiert und als unzulässig beschrieben.

3.2.4 Folgerungen für Globales Lernen: Teil 2: Umgang mit Zeit und Zukunft vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse In Konzepten Globalen Lernens wird die Lernherausforderung „Zukunftsfähigkeit“ formuliert. Dabei geht es darum, dass Menschen ihr aktuelles Handeln unter Berücksichtigung von zukünftigen Auswirkungen gestalten sollen. Die ethische Diskussion um die inhaltliche Bedeutung von Zukunftsfähigkeit wird in der vorliegenden Arbeit

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nicht geführt. Es wird die Frage von menschlichen Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit Zukunft untersucht. Die Lernherausforderung ist aus naturwissenschaftlich anthropologischer Perspektive keine einfach zu lösende Lernaufgabe. Wie gezeigt wurde, erschweren evolutionär verankerte „Handicaps“ den Umgang mit Problemen, die in weiter Ferne liegen. VOLLMER fasst die dargestellten Erklärungsmuster prägnant zusammen: Die Menschen „neigen dazu, die Welt für konstant und ewig, die Umwelt für langfristig unveränderlich oder wenigstens für zyklisch, große Vorräte für unerschöpflich, gepufferte Systeme für beliebig belastbar zu halten“ (VOLLMER, 1991, S. 1162). Im Folgenden werden parallel zu Gliederungspunkt 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3 Perspektiven für die Möglichkeit einer Zukunftsfähigkeit aus soziobiologischer, evolutionär erkenntnistheoretischer und psychologischer Perspektive dargestellt. Folgerungen aus soziobiologischen Überlegungen Die soziobiologischen Überlegungen skizzieren menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen als nutzenmaximierend angelegt. Auch wenn es langfristig rational sinnvollen Überlegungen widerspricht, nutzen Menschen kurzfristig leicht zu erzielende Gewinne, um für den Wettkampf im Hier und Heute gerüstet zu sein. Diese evolutionäre Anpassung entwickelte sich aufgrund von Bedingungen, die im prägenden steinzeitlichen Lebensumfeld vorhanden waren. Damals sicherte eine bestmögliche Ausnutzung der Lebensressourcen das eigene Leben und erhöhte die Chancen auf Reproduktion. Das Verantwortungsgefühl für zukünftige Entwicklungen scheint zeitlich mit der Zunahme der Generationenzahl und der damit zusammenhängenden Abnahme des Verwandtschaftsgrades abzunehmen. Deshalb sind langfristige Überlegungen für individuelles Verhalten weniger bedeutend. Trotzdem sind Menschen keine suizidgefährdete Spezies. Zeiträume, die das eigene Leben betreffen und auch das der zumindest unmittelbaren Nachkommen, können verhaltensrelevant sein130. 130

Aber auch Gefahren, die langfristig das individuelle Leben bedrohen, haben keine zwingende Auswirkung auf das individuelle Verhalten. Obwohl zum Beispiel bekannt ist, dass durch Rauchen die individuelle Lebenserwartung durchschnittlich um etwa 13 Jahre reduziert ist, hält dieses Wissen viele Menschen nicht vom Rauchen ab. Anscheinend ist die Bedrohung zu weit entfernt und zu wenig vorstellbar, als dass sie verhaltensrelevant wird. Wie die Diskussion um aromatisierende Zusatzstoffe im Jahr 2005 gezeigt hat, bemühen sich verschiedene Tabakkonzerne auch besonders darum, kurzfristige negative Folgen von Rauchen durch Zugabe von Zusatzstoffen zu vermindern. So kann davon ausgegangen werden, dass weniger Menschen mit Rauchen beginnen würden, wenn beispielsweise eine Zigarette aus reinem Tabak bestehen würde. Dieser würde vermehrt zu Kratzen und Brennen im Hals führen, d.h. durch kurzfristig negative Folgen das Rauchen unattraktiver machen. Die politischen Bestrebungen, Zusatzstoffe

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Unmittelbare Lebensbedrohungen machen Verhaltensanpassungen wahrscheinlich. Für die Lernherausforderung „Zukunftsfähigkeit“, die in Konzepten Globalen Lernens formuliert wird, kann daraus gefolgert werden, dass es wichtig ist, Folgen von Handeln unmittelbar dem Handelnden rückzumelden. VOLAND stellt zum Beispiel hinsichtlich eines ökologieverträglichen Verhaltens, das auch einen Teilbereich Globalen Lernens darstellt, fest: „Die Bereitschaft zum Naturschutz wird deshalb umso wahrscheinlicher entstehen, je zeitlich enger und genetisch dichter Kosten und Nutzen der Naturnutzung zusammenfallen“ (VOLAND, 2000b, S. 148). Wichtig erscheint es deshalb im Sinne Globalen Lernens, vorhandene Techniken zu nutzen, die Folgen von Handeln direkt und möglichst wenig zeitverzögert widerspiegeln. So ist beispielsweise die im Jahr 2005 in Deutschland geführte Debatte um gesundheitliche Schäden von Feinstaub erst in dem Moment heftig entbrannt, als die unmittelbare Rückmeldung von der alltäglichen gesundheitlichen Belastung über Messstationen möglich war und genutzt wurde. Der Gebrauch von FCKW-haltigen Spraydosen konnte gemindert werden, nachdem der unmittelbare Zusammenhang auf die Verringerung der Ozonschicht diskutiert wurde und die damit verbundene Minderung von individueller Lebensqualität deutlich wurde. Oftmals sind die Folgen überhaupt nicht direkt individuellem Handeln zuzuordnen. Dies erschwert Lernen. Beispielsweise ist es möglich, Bewohner eines Einfamilienhauses mit einer eigenen Mülltonne für konsequente Mülltrennung zu belohnen und dadurch für ein ökologisch sinnvolles Handeln zu belohnen. In Wohnblocks, in denen viele Wohnparteien anonym dieselben Müllcontainer verwenden, ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Die Anonymität erschwert Versuche einer Einflussnahme. Manche Probleme entstehen erst aus der Kumulation von ähnlichen Handlungen verschiedener Personen. Trotzdem trägt jedes der beteiligten Individuen eine eigene Mitschuld. Für das Lernen einer Zukunftsfähigkeit im Sinne von Globalem Lernen ist es wichtig, den Handelnden die Bedeutung der individuellen Handlungen widerzuspiegeln. Selbstverständlich sind die pädagogischen nur ein Teil der vielen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Eine unmittelbar spürbare Rückmeldung von langfristig negativem Verhalten wäre z.B. über gesetzliche Regelungen und Bestrafungen oder über politische Regelungen und Belohnungen möglich. für Zigaretten zu verbieten, können deshalb auch aus der vorliegenden theoretischen Perspektive für sinnvoll bewertet werden, um Menschen vor den langfristigen Folgen von Rauchen zu schützen.

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Durch Institutionen wie beispielsweise das Recht ist es möglich, die individuellen Folgen von Handlungen dem Individuum umgehend aufzuzeigen, auch wenn die tatsächlich zu erwartenden negativen Folgen der Handlungen erst viel später eintreten werden. Gesetzliche Reglementierungen können zum Beispiel durch Strafe die Spätfolgen von aktuellem Handeln umgehend spürbar machen. Neben der Möglichkeit der Bestrafung von Handlungen, die einen negativen Anreiz darstellen, können auch umgehend erfolgende Belohnungen einen positiven Anreiz darstellen, langfristige Kosten für zukunftsgerechtes Verhalten in Kauf zu nehmen. Deshalb erscheint in der Debatte um die Senkung des oben angesprochenen Feinstaubs der Vorschlag sinnvoll, die freiwillige Nachrüstung von Automobilen mit Feinstaubfiltern durch Steuernachlässe zu begünstigen. Dadurch wird eine langfristig sinnvolle Investition mit einem unmittelbaren Nutzen verknüpft, der zu Handeln anreizen kann. Eine weitere Bedeutung kann der Öffentlichwirksamkeit von Auszeichnungen zukommen. Wie im Gliederungspunkt 3.3.2.3 dargestellt wird, kann sich die durch dadurch bewirkte Prestigeakkumulation verhaltenssteuernd auswirken. Eine Belohnung von wünschenswertem Verhalten ist für Konzeptionen Globalen Lernens eine wichtige didaktische Möglichkeit. Dadurch werden unmittelbare Vorteile von bestimmten Verhaltensweisen aufgezeigt. Folgerungen aus evolutionär erkenntnistheoretischen Überlegungen Da die menschlichen Möglichkeiten zum Umgang mit Zeitfaktoren nach der Interpretation der evolutionären Erkenntnistheorie durch den Mesokosmos der Erkenntnis geprägt sind, ist für eine Interpretation auf den Gliederungspunkt 3.1.3.3 zu verweisen. An den angegebenen Stellen wurde ein theoretischer Bezug des Mesokosmos der Erkenntnis auf die Lernherausforderungen Globalen Lernens dargestellt. Im Folgenden soll deshalb auf eine Wiederholung verzichtet werden. Es werden einige spezifische Ergebnisse für den Umgang mit Zeitfaktoren pointiert, die von VOLLMER und RIEDL angedeutet werden. VOLLMER hat die menschliche Neigung dargestellt, sich „am kurzfristigen Erfolg zu orientieren“ (2001, S. 27). VOLLMER nennt als Möglichkeit der Änderung dieser Neigung, dass es den Menschen möglich ist, die Zukunft auszumalen und dadurch in die Gegenwart zu holen (vgl. ebd.). Auf diese Weise wäre es möglich, „den Zeithorizont auszudehnen“ (ebd.). Wie genau diese „Ausdehnung des Zeithorizontes“ (ebd.) möglich sein könnte, beschreibt VOLLMER nicht. Er illustriert seine Überlegung aber

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mit dem Beispiel eines Bergsteigers, der aus Erfahrung weiß, „wie gut er sich fühlen wird, wenn er erst einmal auf dem Gipfel steht, und wie stolz er sein wird, wenn er auf dem Gipfel war“ (ebd.). Die Möglichkeit der Vorstellung eines zukünftigen Sachverhaltes ist kognitiv im Vorstellungs- und Abstraktionsraum (vgl. 3.1.2.3) gegeben. Durch den Vorstellungsraum ist es Menschen möglich, den realen Nahraum zu verlassen und Zukünftiges gedanklich vorwegzunehmen bzw. in verschiedenen Alternativen vorzustellen. Im Abstraktionsraum der Sprache können diese Vorstellungen auch zwischen Menschen ausgetauscht werden. Für eine Didaktik Globalen Lernens bedeutet dies, dass es wesentlich ist, Operationen im Vorstellungs- und Abstraktionsraum zu üben. Wie gezeigt wurde, unterscheidet RIEDL zwischen einer sogenannten ersten und einer zweiten Evolution. Die zweite Evolution konnte nach RIEDL aufgrund von Bewusstein und von Sprache geschehen. Grundlegend ist also auch hierfür die Entstehung eines Vorstellungs- und Abstraktionsraumes. RIEDL geht davon aus, dass die sogenannten neuen Lebensprobleme, zu denen auch die zukünftigen Fernwirkungen von aktuellem Handeln gezählt werden können, mit der ratiomorphen Ausstattung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht ausreichend im voraus erfasst werden können. RIEDL sieht aber die Möglichkeit, die in seinen Augen unveränderlichen adaptierten Anschauungsformen (vgl. 3.1.2.4) durch beispielsweise Erfahrung zu verbessern. RIEDL kommt zu dem Fazit: „Für diese neuen Lebensprobleme aber, so behaupte ich nun, sind unsere alten Anschauungsformen, jene Entscheidungshilfen unserer Vernunft, nicht geschaffen. Und wo die Prognostik, die sie uns suggerieren, regelmäßig an der Erfahrung scheitert, dort sollen wir sie übersteigen. Ja, wir werden sie korrigieren müssen, weil sie Lebensprobleme betreffen, die Existenzprobleme einschließen. Es ist wieder nur ein weiterer Adaptierungsschritt, den uns die Evolution

abverlangt.

Nunmehr

eine

Adaptierung

unzureichend

adaptierter

Anschauungsformen: die genetisch zwar nicht mehr änderbar sein werden, aber korrigierbar durch Erfahrung. Was für die Evolution nur ein kleiner Schritt sein mag, für unsere Spezies kann er ein Überlebensproblem betreffen, wo immer Lebensprobleme Existenzprobleme berühren“ (RIEDL, 1987, S. 269).

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Für Konzeptionen Globalen Lernen kann deshalb vorgeschlagen werden, dass es didaktisch sinnvoll ist, Bewegungen im Vorstellungs- und Abstraktionsraum zu üben. Solche Übungen sind dabei nicht fachspezifisch. Operationen in den unterschiedlichen Erkenntnisräumen können anhand verschiedenster Themen geübt werden. Eine diesbezügliche Schulung ist deshalb nicht auf Themen Globalen Lernens beschränkt. Eine (vielleicht sogar besondere) Bedeutung kann den naturwissenschaftlichen Fächern zukommen. Die Handlung mit abstrakten Formeln in Mathematik oder Chemie kann der Schulung eines theoretischen und abstrakten Denkens dienen. Für Konzepte Globalen Lernens scheint es wichtig zu sein, nicht bei einer Veranschaulichung von komplexen Problemen zu stagnieren, sondern auf die Erarbeitung der dahinterstehenden komplexen Bedingungen hinzuwirken. Auch der dargestellten Gefahr der „Momentanexploration“, d.h. der Überbewertung eines aktuell drängenden Motivs und seine monotone Ausweitung, kann durch Übung jenseits des Mesokosmos der Erkenntnis entgegengewirkt werden. Ich vermute, dass durch eine möglichst fundierte Analyse des Ist-Zustandes unter Berücksichtigung möglichst vieler Faktoren einer Momentanexploration entgegengewirkt werden kann. Die Abwägung verschiedenster Faktoren kann aber eben nicht im Mesokosmos, sondern nur im Vorstellungs- und Abstraktionsraum vollzogen werden. Auch die Überwertigkeit von monotonen Extrapolationen kann durch Vermittlung von vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Erst mit einem Fundus von verschiedensten Möglichkeiten können Lernende die intuitiv naheliegenden zugunsten von realitätsnäheren, aber nicht naheliegenden Folgerungen vermeiden. Folgerungen aus psychologischen Erkenntnissen Die im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigten Untersuchungen machen deutlich, dass den meisten Versuchspersonen der Umgang mit Aufgaben, die einen Zeitfaktor beinhalten, schwer fällt. Die Einschätzung von Verlaufslinien ist aus Sicht der Lernherausforderung Zukunftsfähigkeit aber sehr wichtig, da nur durch eine möglichst genaue Abschätzung von Entwicklungen ein adäquates Handeln möglich erscheint. Solange die Folgen von aktuellem Handeln nicht abschätzbar sind, erscheint verantwortungsbewusstes zukunftsfähiges Handeln im Sinne Globalen Lernens als nicht möglich.

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134

Sowohl bei monotonen als auch bei nichtmonotonen Entwicklungen zeigte sich, dass Versuchspersonen Probleme im Umgang mit Zeitfaktoren haben. Diese Fehleinschätzungen stützen die unter Gliederungspunkt 3.1.2.2 gezeigten evolutionären kognitiven Angepasstheiten der Menschen an den Nahbereich im Mesokosmos der Erkenntnis. Die aufgezeigten Untersuchungsergebnisse zur Einschätzung von Wachstumsraten bei monotonen exponentiellen Entwicklungen wie beispielsweise Zinseszinsrechnungen konnten zeigen, dass Menschen diese Entwicklungen stark unterschätzen. DÖRNER geht deshalb davon aus, „dass zum Beispiel der normale Zeitungsleser, dem ein Artikel mitteilt, die Waldschäden nähmen jährlich um 20 Prozent zu, die tatsächliche Information dieser Nachricht überhaupt nicht versteht. Er glaubt zu verstehen, aber er versteht nicht“ (DÖRNER, 1989, S. 169). Für Konzepte Globalen Lernens können aus dieser Erkenntnis verschiedene Folgerungen gezogen werden. Zum einen können Schätzübungen und Übungen mit Überschlagsrechnungen helfen, menschliche Prognoseleistungen zu verbessern. Darüber hinaus kann die Vermittlung von Auswahl und Anwendung von mathematischen Formeln die Prognostik berichtigen. Immer werden aber Wahrscheinlichkeitsabschätzungen eine Rolle spielen und die Prognoseleistungen beeinflussen. Auch bei Versuchsbedingungen, in denen die Versuchspersonen nichtmonotone Entwicklungen steuern sollten, stellte sich heraus, dass die Probanten im Durchschnitt große Schwierigkeiten hatten, die Folgen ihres Handelns realistisch einzuschätzen. DÖRNER konnte zeigen, dass durch eine Wiederholung der Versuche eine Verbesserung der Leistungen der Versuchspersonen erzielt werden konnte. Es könnte deshalb für eine Didaktik Globalen Lernens nahe liegen, zur Verwirklichung des Ziels „Umgang mit Zukunft“ ein Training mit adäquaten Fragestellungen durchzuführen. Eine Definition der Adäquatheit müsste sich aus der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung Globalen Lernens ergeben. DÖRNER steht allerdings einer Übertragung der Simulationen auf die Realität skeptisch gegenüber (vgl. Abschnitt 3.1.3.1), da die realen Möglichkeiten sich stark von den Versuchsbedingungen unterscheiden. Ein wesentlicher Faktor zu Verbesserung der Prognose von Wachstumsraten ist die Anzahl und Kontinuität der Rückmeldungen von dem einzuschätzenden System: „Es scheint nur dann möglich zu sein, intuitiv, ohne weitere Vorbildung, exponentielle

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Wachstumsraten richtig einzuschätzen, wenn ständig Rückmeldungen über das Zutreffen oder Nichtzutreffen ihrer Prognose kommen [...]. Dies aber ist gerade die Bedingung, in der der normale Bürger nicht steht. Der erfährt eben an einem Mittwoch im September aus der Zeitung, dass die Anzahl von Aids-Erkrankungen wiederum um soundsoviel Prozent angestiegen ist. Die nächste Information bekommt er im Dezember. Die Integration der verschiedenen Informationen wird ihm nicht gelingen“ (DÖRNER, 1989, S. 170). Für Konzepte Globalen Lernens könnte deshalb ein kontinuierlicher Informationsdienst sinnvoll sein, der den Lernenden Folgen und Entwicklungen von Zukunftsfragen regelmäßig aufzeigt. Im Globalen Lernen könnte ein drängendes Zukunftsproblem ausgewählt werden und über einen längeren Zeitraum untersucht werden. Wichtig wäre die konstante Bereitstellung von Informationsmaterial z.B. auch über das Internet, das es den Lernenden über eine punktuelle Diagnose hinaus einen Abgleich der eigenen Prognosen mit der Realität erlaubt. Dadurch wäre eine Sensibilisierung für Problematiken der Antizipation von Zukunft möglich. Allerdings ist zu vermuten, dass aufgrund der Vielzahl von Zukunftsfragen die Beschränkung auf ausgewählte Beispiele sinnvoll ist, um Lernende nicht durch Lernfülle zu überfordern. Parallel zu ausgewählten exemplarisch zu erarbeitenden Beispielen erscheint ein Training im abstrakten Denken sinnvoll, das eine realistische Ausweitung der gewonnenen Erkenntnisse ermöglicht und daher für vielfältige weltgesellschaftliche Aspekte anschlussfähig ist.

3.3 Erkenntnisse zur Entstehung von Solidarität

Der folgende Teil der Dissertation beschäftigt sich mit Fragen über Möglichkeiten und Bedingungen der Entstehung von Solidarität aus einer naturwissenschaftlich anthropologischen Perspektive. Solidarität ist ein in den Geisteswissenschaften kontrovers diskutierter Begriff131. Eine minimale Kerndefinition von Solidarität gibt THOME (1998): „Als solidarisch wird ein Handeln bezeichnet, das bestimmte Formen 131

Die Schwierigkeiten der Begriffsklärung von „Solidarität“ verdeutlicht die Dritte Diskussionseinheit der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften im Jahr 1999 (1999, Heft 2). Anschließend an den von B IERHOFF und K ÜPPER verfassten Hauptartikel „Das „Wie“ und „Warum“ von Solidarität: Bedingungen und Ursachen der Bereitschaft zum Engagement für andere“ werden in 24 unterschiedlichen Kritiken Begriffsanmerkungen vorgenommen, die BIERHOFF und K ÜPPER in einer abschließenden Replik zusammenfassen.

136

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

des helfenden, unterstützenden, kooperativen Verhaltens beinhaltet und auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung oder einem Wertideal beruht“ (THOME, 1998, S. 219). Im Laufe des folgenden Kapitels wird sich zeigen, dass es aus naturwissenschaftlich

anthropologischer

Perspektive

möglich

ist,

dieses

Begriffsverständnis hinsichtlich zugrunde liegender Motivationen zu differenzieren und präzisieren. In Kapitel 2.1.3 wurde herausgearbeitet, dass in verschiedenen Konzepten Globalen Lernens die Lernherausforderung formuliert wird, im individuellen sozialen Verhalten die Perspektive und Bedürfnisse auch von räumlich weitentfernten Personen zu berücksichtigen und damit eine „globale Solidarität“ zu entwickeln. Im Folgenden Kapitel wird gezeigt, wie Möglichkeiten und Grenzen der Entstehung von Solidarität im

weltweiten

Zusammenhang

aus

naturwissenschaftlich

anthropologischer

Perspektive dargestellt werden. Der Aufbau des folgenden Kapitels ist zuerst von der Darstellung verschiedener naturwissenschaftlich anthropologischer Erkenntnisse geprägt. Im ersten Schritt wird der soziale Mesokosmos als evolutionstheoretische Grundlage des menschlichen sozialen Verhaltens dargestellt. Die menschliche Prägung auf den Nahraum verdeutlicht die Anforderungen, die ein solidarischen Verhalten in einem weltweiten Bezugsraum darstellen. Im zweiten Schritt wird die Entstehung von Solidarität aus soziobiologischer Perspektive dargestellt. Nach einer Begriffspräzisierung werden verschiedene Möglichkeiten und Motive der Entstehung von Solidarität diskutiert. Im dritten Schritt werden spieltheoretische Untersuchungsergebnisse diskutiert. Spieltheoretische Forschungsarbeiten sind in zweifacher Weise für die vorliegenden Untersuchung interessant. Zum einen wird durch diese Untersuchungen verdeutlicht, wie sich reziproker Altruismus als eine Form von Solidarität in Gemeinschaften etablieren kann. Zum anderen wird aufgezeigt, dass sich bei Menschen kulturabhängige Gerechtigkeitsvorstellungen feststellen lassen.

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Im vierten Schritt wird aus evolutionspsychologischer Sicht dargestellt, welche besonderen kognitiven Fähigkeiten zur Vermeidung von Verlusten in mutualistischen oder reziprok altruistischen Beziehungen durch Trittbrettfahrer festgestellt werden können. Im fünften Schritt des vorliegenden Kapitels werden die zuvor beschriebenen Untersuchungsergebnisse auf die in Konzepten Globalen Lernens formulierte Lernherausforderung der Entstehung von einer globalen Solidarität bezogen. Möglichkeiten und Grenzen werden aufgezeigt.

3.3.1 Soziale Prägungen aus Sicht der Evolutionären Erkenntnistheorie Wie im Abschnitt 3.1.2.2 dargelegt, beschreibt die Evolutionäre Erkenntnistheorie mit dem „Mesokosmos der Erkenntnis“ Bedingungen für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie legt nahe, dass sich auch die sozialen Fähigkeiten der Menschen in Auseinandersetzung mit den Anforderungen des konkreten Nahraums entwickelt haben und deshalb auch besonders gut in diesem sogenannten „sozialen Mesokosmos“ funktionieren. Der soziale Mesokosmos wird analog zum Mesokosmos, der kognitiven Nische des Menschen, definiert. Als sozialen Mesokosmos bezeichnet VOLLMER den „Ausschnitt unserer sozialen Umgebung, auf den wir stammesgeschichtlich geprägt sind“ (VOLLMER, 2001, S. 15). VOLLMER geht davon aus, „dass es biologisch-genetische Wurzeln für unser Sozialverhalten gibt“ (ebd.). VOLLMER meint damit, dass unser Sozialverhalten nicht allein kulturell, sondern auch durch natürliche menschliche Anlagen bestimmt wird. Diese natürlichen Wurzeln wirken nach VOLLMER nicht im Sinne eines genetischen Determinismus. Dies bedeutet, dass die genetischen Vorgaben Verhaltensdispositionen nahe legen, aber nicht automatisch und unausweichlich festlegen. In den Worten von ECCLES und ZEIER heißt das, dass die „ererbten Verhaltensnormen [...] das menschliche Verhalten nicht auf derart determinierende Weise [prägen], wie das bei Tieren der Fall ist. Sie lassen einen Raum frei, der durch Kultur bestimmt und ausgefüllt werden muss. In der Computersprache ausgedrückt heißt das: Die Natur erzeugt die Hardware, während die Software von jedem Individuum erst erworben werden muss. Das individuelle Erbgut bestimmt nicht, was ein

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138

Individuum tun wird, sondern mit welchen biologischen Voraussetzungen es auf seine Umwelt reagiert“ (1980, S. 106). VOLLMER geht davon aus, dass das menschliche Sozialverhalten durch im Pleistozän evolvierte Verhaltensadaptionen mitbestimmt ist, d.h. „dass wir genetisch auf ein soziales Gefüge geprägt sind, wie es in der Steinzeit bestand“ (VOLLMER, 2001, S. 15). Das pleistozäne soziale Lebensumfeld der Menschen war eine Kleingruppe. Nach TREML ist deshalb den Menschen eine Moral der familiären Kleingruppe zu eigen, „in der die altruistischen Loyalitäten nach Entfernung abgestuft werden“ (1999b, S. 179), wie es in folgendem arabischen Sprichwort verdeutlicht wird: „Ich gegen meinen Bruder; ich und mein Bruder gegen unsere Vettern; ich, mein Bruder, meine Vettern gegen die, die nicht mit uns verwandt sind; ich, mein Bruder, meine Vettern und Freunde gegen unsere Feinde im Dorf; sie alle und das ganze Dorf gegen das nächste Dorf!“ (VOGEL, 1989, S. 37) erläutert. In sozialer Hinsicht stehen die Menschen daher vor vielen Herausforderungen, da sich das heutige Lebensumfeld stark von der prägenden Hauptphase der menschlichen Entwicklung unterscheidet. In unserer stammesgeschichtlichen Vergangenheit kamen viele Situationen nicht vor, die heute häufig sind. VOLLMER hat in Anlehnung an den Anthropologen HANS ZEIER (vgl. 1980, S.119f.) solche, im Vergleich zum Pleistozän neue, Herausforderungen zusammengefasst: -

„Die Gruppen, in und mit denen wir leben, umfassen mehr als hundert Individuen.

-

Wir haben mehr Kontakte mit fremden als mit vertrauten Individuen.

-

Wir haben mehr indirekte Kontakte über (technische) Hilfsmittel als persönliche Kontakte.

-

Wir machen mehr passive Erfahrungen (Berichte, Lektüre, Medien, Computer) als aktive.

-

Soziale und technische Veränderungen lassen die Erfahrungen einer Generation für die nächste unbrauchbar werden.

-

Wir lernen mit und an Maschinen statt an Menschen und entwickeln entsprechende Gewohnheiten und Denkmodelle.

-

Wir erleben weder unsere ökologischen Lebensvoraussetzungen noch die Folgen unserer Handlungen direkt genug, um individuell daraus zu lernen.

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-

139

Viele Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, lernen also das jeweils andere Geschlecht und die andere Hälfte der Familie kaum kennen.

-

Bei Einzelkindern über mehrere Generationen gibt es keine Großfamilie mehr: keine Onkel und Tanten, keine Kusinen und Vettern, keine Geschwister, keine Neffen und Nichten. Verwandt ist man nur noch mit Eltern und Kindern“ (VOLLMER, 2001, S. 16).

ECCLES uns ZEIER nehmen an, „dass die biologischen Verhaltensnormen des Menschen gar nicht in diese Situationen passen“ (1980, S. 120). Wenn pädagogische Konzepte sich darum bemühen, soziales Verhalten von Menschen zu beeinflussen, erscheint es als sinnvoll, die genetisch verankerten Verhaltensprägungen zu kennen und zu berücksichtigen. Auch in verschiedenen Konzepten Globalen Lernens werden deshalb diese von ZEIER und ECCLES aufgezeigten Entwicklungen diskutiert (vgl. BÜHLER, 1996, S. 257/ SCHEUNPFLUG/SCHMIDT, 2002, S. 125f.). Besonders interessant sind die natürlichen menschlichen sozialen Grundlagen, wenn versucht wird, den evolvierten Rahmen zu übersteigen. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise die Förderung einer globalen Solidarität eine im Vergleich zur pleistozänen Prägung neue soziale Dimension ist, da sie alleine räumlich weit über die steinzeitlich evolvierten Möglichkeiten hinausgeht. Beziehungen in der Weltgesellschaft können beispielsweise nur bedingt auf face-to-face Bindungen gründen. Auch wenn die genetischen sozialen Dispositionen der Menschen nicht speziell für Herausforderungen jenseits des sozialen Mesokosmos geprägt sind, wird durch diese Aussage nicht ausgeschlossen, dass in einem globalem Rahmen soziales Verhalten nicht möglich ist. Die Frage, die sich für Konzepte Globales Lernen stellt, ist vielmehr, wie die angeborenen Verhaltensmuster sinnvoll genutzt werden können, um soziales Verhalten im weltgesellschaftlichem Kontext zu provozieren. Es liegt nahe, dass vor dem Hintergrund der evolutionären Entwicklung des menschlichen Sozialverhaltens eine solche räumliche weitreichende Empfindung wie eine „weltumfassende Solidarität“ eine neue Lernherausforderung für die menschliche Erkenntnisfähigkeit darstellt.

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140

3.3.2 Solidarität aus Sicht der Soziobiologie Zum Verständnis verhaltensrelevanter Aspekte umreißt die Soziobiologie gut begründet ein rationales und abgeklärtes Bild von Leben, das realistisch erscheint. Für die Soziobiologie steht im Zentrum aller Überlegungen bezüglich eines Lebensziels nicht das Phän, also das Individuum in seiner Körperlich- und Geistigkeit, sondern ein winziger Bestandteil desselben, das sogenannte „Genom“, in dem das Erbgut gespeichert ist. Aus Sicht des Genoms dreht sich jede Zielperspektive um die Erhaltung seiner spezifischen Erbinformationen. Da jedes Phän als Träger des Genoms sterblich ist, kann die spezifische Erbinformation nur über Weitergabe an einen anderen Träger (ein anderes Phän), d.h. auf natürlichem Wege nur über Fortpflanzung erhalten bleiben. Die theoretische Diskussion um das „egoistische Gen“ wurde „angeheizt“ und geprägt durch das gleichnamige Buch von DAWKINS (1976). Für die vorliegende Arbeit ist dabei weniger interessant, auf welcher Weise sich das Genom zellbiologisch darstellt und weiterentwickelt. Gewinnbringend für die hier diskutierten Problemstellungen ist aber, ob und auf welche Weise das Genom verhaltenssteuernd wirkt. Besonders interessant für die vorliegende Arbeit ist, wie sich vor dem Hintergrund einer egoistischen Genstrategie überhaupt die Entstehung von sozialem Verhalten, insbesondere von solidarischem Verhalten mit Nichtverwandten erklären lässt, scheint doch auf den ersten Blick allein die Sorge um den eigenen Nachwuchs zur Verbreitung der individuellen Gene sinnvoll. Auf den zweiten Blick finden sich aber auch aus soziobiologischer Sicht substantielle Gründe für die Entstehung von solidarischem Verhalten mit Nichtverwandten, die im Folgenden Kapitel aufgezeigt werden. Der Begriff „Solidarität“ erfährt in der soziobiologischen Diskussion eine differenzierte und erweiterte Interpretation132. Es werden drei Bedeutungsinhalte unterschieden, mit denen der Begriff „Solidarität“ belegt ist: Einerseits Solidarität als Ausdruck gemeinsamer Interessen (Mutualismus), andererseits Solidarität als moralische Verpflichtung gegenüber Benachteiligten (Altruismus). Ein dritter Erklärungsansatz sieht Solidarität als Möglichkeit zur Steigerung des individuellen Prestiges (Prestigeakku-

132

Die soziobiologische Debatte um Solidarität hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten stark entwickelt und präzisiert. Diese mittlerweile eher wissenschaftshistorisch interessante Entwicklung soll hier nicht mehr aufgezeigt werden. Es sei aber angedeutet, dass frühere Erklärungsansätze beispielsweise das Ziel der Arterhaltung ins Zentrum der Überlegungen stellte. „Heute stellen die Biologen fest, dass die Theorie, Kooperativität und Altruismus seien zum Zwecke der Arterhaltung entstanden, beträchtliche Schwächen aufweist“ (A LLMAN, 1999, S. 94).

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141

mulation) VOLAND (2003)133. Diese drei unterschiedlichen Varianten der Entstehung von Solidarität werden im Folgenden Teil detailliert beschrieben und anschließend (Abschnitt 3.3.5.2) auf ihre Relevanz und Aussagekraft hinsichtlich der Lernherausforderungen Globalen Lernens geprüft.

3.3.2.1 Mutualismus In seinem ersten Bedeutungsinhalt „wird Solidarität verstanden als Ausdruck gemeinsamer Interessen. Sie motiviert zu Kooperation, weil ein Einzelner kaum Chancen hätte, im Allgemeinen seinen persönlichen Zielen erfolgreich näher zu kommen. Nicht persönliche Opferbereitschaft gegenüber Dritten konstituiert hier solidarisches Verhalten, sondern im Gegenteil die gemeinsame Verfolgung unmittelbar eigennütziger Interessen“ (V OLAND, 2003, S. 15f.). Solidarisches Verhalten als Ausdruck gemeinsamer Interessen wird in der Soziobiologie mit dem Terminus „Mutualismus“ bezeichnet. B IERHOFF und K ÜPPER (1999) stimmen V OLANDS Definition von mutualistischem Verhalten als eine Art von solidarischem Verhalten zu. Auch sie gehen davon aus, dass „Solidarität [...] aufgrund der Erkenntnis der Akteure zustande kommen [kann], dass sie bestimmte Ziele auf individuellem Wege nicht oder nur unzureichend erreichen können, während ein Zusammenschluss von Gleichgesinnten für das Erreichen eines Ziels erfolgsversprechender ist. Die Akteure, die sich zusammentun, um ein gemeinsames Interesse durchzusetzen, wollen gemeinsam von den Erfolgen der Kooperation profitieren“ (S. 183)134.

133

Auch BIERHOFF und K ÜPPER (1999) unterscheiden nach MONTADA ähnlich wie V OLAND „zwei Grundkategorien von Solidarität [...]: (1) Solidarität als Eintreten füreinander zum Zwecke gegenseitiger Unterstützung in der Verfolgung gemeinsamer Anliegen und (2) Solidarität als Unterstützung anderer und als Eintreten für die Anliegen anderer“ (M ONTADA , 2001, S. 66). 134

B RIESKORN stimmt in der Begriffbestimmung von Solidarität mit BIERHOFF , K ÜPPER und V OLAND nicht überein. Er stellt die Frage, „ob der Begriff der Solidarität in diesem Falle nicht zu weit gefasst und damit unhandlich wird. Wäre denn nicht demnach das Spiel einer Fußballmannschaft (oder sogar beider Mannschaften, der eigenen wie der gegnerischen) und das Spiel eines Orchesters jeweils solidarisches Handeln? Solche Ausweitung würde sich aber nicht mit dem normalen Sprachgebrauch decken; denn man würde für das „normale Spielen“ sei es der Fußballmannschaft, sei es des Orchesters, nicht die Bezeichnung solidarisches Tun verwenden. Wohl aber spricht man von Solidarität, wenn die zehn Spieler sich mit dem elften gegen den Schiedsrichter oder Trainer oder die Mehrheit der Orchestermitglieder mit einem Mitglied gegen den Dirigenten oder die Presse verbünden. Hier erst, in der besonderen Unterstützungsaktion gegen Dritte findet der Begriff der Solidarität gewöhnlich Verwendung“ (BRIESKORN, 1999, S. 201f.).

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142

Mutualistisches Verhalten entsteht in Situationen, in denen Ziele gemeinschaftlich besser erreicht werden können als alleine. Vorraussetzung zur Entstehung von Mutualismus sind sogenannte Nichtnullsummenspiele, d.h. Situationen, in denen alle Beteiligten von der Kooperation profitieren können und keiner der Beteiligten sich auf Kosten eines anderen bereichert135. Mutualismus hat dementsprechend für alle Beteiligten Vorteile, da solistisches Verhalten in diesen Situationen schwerer zu einem Gewinn führen würde. Mutualistisches Verhalten birgt für die Beteiligten deshalb wenig Risiko. VOLAND geht davon aus, dass diese Form der Kooperation leicht evozierbar ist und sogar unter Personen entstehen kann, die sich nicht kennen sich unsympathisch sind oder auch in anderen Bereichen in Konkurrenz zueinander stehen (vgl. a.a.O., S. 16f.). Die Beteiligten müssen lediglich eine konkrete Zielübereinstimmung haben, wobei das Ziel für alle einen Gewinn nach sich ziehen muss. Diese konkrete Zielübereinstimmung muss allen Beteiligten kognitiv bewusst sein. Für gelingendes mutualistisches Verhalten ist die kognitive Leistung Voraussetzung, sich des unmittelbar zu erwartenden Vorteils von Mutualismus bewusst zu sein. VOLAND gibt als Beispiele für mutualistisches Verhalten unter anderem Mannschaftssport, Großwildjagd und Arbeitskampf an. BIERHOFF und KÜPPER nennen „die Gewerkschaftsbewegung, die Frauenbewegung oder auch der Protest der Radfahrer während der Tour de France136“ (1999, S. 182). Im Mannschaftssport Fußball kann einer Mannschaft beispielsweise der Klassenerhalt in der Bundesliga gemeinsam besser gelingen, als wenn jeder Spieler versucht, während der Spiele solistisch zu glänzen. Das eine mannschaftsdienliche Spielweise eine kognitive Leistung voraussetzt, kann bei vielen Fußballspielen (insbesondere bei Kindern) beobachtet werden, wenn einzelne Spieler aufgrund egozentrischer Motive den Ball nicht abspielen und ihn letztendlich an den Gegner verlieren. Interessant am Beispiel Fußball ist dabei, dass der Einsatz der einzelnen Spieler am Spiel durchaus variieren kann und trotzdem letztendlich alle Spieler einer Mannschaft gemeinsam gewinnen oder verlieren. Wenn einer der Spieler seine Fähigkeiten nicht voll ausschöpft und nur aufgrund des Einsatzes seiner übrigen 135 136

vgl. die Erläuterung von Nullsummen- und Nichtnullsummenspielen im Abschnitt 3.3.3.1

Gemeint ist „der Protest der Fahrer der Tour de France 1998, die sich zu einem Bummelstreik entschlossen und während der Fahrt stoppten. Ihr Anliegen, das unter den Fahrern weitgehend unterstützt wurde, bestand darin, die Ermittlungen der französischen Polizei wegen eines Verdachts auf Doping zu bremsen“ (BIERHOFF / KÜPPER, 1999, S. 181).

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143

Mannschaft das Spiel gewinnt, wird in der Soziobiologie seine Passivität als „Trittbrettfahren“ bezeichnet. Je größer die beteiligte Personengruppe aber wird, desto leichter können sich „Trittbrettfahrer“ mit geringem Engagement beteiligen137. Um eine Ausnutzung durch Trittbrettfahrer zu verhindern, ist es für die ausgenutzten Personen wichtig, Trittbrettfahrer entdecken zu können. Interessanterweise konnten die evolutionspsychologischen Forschungsarbeiten von T OOBY und COSMIDES belegen, dass sich eine bestimmte kognitive Fähigkeit evolviert hat, mit der sozialer Normen kontrolliert werden können. Durch diese spezielle menschliche kognitive Fähigkeit kann die Ausnutzung von mutualistischem Verhalten entdeckt werden (vgl. Abschnitt 3.3.4). Welche Konsequenzen aus der Entdeckung von ausnutzendem Verhalten gezogen werden, ist eine weiterführende Frage. Spieltheoretische Untersuchungen konnten zeigen, dass Versuchspersonen bereit sind, zur Bestrafung von nichtkooperativen Mitspielern sogar finanziell unrentable Kosten zu investieren (vgl. SIGMUND et.al., 2002, S. 57ff.).

3.3.2.2 Altruismus In seinem zweiten Bedeutungsinhalt wird Solidarität „verstanden als moralische Verpflichtung gegenüber Benachteiligten: Sie motiviert zu Hilfeleistungen, wobei die Unterstützung der Hilfsbedürftigen notwendigerweise an eine Inkaufnahme persönlicher Nachteile durch den Helfenden gebunden ist“ (VOLAND, 2003, S. 15). Diese Art von Solidarität wird in der Soziobiologie unter dem Begriff „Altruismus“ diskutiert. ES wird in der soziobiologischen Diskussion zwischen vier verschiedenen Motiven unterschieden, die zur Entstehung von Altruismus beitragen können: nepotistischer Altruismus, genetischer Altruismus, reziproker Altruismus und Beobachtungsaltruis-

137

„Schon PARSONS (1937) war sich der Probleme des Trittbrettfahrens bewusst. Studien zu Trittbrettfahrern zeigen, dass geringe Kontrolle mit wenig Solidarität einhergeht. Eine austauschtheoretische Erklärung am Beispiel der Gruppengröße sieht wie folgt aus (S TROEBE & F REY , 1982): Je größer die Gruppe, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass unloyales Verhalten identifiziert werden kann (vgl. O LSON, 1965). Während unsolidarisches Verhalten in kleinen Gruppen leicht auffällt, sinkt die Identifizierbarkeit von unkooperativen Personen in großen Gruppen deutlich. Für das einzelne Gruppenmitglied wird es aufgrund schlechter Überwachungsmöglichkeiten leichter, sich zu drücken. In Übereinstimmung damit wurde festgestellt, dass die Anstrengungsbereitschaft von Gruppenmitgliedern in kleinen Gruppen größer ausfällt als in großen Gruppen (KARAU & W ILLIAMS , 1993)“ (B IERHOFF / KÜPPER, 1999, S. 184).

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mus/

Prestigeakkumulation138.

Da

sich

das

Motiv

zu

Entstehung

von

Beobachtungsaltruismus bzw. Prestigeakkumulation von den drei anderen Motivationen von Altruismus unterscheidet, wird diese Motivationsvariante in einem eigenen Gliederungspunkt abgehandelt. Nepotistischer Altruismus Unter nepotistischem Altruismus sind Hilfeleistungen zwischen Verwandten gemeint, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen und deshalb Nachteile für einen Beteiligten haben. Motivation von nepotistischem Altruismus, also für „aufopferndes Verhalten“, ist die genetische Verwandtschaft. Je höher der Verwandtschaftsgrad zwischen den Beteiligten ist, desto wahrscheinlicher ist die Entstehung von dieser Art von Solidarität (vgl. DAWKINS, 1994, S. 154ff.). Besonders eng ist der Verwandtschaftsgrad zwischen Eltern und ihren Kindern. Deshalb können die Investitionen von Eltern in ihre Kinder wie beispielsweise die Säuglingspflege und die Erziehung als nepotistischer Altruismus interpretiert werden (vgl. TREML, 2004, S. 170). TREML nennt die „Brutpflege“ die wichtigste Form von nepotistischem Altruismus. Bei VOLAND finden sich neben der „Familiensolidarität“ noch einige weiter Beispiele für Szenarien, „in denen psychische Inklinationen der Verwandtenbevorzugung eine hervorgehobene Bedeutung spielen“ (VOLAND, 2000, S. 116). Er nennt beispielsweise die Solidarität in lebensbedrohlichen Gefahren, Hilfen zur Erhaltung der Lebensgrundlangen und Vererbungsgewohnheiten an Verwandtschaft (vgl. ebd.). VOLAND vermutet, dass Nepotismus die älteste und umfangreichste Quelle für Solidarität ist (vgl. 2003, S. 19). Die Entstehung diese Art von Solidarität kann aber nur be138

Auch hier ist festzuhalten, dass die Begriffe von unterschiedlichen Autoren noch nicht einheitlich verwendet werden. T REML (2004, S. 170 ff.) unterscheidet beispielsweise drei Motive der Entstehung von Altruismus: Genetischer Altruismus, reziproker Altruismus und Beobachtungsaltruismus. T REML stimmt dabei mit V OLAND nur in der Bedeutung des Begriffes „reziproker Altruismus“ überein. Er versteht unter „genetischem Altruismus“ das, was VOLAND mit dem Begriff „nepotistischem Altruismus“ abhandelt. Für V OLANDS Begriff des „genetischen Altruismus“ gibt T REML kein eigenes Begriffsverständnis. Die „Prestigeakkumulation“ bei V OLAND wird von T REML unter dem Begriff „Beobachtungsaltruismus“ in einer im Vergleich zu V OLAND erweiterten Form diskutiert. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Begriffsverständnisse der beiden Autoren: Begriffsvergleich: Entstehung von V OLAND (2003) nepotistischer Altruismus T REML (2004) Genetischer Altruismus

Solidarität genetischer Altruismus -

reziproker Altruismus reziproker Altruismus

Prestigeakkumulation Beobachtungsaltruismus

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145

dingt äußerlich beeinflusst werden, da die Grundvoraussetzung die Verwandtschaft zwischen den Beteiligten ist. Zwischen Nichtverwandten kann es also keinen nepotistischen Altruismus geben. Es ist aber möglich, Verwandtschaft gezielt herzustellen. So ist es bekannt, dass es besonders in früherer Zeit bei Hochzeiten von z.B. Adeligen ein wichtiges Motiv war, durch gezielte Partnerwahl (bzw. –zuweisung) zwischen Familien eine Festigung von Beziehungen durch Erhöhung des Verwandtschaftsgrades zu schaffen. In den Nachkommen der Eheleute finden sich Genanteile von beiden Eltern, Schwiegereltern, d.h. in abnehmenden Maß der ganzen Verwandtschaft der Erzeuger. Die Nachkommen sind somit der Anreiz zu nepotistischem Altruismus zwischen Familien, die zuvor keine Verbindung miteinander hatten. Genetischer Altruismus Eine andere Variante von Altruismus, die in der soziobiologischen Literatur beschrieben wird, ist der genetische Altruismus. Genetischer Altruismus bezeichnet die Investition in eine Gruppe, Population oder Art ohne persönliche Gewinnerwartung. VOLAND führt diese theoretisch begründete Kategorie ein, stellt aber zugleich fest, dass diese Art von Altruismus evolutionär nicht stabil und in der Realität kaum beobachtbar ist139. VOLAND geht davon aus, dass „die menschliche Psyche [...] nicht zur genetischen Selbstaufgabe, wenn man so will zu „wahrem Altruismus“ eingerichtet [ist], wenngleich es geschickten Demagogen immer mal wieder gelingt, Dritte im Interesse eines großen Ziels zur Selbstaufgabe zu bewegen“ (a.a.O., S. 18). Auf weiterführende Überlegungen und Diskussionen hinsichtlich eines genetischen Altruismus wird in der vorliegenden Arbeit deshalb verzichtet.

Reziproker Altruismus Reziproker Altruismus ist durch (meist zeitversetzte) Gegenseitigkeit der solidarischen Zuwendung gekennzeichnet. Der solidarische Helfer hofft auf Erwiderung seines altruistischen Aktes. Eine solche gegenseitige Unterstützung führt zu einem Fitnessgewinn für alle Beteiligten und die ursprünglich investierten Kosten werden mindestens ausgeglichen. „Der entscheidende Unterschied zwischen Mutualismus und Reziprozität besteht darin, dass Reziprozität durch einen altruistischen Akt zum Vor139

Es ist anzunehmen, dass dies der Grund für TREML (2004) ist, auf diese Bedeutung von Altruismus zu verzichten.

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teil eines Partners eingeleitet wird, also Kosten verursacht. Diese anfänglichen Kosten sind als eine von Amortisationserwartungen getragene Investition in die Hilfsbereitschaft des Partners zu verstehen, wobei sich der Nettolohn unter Umständen erst viel später einstellen mag“ (VOLAND, 2003, S. 17). Reziproker Altruismus beruht somit auf der Hoffnung des “wie ich Dir, so Du mir”140. Es wird damit deutlich, das reziprok altruistisches Handeln keine gewinnsichere Strategie ist. Der Investor kann in seiner Erwartung auf Erwiderung des altruistischen Aktes enttäuscht werden, wenn der Empfänger der Zuwendung diese nicht wie erhofft vergilt. Für den Empfänger einer altruistischen Handlung kann es reizvoll sein, sich nicht zu revanchieren und so seine Gewinnspanne zu erhöhen. „Reziproke Altruisten laufen ständig Gefahr, ausgebeutet zu werden, sei es, weil sich aus welchen Gründen auch immer zu selten Gelegenheit zur Reziprozität ergeben, oder sei es, weil einige Betrüger es geradezu darauf anlegen, dem Altruisten die Rückzahlung zu verwehren“ (ebd.). Zu der Problematik der Betrugsmöglichkeiten in reziprok altruistischen Beziehungen sind spieltheoretische und evolutionspsychologische Forschungsergebnisse gewinnbringend. Besonders wenn die Beteiligten davon ausgehen können, dass sie nur einmalig in Kontakt treten und daher in Zukunft keine „Rache“ des enttäuschten „Partners“ erwarten müssen, ist der Anreiz eines Betrugs gegeben. Szenarien dieser Struktur werden in der Spieltheorie mithilfe des sogenannten Gefangenendilemmas erforscht. Das Gefangenendilemma „entsteht, wenn zwei Partner zwar durch Kooperation gewinnen könnten, aber jeder der beiden persönlich noch mehr gewinnt, wenn er den anderen betrügt.“ (ebd.), wie dies in reziprok altruistischen Beziehungen der Fall ist. Interessant ist die Fragestellung, wie sich die Beteiligten verhalten, wenn sie wiederholt mit demselben Partner in einem Gefangenendilemma konfrontiert werden (soge-

140

In den verschiedenen evolutionstheoretischen Ansätzen werden die vorliegenden Ergebnisse zu reziprok altruistischem Verhalten unterschiedliche interpretiert. TREML beispielsweise interpretiert reziproken Altruismus als eine Art ´Egoismus der Phäne´“ (TREML, 1999b, S. 179) und versteht dabei „unter ´Phäne´ die äußere Systemform von Individuen qua Überlebenseinheit“ (ebd.). „Zu deren Erhaltung ist es [...] nützlich, auch zu anderen Menschen uneigennützig zu sein, sofern es wahrscheinlich ist, dass diese Uneigennützigkeit wieder einmal (reziprok) vergolten wird“ (TREML, 1999b, S. 179). VOLLMER deutet reziproken Altruismus dagegen explizit als Mittel der Sorge um die individuellen Gene: „Von Natur aus sind wir also auf die Sippe eingestellt. Dazu kommt der reziproke Altruismus, dank dessen wir auch Freunden helfen wenn sie dafür uns oder unseren Verwandten etwas Gutes tun. Was wie echter Altruismus aussieht, ist dann (zwar kein persönlicher Egoismus, aber eben doch) nur Sorge für die eigenen Gene“ (VOLLMER, 2001, S. 20).

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nanntes „iterative Gefangenendilemma“). AXELROD und HAMILTON (1981) konnten zeigen, dass sich bei iterativen Gefangenendilemmas reziproker Altruismus langfristig gegen andere Handlungsstrategien durchsetzen kann. „In Anbetracht der latenten Gefahr der Einseitigkeit wird reziproker Altruismus umso wahrscheinlicher entstehen, je häufiger und regelmäßiger vertraute Partner auf einander treffen (also bei wenig Migration) und je schwieriger und kostspieliger es für potenzielle Betrüger wird, zwar den Nutzen der Altruisten für sich in Anspruch zu nehmen, sich aber selbst nicht altruistisch zu verhalten“ (VOLAND, 2003, S. 17). Die wesentliche Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten werden ausführlich in Abschnitt 3.3.3.1 besprochen. Neben der Erforschung des Gefangenendilemmas durch spieltheoretische Überlegungen liefert auch die evolutionäre Psychologie interessante Ergebnisse zur „Absicherung“ altruistischen Handelns. COSMIDES und TOOBY (1992, 1997) konnten – wie auch bei der Erörterung von „Mutualismus“ bereits angemerkt – beweisen, dass die menschliche Auffassungsgabe besonders darauf spezialisiert ist, „Trittbrettfahrer“ zu enttarnen, um das Risiko der einseitigen Ausnutzung einer altruistischen Hilfestellung, also ein „Schmarotzen“, zu verhindern. Dieser „Mechanismen zur Erkennung von Trittbrettfahrern“ ist im Abschnitt 3.3.4 nachzulesen.

3.3.2.3 Beobachtungsaltruismus bzw. Prestigeakkumulation Eine weitere Motivation zur Entstehung von Solidarität wird unter den Bezeichnungen Beobachtungsaltruismus (TREML) oder Prestigeakkumulation (VOLAND) beschrieben. Die altruistische Handlung wird hierbei dadurch motiviert, dass der altruistisch Handelnde von anderen beobachtet wird oder sich beobachtet glaubt und sich durch seine altruistische Handlung ein verbessertes Prestige erwirbt141. „Menschen können 141

U HL und V OLAND (2002) nennen als Grund für „diesen Zusammenhang [...] das sogenannte „Handicap-Prinzip“ [...]. Es basiert auf dem Anreiz, ansonsten verborgene Eigenschaften (wie Validität, Macht, Reichtum) auf der Bühne der sozialen Konkurrenz fälschungssicher anzeigen zu können und so von einem wählerischen Publikum als Sexual- oder Sozialpartner anerkannt zu werden. Ehrlichkeit wird dabei über teure Signale bewiesen. Die Logik ist trivial: Nur wer sich etwas leistet, zeigt unmissverständlich, dass er es sich tatsächlich leisten kann“ (V OLAND, 2003, S. 18). Das Handicap-Prinzip ist nicht nur bei Menschen, sondern bei vielen Lebewesen beobachtbar: „Als Paradebeispiel für die Evolution teurer Signale gilt das Prachtgefieder des PfauenHahns. Es ist zu nichts anderem nutze als im Zuge der Partnerwahl die wählende Hennen über das Vorhandensein verborgener Qualitäten („guter Gene“) zu informieren. Je prächtiger das Gefieder, desto gesünder die Hähne, desto gesünder seine Nachkommen. Weniger fitte Männchen können in dem Wettbewerb um die attraktiven Schaumerkmale einfach nicht mithalten. Betrug ausgeschlossen. Die Verwendung teurer Signale zur Veröffentlichung verborgener Qua-

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sich auch altruistisch verhalten, wenn sie nicht miteinander verwandt sind und nicht auf eine Gegenleistung hoffen können, sofern sie beobachtet werden (denn dadurch können sie hohes Ansehen bei ihren Beobachtern erwerben, die diesen wiederum als Fitnessindikatoren dient – etwa bei sexueller Selektion)“ (TREML, 2003b, S. 10). Wesentliche Grundlage für die Entstehung dieser Art von Altruismus ist die Gewissheit, beobachtet zu werden. Diese Gewissheit des „Beobachtetwerdens“ kann auf unterschiedliche Weise entstehen. Zum einen dadurch, indem andere Individuen tatsächlich die vollzogene altruistische Handlung beobachten. Diese Beobachtung kann „live“ erfolgen oder auch medial inszeniert werden, d.h. zeitlich verzögert passieren. Der Beobachtungsaltruist muss also nicht auf die zufällige Anwesendheit von anderen Personen warten, sondern kann seine altruistische Handlung beispielsweise auch filmen und über Medien verbreiten, d.h. indirekt beobachten lassen. Als Beispiel für eine direkte Beobachtung kann ein Jugendlicher genannt werden, der einer hilfsbedürftigen Person deshalb über die Straße hilft, weil er sich der Beobachtung durch seine Eltern bewusst ist und deren Lob für seine Tat erwartet. Ein Beispiel für eine medial inszenierte, d.h. indirekte Beobachtung sind Personen, die ein Hilfsbedürftigenprojekt finanziell unterstützen und ihren Einsatz über die Medien verbreiten lassen. Bei beiden Arten von Beobachtungsaltruismus ist dieselbe Strategie der Prestigeakkumulation ursächlich. VOLAND stellt fest: „Altruistische Attitüden und Verhaltensweisen wie Generosität, Großherzigkeit, Abgeben und Teilen haben diejenigen, die es sich leisten können, immer schon strategisch zur Steigerung ihrer sozialen Anerkennung eingesetzt“ (VOLAND, 2003, S. 18). Plakativ fassen UHL und VOLAND dieses Prinzip in einem Buchtitel zusammen: „Angeber haben mehr vom Leben“ (UHL/ VOLAND, 2002).

litäten ist eine biologisch sehr alte Kommunikationsform, deren Funktionslogik um die Kosten/Nutzen-Bilanz aufwendiger Verschwendung kreist. Was aber aus der Sicht des Signalgebers Verschwendung ist, kann für die Empfänger entweder nutzlos sein oder ausgesprochen nützlich. [...] Im Tierreich scheint es so zu sein, dass die meisten Handicaps nur Information transportieren, also keine altruistische Komponente enthalten. Aus dem Pfauenschwanz ziehen die wählenden Hennen außer Information über die Fitness des Hahns keinen unmittelbaren Gewinn. Beim Menschen hingegen enthalten die Handicaps neben ihrer Information über verborgene Eigenschaften möglicherweise auch materiellen Nutzen für andere, also eine altruistische Komponente“ (VOLAND , 2003, S. 18). Viele weitere Beispiele für das Handicap-Prinzip im Tierreich geben ZAHAVI & ZAHAVI (1998). Beispielsweise sind Prellsprünge der Gazellen Sprünge, bei denen alle vier Beine gleichzeitig in der Luft sind. Diese dienen neben der Warnung anderer Gazellen vor Feinden dazu, dem Fressfeind die eigene Stärke zu demonstrieren (vgl. a.a.O., S. 28 f.).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

149

Auch LILLI und LUBER (2001) resümieren aus sozialpsychologischer Sicht: „Was auf den ersten Blick als prosoziales Handeln erscheint, ist manchmal nichts weiter als die Instrumentalisierung von Solidarität zur Verbesserung des eigenen Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit [...]. Im Zeitalter der Medien erscheint nicht nur für Politiker nichts wichtiger als die Wirkung auf das Publikum. Die eigene Tat öffentlich als beispielhaft darzustellen mag die Glaubwürdigkeit erhöhen und die Beliebtheit steigern [...]. Selbstwertdienliche Effekte treten in den Vordergrund, das Hilfehandeln wird in den Hintergrund gedrängt. [...] Je nach Situation wird das eigene Handeln möglichst wirksam zur Schau getragen“ (LILLI/ LUBER, 2001, S. 286). Eine zweite Art des „Beobachtetwerdens“ wird von TREML diskutiert. Im Unterschied zu VOLAND ist nach TREML Beobachtungsaltruismus nicht nur dann möglich, wenn ein Individuum von einem anderen lebenden Individuum beobachtet wird. Auslösend für Beobachtungsaltruismus können nach TREML auch im Individuum verlaufende Vorstellungen von Beobachtung sein. Die Beobachtung findet nicht real statt, sondern ist „imaginär“. „Um den Effekt des Beobachtungsaltruismus zu erzielen, genügt es nämlich schon, dass man glaubt, beobachtet zu werden; denn schließlich hat schon das, was man als real definiert, reale Folgen. Es genügt deshalb schon der Glaube, dass man beobachtet wird, um altruistisch zu handeln“ (TREML, 2004, S. 175). TREML nennt zwei verschiedene Motive einer solchen imaginären Beobachtung. Einerseits entstehen sie aus religiösen Vorstellungen, andererseits aus Selbstbeobachtung. Für einen Gläubigen kann – laut TREML – Gott ein ständiger Beobachter sein. Der Gläubige versucht sich deshalb im Sinne seiner Gottesvorstellung adäquat zu verhalten. (vgl. TREML, 2003b, S. 10). Neben der Beobachtung durch Gott sieht TREML auch „eine säkulare Variante dieser religiösen Beobachtung: Selbstbeobachtung. Als Maßstab dient hier ein Alter Ego, ein anderes Ich, das allerdings Kriterien besitzen muss, an denen die Differenz von Handeln und Beobachten gemessen und bewertet werden kann“ (TREML, 2004, S. 174).

3.3.3 Soziale Verhaltensstrategien aus Sicht der Spieltheorie Es werden im Folgenden spieltheoretische Untersuchungen aufgezeigt, die sowohl für die Möglichkeit der in Konzepten Globalen Lernens formulierten Lern-

150

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

herausforderung der Entstehung einer globalen Solidarität als auch für die Diskussion um eine globale Gerechtigkeit weiterführend sind142.

3.3.3.1 Erfolgreiche Kooperationsstrategien In diesem Gliederungspunkt werden spieltheoretische Untersuchungen zu der Frage vorgestellt und diskutiert, welche Verhaltensstrategien in kooperativen Beziehungen langfristig erfolgreich sind. Wie bereits bei der Beschreibung von reziprokem Altruismus vermerkt, kann es in kooperativer Beziehungen für die beteiligten Partner gewinnbringender sein, nur eine Leistung zu empfangen und selber keine zu geben. Spieltheoretische kooperatives

Forschungsarbeiten

Verhalten

angesichts

interessieren der

Tatsache

„sich

dafür,

entwickeln

wie

sich

konnte,

dass

nichtkooperatives Handeln – von der Evolution her betrachtet – in vielen Fällen ausgesprochen verlockend ist, ja oft die einzige ´rationelle´ Lösung darstellt“ (ALLMAN, 1999, S. 97f.)143. HOFSTADTER präzisiert drei Aspekte der Erforschung von Kooperation aus spieltheoretischer Sicht: „Der erste betrifft ihren Ursprung (Wie kann es überhaupt zu Kooperation kommen?), der zweite ihre Optimierung (Welche kooperativen Strategien taugen am besten, und wie setzen sie sich durch?) und der 142

Der Ansatz der Spieltheorie zur Entwicklung von Verhaltensstrategien wird von E CCLES und ZEIER anschaulich erläutert: „Ähnlich wie sich ein vorteilhaftes Gen über sehr große Zeiträume hinweg im Genpool halten kann, bleiben auch genetisch fixierte Verhaltensneigungen und Verhaltensstrategien unverändert erhalten, solange sie sinnvoll sind. Aus dem Evolutionsprozess gingen deshalb nicht nur nützliche Strukturen hervor, wie etwa Gehirn, Sinnesorgane oder Extremitäten, die bei verschiedenen Wirbeltieren in ähnlicher Form vorhanden sind, sondern auch allgemein verbreitete Verhaltensweisen oder Verhaltensnormen. Kennt man die Lebensbedingungen und Verhaltensmöglichkeiten eines Organismus, so lässt sich durch Simulationsberechnungen an theoretischen Modellen nachweisen, welche Verhaltensweisen optimal und deshalb als Folge des Evolutionsprozesses zu erwarten sind. Derartigen Simulationsberechnungen liegt die durch die Verhaltensbiologie bestätigte Annahme zugrunde, dass Lebewesen jeweils den ökonomischsten von mehreren verfügbaren Wegen zur Ausbreitung ihrer Gene beschreiten. Die Evolution entwickelte ein Ökonomie- oder Optimierungsprinzip; Aufwand und Ertrag beziehungsweise Kosten und Nutzen werden miteinander verrechnet. Dieses Prinzip äußert sich auch im menschlichen Verhalten, wobei allerdings beim Menschen eine große Vielfalt von weiteren Motiven und subjektiven Werten mit dem primären biologischen Antrieb, zu überleben und sich fortzupflanzen, zusammenwirkt“ (E CCLES / ZEIER , 1980. S. 42f.). 143

Bei den Problemen egoistischer Kooperation handelt es sich nach SCHÜßLER (1990) um vier strukturell verwandte Dilemmas. Diese „lassen sich chronologisch nach der Reihenfolge ordnen, in der sie für menschliche Gesellschaften virulent werden [...]: - der Entstehung und Stabilität egoistischer Kooperation in kleinen Gruppen. - der sozialen Ordnung bzw. Kooperation in größeren Gemeinschaften, und ihrer Stabilität in einem moralfreien Machtstaat (Hobbes` Problem). - der Ausbreitung von Betrug und Gewalt in einem egoistischen und anonymen System des Tausches auf freien Märkten. - der Gruppenproduktion einer hierarchischen Kontrolle, aber ohne internalisiertes Arbeitsethos“ (SCHÜßLER, 1990, S. 6f.).

151

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dritte

ihre

Überlebensfähigkeit

(Können sich

kooperative

Strategien

gegen

nichtkooperative behaupten?)“ (HOFSTADTER, 1983a, S. 10). Spieltheoretische Überlegungen zur Entstehung von Kooperation gehen im besonderen auf die Untersuchungen von AXELROD (2000) zurück. Für die vorliegende Arbeit relevante Ergebnisse werden im Folgenden Abschnitt dargestellt.

Das Gefangenendilemma als Untersuchungsansatz Die Untersuchungen von AXELROD gehen auf das Problem des Gefangenendilemmas zurück. Das Gefangenendilemma wurde Anfang der 1950er Jahre von MERRIL M. FLOOD und M. DRESHER erfunden (vgl. HOFSTADTER, 1983a, S. 8)144. Das Gefangenendilemma stellt sich folgenderweise dar: Zwei Personen werden eines Verbrechens verdächtigt und als Komplizen verhaftet. Die Indizienlage erlaubt, dass beide Verdächtige zu einer bestimmten Haftstrafe (Bsp. 2 Jahre) verurteilt werden können. Die Staatsanwaltschaft würde die Indizien aber gerne durch einen sicheren Beweis erhärten, um die Verdächtigen zu einer längeren Haftstrafe verurteilen lassen zu können, als dies auf Grund der Indizienlage möglich ist. Von der Staatsanwaltschaft wird den beiden Verdächtigen deshalb der Vorschlag gemacht, ein Geständnis zu machen und das gemeinsam begangene Verbrechen zuzugeben, d.h. sich und den jeweils anderen zu belasten. Dieses Kronzeugenangebot hätte zur Folge, dass der Belastete zu einer längeren Haftstrafe (Bsp. 5 Jahre) verurteilt wird, der Kronzeuge aber frei kommt. Wenn aber beide das Kronzeugenangebot annehmen und den jeweils anderen belasten, werden beide zu einer längeren Haftstrafe (Bsp. 4 Jahre) verurteilt (vgl. BARRET/ DUNBAR/ LYCETT, 2002, S. 31ff.). In dem geschilderten Szenario werden den Verdächtigen zwei Handlungsmöglichkeiten ermöglicht: gestehen oder nicht gestehen. Für die beiden Verdächtigen, die in den folgenden Tabellen mit den Buchstaben A und B benannt werden, ergeben sich zwei mögliche Handlungsalternativen. Je nach Kombination der verschiedenen Handlungsalternativen ergeben sich verschiedene Handlungsfolgen.

144

Vgl. zum Folgenden auch: BARRET/ DUNBAR/ LYCETT , 2002, S. 31ff.

152

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Handlungsalternative

Handlungsfolge

A oder B wird Kronzeuge (...gesteht)

A oder B muss 5 Jahre ins Gefängnis, der jeweils andere nicht

A und B werden Kronzeugen (... gestehen)

A und B müssen jeweils vier Jahre ins Gefängnis

A und B werden keine Kronzeugen (... gestehen A und B müssen jeweils 2 Jahre ins Gefängnis nicht)

Die Gewinn- und Verlustmöglichkeiten, d.h. in diesem Fall die Anzahl der Jahre, die jeder der beiden Verdächtigen im Gefängnis verbringen muss (oder auch nicht!) lassen sich in folgender „Nutzen-Matrix“ darstellen. Gefangener B gesteht

gemeinsame gesteht

Tat (wird Kronzeuge) Gefangener A

gesteht

gemeinsame (4/4)

gemeinsame

Tat nicht (hält dicht) (0/5)

Tat (wird Kronzeuge) gesteht

gemeinsame (5/0)

(2/2)

Tat nicht (hält dicht)

Wie oben bereits beschrieben, ist ein sogenanntes Gefangenendilemma dadurch gekennzeichnet, dass sich zwei Personen in der Situation befinden, in der jeder der zwei Personen durch Kooperation mit dem anderen profitieren könnte. Allerdings wäre der Profit noch größer, wenn einer seinen kooperierenden Mitverdächtigen betrügen würde. Dem Betrüger würden dann keine Kosten entstehen und er würde trotzdem einen Gewinn erhalten. Wenn allerdings beide beteiligten Personen im Gefangenendilemma einen Betrug des jeweils anderen versuchen, werden sie beide keinen Gewinn erhalten, sondern schlechter gestellt sein, als wenn sie kooperativ gehandelt hätten. Die Beteiligten haben sich im Gefangenendilemma nicht freiwillig in die reziprok altruistische Situation begeben, sondern wurden durch das Angebot eines dritten unter Zugzwang gesetzt. Der Zugzwang ist ein wesentlicher Charakteristikum des Gefangenendilemmas. Für welche Alternative sich die beiden entscheiden (oder eben auch nicht), stets werden sie deren Auswirkungen „ausgezahlt“ bekommen. Ein zweites Charakteristikum des Gefangenendilemmas ist seine Konstitution als Nichtnullsummenspiel. Ziel eines Nullsummenspiels ist der Gewinn des Spiels auf Kosten des beteiligten Partners. Einer gewinnt, der andere verliert und die Alternative

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

153

einer Kooperation ist uninteressant, wie dies beispielsweise bei einem Wettkampf im Weitsprung ist, wenn zwei Personen herausfinden wollen, wer weiter springen kann. Das Gefangenendilemma als Nichtnullsummenspiel ist dagegen anders aufgebaut. Es existiert ein dritter Interaktionspartner, durch dessen Auszahlungen die beiden Spielenden bei Kooperation profitieren können. Spieltheoretische Überlegungen im Sinne des Gefangenendilemmas können in vielen verschiedenen Bereichen Relevanz finden. So ist es zum Beispiel für politische Strategieüberlegungen interessant, wie sich z.B. ein Nichteinhalten von Verträgen langfristig auf die Kooperationsbeziehungen der beteiligten Länder auswirkt. Besondere Brisanz hatten diese Überlegungen in Zusammenhang mit den Abrüstungsverhandlungen der Großmächte in den Zeiten des sogenannten Kalten Krieges bis in die 1980er Jahre oder auch in Verbindung mit den internationalen umweltpolitischen Vereinbarungen beispielsweise zu Maßnahmen zum Schutze der Ozonschicht. Von den umweltschützenden Maßnahmen der beteiligten Staaten profitieren „trittbrettfahrende“ Staaten in mindestens zweifacher Weise: von einer Verbesserung des Schutzes der Ozonschicht durch die anderen Länder einerseits und durch bessere Wettbewerbsbedingungen andererseits, da Kosten gespart werden können, die durch die Schutzmaßnahmen entstehen würden. Die Entscheidungen der Beteiligten über Kooperation bzw. Nichtkooperation hängen von verschiedenen Faktoren ab. Ein wesentlicher Faktor ist die Häufigkeit, in der sich die Beteiligten in einer Gefangenendilemmasituation begegnen. Ist diese Begegnung einmalig, wird die individuelle Entscheidung auf einer anderen Grundlage stehen, als wenn die Beteiligten davon ausgehen können, den selben Partner bald wieder vorzufinden. BIERHOFF und KÜPPER fassen die Problematik der einmaligen Dilemmasituation zusammen: „In einem Gefangenendilemma, das nur einmal gespielt wird, ist die unkooperative Wahl rational. Es besteht ein Konflikt zwischen dem individuellen Interesse und dem gemeinsamen Interesse. Wenn jeder der Spielpartner das individuelle Interesse zur Entscheidungsgrundlage nimmt, kommt ein Ergebnis zustande, bei dem der gemeinsame Gewinn niedriger ausfällt, als es aufgrund der Vorgaben nötig wäre“ (BIERHOFF/ KÜPPER, 1999, S. 184).

154

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Interessante Erkenntnisse zur Entstehung von Kooperation lassen sich gewinnen, wenn zwei Partner aufgefordert werden, das Gefangenendilemma wiederholt durchzuspielen (sog. „iteratives Gefangenendilemma“). Dadurch kann erforscht werden, welche Verhaltensstrategien sich langfristig in Dilemmasituationen als am effizientesten herausstellen. Ist es sinnvoll, sich in Situationen des Gefangenendilemmas stets kooperativ zu verhalten oder gelegentlich zu versuchen, den Partner zu betrügen? Ein gelegentlicher Betrug ist reizvoll, weil sich dadurch der sofortige Gewinn drastisch erhöhen könnte, wenn der Partner nicht gleichzeitig auch einen Betrugsversuch unternimmt. Das ursprüngliche oben skizzierte Gefangenendilemma lässt sich zwar auch als iteratives Muster durchspielen. Da es in der Realität aber nicht oft vorkommen dürfte, dass sich zwei Personen wiederholt als Kronzeugen belasten können, ist diese Geschichte für eine mehrmalige Wiederholung wenig plausibel. Deshalb werden unterschiedliche inhaltliche Ausgestaltungen vorgeschlagen. HOFSTADTER (1983a) beschreibt die Variante eines Warentauschs145, VOLAND (2003) die Variante der Ernte145

„Angenommen, Sie besitzen große Mengen irgendeines Gutes (Geld zum Beispiel) und möchten dafür eine bestimmte Menge eines anderen Gutes (Briefmarken, Lebensmittel, Diamanten) erwerben. Also arrangieren Sie mit dem einzigen Händler für dieses Gut, den Sie kennen, ein beide Seiten befriedigendes Tauschgeschäft. Aus irgendeinem Grund muss der Tauschhandel jedoch im geheimen stattfinden. Sie kommen überein, dass jeder von Ihnen einen Sack an einem vereinbarten Ort im Wald deponiert und den Sack des anderen an dessen Versteck abholt. [...] Sie als auch Ihr Händler sind sehr daran interessiert, mit dem, was der andere anzubieten hat, regelmäßig beliefert zu werden. Vor der ersten Transaktion verabreden Sie also, auf Lebenszeit einmal pro Monat einen Tausch durchzuführen. [...] [Sie] rechnen nicht damit, den anderen je zu Gesicht zu bekommen. [...] Keiner von Ihnen hat die leiseste Ahnung, wie alt der andere ist. Also wissen Sie auch nicht, wie lange Ihre lebenslange Übereinkunft dauern mag. Immerhin können Sie davon ausgehen, dass sie wenigstens ein paar Monate, wahrscheinlich aber einige Jahre Bestand hat. Was [...] machen Sie [...] beim ersten Tausch? Einen leeren Sack zu deponieren, wäre eine ausgesprochen fiese Art eine Beziehung anzuknüpfen, und wohl kaum geeignet, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Angenommen also, Sie bringen einen vollen Sack, und der Händler tut das gleiche. Alles ist eitel Freude – einen Monat lang. Dann beginnt das Spielchen von vorn: leerer oder voller Sack? Jeden Monat müssen Sie neu entscheiden, ob Sie ´mogeln´ (einen leeren Sack bringen) oder ´kooperieren´ (einen vollen Sack hinterlassen)“ (H OFSTADTER, 1983a, S. 8f.). Die „Nutzen-Matrix“ für die Dilemmasituation des Warentauschs stellt sich folgenderweise dar (vgl. H OFSTADTER, 1983a, S. 8).

Spieler A

kooperiert mogelt

Spieler B kooperiert (2,2) (4,-1)

mogelt (-1,4) (0,0)

Die angegebenen Punktwerte stehen symbolisch für die Höhe der Gewinne oder Verluste bei gegenseitiger Kooperation oder Nichtkooperation. Wenn beide Spieler kooperieren, erhalten beide 2 Punkte.

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hilfe zwischen zwei Bauern: „Ein Obstbauer (A), dessen Äpfel eine Woche später reifen als die seines Nachbarn (B), könnte B bei der Ernte helfen und so dessen Gewinn vermehren. Das zahlt sich auch für A aus, wenn B bereit ist, sich eine Woche später zu revanchieren, denn zwei Bauern ernten mehr Äpfel als einer. Aber warum sollte B, wenn seine Ernte erst einmal eingefahren ist, für A arbeiten?“ (VOLAND, 2003, S. 17). Beide Beispiele verdeutlichen, dass es schwierig ist, eine realitätsnahe Handlung für ein iteratives Gefangenendilemma zu finden. Der Austausch von Geld und Diamanten (Beispiel HOFSTADTER) an räumlich getrennten Verstecken ist zumindest kein alltäglicher Prozess. VOLANDS Beispiel ist zwar realitätsnäher146, aber aus zwei substantiellen Gründen kein treffendes Beispiel für ein Gefangenendilemma. So kann zum einen Bauer A den Bauern B im ersten gemeinsamen Erntejahr nicht „betrügen“, sondern er kann lediglich seine Hilfe nicht anbieten. Klassische Gefangenendilemma werden deshalb meist so inszeniert, dass die beiden Akteure entweder zeitgleich handeln oder solange nichts von der Entscheidung des anderen erfahren, bis beide agiert haben. Zum anderen kann jeder Bauer nur so viele Äpfel ernten, wie die Bäume tragen, das heißt die Menge der Äpfel ist endlich. Somit ist der Schluss, je mehr Arbeitskräfte, desto größer die Ernte, nur bis zu einer bestimmten Menge zulässig. Trotz der Schwierigkeiten einer lebensnahen Beispielsfindung können Untersuchungen zum iterativen Gefangenendilemma plausibel machen, welche Verhaltensstrategien sich in langfristigen Kooperationsbeziehungen durchsetzen können. Das Gefangenendilemma kann auf verschiedene Weise empirisch untersucht werden. So kann man beispielsweise Versuchspersonen dieses Gefangendilemma Wenn beide mogeln („nicht-kooperieren“), erhalten sie null Punkte, da beide keinen Verlust, aber auch keinen Gewinn gemacht haben. Wenn allerdings nur einer mogelt, der andere aber kooperiert, erhält der Mogelnde 4 Punkte, der Betrogene aber nur minus 1 Punkt, da der Mogelnde ohne eigenen Einsatz reinen Gewinn gemacht hat. 146

Mindestens zwei Überlegungen schränken die Realitätsnähe ein: - Zwei Bauern können davon ausgehen, dass sie im nächsten Jahr auch nebeneinander wohnen werden und auch dann evtl. auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Ein Betrug hätte unter Beachtung des Zeithorizontes einen geringen Anreiz. So schreibt IRRGANG: „Der Zeithorizont ist für kooperatives Verhalten sehr wichtig. Denn bei Langfristigkeit ist reziproker Altruismus durchaus möglich und auch mit der These vom „egoistischen Gen“ vereinbar“ (IRRGANG, 1993, S. 209). - Idealerweise wird beim Anbau auf die Menge der Äpfel geachtet, die mit vorhandenem Arbeitspersonal verarbeitet werden kann (Was mitunter natürlich wegen der Abhängigkeit von der Güte des Erntejahres schwer zu planen ist).

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„spielen“ lassen und ihr Verhalten erfassen. AXELRODS wichtigste Untersuchungsergebnisse basieren aber nicht auf mit Versuchspersonen gewonnenen Daten, sondern auf der Grundlage von Computersimulationen. Er schrieb einen Wettbewerb aus, in dem Computerprogramme gegeneinander in der Gefangenendilemmasituation antreten sollten. Diese Programme mussten angeben können, ob sie in der laufenden Spielrunde kooperieren oder nicht kooperieren wollen147. Eine Auswertung der Turniere erfolgte über eine Nutzen-Matrix, wie sie oben bereits dargestellt wurde. Die Nutzen-Matrix erlaubt eine Punktauswertung der Auswirkungen von den möglichen Verhaltensweisen. Der Erfolg von verschiedenen Strategien kann durch Vergleich von den in den verschiedenen Spielrunden erreichten Punktzahlen gemessen werden.

Spieltheoretische Ergebnisse zum Gefangenendilemma Die siegreiche Strategie des von AXELROD ausgeschriebenen Wettbewerbs zur Erforschung des Gefangenendilemmas, der oben beschrieben wurde, war das kürzeste Programm, das eingereicht wurde und stammte von RAPOPORT. Das Programm hieß „TIT FOR TAT“ (übersetzt etwa: „wie du mir, so ich dir“). Die Taktik dieses Programms ist einfach. TIT FOR TAT kooperiert beim ersten Zug und macht in den folgenden Zügen immer das, was der Spielpartner im Zug davor gemacht hat (vgl. AXELROD, 1997, S. 17f.; HOFSTADTER, 1983a, S.11). TIT FOR TAT wird von AXELROD als nette Strategie bezeichnet, weil sie einerseits nie mogelt, bevor nicht der Mitspieler angefangen hat zu mogeln und andererseits nicht nachtragend ist. Nach der Analyse des ersten Wettkampfs wiederholte AXELROD nach Veröffentlichung der ersten Ergebnisse den Wettbewerb in einem zweiten Computerturnier, an dem sich

147

A XELROD organisierte Computerturniere zur Erforschung erfolgreicher Strategien im Umgang mit dem iterativen Gefangenendilemma. Erstmals veranstaltete A XELROD 1979 einen Wettbewerb, „in dem es darum ging, möglichst viele Strategien für das Gefangenendilemma in einem Turnier alle gegen alle antreten zu lassen. Sieger sollte die Strategie sein, die insgesamt mehr Punkte einbrachte als irgendeine andere. A XELROD bat darum, die Strategie in Form von Computer-Programmen einzureichen. Ein solches Programm sollte auf das K (für Kooperation) oder M (für Mogeln) eines anderen Spielers mit K oder M antworten können und dabei das Verhalten dieses Spielers bei früheren Begegnungen berücksichtigen. Die Entscheidung brauchte nicht deterministisch zu sein; es war also jederzeit erlaubt, einen Zufallsgenerator zu Rate zu ziehen“ (HOFSTADTER , 1983a, S. 10f.). Die Programme mussten 200mal gegeneinander und gegen sich selbst spielen. Am ersten Wettkampf nahmen 14 Programme teil.

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62 Programme beteiligten. Auch dieses gewann RAPOPORT mit seinem Programm TIT FOR TAT148. Aus der Analyse der Computerturniere zieht AXELROD Schlussfolgerungen für die Gründe einer erfolgreichen Strategie. Die Strategie soll: -

nicht neidisch sein auf den Erfolg seines Partners, da langfristig der Erfolg des Partner und der eigene Erfolg einander bedingen.

-

kooperationswillig sein, d.h. nicht als erstes betrügen.

-

sich keinen Betrugsversuch des Partners gefallen lassen, also zur Ahndung von Betrugsversuchen bereit sein.

-

zur „Versöhnung“ bereit und nicht nachtragend sein

-

für seinen Spielpartner durchschaubar und berechenbar sein (vgl. AXELROD, 1997, S. 99-111; DAWKINS, 1994, S. 323ff.; SCHÜßLER, 1990, S. 24).

Diese Strategiemerkmale sind für einen Erfolg in Dilemmasituationen zuträglich.

TIT FOR TAT als evolutionär erfolgreiche Kooperationsstrategie In den bislang aufgezeigten spieltheoretischen Forschungsansätzen wurden untersucht, wie sich die Kooperation zwischen zwei Verhaltensstrategien in einer Dilemmasituation entwickelt. Es ist anzunehmen, dass in einer „natürlichen“ Population meist mehr als zwei Verhaltensstrategien miteinander konfrontiert werden. Will man Verhaltensstrategien realitätsnah erforschen, ist es somit weiterführend, nicht nur zwei, sondern viele Strategien gleichzeitig gegeneinander „antreten“, d.h. wie Individuen einer Population miteinander in Wechselwirkung treten zu lassen. Um zu erforschen, welche Kooperationsstrategien evolutionär erfolgreich149 sind, konstruierte 148

Das Erstaunliche an dem wiederholten Sieg von TIT FOR TAT ist, dass AXELROD nach Analyse der Ergebnisse der ersten Runde des Computerturniers Programme gefunden hatte, die im Nachhinein in der ersten Runde besser als TIT FOR TAT gewesen wären und sich durchgesetzt hätten. „Gegenüber einem unzugänglichen, sturen Spieler ist „tit for tat“ nicht die beste Strategie (HOFSTADTER 1983a, 13). Daher ist diese Strategie zu ergänzen durch Verfahren, unzugängliche Spieler möglichst schnell zu erkennen, um auf „Immer-Mogeln“ umschalten zu können“ (IRRGANG, 1993, S. 209). Trotz aller in der ersten Runde des Wettkampfes gewonnenen Erkenntnisse gelang TIT FOR TAT auch in der zweiten Runde ein erneuter Sieg. 149

In der spieltheoretischen Literatur werden feine Differenzierungen zur Beschreibung von evolutionär erfolgreichen Strategien getroffen. So werden „evolutionär stabile Strategien“ von „kollektiv stabilen Strategien“ unterschieden. Eine evolutionär stabile Strategie (ESS) darf laut Definition „nicht von einer seltenen, mutierten Strategie unterwanderbar sein [...], wenn sie weit verbreitet ist“ (DAWKINS , 1994, S. 345). Für die vorliegende Arbeit erscheint diese Differenzierung nicht weiterführend. Deshalb wird im Folgenden der allgemeine Begriff einer „evolutionär

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AXELROD eine „Umwelt“ (d.h. eine Computersimulation) in der die verschiedenen Strategien miteinander in Konkurrenz treten mussten. Um Erfolg und Misserfolg nach jeder Runde sichtbar zu machen, vermehrte oder verminderte AXELROD die Programme je nach ihrem Rundenergebnis. So konnte dargestellt werden, welche „Einstellungen“ sich langfristig am besten bewähren (vgl. ALLMAN, 1999, S. 101f.; DAWKINS, 1994, S. 343ff.). Es gab deshalb Programme, die nach einigen Runden immer stärker wurden, da sie im Vergleich zu anderen Programmen besser abschnitten. Die Verlierer dagegen wurden schwächer. Wesentliche Ergebnisse waren, dass sich zu Beginn dieser Simulation die eher betrügerisch programmierten Programme sehr stark vermehrten, weil die rein kooperativen Programme „leichtgläubig“ vernichtet wurden. Interessanterweise starben diese eher betrügerisch programmierten Programme nach einigen Runden gemeinsam mit ihren „Opfern“ aus. Letztendlicher Gewinner der Simulation war wieder TIT FOR TAT. Neben TIT FOR TAT waren auch „fünf andere nette, aber provozierbare Strategien [...] letzten Endes fast genauso erfolgreich (genauso häufig in der Population) wie ´Wie du mir, so ich dir´ [...]. Sobald alle gemeinen Strategien ausgestorben waren, war es ganz und gar nicht mehr möglich, irgendeine nette Strategie von ´Wie du mir, so ich dir´ oder voneinander zu unterscheiden, da sie alle, nett wie sie waren, Zusammenarbeit spielten“ (DAWKINS, 1994, S. 344) 150. Wenn Menschen das iterative Gefangenendilemma spielen Pädagogisch besonders spannend sind die Ergebnisse, wenn menschliche Versuchspersonen das Gefangenendilemma spielen. AXELROD berichtet von Versuchen, die er in verschiedenen Seminaren mit Studenten durchgeführt hat (vgl. 1997, S. erfolgreichen Strategie“ verwendet. Unter „evolutionär erfolgreicher Strategie“ wird eine Strategie verstanden, die in einer Population verschiedener Strategien überlebensfähig ist. 150

„Eine Konsequenz aus dieser Ununterscheidbarkeit ist, dass „Wie du mir, so ich dir“ zwar wie eine ESS aussieht, aber strenggenommen keine echte ESS ist“ (DAWKINS, 1994, S. 345). Eine Strategie darf, „um eine ESS zu sein, nicht von einer seltenen, mutierten Strategie unterwanderbar sein [...], wenn sie weit verbreitet ist. Nun kann „Wie du mir, so ich dir“ zwar von keiner gemeinen Strategie unterwandert werden, doch bei einer anderen netten Strategie liegen die Dinge anders. Wie wir gerade gesehen haben, sehen nette Strategien in einer Population solcher Strategien alle genau gleich aus und verhalten sich alle gleich: Sie spielen alle ständig Zusammenarbeiten. Daher kann jede andere nette Strategie, etwa die uneingeschränkt edelmütige Strategie „Immer zusammenarbeiten“, auf wenn sie zugegebenermaßen keinen positiven Selektionsvorteil gegenüber „Wie du mir, so ich dir“ besitzt, in die Population hineindriften, ohne bemerkt zu werden. Somit ist „Wie du mir, so ich dir“ keine echte ESS“ (DAWKINS, 1994, S.345).

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100f.). Auch wenn die Studenten bemerkten, dass sich durch Nichtkooperation langfristig die Gewinne aller Beteiligten verminderten, waren sie nicht in der Lage, ihr Verhalten an der vorteilhaften Strategie eines TIT FOR TAT zu orientieren. AXELROD führt diese ungeschickte Spielweise darauf zurück, dass sich die Spieler gegenseitig beneiden. Auch DAWKINS fasst Untersuchungen mit menschlichen Versuchspersonen ähnlich wie AXELROD zusammen: „Wenn Psychologen echte Menschen das Wiederholte Gefangenendilemma spielen lassen, verfallen leider fast alle Spieler dem Neid und erzielen daher in Bezug auf Geld relativ niedrige Gewinne. Es sieht so aus, als wollten viele Menschen, vielleicht ohne auch nur darüber nachzudenken, eher den anderen Spieler zugrunde richten, als mit ihm zusammenarbeiten, um die Bank zu schädigen. AXELRODS Untersuchungen haben gezeigt, welch ein Fehler dies ist“ (DAWKINS, 1994, S. 351). Trotz dieser ernüchternden Bilanz von AXELROD und DAWKINS lassen sich in der Realität Situationen beobachten, in denen sich das Verhalten von Personen als reziprok altruistisch interpretieren lässt. Ein Beispiel dafür stellt sich folgendermaßen dar: eine Vorfahrtstrasse trifft auf eine Ampel. Hundert Meter vor der Ampel mündet eine kleine Nebenstraße in die Vorfahrtsstrasse. Ein Fahrer B, der mit seinem Auto aus der Nebenstrasse in die Vorfahrtsstrasse abbiegen will, muss den dort fahrenden Autofahrern die Vorfahrt lassen. Bei dichtem Verkehr ist er auf das Wohlwollen der Autofahrer, die auf der Vorfahrtsstrasse fahren, angewiesen und muss warten, bis sich zufällig eine Lücke ergibt oder er von einem freundlich gesinnten Autofahrer A vorgelassen wird. Meine Beobachtung ist die, dass der Fahrer des Autos in der Nebenstrasse bei Grünlicht der Ampel wenig Chancen hat, abbiegen zu können. Hier wollen und können die Fahrer der Vorfahrtsstrasse möglichst schnell selber über die Ampel. Die Kosten, die durch das gönnerhafte Vorfahrtgewähren entstehend (nämlich nicht mehr über die Ampel zu kommen und Zeit zu verlieren) sind zu groß. Ist allerdings Rotlicht und die Fahrer der Vorfahrtsstrasse haben dadurch keine Chance auf eine schnelle Überquerung der Ampel, finden sich meist wohlwollende Fahrer A, die auf ihre Vorfahrt verzichten, und den Fahrer aus der Nebenstrasse eine Lücke freihalten. Wie lässt sich aus soziobiologischer oder spieltheoretischer Sicht dieses „solidarische“ Verhalten begründen? Ein Grund könnte nepotistischer Altruismus sein. Dies würde dann zutreffen, wenn zufällig der Fahrer A auf der Vorfahrtstrasse einen verwandten Autofahrer B sehen würde und ihm die Einfahrt gewährt. Das geschilderte Beispiel ist

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160

aber auch bei wildfremden Personen beobachtbar. Ich bezweifle, dass Prestigeakkumulation als Hauptgrund für dieses solidarische Verhalten zu nennen ist, da in dem oben geschilderten dichten Verkehr sich der „Gönner“ A eher den Unmut der Beobachter (zumindest der auf der Strasse hinter ihm) zuziehen wird. Hauptmotiv für den Altruismusakt ist meines Erachtens deshalb die Hoffnung auf Reziprozität bei der eventuell einmal eintretenden Situation, in der sich die Rollen vertauscht sind. Interessant an diesem Beispiel ist aber, dass man als Autofahrer A zumindest in einer anonymen Großstadt nicht davon ausgehen kann, einem anderen Autofahrer B an der selben Kreuzung in der selben Vorfahrtssituation ein zweites Mal zu begegnen. Ich gehe deshalb davon aus, dass hier ein altruistisches Motiv vorliegt, dass von der Hoffnung auf Reziprozität nicht durch denselben Partner B, sondern durch einen beliebigen anderen (C) lebt. Das Motto hier könnte lauten: „Wie ich dir, so hoffentlich jemand anders einmal mir“. Weiterführende Überlegungen zum Gefangenendilemma Ein Charakteristikum und gleichzeitig aber ein Kritikpunkt des dargestellten Gefangenendilemmas und seiner Variationen ist, dass den Beteiligten nur zwei Handlungsalternativen ermöglicht werden. Diese zwei Handlungsalternativen beispielsweise bei dem ursprünglichen (und namensgebenden) Gefangenendilemma sind so formuliert, dass die Aussage einer Person stets Auswirkungen auf das Strafmaß beider Partner hat. Es ist nur die Aussage zugelassen, ob die Tat gemeinsam begangen wurde oder gemeinsam nicht begangen wurde. Würde man einplanen, dass sich die Verdächtigen auch reuig und sozial verhalten könnten, würde sich die Matrix der Entscheidungsmöglichkeiten vervierfachen. Neben den bereits bekannten Alternativen der Kronzeugenregelung und des Dichthaltens müssten die Möglichkeit eines aufopfernden Geständnisses, bei dem der Partner nicht belastet wird und ein Petzen, d.h. eine Belastung des Partner ohne eigenes Geständnis berücksichtigt werden151. 151

Durch diese zwei weiteren Handlungsmöglichkeiten werden 7 weitere Festlegungen für Haftstrafen erforderlich, die in der folgende Tabelle mit den Buchstaben a bis g gekennzeichnet sind (Die von HOFSTADTER verwendeten Haftstrafen sind in der Tabelle mit Zahlen eingetragen). Wie ändern sich die Haftstrafen - wenn jede Person freiwillig gesteht, ohne den anderen zu belasten (a)? - wenn eine Person die Kronzeugenregelung wählt und die andere Person geständig ist, ohne den Partner zu belasten (b)? - wenn eine Person nicht geständig ist, aber den Partner verpetzt und dieser Partner gleichzeitig gesteht, ohne den Partner zu belasten (c)? - wenn ein Partner dichthält, gleichzeitig der andere Partner aber gesteht, ohne seinen Kumpel zu belasten (d)?

161

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Aus dieser erweiterten Fassung des Gefangenendilemmas würden interessante Fragestellungen zur Entstehung von Solidarität entstehen: Gibt es Personen, die sich selbst, aber nicht den Partner belasten? Was sind Gründe bzw. Motive für dieses aufopferungsvolle Verhalten? Können verwandtschaftliche Beziehungen ein Motiv für dieses aufopferungsvollem Verhalten sein, wie dies in verschiedenen Krimis angenommen wird, in denen Eltern ihre Kinder entlasten wollen? Kann mitfühlende Solidarität ausschlaggebend sein? Erziehung? Welche Gründe gibt es für Petzen? Eine Erweiterung ist auch bei den anderen aufgeführten Illustrationen für das Szenario des Gefangenendilemmas möglich. Bei dem von HOFSTADTER vorgeschlagenen Tauschhandel (vgl. 1983a, S. 8f.) wäre eine weitere denkbare Handlungsalternative, dass ein Händler beispielsweise seine Ware deponiert, aber gleichzeitig eine Bezahlung ablehnt, d.h. eine Spende tätigt152. Ist eine solche Spende evtl. ein gutes

-

wenn eine Person die Kronzeugenregelung wählt, die andere Person aber nicht geständig ist und gleichzeitig den Partner verpetzt (e)? wenn beide Personen den jeweils anderen verpetzen, ohne selber geständig zu sein (f)? wenn eine Person den anderen verpetzt und gleichzeitig nicht selber geständig ist, die andere Person aber dichthält (g)?

Gefangener A

152

belastet sich selbst, aber den Partner nicht (Geständnis) belastet sich selbst und den Partner auch (Kronzeuge) belastet sich selbst nicht, aber den Partner (Petzen) belastet sich selbst nicht und den Partner auch nicht (Dichthalten)

Gefangener B belastet sich selbst, aber den Partner nicht (Geständnis)

belastet sich selbst und den Partner auch (Kronzeuge)

a

b

belastet sich selbst nicht, aber den Partner (Petzen) c

belastet sich selbst nicht und den Partner auch nicht (Dichthalten) d

b

(4,4)

e

(0,5)

c

e

f

g

d

(5,0)

g

(2,2)

Die Kosten-Nutzen-Matrix für den um zwei Handlungsalternativen erweiterten Warentausch würde dann folgenderweise aussehen. Auch durch diese Matrix zeigt sich ein weiterer Unterschied des Dilemmas des Warentauschs zum klassischen Gefangenendilemma. Die vier bislang bekannten Verhaltenserträge verteilen sich zum einen anders in der Matrix. Zum anderen führt die Verhaltenskategorie in der letzten Spalte bzw. Zeile nie zu einem Geschäft.

162

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Mittel, um eine langfristige Kooperation zu ermöglichen? Wie verhält sich der beschenkte Händler beim nächsten Geschäft? Diese Fragen werden durch die mit Hilfe des Gefangenendilemmas gewonnenen Ergebnisse nicht geklärt und bieten eine weitere interessante Forschungsperspektive, die auch besonders für die vorliegende Arbeit weiterführende Erkenntnisse gewinnen könnte.

3.3.3.2 Gerechtigkeitsvorstellungen Eine weitere für pädagogische Konzeptionen Globalen Lernens interessante Frage ist, wie sich eine Gerechtigkeitsvorstellung aus spieltheoretischer Sicht beschreiben lässt. Dazu gibt es verschiedene spieltheoretische Untersuchungsansätze, von denen unter anderem Versuche mit dem sogenannten „Ultimatumspiel“ in den letzten Jahren zu weiterführenden Ergebnissen geführt haben. Das Ultimatumspiel Beim Ultimatumspiel bekommen Versuchspersonen einen Geldbetrag, von dem sie den Betrag behalten dürfen, der übrig bleibt, wenn ein anonymer Spielpartner den von der Versuchsperson angebotenen anderen Teil des Gesamtbetrages als Spende akzeptiert. Die beiden Partner dürfen nicht miteinander kommunizieren und sind einander unbekannt. Das Spiel wird zwischen zwei Partnern nur einmal durchgeführt. Der Beschenkte hat keine Möglichkeit, die Höhe seines Geschenkes mitzubestim-

Händler A (Geld)

Händler B (Ware) Gibt Ware, Gibt Ware, nimmt nimmt kein Geld Geld (Verkaufsabsicht) (Spende) Gibt Geld, aber (-1, 8) nimmt keine Ware (Spende) (2,2) Gibt Geld, (8,-1) Nimmt Ware, (Kaufabsicht) (4,-1) Gibt kein Geld, (4,-1) nimmt Ware (Betrug) Gibt kein Geld, nimmt keine Ware (kein Geschäft)

Gibt keine Ware, nimmt aber Geld (Betrug) (-1,4)

Gibt keine Ware, nimmt kein Geld (kein Geschäft) -

(-1,4)

-

(0,0)-

-

-

-

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

163

men. Er kann das Geschenk nur ablehnen. Eigentlich kann, wenn menschliches Verhalten als ökonomisch nutzenmaximierend beschrieben wird, angenommen werden, dass sich die mit einer Spende bedachte Person über jeden Betrag, selbst wenn er klein ist, freut und diesen als Anteil akzeptiert. Umgekehrt könnte man vermuten, dass der Spender bevorzugt einen kleinen Betrag abgeben und einen größeren Betrag behalten will. Diese beiden Erwartungen wurden durch die spieltheoretischen Untersuchungen aber nicht bestätigt. Es wurden länderspezifische Untersuchungen durchgeführt. Interessanterweise stellte sich bei ersten Forschungsarbeiten heraus, dass Versuchspersonen aus verschiedensten Erdteilen (Europa, Asien, Nordamerika) sowohl als „Geber“ als auch als „Empfänger“ ähnlich handelten. Die in diesen Ländern am häufigsten festgestellte Aufteilung durch den „Geber“ war eine Halbierung des Gesamtbetrages. Die Mittelwerte der Angebote lagen zwischen 44% und 48% der Gesamtsumme. Diese Anteile des Gesamtbetrags wurden von den „Empfängern“ als fair beurteilt und akzeptiert. Wenn allerdings die angebotene Summe unter 20% des Gesamtbetrages sank, wurden sie von den Empfängern fast immer nicht akzeptiert und abgelehnt (vgl. HEINRICH, 2000, S. 973, 976; VOLAND, 2001, S. 332). Diese Ergebnisse des durchschnittlichen Angebots von ungefähr der Hälfte des Gesamtbetrages zeigen, dass offensichtlich dem Geber bekannt ist, dass der Empfänger einen niedrigeren Betrag ablehnen würde. VOLAND geht davon aus, dass „Menschen neben allen ökonomischen Optimierungsinklinationen auch ganz konkrete Vorstellungen von ´Fairness´, also ethisch gespeiste Attitüden“ (2001, S. 332) besitzen. Der „Geber“ profitiert nicht davon, wenn er diese Fairnessregeln missachtet, da der „Empfänger“ offensichtlich zur Ablehnung eines zu „geizigen“ Angebots bereit ist. Das Verhalten vom „Geber“ „kann durchaus nutzenmaximierend angelegt sein. Er gibt dann nur notgedrungen ab, um zumindest einen gewissen Teil behalten zu können. In seine Kosten/Nutzen-Erwägungen fließen aber vermutete Vorstellungen seines Mitspielers von moralischer Fairness ein. Hierin besteht die neuartige Einsicht aus diesen Testserien“ (a.a.O., S. 332f.). Die oben genannten Ergebnisse des Ultimatumspiels mit einer fifty-fifty Aufteilung des Gesamtbetrags wurden mit Versuchen in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen bestätigt. Die Untersuchungen von HEINRICH (2000, vgl. 974ff.) aber haben deutlich gemacht, dass die Fairnessregeln der „Menschheit“ nicht gänzlich kulturunabhängig sind. Er führte das Ultimatumspiel beispielsweise mit einfachen Subsistenzbauern namens Machiguenga, die im Südosten Perus am Amazonas leben, durch und stellte fest, dass in dieser

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

164

Kultur auch noch geringere Angebote als 20% von den „Empfängern“ akzeptiert wurden. Machiguenganische „Geber“ gaben durchschnittlich 26% der Gesamtsumme. In dieser Kultur werden also andere Gerechtigkeitsvorstellungen als fair beurteilt153. Auch in weiteren Untersuchungsarbeiten wurden andere Bevölkerungsgruppen eruiert, die sich von westlichen Werten durch das Geben und auch Akzeptieren von niedrigeren Geldbeträgen unterschieden (vgl. HEINRICH, 2001, S. 74). Es wurden aber mit den „Lamelara“ aus Indonesien auch eine Bevölkerungsgruppe gefunden, bei denen die „Geber“ mehr als die Hälfte des Gesamtbetrages (58 %) abzugeben bereit waren. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es eine kulturkreisabhängige Beurteilung von Fairness und Gerechtigkeit gibt. In keinem Kulturkreis konnte aber bestätigt werden, dass sich die Versuchspersonen als rein ökonomische Nutzen-Maximierer verhalten. Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit werden von Menschen in gemeinsam Kulturkreisen geteilt. Was aber als gerecht und fair beurteilt wird, scheint kulturell unterschiedlich zu sein. Konkurrenzorientierte Gerechtigkeitsvorstellungen Verschiedene Untersuchungsergebnisse, die mit Variationen von Ultimatumspielen gewonnen wurden, belegen, dass die Situation des jeweils anderen bei den Entscheidungen eine große Rolle spielt. -

Vom „Geber“ wird beispielsweise ein geringeres Angebot gemacht und vom „Empfänger“ auch akzeptiert, „wenn die Entscheidung, wer von den beiden Spielern das Angebot macht, nicht durch einen Münzwurf, sondern durch ein Geschicklichkeitsspiel bestimmt wird“ (SIGMUND, et.al., 2002, S. 54). Dann akzeptieren beide Partner mehr die Ungleichheit eines Angebots.

-

„Wenn ein Computer das Angebot macht, werden noch geringere Anteile ohne weiteres akzeptiert“ (ebd.). Das ist evtl. darauf zurückzuführen, dass der „Empfänger“ weiß, dass bei einem Zufallsgenerator moralisches Verhalten (eine Ablehnung) folgenlos bleibt.

153

HEINRICH gibt noch einen interessanten Hinweis hinsichtlich der Vermittlungsfähigkeit von Fairnessvorstellungen: Auch bei den Machiguenga gab es einige wenige Versuchspersonen, die ungefähr 50 % der Gesamtsumme als „Geber“ anboten. Diese Versuchspersonen waren ausschließlich solche, die in stärkeren Kontakt mit westlichen Personen und insbesondere mit nordamerikanischen evangelischen Missionaren standen. HEINRICH vermutet, dass diese Versuchspersonen von diesen Kontaktpersonen westlich geprägte Fairnessvorstellungen übernommen haben (vgl. 977ff.).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

-

165

Wenn das Ultimatumspiel in der Weise verändert wird, dass es fünf mögliche „Empfänger“ gibt, denen der „Spender“ nacheinander denselben Betrag anbieten kann, bis einer der Empfänger den Betrag akzeptiert, wird auch ein erheblich niedrigeres Angebot (10 %) von den Empfängern akzeptiert.

-

Wird das Ultimatumspiel umgekehrt so verändert, dass es fünf „Spender“ gibt, die um einen „Empfänger“ konkurrieren, dann sind die Spender bereit, bis 90% der Gesamtsumme anzubieten (vgl. ebd.).

Kleingruppenmoral als Verhaltensgrundlage NOWAK und SIGMUND gehen davon aus, dass durch ein evolutionäres Modell die Untersuchungsergebnisse des Ultimatumspiels erklärt werden können. Sie beschreiben, dass Menschen evolutionär an ein soziales Umfeld in der Kleingruppe angepasst sind. Dieses soziale Umfeld, an das Menschen evolutionär angepasst sind, wurde weiter oben in der vorliegenden Arbeit unter dem Stichwort sozialen Mesokosmos beschrieben (vgl. 3.3.1). Es ist geprägt vom Zusammenleben in kleinen und vertrauten Gruppen, in denen man viel voneinander weiß (vgl. SIGMUND, 2002, S. 55). Diese Möglichkeit des Wissen voneinander und der Offenheit von Entscheidungen hat Auswirkungen auf die Faktoren der Entscheidung in Situationen des Ultimatumspiels. „Wenn andere wissen, dass ich mich mit einem kleineren Anteil zufrieden gebe, so werden sie dadurch verlockt, mir niedrigere Angebote zu machen. Wenn hingegen bekannt ist, dass mich niedrigere Angebote wütend machen und ich sie vehement ablehne, so haben die anderen Gruppenmitglieder allen Grund, mir einen großen Anteil anzubieten. Die Evolution sollte also negative emotionale Reaktionen auf niedrige Angebote favorisieren. Das ist vermutlich ein wichtiger Grund, warum so viele von uns auf geringere Angebote im Ultimatum-Spiel emotional reagieren. Wir haben das Gefühl, so etwas ablehnen zu müssen, um unsere Selbstachtung zu bewahren – und Selbstachtung ist vom evolutionären Standpunkt aus ein Mittel, uns einen Ruf zu erwerben, der uns in zukünftigen Begegnungen nützlich sein kann“ (ebd.). Sozialisationsgeprägte Gerechtigkeitsvorstellungen GÜTH et.al. differenzierten die Aufgabenstellung des Ultimatumspiels in einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 und untersuchten ein sogenanntes „Drei-Personen-Ultimatumspiel“. Wiederum konnte ein „Geber“ Geld verteilen, das fiktiv als Erbschaft

166

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

einer Tante deklariert wurde. Der „Geber“ (X) sollte das Geld zwischen sich und seinen zwei Brüdern aufteilen. Allerdings konnte nur einer (Y) der beiden „Empfängerbrüder“ bestimmen, ob das Angebot fair ist oder es ablehnen. Der zweite Bruder (Z) hatte keine Einflussmöglichkeiten. Bei Ablehnung des Angebots durch den einen der „Empfängerbrüder“ wurde den drei Brüdern die Erbschaft wieder entzogen. Durch ein Ausweitung des Ultimatumspiels auf drei Personen können mehrere Fragestellungen bearbeitet werden. Es kann wie beim einfachen Ultimatumspiel untersucht werden, ob sich Menschen als ökonomische Nutzen-Maximierer verhalten oder ob ihr Verhalten durch verinnerlichte Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen beeinflusst wird. Darüber hinaus kann aber untersucht werden, ob die beiden Entscheidungsträger bei dem Spiel eine Koalition bilden und den dritten Bruder benachteiligen oder nicht (vgl. GÜTH et. Al., 2002, S. 4). Die drei häufigsten „Geberentscheidungen“ stellten sich folgendermaßen dar (vgl. a.a.O., S. 25): Ergebnisse für alle Versuchspersonen Verteilung X-Y-Z

Prozentangabe,

wie Prozentangabe,

wie

viele X dieses Angebot viele Y dieses Angebot gewählt haben

akzeptieren

400-400-400

54,9

96,7

600-500-100

16,8

64,9

1000-100-100

9,1

22,5

Das Ergebnis zeigt, dass mehr als die Hälfte der insgesamt 5211 Versuchspersonen eine Aufteilungen zu gleichen Teilen angeboten haben, die fast von allen als fair akzeptiert wurde. 16,8 % der Versuchspersonen versuchten, mit dem einen Bruder eine Koalition gegen den Bruder zu bilden, der von der Entscheidung ausgeschlossen war. Weniger als 10% beanspruchten den maximal möglichen Teil für sich und versuchten, beide Brüder mit dem minimalen Teil „abzuspeisen“. GÜTH et.al. konnten mit einer differenzierten Betrachtung weitere interessante Ergebnisse der Untersuchung gewinnen und zeigen, dass sich Studenten einer Ökonomievorlesung stark von den übrigen Versuchspersonen unterschieden (vgl. GÜTH et.al., 2002, S.32).

167

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Ergebnisse für Studenten einer Ökonomievorlesung in Frankfurt Verteilung XYZ

Prozentangabe,

wie Prozentangabe,

wie

viele X dieses Angebot viele Y dieses Angebot gewählt haben

akzeptieren

400-400-400

10,4

93,3

600-500-100

30,6

92,2

1000-100-100

35,2

47,7

Die Studenten machten deutlich egozentrischere Angebote als die übrigen Versuchspersonen und waren gleichzeitig auch bereit, solche Angebote zu akzeptieren. Nur jeder zehnte Student machte ein Angebot, bei dem alle drei Brüder denselben Geldanteil bekommen. Diese Studenten scheinen also ein anderes Wertesystem verinnerlicht zu haben als die übrigen Versuchspersonen154. Zwei mögliche Interpretationen liegen nahe: entweder besuchen nur solche Personen Ökonomievorlesungen, die von „natur aus“ opportunistischer hinsichtlich einer persönlichen Gewinnmaximierung sind oder aber ihre Werte wurden im Sozialisationsprozess geformt.

3.3.4 Kognitive Fähigkeiten zur Überprüfung von Regeln aus Sicht der Evolutionären Psychologie Einen vierten Zugang zu einer realistischen Abschätzung der Entstehung von Solidarität in einer globalen Perspektive eröffnen Ergebnisse der Evolutionären Psychologie. Für Entstehung und Festigung von kooperativen Beziehungen ist das Verhalten von allen Beteiligten wesentlich. Besonders wenn größere Gruppen mit kooperativen Strategien gemeinsam ein Ziel erreichen wollen, ergibt sich die Gefahr des Ausnutzens dieser Gemeinschaftsleistung durch sogenannte „Trittbrettfahrer“, d.h. Personen, die von der kollektiven Leistung profitieren wollen, ohne selber zu investieren. Es scheint naheliegend, dass es im Interesse der ausgenutzten Gruppenmitglieder liegen müsste, auf solches Trittbrettfahren reagieren zu können, um es zu unterbinden. Für eine Reaktion ist eine Entdeckung von Trittbrettfahrern grundlegend. 154

Studenten sind vergleichsweise jüngere Versuchspersonen. Jüngere Versuchspersonen geben und akzeptieren durchschnittlich eine geringere Geldsumme als ältere Versuchspersonen. Die Studenten haben sich aber von den übrigen jüngeren Versuchspersonen durch nochmals niedrigere Geldbeträge abgehoben (vgl. GÜTH et.al., 2002, S. 32).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

168

Die evolutionäre Psychologie hat Untersuchungsergebnisse zu menschlichen kognitiven Fähigkeiten im Umgang mit Trittbrettfahrern vorgelegt. Einschlägige Veröffentlichungen in diesem Forschungsbereich wurden von dem amerikanischen Wissenschaftlerehepaar COSMIDES und TOOBY verfasst. COSMIDES und TOOBY haben gezeigt, dass der menschliche Verstand zur Lösung von bestimmter Spezialaufgaben besonders prädestiniert ist. Die beiden Wissenschaftler führen diese Spezialisierung auf evolutionär besonders wichtige Herausforderungen zurück, zu deren Lösung bestimmte kognitive Leistungen wesentlich waren. Die Ergebnisse verdeutlichen die Grundthese der Evolutionären Erkenntnistheorie, dass sich nicht nur die morphologischen Formen, sondern auch die kognitiven Möglichkeiten der Menschen im evolutionären Prozess entwickelt haben und auch heute die menschlichen Möglichkeiten prägen (vgl. ALLMAN, 1999, S. 41). Besondere kognitive Leistungen bescheinigen TOOBY und COSMIDES dem menschlichen Verstand dann, wenn es darum geht, Regeln einzuhalten, d.h. zum Beispiel Betrüger bzw. Trittbrettfahrer zu enttarnen. Im nächsten Abschnitt werden die menschlichen kognitiven Fähigkeiten im Erkennen von sozialen Abweichlern dargestellt. Diese Fähigkeiten sind für die Entstehung von Solidarität wesentlich, da dadurch Verluste vermieden werden können. Exkurs: Der Wason Selection Task als Untersuchungsmethode Die Untersuchungen von TOOBY und COSMIDES, die im Folgenden Teil dieser Arbeit beschrieben werden, wurden mit Hilfe des „Wason Selection Task“ (WST) durchgeführt. In diesem Versuch werden Personen aufgefordert, die Codierung von vier Karten zu überprüfen, die auf der einen Seite mit einer Zahl und auf der anderen Seite mit einem Buchstaben beschrieben sind. Die Karten sollen beispielsweise schulische Probearbeiten darstellen, deren korrekte Markierung durch die Versuchspersonen überprüft werden sollen. Den Versuchspersonen wird als zu überprüfende Codierungsregel genannt: hat eine Person die Note „D“, dann muss auf der Schulaufgabe die Codeziffer „3“ geschrieben sein. Als Ziel wird vorgegeben, nur die Karten umzudrehen, die explizit nötig sind, um die Regel zu überprüfen (vgl. COSMIDES / T OOBY, 1992a, S. 181ff.). Folgende Karten werden den Versuchspersonen vorgelegt.

169

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

3

F

D

7

In Versuchen wurde festgestellt, dass sich mehr als 90 Prozent aller Versuchspersonen für die falsche Lösung entschieden, d.h. nicht die Karten D und 7 umdrehten (vgl. ALLMAN, 1999, S. 42). Auch Übungen im logischen Schlussfolgern konnte die Lösungsfähigkeit für die Aufgaben nicht wesentlich erhöhen (vgl. COSMIDES/ TOOBY, 1997, S. 20). WASON variierte die Aufgabestellung vielfach155. Es wurden Regeln getestet, die für die Versuchspersonen aus dem täglichen Leben vertraut waren (z.B. „Wenn eine Person nach Boston geht, dann nimmt sie die U-Bahn“) und auch befremdliche Regeln (z.B. „Wenn du Antilopenfleisch isst, dann hast du eine Eierschale von einem Strauss gefunden“). In den Experimenten schnitten die Probanten bei beiden Fragestellungen genauso schlecht ab. Kognitive Leistungen bei der Kontrolle sozialer Normen Ein auf den ersten Blick erstaunliches Ergebnis des WST erhält man, wenn der Test mit einer Aufgabe illustriert wird, deren Ziel die Kontrolle sozialer Normen ist. Wird eine Aufgabe der gleichen Struktur nämlich in diesem speziellen Kontext formuliert, geben etwa 75 Prozent aller von COSMIDES in einer Studie befragten Personen die richtige Antwort156. COSMIDES und TOOBY haben die Aufgabenstellungen für die Ver155

Die allgemeine Struktur der Aufgaben blieb auch bei den Variationen gleich:

P

Nicht-P

Q

Nicht-Q

P und Q werden definiert. Folgende Regel soll durch Umdrehen der dafür explizit nötigen Karten überprüft werden: „Wenn P auf der einen Seite der Karte steht, dann steht Q auf der anderen Seite der Karte“. Zur Überprüfung muss die P und die Nicht-Q Karte umgedreht werden. 156

Eine Aufgabe in diesem Kontext wird folgenderweise beschrieben: „Sie gehören zum Stamm der Kaluame, einer polynesischen Volksgruppe, die nur auf der Pazifikinsel Maku lebt. Die Kaluame kennen viele strenge Gesetze, die strikt eingehalten werden müssen, und Sie wurden

170

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

suchspersonen verschieden variiert, um die gewonnenen Ergebnisse abzusichern (vgl. ALLMAN, 1999, S. 47f.)157. Die Abbildung auf der übernächsten Seite gibt darüber einen Überblick 158.

von den Stammesältesten zum Hüter dieser Gesetze auserwählt. Wenn Sie versagen, bringt dies Schande über Sie und Ihre gesamte Familie. Bei den Kaluame ist es Brauch, dass einem Mann bei seiner Hochzeit das Gesicht tätowiert wird. Eine Gesichtstätowierung bedeutet also, dass ein Mann verheiratet ist, ein untätowiertes Gesicht hingegen, dass der Betreffende ein Junggeselle ist. Cassavawurzel ist ein starkes Aphrodisiakum; der Mann, der diese Wurzel verzehrt, wirkt auf Frauen einfach unwiderstehlich. Außerdem schmeckt sie sehr gut und enthält viele Nährstoffe, ist aber leider ziemlich selten. Ganz anders ist das bei den Molonüssen: Die findet man überall, doch dafür schmecken sie schlecht, sind nicht sehr nahrhaft und „medizinisch“ uninteressant. Obwohl jedermann darauf brennt, Cassavawurzeln zu essen, ist der Verzehr der Wurzeln ein streng reglementiertes Privileg. Nun, auch wenn sie keine Cassava gegessen haben, kann man die Kaluame nicht gerade als „Sexmuffel“ bezeichnen; aber trotzdem gelten recht strenge Sitten. Die Stammesältesten lehnen Geschlechtsverkehr zwischen Ledigen rigoros ab und hegen die schlimmsten Befürchtungen, insbesondere, was die Absichten der Junggesellen anbelangt. Aus diesem Grund hat der Ältestenrat mehrere Verordnungen erlassen, die den Verzehr der Cassavawurzel regeln. Ihre Aufgabe ist es nun, darauf zu achten, dass die folgende Regel von der Kaluame eingehalten wird: Wenn ein Mann Cassavawurzel verzehrt, dann muss sein Gesicht tätowiert sein. Cassavawurzel ist allerdings ein so starkes Aphrodisiakum, dass viele Männer versuchen, gegen das Gesetz zu verstoßen, wenn die Ältesten gerade nicht hinschauen. Die folgenden Karten geben Ihnen Auskunft über vier junge Kaluame-Männer, die sich in einem Lager im Urwald aufhalten. Keiner der Ältesten befindet sich im Lager, und man hat ihnen soeben ein Tablett mit Cassavawurzeln und Molonüssen hingestellt. Jede Karte entspricht einem Mann. Auf der Vorderseite steht, welche Pflanze der Mann verzehrt, auf der Rückseite, ob sein Gesicht eine Tätowierung hat oder nicht. Ihre Aufgabe besteht darin, diejenigen Männer herauszufinden, die die Wollust eventuell zur Übertretung der Regel treiben könnte – wenn Sie einen Gesetzesbrecher nicht erwischen, bringt dies Schande über Sie und Ihre gesamte Familie. Welche Karte müssen Sie definitiv umdrehen, um festzustellen, ob einer der Kaluame-Männer die Regel bricht?“ (a.a.O., S. 42f.). Die Karten liegen folgenderweise vor:

Isst Cassavawurzel

Tätowierung

keine Tätowierung

Isst Molononüssse

Etwa 75 Prozent der während der Untersuchung von COSMIDES befragten Personen haben sich richtig für die Karten „isst Cassavawurzel“ und „keine Tätowierung“ entschieden. 157

An dieser Stelle sollen nur zwei Beispiele für die weitere Forschungsarbeit von C OSMIDES und T OOBY gegeben werden: Beispiel a: „Um sicherzugehen, dass ihre Kandidaten tatsächlich nur auf das soziale Umfeld des Kaluame-Problems reagierten, konfrontierte Cosmides eine andere Testgruppe mit einer etwas abgeänderten Version der Aufgabe. In diesem Fall blieben die Inselkulisse wie auch das Gesetz, das eingehalten werden musste, unverändert, jedoch wurde die gesamte Situation so variiert, dass es nun keinen ´Gesellschaftsvertrag´ mehr gab: Cassavawurzeln und Molonüsse besaßen den gleichen Nährwert, doch wuchsen die Nüsse nur auf der einen Seite der Insel, die Wurzeln nur auf der anderen. Zudem besaßen lediglich die Männer auf der einen Inselhälfte

171

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Diese besonderen kognitiven Fähigkeiten zur Kontrolle sozialer Normen wurde kulturunabhängig festgestellt (vgl. VOLAND, 2003, S. 17f.): „Ob US-amerikanisch College-Studierende (die häufigsten Probanden der Evolutionspsychologie) oder tropische

Jäger

und

Sammlerinnen

(die

begehrtesten

Probanden

der

Evolutionspsychologie): Reziprozität wird überwacht und ständig bilanziert, und Abweichler sind einem entsprechenden Druck ausgesetzt“ (ebd.). COSMIDES begründet die Problemlösungsleistungen bezüglich der Einhaltung sozialer Regeln damit, dass sich im Laufe der Evolution eine Art geistiger Lügendetektor zur Enttarnung von unkooperativem Verhalten entwickelt hat. COSMIDES stellt die These auf, dass die unterschiedliche Lösungskompetenz mit der Evolution der menschlichen Psyche zusammenhängt, die weniger darauf „getrimmt“ ist, abstrakte Zusammenhänge zu lösen, vielmehr aber ein Problem zu lösen imstande ist, „das über Jahrtausende hinweg im menschlichen Miteinander präsent war: diejenigen herauszufinden, die sich vor ihrem Anteil an sozialen Verpflichtungen drücken wollten“ (ALLMAN, 1999, S. 45)

Gesichtstätowierungen, die auf der anderen jedoch nicht. Bei dieser Testvariante kamen nur 25% der Kandidaten auf das richtige Ergebnis“ (A LLMAN , 1999, S. 47). Beispiel b: „Darüber hinaus stellte C OSMIDES fest, dass die Testpersonen auch dann weiterhin so entschieden, als ob es einen ´Gesellschaftsvertrag´ gäbe, wenn dies laut konkreter Aufgabenstellung völlig unlogisch war. Einer Testgruppe gab C OSMIDES das Ausgangsszenario vor, jedoch waren diesmal die Konditionen des Gesetzes umgekehrt formuliert: Wenn ein Mann eine Gesichtstätowierung hat, dann verzehrt er Cassavawurzel. Auch hier gab es die gleichen Karten wie oben – ´ist Cassavawurzel´, ´Tätowierung´, ´keine Tätowierung´ und ´isst Molonüsse´. Doch da die Regel umgekehrt formuliert war, hätte die logisch korrekte Antwort ´Tätowierung´ und ´isst Molonüsse´ lauten müssen. Tatsächlich wählten aber fast 70 Prozent der Testpersonen die Karten ´isst Cassavawurzel´ und ´keine Tätowierung´. Obwohl jeder Mathematiker sofort nachweisen würde, dass die Antwort logisch falsch ist, ist sie gleichwohl richtig, wenn es um die wichtige Aufgabe geht, einen ´Mogler´ zu erwischen. ´Von der Warte eines Logikers aus mögen diese Menschen zwar unlogisch handeln´, meint COSMIDES . ´Entwicklungsgeschichtlich gesehen verhalten sie sich jedoch völlig richtig. Wenn Sie also die Gesetze der Logik anwenden, mögen Sie zwar die richtigen Antworten finden, doch bedeutet das auch, dass Sie als Mensch eine Fehlkonstruktion sind´. Die meisten Menschen denken im Rahmen geltender gesellschaftlicher Spielregeln, nicht logisch“ (a.a.O., S. 47f.). 158

Die folgende Abbildung ist entnommen: COSMIDES / T OOBY, 1992, S. 182

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

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Für VOLAND ist „menschliche Intelligenz [...] primär soziale Intelligenz“ (2003, S. 17). Nach VOLAND erleichtert es diese soziale Intelligenz den Menschen, „Abweichungen von sozialen Regeln als Regelverletzungen zu erkennen“ (ebd.). Dagegen fällt es schwerer, „logisch gleichartige Abweichungen von Regeln, die keinen sozialen Bezug aufweisen“ (ebd.) zu erkennen. VOLAND fasst zusammen: „Betrüger zu entlarven, gelingt uns leichter, als logisch denken“ (ebd.). Einen ähnlichen Erklärungsansatz bietet TREML (2001). Die TREMLSCHE Differenzierung der verschiedenen Raumarten wurde in Anschnitt 3.1.2.3 dargestellt. Die Lösung von Problemen mit sozialen Abweichlern ist dem Handlungs-, bzw. Vorstel-

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lungsraum zuzuordnen. Die Verknüpfung derartiger Probleme mit im Handlungsraum gewonnenen Erfahrungen fällt leicht. TREML kommt deshalb zu dem Schluss: „Es besteht offenbar so etwas wie ein evolutionär bedingtes strukturelles Handicap beim Versuch, uns in abstrakten Räumen zu bewegen“ (TREML, 2001, S. 195). Die Beurteilungen der aufgezeigten Forschungsarbeiten von COSMIDES und TOOBY sind sehr unterschiedlich. VOLAND beispielsweise würdigt die Forschungsergebnisse von TOOBY und COSMIDES sehr positiv. Für ihn haben COSMIDES und TOOBY mit ihren Experimenten „eindrucksvoll“ (2003, S. 17) nachgewiesen, „dass unser Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkapparat ganz speziell dazu eingerichtet ist, soziale Einseitigkeiten aufzuspüren“ (ebd.). Kritisch äußert sich dagegen zum Beispiel HESCHL und bezeichnet die Forschungsarbeiten und Interpretationen von COSMIDES und TOOBY als „spekulativ“ (1998, S. 330)159. Weiterhin ist meines Erachtens untersuchungsmethodisch diskussionswürdig, ob die von COSMIDES und TOOBY verwendeten

logischen

Aufgaben

tatsächlich

vergleichbar

sind160.

159

HESCHL (1998) wirft COSMIDES und TOOBY vor, „dass der in der evolutionären Theorie des Verhaltens spätestens seit NIKO TINBERGER (1963) fundamentale Unterschied zwischen ultimatem Prinzip (survival value) und proximatem Ergebnis (causation) nicht wirklich verstanden wird“ (a.a.O., S. 330). An anderer Stelle schreibt HESCHL, dass „TOOBY und COSMIDES vor lauter Begeisterung für das vermeintlich versteckte Biologische das Kind mit dem Bade aus (schütten), wenn sie meinen, von der durchaus berechtigten Relativierung der rein umweltbedingten Variabilität gleich direkt auf eine universell gleichartige genetische Ausstattung aller Menschen schließen zu müssen“ (a.a.O., S. 328f.). „Zu guter Letzt erzählt TOOBY und COSMIDES´ Versuch einer vermeintlich evolutionären Begründung wieder nichts anderes als die inzwischen schon etwas sattsam bekannte Geschichte von der guten alten pleistozänen Steinzeit, in der wir unsere offensichtlich für immer unveränderliche, da arttypisch einheitliche kognitive Architektur erworben hätten. Da die biologische Evolution diesem längst überholten Klischee nach nur sehr, sehr langsam arbeitet, unsere kulturelle Entwicklung aber paradoxerweise so unglaublich rasant dahinspurtet, geht es – scheinbar – gar nicht anders, als das wir von unserem eigenen zivilisatorischen Geist überholt und letztlich sogar überfordert wurden. Ein Geist also, der sich selbst überholt, eine ganz und gar unglaubliche Geschichte: ´Unsere Art verbrachte über 99% ihrer evolutionären Geschichte als pleistozäne Jäger und Sammler: die Gattung Homo entstand vor ungefähr 2 Millionen Jahren, und Ackerbau erschien zum ersten Mal vor weniger als 10.000 Jahren (LEE & DEVORE 1968). Zehntausend Jahre sind nicht lange genug, dass viel evolutionäre Veränderung hätte stattfinden können, im Vergleich zur langen Generationsdauer beim Menschen; folglich sollten unsere kognitiven Mechanismen an den Lebensstil als Jäger und Sammler angepasst sein und nicht an die industrialisierte Welt des zwanzigsten Jahrhunderts (Ü.d.A.)´ (LEDA COSMIDES 1989, S. 194). Eine solche Behauptung ist nichts als reine, wenn auch sehr populäre Spekulation und steht damit auch noch der offiziell deklarierten Methode der evolutionären Psychologie direkt entgegen” (a.a.O., S. 329). 160

Kritische Anmerkungen: Während COSMIDES laut ALLMAN behauptet, dass beide Arten von Aufgaben „auf einer bestimmten Ebene absolut identisch sind“ (ALLMAN, 1999, S. 44), sehe ich bei den beiden oben skizzierten logischen Problemen einen nicht vernachlässigbaren Unterschied in der Aufgabenstellung. Bei der ersten Aufgabenstellung ist nicht jedem Buchstaben eindeutig eine Zahl zugeordnet, d.h. die Fragestellung lässt offen, ob der Codeziffer 3 noch andere Buchstaben neben dem Buchstaben D zugeordnet werden können. Nur wenn dies der Fall ist, ist es tatsächlich sinnlos, die Karte mit der Zahl drei zu überprüfen.

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3.3.5. Folgerungen für Globales Lernen: Teil 3: Förderung von globaler Solidarität vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse Aus naturwissenschaftlich anthropologischer Perspektive konnten verschiedenste Überlegungen zu Solidarität gewonnen werden. Während die evolutionäre Erkenntnistheorie besonders auf die kognitiven Erkenntnisunterschiede zwischen Nahbereich und Fernbereich hinweist, werden durch soziobiologische Untersuchungen unterschiedliche Motivationen zur Entstehung von Solidarität vorgelegt, die durch spieltheoretische und evolutionär erkenntnistheoretische Überlegungen verfeinert wurden. Vor einer fachspezifischen Auswertung der Erkenntnisse im Hinblick auf die Lernherausforderung „Entstehung einer globalen Solidarität“ im Sinne der Konzepte Globalen Lernens sind deshalb zwei wesentliche Erträge der vorliegenden Arbeit festzuhalten: zum einen ist es zur Entstehung einer globalen Solidarität wesentlich, zwischen nahbereichsbezogenen und den darüber hinausgehenden Erfahrungen zu unterscheiden. Zum zweiten erscheint es sinnvoll, nicht mehr mit den allgemeinen Begriff „Solidarität“ zu arbeiten, sondern diese hinsichtlich ihrer Motivationen differenziert darzustellen.

3.3.5.1 Weltweite Solidarität und sozialer Mesokosmos Forschungsarbeiten der evolutionärer Erkenntnistheorie verdeutlichen, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit und auch die menschliche Sozialität auf den Nahbereich, d.h. den Mesokosmos der (sozialen) Erkenntnis, spezialisiert ist. Menschliches Verhalten wurde aus erkenntnistheoretischer Sicht im sozialen Nahbereich evolviert.

Wenn man allerdings von einer „gewohnten“, „alltäglichen“, eindeutigen Zuordnung im Sinne von A = 0, B = 1, C = 2, D = 3, E = 4, usw. ausgeht, macht es natürlich Sinn, auch die Rückseite der Karte 3 zu überprüfen. Interessant wäre in diesem Fall die Überprüfung, woher dieses „Alltagsverständnis“ stammt. Man könnte diese These überprüfen, indem man den Versuchspersonen während der Aufgabenstellung erklärt, dass auch andere Buchstaben der Zahl drei zugeordnet sein können und dürfen. Bei der zweiten Aufgabenstellung ist es dagegen für die Lösung irrelevant, was ein Tätowierter isst und wer Molonüsse isst, da die Fragestellung genauer präzisiert wurde. Auch in der zweiten Frage ist also keine eindeutige Zuordnung vorhanden, allerdings wurde durch die ausschweifende Hinführung zur Frage die Versuchspersonen exakt instruiert, auf welche Zusammenhänge sie achten sollen. (So müsste man sich, wenn man die Karten „Tätowierung“ und „isst Molonüsse“ umdrehen würde, z.B. folgende Frage stellen: „Essen Tätowierte freiwillig die unschmackhaften Molonüsse, wenn sie doch die Cassavawurzel essen dürften?“. Die Beantwortung dieser Frage dient aber nicht dazu, regelbrechende Nichttätowierte zu überführen.) Vgl. zur Kritik der Untersuchungen und Interpretationen von C OSMIDES und T OOBY die Überlegungen von C HENG und HOLYOAK (in: BARRET / DUNBAR/ LYCETT, 2002, S. 284).

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Je weiter etwas außerhalb des sozialen Mesokosmos liegt, desto weniger stark ist seine emotionale Bedeutsamkeit. Durch diese Argumentationsweise kann verständlich werden, warum es Menschen schwer fallen kann, tierische Nahrung eigenhändig zu töten. Jede eigenhändige Schlachtung findet nämlich im sozialen Mesokosmos statt. Eine Tötung wird besonders dann schwer fallen, wenn eine Beziehung zwischen Schlachter und Tier aufgebaut wurde. Manche Schlachttierhalter lehnen es aus diesem Grund beispielsweise ab, Schlachtvieh während der Aufzucht einen Namen zu geben und sich z.B. durch Streicheln ihnen gegenüber sozial zu verhalten, da ihnen dann die Schlachtung zu „nahe“ gehen würde. Dieses Verhalten ist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse um den Mesokosmos der sozialen Erkenntnis erklärbar, da auch Tiere durch Namensgebung und gefühlsbetonten Handlungen in den Mesokosmos der sozialen Erkenntnis aufgenommen werden würden. Dagegen zeigen viele Menschen wenig Skrupel, steril verpacktes Fleisch aus dem Lebensmittelhandel zu essen. Hier wurde die Schlachtung jenseits ihres sozialen Mesokosmos vorgenommen. Dabei handelt es sich in beiden Fällen aber um dieselbe Substanz – um essbares Fleisch von einem getöteten Tier. Der Hungertod von Menschen in der sogenannten Dritten Welt ist ein anderes Beispiel, das dem Kontext des „Globalen Lernens“ entnommen ist. Da dort hungernde Menschen weit von dem sozialen Mesokosmos z.B. der Europäer entfernt leben, können in Europa lebende Menschen dieses Leid ignorieren und zeigen deshalb wahrscheinlich weniger Hilfsbereitschaft als bei einem Kind in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Wie in Gliederungspunkt 2.1.3 gezeigt wurde, ist es im Sinne der Konzepte Globalen Lernens ein pädagogisches Anliegen, Lerngegenstände, die jenseits des sozialen Nahbereichs verankert sind, für Lernende fassbar zu machen und zum Beispiel zu einer globalen Solidarität zu motivieren. Es werden im Folgenden sechs theoretische Möglichkeiten aufgezeigt, die sich aus den Ergebnissen der Diskussion um den sozialen Mesokosmos begründen lassen. Bei den ersten drei Möglichkeiten wird versucht, die besonderen menschlichen Möglichkeiten im sozialen Nahbereich nutzbar zu machen.

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Durch den Mesokosmos der sozialen Erkenntnis wird eine räumlich begrenzte besondere Qualität von Beziehungen beschrieben. Im Nahraum ist eine stärkere Betroffenheit möglich als jenseits des Nahbereichs. Bei räumlich weit entfernten Lerngegenständen erscheint es deshalb erstens naheliegend, die Lernenden zu den Lerngegenständen oder zweitens den Lerngegenstand in den sozialen Mesokosmos der Lernenden zu bringen. Da es sich bei der Lernherausforderung der Förderung einer weltumspannenden Solidarität um ein soziales Lernziel handelt, dessen Lerninhalt die Beziehungen zwischen Menschen betrifft, ist ein zueinander bringen von Lernenden und Lerngegenstand z.B. in realen Begegnungen während Auslandsaufenthalten möglich. Eine adäquate Möglichkeit ist z.B. ein Schüleraustausch, d.h. Besuch und Gegenbesuch zwischen Personen aus verschiedenen Ländern. Durch einen intensiven Kontakt in Gastfamilien kann Fremdes im sozialen Mesokosmos vertraut werden. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, auch in räumlich weit entfernten Beziehungen Strukturen aufzubauen, die dem sozialen Nahbereich ähneln. So kommt es beispielsweise den Erkenntnismöglichkeiten im sozialen Mesokosmos entgegen, Organisationsstrukturen so zu ändern, dass aus räumlich weit getrennt lebenden Personen eine Art Nahbereichsgruppe entstehen kann. Indem große und anonyme Menschenmengen beispielsweise hierarchisch organisiert werden, kann „damit abstrakte und unüberschaubare Interaktion durch konkrete und überschaubare Kleingruppeninteraktion wieder möglich“ (TREML, 1999b, S. 182f.) gemacht werden. Dass die Organisation von Personen durch Hierarchien und Bürokratien durch die dort stattfindende Gruppenbildung von Spezialisten zur Entstehung von Kooperation zuträglich ist, hat AXELROD mit seinen spieltheoretischen Untersuchungen zeigen können (vgl. 1997, S. 117f.). Für Konzepte Globalen Lernens könnte diese bedeuten, dass es für Entstehung von globaler Solidarität zuträglich sein kann, die Lernenden in kleinen und überschaubaren weltweiten Gruppen zu organisieren. Verschiedene weitere Möglichkeiten sollen an vierter Stelle genannt werden, durch die versucht wird, die Erkenntnisse um den Mesokosmos der sozialen Erkenntnis nutzbar zu machen. Dabei wird versucht, einen faktischen Widerspruch zu umgehen. TREML bezeichnet diese Strategien als fiktive Als-ob-Strategie oder auch als Nahbereichsfiktion (vgl. 1999b, S. 183). „Man tut gewissermaßen so, als ob die Großgruppe

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eine getarnte Kleingruppe wäre. Man tut so, als ob soziale Fernbeziehungen wie soziale Nahbeziehungen organisiert werden könnten – und installiert dafür eigene und kunstvolle Symbolwelten, die diese Vorstellung transportieren, wie Religion, Mythos, Moral. [...] Und man durchtränkt die Lebenswelt mit Symbolen des Nahbereichs und benützt sprachlich eine Nahbereichssemantik“ (1999b, S. 182f.). TREML hält diese „Als-ob-Fiktionalität“ theoretisch für wertlos und falsch, aber praktisch für hilfreich, „weil sie eine unwahrscheinliche Errungenschaft der sozio-kulturellen Evolution unter bestimmten Bedingungen wahrscheinlicher zu machen vermag“ (a.a.O., S. 183). Wenn es nicht möglich ist, durch konkrete Erfahrung im sozialen Nahbereich globale Solidarität zu vermitteln, könnten fünftens die konkreten Erfahrungen durch Abstraktionen im Vorstellungsraum und sechstens im Abstraktionsraum zugänglich gemacht werden. TREML konstatiert, dass bei abstrakten Fernbeziehungen die Auslösereize für moralisches Verhalten fehlen (vgl. 1999b, S. 181). Er meint, dass „die AuslöseFunktion [...] mit noch weiter zunehmender Abstraktheit von den Sinnen nicht mehr durch konkrete Reize ausgelöst werden [kann], sondern [...] selbst abstrakt, das heißt gedanklich, bedient werden“ (ebd.) muss. Eine didaktische Möglichkeit, einen Auslösereiz zu provozieren, besteht nach TREML in der Mediatisierung. Auch VOLLMER (2001, S. 27) sieht in der medialen Überwindung der räumlichen Ferne pädagogische Möglichkeiten zur Überwindung des sozialen Mesokosmos. Indem der zu Unterstützende räumlich näher gebracht wird (z.B. durch (bewegte) Bilder), steigt die Ansprache und auch die Bereitschaft zu Hilfeleistungen. So ist beispielsweise die starke Hilfsbereitschaft, die nach der Tsunamikatastrophe im südostasiatischen Raum Ende 2004 zu beobachten war, sicherlich auch auf die starke mediale Präsenz zurückzuführen. Für eine Didaktik Globalen Lernens bedeutet das, dass es sinnvoll ist, über verschiedene Medien den sozialen Mesokosmos der Lernenden zu überwinden. Filme und Reportagen von Herausforderungen Globalen Lernens können dabei betroffener machen als eine Statistik. Allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass alles von dem, was in den Vorstellungsraum von Lernenden gelangt, gleichsam automatisch zu einer starken Betroffenheit und Verhaltensänderung führen muss. Wenn beispielsweise Filme tatsächlich diese Auswirkung hätten, wäre es kaum möglich, einen Actionfilm mit oft Hunderten von Toten als Unterhaltung

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anzusehen. Rein abstrakt scheint Menschen eine Differenzierung von medial Vermittelten in real und irreal möglich. Neben dem Vorstellungsraum kann auch der Abstraktionsraum bedeutsam werden. Besondere Möglichkeiten sind hier durch die differenzierte menschliche Sprachfähigkeit gegeben: „Dank der Sprache können wir nicht nur unsere kognitive Nische verlassen, sondern auch unsere soziale Nische, den sozialen Mesokosmos“ (ebd.). Durch Sprache wird die Bewegung im Vorstellungs- und Abstraktionsraum ermöglicht (vgl. 3.1.2.3 und 3.1.2.4). Dadurch kann „Orientierungswissen [...] nicht nur durch Zeigen, Vorführen, Vorbild [...], sondern durch sprachliches Be- und Vorschreiben“ (ebd.) weitergegeben werden. Das theoretische Wissen, das durch Globales Lernens den Lernenden vermittelt wird, wird besonders im Abstraktionsraum verarbeitet. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass die Weitergabe von Orientierungswissen zwar eine Auswirkung auf Handlungstendenzen haben kann, aber nicht zwingend haben muss. Jedes Individuum wird individuell in einer Kosten-Nutzen-Bilanz seine Handlungsmotive abwägen. So sieht auch VOLLMER eine fundamentale Einschränkung des Lernens im Vorstellungs- und Abstraktionsraum durch die menschliche evolutionäre Mitgift: „Unser Verhalten im sozialen Mesokosmos ist tief in uns verankert. Soweit uns die Gene dabei freien Lauf lassen, kann man durch Vorbild und Belehrung, durch Vorschriften und Verbote einiges erreichen. Soweit aber die Forderungen den Genen widersprechen, können wir solchen Forderungen nicht folgen, selbst dann nicht, wenn die Vernunft sie empfiehlt“ (VOLLMER, 2001, S. 23). Auch WUKETITS stellt beispielsweise zur Möglichkeit einer weltumspannenden Moralität einschränkend fest: „Es gibt in Wirklichkeit keinen moralischen Kosmopolitismus und Begriffe wie ´Menschheit´ sind künstliche Gebilde, die evolutionär nicht verankert sind. Die Vorstellung von der Erde als unserer Heimat oder gar eines Universums, in dem wir zu Hause sind, sind Abstraktionen, die ein Lebewesen, welches über Jahrmillionen auf relativ engem Raum gelebt hat, zwar zu denken, nicht aber wirklich zu empfinden vermag“ (W UKETITS, 1995, S. 19). In vielen Konzepten (vgl. 2.2) wird es für methodisch sinnvoll erachtet, kooperative Lernmethoden in Lernsituationen Globalen Lernens anzuwenden, um so bei den Lernenden, ausgehend von persönlichen Lernerfahrungen im Nahbereich, eine Aus-

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weitung auf eine globale Solidaritätserfahrung zu erreichen. Die vorliegenden naturwissenschaftlich anthropologischen Daten ermöglichen keine begründete Aussage darüber, inwieweit kooperative Lernmethoden Solidarität innerhalb der Lerngruppe anregen. Naturwissenschaftlich anthropologische Aussagen ermöglichen aber eine Abschätzung über die Ausweitung von evtl. in kooperativen Lernprozessen gewonnenen Solidaritätsabsichten. Eine weltweite Ausweitung einer gefühlten Solidarität ist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse des Mesokosmos der Erkenntnis unwahrscheinlich. Im Nahbereich entwickelte Gefühle bleiben im Nahbereich verankert. Eine Ausweitung ist aber möglich über eine Abstraktisierung, d.h. über den Wechsel der Erkenntnisebene aus dem Handlungsraum in den Vorstellungsraum und Abstraktionsraum. Die Erkenntnisse, die in Verbindung mit dem Mesokosmos der Erkenntnis gewonnen wurden, lassen es aus evolutionstheoretischer Sicht zusammenfassend fraglich erscheinen, ob man wie beispielsweise SEITZ davon ausgehen kann, dass unsere Wahrnehmungsfähigkeit geschult werden kann, um „Verantwortung gegenüber ´dem fernen Nächsten´ ähnlich intensiv zu empfinden wie gegenüber den unmittelbaren Angehörigen“ (SEITZ, 2002, S. 431). Um dies genau beurteilen zu können, müsste eine genaue Definition von SEITZ vorliegen, was er unter „ähnlich intensiv“ versteht. Soziale Empfindungen gegenüber Menschen, die im sozialen Mesokosmos eines Menschen sind, werden sich laut evolutionär erkenntnistheoretischer Sichtweise stark von Gefühlen gegenüber weit entfernten Menschen unterscheiden. Verantwortungsgefühle gegenüber einem Unbekannten könnten allenfalls mit rationalen Überlegungen im gedanklichen Abstraktionsraum verknüpft werden. Dies wird durch die vorliegenden naturwissenschaftlich anthropologischen Befunde nicht ausgeschlossen, aber auch nicht für einfach befunden.

180

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3.3.5.2

Weltweite

Solidarität

und

Mutualismus,

Altruismus

und

Prestigeakkumulation Durch soziobiologische Erkenntnisse wird ein abgeklärtes und unidealistisches Bild von menschlichen Zielen gezeichnet. Jede Zielperspektive ist dem Hauptziel allen Lebens, dem Überleben der eigenen Gene, untergeordnet und wird in einer nüchternen Kosten-Nutzen-Bilanz betrachtet. So fasst V OLLMER die heuristische Regel für soziobiologisches Denken süffisant zusammen: „Traue keinem erhabenen Motiv, wenn sich auch ein niedriges finden lässt!“ (V OLLMER, 2001, S. 20). Interessant für konzeptuelle Überlegungen im Bereich Globalen Lernens ist die Frage, in welcher Weise die aufgezeigten Solidaritätsstrategien zur Entstehung von Solidarität im weltweiten Kontext beitragen können. Erklärtes Ziel von Konzepten Globalen Lernens (vgl. 2.1.3) ist die Entstehung von weltumfassender Solidarität, die im Regelfall nicht durch verwandtschaftliche Bindungen gekennzeichnet ist. Überlegungen zum genetischen Altruismus sind für die Themenstellung der vorliegenden Arbeit weniger relevant, da diese Art des Altruismus zwar theoretisch begründet werden kann, aber empirisch nicht belegt ist. Nepotistischer Altruismus basiert auf einer gemeinsamen genetischen Verbindung der Beteiligten und stellt eine starke Motivation für (auch einseitige) Solidarität dar. Eltern investieren viel und gerne in ihre eigenen Kinder und auch Großeltern sind zu altruistischem Handeln an ihren Enkeln bereit. Wie bereits unter Gliederungspunkt 3.3.2.2 erwähnt, ist es theoretisch möglich, nepotistischen Altruismus durch Heirat und Erzeugung von Nachkommen gezielt herbeizuführen. Interessant sind für konzeptuelle Überlegungen Globalen Lernen deshalb Fragestellungen, inwieweit Ehen, bei denen die Partner eine unterschiedliche Herkunft haben, eine besondere Möglichkeit der Entstehung von globaler Solidarität darstellen. Solche Ehen könnten im Sinne eines nepotistischen Altruismus dazu führen, über die verwandtschaftlichen Verhältnisse auch zu räumlich weit entfernt lebenden Personen (nämlich der Angehörigen der Partner) eine stabile solidarische Basis zu schaffen. Diskussionswürdig ist weiterhin die Frage, ob es möglich ist, nepotistische Altruismusanlagen der Menschen auch jenseits einer konkreten genetischen Verwandtschaft anzusprechen (zu „aktivieren“). Eine Versuch besteht beispielsweise darin, in

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dem man fremde Menschen wie Verwandte benennt, d.h. eine sogenannte „Verwandtensemantik“ (VOLLMER) gebraucht. „Wir erweitern den Kreis der Verwandten, indem wir Nichtverwandte anders benennen. Auch hier wird letztlich gemogelt: Wir appellieren an die biologisch gegebene Bereitschaft, Verwandten Gutes zu tun oder zu vertrauen“ (VOLLMER, 2001, S. 28). Deshalb spricht man laut VOLLMER vom Papst als „heiligen Vater“, nennt Seelsorger Beicht- oder Regierungschefs Landesväter, tituliert die Gemeinschaft der Gläubigen im christlichen Gottesdienst als Schar von Schwestern und Brüdern, etc. und versucht auf diese Weise, den Nahbereich zu erweitern. VOLAND äußert sich zu der Möglichkeit einer Ausweitung von nepotistischem Altruismus über Verwandtensemantik kritisch: „Zwar mögen weltliche und religiöse Ideologen die Verwandtschaftssemantik für ihre Ziele ausnützen wollen und von ´heiligen Vätern´, ´Brüdern und Schwestern´, ´Mutter Erde´ usw. reden, aber eine verlässliche Basis zur Ausweitung von Sympathiezirkeln sind diese Sprachspiele sicherlich nicht (VOLAND, 2003, S. 19). TREML dagegen lässt, wie oben beschrieben, die Frage offen, ob eine „Nahbereichsfiktion“ nur ein Placebo-Effekt ist, dessen Wirkung unsicher ist (vgl. 1999b, S. 183). Die Entstehung von reziprokem Altruismus ist dagegen nicht auf familiäre Verbindungen beschränkt. Reziproker Altruismus basiert auf der Erwartung einer gegenseitigen Unterstützung, durch die die einzubringenden Kosten mindestens ausgeglichen werden. Zur Entstehung von reziprokem Altruismus ist gegenseitiges Vertrauen nötig, das sich am besten durch einen längerfristigen Interaktionszeitraum entwickeln kann. Durch einen längerfristigen Kooperationszeitraum gibt es die Chance, gegenseitiges Misstrauen vor Ausnutzung und dadurch die in Nichtnullsummenspielsituationen möglichen Gefahren zu mindern. Reziprok altruistische Strategien lassen sich aber nicht einfach etablieren: „Trotz der theoretischen Stärke dieses Konzepts und seiner intuitiven Plausibilität ist Reziprozität offensichtlich eine nicht leicht zu etablierende Strategie, weil die notwendigen Voraussetzungen (wiederkehrende Kooperationsprobleme zwischen vertrauten Personen) sich nur selten ergeben“ (VOLAND, 2003, S. 19). Dies ist wohl auch der Grund, warum anthropologische Feldforschungen vermehrt zeigen, „dass selbst in naturnahen Gesellschaften mit obligater Nahrungsteilung Reziprozität keinen oder nur eine sehr kleinen Teil des Tauschverhaltens erklären kann“ (ebd.). Gerade in einem Kontext globalisierter Beziehungen mit „zunehmender Mobilität mit z.T. nur flüchtigen sozialen Begegnungen hat Reziprozi-

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tät deshalb wohl keine Chance, zur tragenden Säule einer weltumspannenden Solidarität zu werden“ (ebd.)161. Durch VOLANDS pessimistische Einschätzung werden die Rahmenbedingungen aufgezeigt, die zur Entstehung von reziprok altruistischen Beziehungen dienlich sein können. Wesentlich ist die Entstehung von langfristigen, stabilen, nichtanonymen und somit vertrauten Beziehungen, durch die den Interaktionspartnern die Verlässlichkeit des jeweiligen Gegenüber offenbar werden kann. Methodisch kann es für Konzepte Globalen Lernens zur Förderung einer globalen Solidarität deshalb weiterführend sein, langfristige globale Austauschbeziehungen zu organisieren, in die Lernende in kleinen und überschaubaren Gruppen (am vorteilhaftesten in Zweierteams) eingebunden sind. Zur Entstehung von reziprokem Altruismus ist es notwendig, dass in diesen Beziehungen tatsächlich ein Austausch stattfindet, der für jeden Partner motivierend ist. Jeder Partner muss von seinem Kooperationspartner etwas erhalten, dass in seiner individuellen Kosten-Nutzen-Bilanz einen Gewinn darstellt. Da diese Kosten-Nutzen-Bilanz interindividuell sehr verschieden sein kann, erscheint es notwendig, den Lernenden didaktisch eine Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten an verschiedenen zu erwartenden Profiten zur Verfügung zu stellen. Weitere Erkenntnisse, die zur Entstehung von reziprokem Altruismus zuträglich sind, werden im Folgenden Gliederungspunkt mit der Auswertung der spieltheoretischen Erkenntnisse dargestellt. Die Altruismusmotivation durch Prestigeakkumulation liegt darin, dass die altruistische Tat zur Erhöhung des Sozialstatus beiträgt. Die Möglichkeit der Prestigeakkumulation wird manchmal während sozialen Spendenaktionen zur Motivation solidarischen Verhaltens genutzt. Wenn in gedruckten Medien oder im Fernsehen die Namen der Spendenden veröffentlicht werden, kann der Spender durch die Publikation an Reputation gewinnen, d.h. seine Spende kann durch eine Vermehrung seines 161

Entgegen dieser nüchternen theoretischen Analyse lassen sich in den aktuellen Nachrichten Beispiele finden, die reziprok altruistische Züge aufweisen. So wurde in den N ORDBAYERISCHEN N ACHRICHTEN folgender Kommentar über die globale Hilfsbereitschaft aufgrund der verheerenden Folgen des Ende Dezember 2004 im asiatischen Raum aufgetretenen Tsunamis abgedruckt: „Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert erleben wir so etwas wie globale Solidarität mit den Opfern. Ähnlich groß war die Hilfsbereitschaft nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington, nach dem Erdbeben in Iran und dem Überfall auf die Schule in Beslan. Wer erfahren hat, wie wichtig Solidarität ist, wird bei der nächsten Katastrophe auch selbst aktiv. Zum Beispiel die Bürger von Beslan, die eine Million Rubel sammelten für die Flutopfer. Der Vorsitzende des Bürgerkomitees, Majrbek Tuajew, begründete sein Engagement so: ´Die Einwohner von Beslan werden nie vergessen, wie die ganze Welt ihnen nach der Tragödie zu Hilfe kamen´“ (SCHMIEG, 2005, S. 2). Dieses Argument spiegelt die reziprok altruistischen Züge des „wie du mir, so ich dir“ wieder.

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Ansehens belohnt werden162. „Wie kraftvoll dieser Motor möglicherweise sein kann, ist allerdings beim derzeitigen Forschungsstand noch nicht seriös abzuschätzen“ (ebd.). Welche Faktoren jeweils zur Vermehrung des individuellen Prestiges zuträglich sind, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Was in einer bestimmten Bevölkerung „in“ oder „out“ ist, ist kulturellen Schwankungen unterworfen. Didaktisch sinnvoll für Konzepte Globalen Lernens wäre es deshalb, zu versuchen, einen den Zielen Globalen Lernens adäquaten Trend mitzugestalten nach dem Motto: „Eine Partnerschaft mit einer Person aus einem weit entfernten Land ist cool“. Im Bereich des im Vergleich zu VOLANDS „Prestigeakkumulation“ erweiterten Begriffs des „Beobachtungsaltruismus“ von TREML ergeben sich weitere Aspekte für eine erzieherische Motivation. TREML geht - wie oben dargestellt - davon aus, dass Religion und der damit verbundene Glaube an eine (transzendente) Beobachtung des eigenen Handeln verantwortlich für altruistisches Handeln sein kann. Dabei ergibt sich eine interessante Feststellung: „Als religiöser Mensch wird man nicht geboren. Weder bei Tieren noch bei den wenigen uns bekannten und gut dokumentierten „wilden Kindern“ bzw. „Wolfskindern“ – also Kinder, die ohne menschliche Gemeinschaft aufgewachsen sind – hat man so etwas wie Religion beobachten können. Zu einem religiösen Menschen wird man also erzogen“ (TREML, 2004, S. 175). TREMLS Interpretation legt nahe, dass auch durch ethische Erziehung zu einem solidarischen Verhalten in der globalen Gesellschaft motiviert bzw. erzogen werden kann. Konzepte Globalen Lernens könnten dementsprechend eine Ausarbeitung einer ethischen Konzeption im Sinne Globalen Lernens vorlegen, die sich diese Erkenntnis zu Nutze macht. Didaktisch interessant ist, dass sich nach LILLI und LUBER Selbstpräsentationen auch auf die eigene Selbsteinstellung auswirken können. Die beiden Autoren verweisen auf die Selbstwahrnehmungstheorie von BEM (1972) und halten es für „durchaus denkbar, dass öffentlich gezeigte Solidarität zu einer Internalisierung solidarischen Verhaltens führt, wenn die Person aus ihrem gezeigten Verhalten Rückschlüsse auf

162

„Bei moralfähigen Lebewesen wie uns Menschen [...] steht [...] die Investition in ein teures Signal auf der einen Seite der Ausgaben, zugleich aber auch auf der Einnahmeseite in der Bilanz der Altruismusempfänger. Wer beispielsweise öffentlich wahrnehmbar an UNICEF spendet, erntet Reputation [...], die er an anderer Stelle gegen handfeste Vorteile in der sexuellen oder sozialen Konkurrenz eintauschen kann“ (V OLAND, 2003, S. 18).

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die eigenen Einstellungen, Werte und Motive zieht. In diesem Fall kann ein Rückkopplungseffekt zwischen öffentlichem und privatem Selbstwert eintreten, wenn Solidarität nicht nur zur Anerkennung von außen, sondern auch von innen führt“ (LILLI/ LUBER, 2001, S. 286). Nach LILLI und LUBER ist es also möglich, dass durch öffentlich wirksam gezeigte Solidarität eine Verhaltensänderung hervorgerufen werden kann. Die Motive zur Entstehung von Solidarität können sich selbstverständlich überlagern. Sowohl aus den Motivationen eines nepotistischen, reziproken und prestigevermehrenden Altruismus gründet sich im Konzept einer Patenschaft eine weitere Möglichkeit, um solidarische Beziehungen aufzubauen. Durch eine Patenschaft wird emotional und vertraglich eine längerfristige soziale Verbindung eingegangen. Diese Verbindung stellt keine genetische Verwandtschaft dar, trotzdem wird durch entsprechende Begrifflichkeiten an nepotistisch verankerte Solidaritätsmotive appelliert, indem durch Verwendung einer Verwandtschaftssemantik die Beteiligten oft Patentante oder Patenonkel und Patenkinder genannt werden. Reziprok altruistisch können Patenschaften sein, indem zum Beispiel die Paten das Patenkind mit Geld unterstützen, die Patenkinder sich mit Briefen und Bildern revanchieren. Briefe und Bilder sind natürlich materiell nicht mit einer finanziellen Unterstützung vergleichbar, können aber ideell für die Paten so wichtig sein, dass sie die Patenschaft aufrechterhalten. Auch eine Prestigevermehrung ist durch Patenschaften möglich. Patenschaften von Europäern mit Kindern in sogenannten Ländern der Dritten Welt können deshalb zusammenfassen als Beispiele gelten, die aus dem Blickwinkel von soziobiologischen Überlegungen als methodisch sinnvoll gelten können163. Eine weitere Motivationsmöglichkeit für Solidarität stellt der sogenannte Mutualismus dar. In einer mutualistischen Situation entsteht zwar allen Beteiligten Kosten, der zu erwartende Gewinn kann aber alleine gar nicht erreicht werden. Die Zusammenarbeit erscheint deshalb naheliegend. Für VOLAND hat der Mutualismus „das größte Poten163

Aus den vorgelegten naturwissenschaftlich anthropologischer Sicht ist es nicht möglich, über den inhaltlichen Nutzen von Kinderpatenschaften zu urteilen. Ein solches Urteil entspricht einem naturalistischen Fehlschluss. Aus entwicklungspädagogischer Sicht können Kinderpatenschaften verschiedene Probleme hervorbringen: einerseits können sie ein unterkomplexes Bild vom Dritte Welt Problemen vermitteln. Andererseits sind manche Formen von Werbung für Kinderpatenschaften problematisch, weil sie zu stark auf Verwandtensemantik abzielen. Letztendlich ist auch der entwicklungspolitische Nutzen von Kinderpatenschaften umstritten (vgl. SCHEUNPFLUG, 2005). Solche Problematiken sind für eine inhaltliche Bewertung von Kinderpatenschaften als didaktisches Medium wesentlich, können aber in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden.

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tial, Kooperation zu etablieren. Wenn als einzige Voraussetzung erfüllt ist, dass alle Beteiligten aus ihrer Kooperation Gewinn ziehen, fallen Eigennutz und Solidarität motivational aufeinander“ (VOLAND, 2003, S. 19). Genau konträrer Ansicht ist MONTADA (2001): „Solidarität im Sinne der kooperativen Verfolgung gemeinsamer Interessen kann als Motiv für die Unterstützung für die Dritte Welt nicht angenommen werden. Es geht um die Unterstützung der Interessen „der Dritten Welt“ oder von Menschen in Ländern der Dritten Welt und nicht um gemeinsame Interessen der Unterstützer und der Unterstützten“ (MONTADA, 2001, S. 68). Meines Erachtens ist MONTADA nicht zuzustimmen, da sein Verständnis der Solidarität die wechselseitigen weltweiten Abhängigkeiten und Zusammenhänge ausblendet. An vielen Beispielen könnte aufgezeigt werden, dass gemeinsame Interessen der Unterstützer und der Unterstützten plausibel sind (Bsp.: Regenwalderhaltung als „grüne Lunge“ für sauerstoffabhängiges Leben auf der Erde). Im Sinne einer Pädagogik Globalen Lernens ist es deshalb meines Erachtens interessant, die Lösung der weltumspannenden Herausforderung als für alle Beteiligten gewinnbringend zu verstehen und zu vermitteln. Die größte Gefahr einer mutualistischen Motivation ist in der Möglichkeit eines Profites von Nichtbeteiligten gegeben. Wesentlich für Mutualismus ist die Zielübereinstimmung der Beteiligten. Für Globales Lernen gewinnt mutualistisches Verhalten in den speziellen Bereichen an Bedeutung, in denen globale Herausforderungen, deren Lösung für alle Beteiligten von Vorteil ist, von Einzelnen lediglich gemindert, aber insgesamt nur unzureichend gelöst werden können. Zu diesen Herausforderungen sind beispielsweise die Erhaltung lebensnotwendiger Ressourcen zu zählen. Umweltschonendes Verhalten Einzelner macht sicherlich Sinn und gereicht zum Nutzen aller, weitreichende Änderungen werden realistischerweise aber nur unter Motivation aller erreicht werden. Um zu mutualistischem Verhalten beispielsweise in diesem Bereich zu motivieren, müssten sich alle Menschen darüber im Klaren sein, dass hier ein Ziel vorliegt, dass für jeden wesentlich ist und allein nicht erreicht werden kann. Durch Dritte-Welt-Läden wird teilweise versucht, Produzenten von weit entfernten Gütern aus der Anonymität zu holen, indem auf den Produkten ein genauer Herkunftshinweis gegeben wird. Gleichzeitig wird auf manchen Produktinformationen ausgeführt, welche (positiven) Folgen die Unterstützung dieses Produktes für die

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Produzenten haben kann, z.B. dass sie auf weitere Brandrodung des Regenwaldes verzichten können. All solche Versuche sind vor dem Hintergrund der soziobiologischen Überlegungen sinnvoll, wenn sie auf Dauer angelegt sind. Dadurch werden nämlich Möglichkeiten geschaffen, Dilemmasituationen wie das Gefangenendilemma zu vermeiden und gelingendes reziprok altruistisches Handeln zu ermöglichen oder eine mutualistische Perspektive zu etablieren. Im genannten Beispiel ermöglicht der Käufer durch Kauf eines Artikels im Dritte-Welt-Laden (seine erhöhten Kosten bestehen in der Differenz des Artikelpreises im Dritte-Welt-Laden und des Preises dieses Artikels im „Supermarkt“) dem Produzenten bessere Produktionsbedingungen (er kann sich bspw. bessere Geräte und Dünger leisten und damit bodenschonender arbeiten). Auszahlende Instanz, von der Käufer und Produzent profitieren, ist die Natur, da z.B. durch die Vermeidung der Brandrodung des Regenwaldes die Luftproduktion für alle erhalten bleibt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass durch die soziobiologischen Erkenntnisse wesentliche Anregungen für die Förderung von weltweiter Solidarität gewonnen werden. So wird durch die Ausführungen zum reziproken Altruismus und auch zum Mutualismus deutlich, dass die gegenseitige Solidarität hierbei nicht auf moralisches Verhalten zurückgeht, sondern auf die individuell positive Einschätzung einer KostenNutzen-Bilanz.

3.3.5.3 Weltweite Solidarität, Gerechtigkeit und spieltheoretische Überlegungen Wie im Abschnitt 3.3.3.1 gezeigt wurde, fördert die Berücksichtigung von vier Vorschlägen nach AXELROD ein gutes Abschneiden in Situationen des iterativen Gefangenendilemmas: 1. „Sei nicht neidisch. 2. Defektiere nicht als erster. 3. Erwidere sowohl Kooperation als auch Defektion. 4. Sei nicht zu raffiniert“ (AXELROD, 1997, S. 99). Diese Verhaltensvorschläge legen aus spieltheoretischer Sicht die Entstehung von Kooperation in Nichtnullsummenspielen nahe. Eine interessante Frage ist, ob und wie in Konzepten Globalen Lernens die Erkenntnisse von spieltheoretischen Untersuchungen zur Erreichung des Ziels einer weltumspannenden Solidarität nutzbar

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

187

gemacht werden können. Als erstes muss die Frage diskutiert werden, ob im realen Leben Situationen mit Nichtnullsummencharakter vorkommen. DAWKINS bejaht diese Frage: „Viele Situationen im wirklichen Leben entsprechen in der Tat Nichtnullsummenspielen. Die Natur spielt häufig die Rolle der „Bank“, daher kann ein Individuum vom Erfolg des anderen profitieren und umgekehrt. Man braucht keine Rivalen zugrunde zu richten, um selbst erfolgreich zu sein. Ohne von den grundlegenden Gesetzen des egoistischen Gens abzugehen, erkennen wir, wie Zusammenarbeit und wechselseitige Hilfe selbst in einer im wesentlichen egoistischen Welt blühen und gedeihen können“ (DAWKINS, 1994, S. 357). Wenn im realen Leben Situationen beobachtbar sind, die in ihrer Grundstruktur dem Gefangenendilemma gleichen, müssten spieltheoretischen Erkenntnissen zufolge die erfolgreichsten Lösungsstrategien TIT FOR TAT- Strategien sein. Diese Strategie erzielt im Vergleich zu anderen im Durchschnitt die besten Resultate. Als Beispiel für belegbare erfolgreiche TIT FOR TAT- Strategien im humanen Bereich erläutert DAWKINS die stillschweigend vereinbarten Waffenstillstände im Schützengrabenkämpfen des ersten Weltkrieges (Motto: „leben und leben lassen“) (vgl. 1994, S. 358f.). Im animalischen Bereich nennt DAWKINS die Fütterung von bei der Nahrungssuche erfolglos gebliebener Fledermäuse durch satt gewordene Koloniemitglieder eine reziprok altruistische Strategie (vgl. 1994, S. 367f.; kritisch dazu: HAMMERSTEIN, 2002, S. 89). Aus spieltheoretischer Sicht werden wichtige Bedingungen zur Entstehung und zur Förderung von Kooperation offengelegt, die für Globales Lernen aus theoretischer und didaktischer Sicht weiterführend ausgewertet werden können. Eine wichtige Bedingung für gelingendes kooperatives Verhalten ist die unabsehbare Langfristigkeit der Zusammenarbeit: Wenn eine Zusammenarbeit nur einmalig geplant ist, ist die Gefahr des Betrugsversuchs durch Ausnutzen groß. Wenn die Zusammenarbeit dagegen wiederholt stattfinden muss bzw. die Beteiligten nicht wissen, ob die gegenwärtige Zusammenarbeit die letzte ist, ist gegenseitige Kooperation die einzige vernünftige Strategie. „Theoretisch gesehen kommt es nicht darauf an, wie lang das Spiel ist; wichtig ist, dass keiner der Spieler wissen sollte, wann es en-

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188

det“ (DAWKINS, 1994, S. 357)164. Zur Entstehung von kooperativem Handeln ist es förderlich, die Langfristigkeit von Beziehungen zu vergegenwärtigen. AXELROD nennt diese Strategie: „Erweitere den Schatten der Zukunft“ (AXELROD, 1997, S. 113). Mit der Analyse der spieltheoretischen Untersuchungen konnte AXELROD zeigen, dass sich nur in einmaligen oder in absehbar kurzfristigen Beziehungen Defektion, d.h. Nichtkooperation „lohnt“. In langfristigen Simulationen konnten sich nur kooperative Strategien durchsetzen. Globale Solidarität im Sinne eines reziproken Altruismus kann durch Konzepte Globalen Lernens gefördert werden, indem beispielsweise langfristige Kooperationsbeziehungen zu Partnern in der Dritten Welt aufgebaut werden. Sobald in irgendeiner Art eine langfristige Abhängigkeit der Partner voneinander entsteht (Bsp: Partner A: liefert guten Kaffee; Partner B: zahlt fairen Preis), ist die Entwicklung von Reziprozität naheliegend. „Wie könnte es auch ohne Zutrauen oder Zwang zur Zusammenarbeit zwischen Egoisten kommen? Nun, vielleicht durch die Aussicht auf Wiederholung. Es liegt ja nahe, dass ein Geschäftsmann, der seine Partner regelmäßig übertölpelt, bald keine Partner mehr finden wird. Die Hoffnung auf weitere Geschäfte stärkt zweifellos die Geschäftsmoral“ (SIEGMUND u.a., 1995, S. 285). Allerdings bleibt festzuhalten, dass diese Situation pädagogisch provoziert werden muss, da die faktische Anonymität des Weltmarktes dieser Möglichkeit entgegensteht und entgegenarbeitet. Wichtig erscheint es deshalb, langfristige Kooperationsbeziehungen zu etablieren, in denen Lernende den vorteilhaften Nutzen von reziprok altruistischem Handeln erleben können. Die Funktionsweise von reziprok altruistischem Handeln können Lernende natürlich auch im Nahbereich lernen, d.h. z.B. im Gruppenunterricht bei adäquater Aufgabenstellung. Soll aber im Sinne Globalen Lernens eine globale Solidarität erlernt werden, erscheint es weiterführend, Lernende auch mit der Möglichkeit der Entstehung von reziprok altruistischem Handeln in Beziehungen vertraut zu machen, die räumlich voneinander getrennt sind. Dabei wird globale Solidarität in diesem Sinne durch beispielsweise eine einmalige Spendensammlung für in irgendeiner Weise benachteiligte Personen nicht gefördert, sondern durch einen Aufbau von Austauschbeziehungen zum Profit aller. Zuträglich im Sinne

164

Es ist deshalb entscheidend, das Ende nicht voraussehen zu können, da sich sonst das letzte „Spiel“ als einmaliges Gefangenendilemma darstellt. Bei einem einmaligen Gefangenendilemma lässt es sich logisch beweisen, dass die einzige vernünftige Strategie ist, die Zusammenarbeit zu verweigern (vgl. DAWKINS, 1994, S. 357).

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

189

Globalen Lernens wäre es beispielsweise, Güter zu identifizieren, die für Lernende aus unterschiedlichen Regionen der Welt einen Anreiz zum Austausch darstellen. Eine weitere Möglichkeit, kooperatives Handeln in Nichtnullsummenspielen zu fördern, besteht darin, die Gewinn- und Verlustmöglichkeiten in dem Sinn zu ändern, dass defektives Handeln keine Gewinnaussichten hat (vgl. AXELROD, 1997, S. 119). Dies ist beispielsweise durch Gesetze möglich, die den Anreiz für kooperatives Handeln dadurch erhöhen, indem defektives Handeln bestraft wird. Aber auch auf individueller Ebene wäre eine Förderung von kooperativen Handlungstendenzen möglich, wenn die Aktionspartner miteinander reden könnten und einen Vertrag mit wirksamen Sanktionen aushandeln könnten (vgl. IRRGANG, 1993, S. 209). Wie FEHR u.a. (2004) zeigen konnte, sind Versuchspersonen bereit, auch Kosten für die Bestrafung von Trittbrettfahrern zu investieren. Gleichzeitig stellte sich in den Versuchen von FEHR heraus, dass abgestrafte Trittbrettfahrer ihr Verhalten zum Wohle der Allgemeinheit änderten. Verbindliche Sanktionen sind aus dem Grund wesentlich, da sonst keine rationale Motivation gegeben ist, die Vereinbarung einzuhalten (vgl. LOCHER, 1991b, S. 60). Auch VOLLMER hält fest: „Institutionen sind nach der Sprache die wirksamste Möglichkeit, unser Handeln zu beeinflussen. Sie sind Werkzeuge, um mit den genannten Dilemmastrukturen umzugehen. Sie können Moral und Ethik ersetzen; sie machen möglich, was Moral und Ethik wollen, über Appelle allein aber nicht erreichen. Sie stabilisieren unser Verhalten, indem sie die Erfüllung unserer Erwartungen begünstigen. [...] Institutionen können da greifen, wo Naturgesetze fehlen oder die Moral versagt“ (VOLLMER, 2001, S. 28f.). Die didaktisch positiven Folgen der Nichtbeseitigung von beispielsweise ungetrenntem Müll wurde weiter oben schon in Verbindung mit dem kognitiven Mesokosmos erläutert (vgl. Abschnitt 3.1.3.3). Aus spieltheoretischer Sicht kann das Beispiel erweitert werden. Durch die Abfallbeseitigung wird „ein öffentliches Gut produziert [...], dessen Finanzierung wieder eine Gefangenen-Dilemma-Situation hervorruft. So etwas wird im Rahmen der heutigen Staatstätigkeit völlig verschleiert, weil die Steuern nicht mehr einzelnen Maßnahmen zugeordnet werden können. Gerade im Umweltbereich ist das auf Dauer aber sehr gefährlich, weil die Individuen so über die Konsequenzen (die Kosten) ihres Verhaltens in der ursprünglichen Handlungssituation nicht informiert werden, und sie auch nicht dazu motiviert werden, diese dabei zu berücksichtigen. Das verbaut dann auch die Chance, dass die Leute ´lernen´ und vielleicht längerfristig

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

190

kollektiv ´verträglichere´ Präferenzen entwickeln“ (LOCHER, 1991b, S. 64). Eine Bestrafung der Nichtmülltrennung beeinflusst die Verlusterwartung in dem Sinn, dass bei zukünftigen Handlungen veränderte Handlungsweisen erwartet werden können. Der Profitanreiz von reziprok altruistischem Handeln kann auch durch Didaktiker mitgestaltet werden. Nach den Erkenntnissen um den sozialen Mesokosmos der Erkenntnis ist es beispielsweise zur Entstehung von Solidarität wesentlich, eine Beziehung aufzubauen, die möglichst vertraut ist und den Beziehungen im Nahbereich ähnelt. Auch ein intensiver Briefkontakt kann zur Vertrautheit einen Beitrag leisten. Jeder Lehrende weiß, dass für Schüler Briefe an Unbekannte zumindest anfänglich einen großen Motivationsschub geben können, der aber, wie alles, was den Charakter des Unbekannten verliert, nachlassen kann. Lehrende in Schulen haben allerdings viele Möglichkeiten, zur Weiterarbeit zu motivieren (z.B. durch Lob, das Vergeben von Schulnoten, Privilegien). Jeder Brief, der geschrieben wird, könnte beispielsweise in irgendeiner Weise positiv belohnt werden. Das ist sicherlich für Schüler motivierend, aber damit werden die aus spieltheoretisch gewonnenen Erkenntnisse noch nicht ausgenutzt. Zur Motivation von solidarischem Handeln erscheint es günstiger, dass jeweils der Erhalt eines Briefes belohnt wird. Jeder Schüler ist dadurch motiviert, so zu schreiben, dass sein Briefpartner ihm gerne und schnell antwortet und er als der Empfänger des Briefes dadurch z.B. eine gute Note erhält. So entsteht die Situation, dass beide Lernenden auf den guten Willen des jeweils anderen „angewiesen“ sind. Sie werden wahrscheinlich versuchen, auf die Bedürfnisse und Interessen des anderen einzugehen und ihn dadurch zur Mitarbeit zu motivieren. Durch den Lehrenden könnte also die Gewinnauszahlung im Sinne der Entstehung von globaler Solidarität beeinflusst und zu einem in vielen Konzepten Globalen Lernens formuliertem Perspektivenwechsel angeregt werden. Es ist naheliegend, dass sich kooperatives Handeln dann eher durchsetzen kann, wenn Individuen aufeinander treffen, die einander freundlich gesonnen sind und bereit sind, das Wohl anderer zu beachten. AXELROD sieht deshalb „eine vorzügliche Methode zur Förderung der Kooperation in einer Gesellschaft [...] darin, die Menschen dazu zu bewegen, sich um das Wohlergehen der anderen zu sorgen. [...] In spieltheoretischen Begriffen ausgedrückt bedeutet das, dass die Erwachsenen versuchen, die Werte von Kindern so zu formen, dass die Präferenzen der jungen Bür-

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

191

ger nicht nur ihre eigene individuelle Wohlfahrt berücksichtigen, sondern zumindest in gewissem Grade auch die Wohlfahrt anderer“ (AXELROD, 1997, S. 120f.). AXELROD geht davon aus, dass Altruismus „unter Menschen durch Sozialisation aufrechterhalten werden“ (a.a.O., S. 121) kann. Da die Möglichkeit einer Ausnutzung von kooperativem Verhalten durch „selbstsüchtige“ Partner immer besteht, ist es nach der Analyse von TIT FOR TAT naheliegend, sich nur anfangs zu allen anderen Individuen altruistisch zu verhalten, und später nur zu denen, die sich auch kooperativ verhalten. Aus den Ergebnissen, dass Menschen (im Gegensatz zu Computerprogrammen) in Situationen eines Nichtnullsummenspiels weniger zu einer freundlich kooperativen Strategie bereit sind (siehe 3.3.3.1), obwohl diese langfristig den höchsten Gewinn zu Folge hätte, wäre didaktisch ein Training im Lösen von Nichtnullsummenspielen anzudenken. Dieses Training könnten auf jeden moralischen Anspruch verzichten, da einer Optimierung der eigenen Ergebnisse rein rationale Überlegungen zu Grunde liegen. Das Ausprobieren von unterschiedlichen Verhaltensstrategien in vielen Spielreihen einer iterativen Dilemmasituation hätte die Entdeckung einer reziprok altruistischen Handlungsstrategie oder einer ähnlich freundlichen Strategie unweigerlich zur Folge165. Zu bedenken ist dabei aber, dass der Zeitaufwand bei einen Ausprobieren verschiedener Strategien im Gegensatz zu einer sekundenschnellen Computersimulation immens ist. Deshalb scheint allein aus zeitökonomischen Überlegungen heraus eine Schulung ratsam. Ein weiterer wesentlicher Faktor zur Etablierung von reziprok altruistischem Verhalten ist, dass sich die Interaktionspartner an das Verhalten des jeweils anderen in den vorherigen Aktionen erinnern. „Die Fähigkeit, den anderen Spieler aus vergangenen Interaktionen wiederzuerkennen und sich an relevante Merkmale dieser Interaktionen 165

Ein interessanter Aspekt hierbei ist, dass sich aber eine durchwegs freundliche Strategie wie die „Goldene Regel“ der bedingungslosen und ständigen Kooperation in der Situation des Gefangenendilemmas nicht auszahlt: „Das Problem dieser Sichtweise besteht darin, dass das Hinhalten der anderen Backe dem anderen Spieler einen Anreiz zur Ausbeutung gibt. Unbedingte Kooperation kann nicht nur dem Spieler Schaden zufügen, sie kann auch andere unschuldige Umstehende beeinträchtigen, mit denen die erfolgreichen Ausbeuter später interagieren werden. Unbedingte Kooperation tendiert dazu, den anderen Spieler zu verderben; sie belässt die Bürde der Besserung schädigender Spieler bei dem übrigen Teil der Gemeinschaft, was es nahe legt, dass Reziprozität eine bessere Grundlage für Moralität ist als unbedingte Kooperation. Die Goldene Regel würde tatsächlich unbedingte Kooperation vorschreiben, denn das, was ein Spieler wirklich präferiert, ist, dass der andere Spieler über einige Defektionen hinwegsieht“ (A XELROD, 1997, S. 122).

192

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

zu erinnern, ist notwendig, um Kooperation aufrecht zu erhalten. Ohne diese Fähigkeiten könnte ein Spieler keine Form von Reziprozität anwenden und könnte den anderen daher nicht zu Kooperation ermutigen“ (AXELROD, 1997, S. 124f.). Ein wesentliches Problem besteht also bei Anonymität der Interaktionspartner, da dann das verlässliche Wissen über die vergangenen Aktionen des Partners fehlt, das zum Aufbau von Kooperation wesentlich ist. AXELROD schlägt deshalb vor: „Verbessere die Erinnerungsfähigkeit“ (a.a.O., S. 124). Eine weitere Möglichkeit zur Förderung von Solidarität durch Konzepte Globalen Lernens kann darin bestehen, weltgesellschaftliche Herausforderungen als Nichtnullsummenspiele darzustellen und zu erörtern. Solange die Kenntnis fehlt, sich in einer Dilemmasituation in einem langfristigen Nichtnullsummenspiel zu befinden, ist es nach spieltheoretischen und soziobiologische Überlegungen nicht naheliegend, reziproken Altruismus zu entwickeln. Es scheint pädagogisch im Sinne Globalen Lernens weiterführend, durch Aufzeigen entsprechender Zusammenhänge eine Sensibilisierung herbeizuführen und eine Verbreitung der Kenntnis reziproker Altruismusstrategien anzustreben. Eine Aufgabe von Konzepten Globalen Lernens kann es deshalb sein, verschiedene weltgesellschaftliche Zusammenhänge als Nichtnullsummenspiele darzustellen.

3.3.5.4

Weltweite

Solidarität

und

evolutionspsychologische

Erklärungs-

ansätze Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten von TOOBY und COSMIDES zeigen, dass die kognitiven menschlichen Fähigkeiten besonders gut zur Kontrolle sozialer Regeln geeignet sind. Die Aufdeckung von gegen soziale Regeln verstoßenden Abweichlern fiel in den Experimenten besonders leicht. Besonders interessant für Konzepte Globalen Lernens ist dabei das Ergebnis, dass diese kognitiven Fähigkeiten sich nicht auf den Versuchspersonen bekannte und vertraute Szenarien beschränkten. Wenn Abweichler bzw. sogenannte Trittbrettfahrer enttarnt werden können, hat dies für

mutualistische

und

reziprok

altruistische

Verhaltensstrategien

positive

Auswirkungen, da in diesen Kooperationsgefügen Trittbrettfahrer schadhafte Auswirkungen haben. Der menschliche Geist scheint besonders gut gerüstet, Verhaltensstrategien,

die

von

sozialen

Verträgen

abweichen,

aufzudecken.

193

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

Mutualistisches bzw. reziprok altruistisches Verhalten wird also rein kognitiv gegen Trittbrettfahrer abgesichert. Die reine Enttarnung von Trittbrettfahrern ohne eine folgende Sanktionierung hat aber für die Bilanz von mutualistischem bzw. reziprok altruistischem Verhalten keine Folgen. Die Konsequenzen, die aus der Enttarnung gezogen werden (müssen), werden bei TOOBY und COSMIDES nicht diskutiert. Es scheint

aber

naheliegend,

dass

Trittbrettfahrer

ausgeschlossen

oder

zur

Zusammenarbeit motiviert werden müssten, um die Bilanz für die ausgenutzten Beteiligten positiv zu wenden. Die Bereitschaft zur Bestrafung von unkooperativem Verhalten konnte in spieltheoretischen Untersuchungen mit dem sogenannten Ultimatumspiel empirisch belegt werden (vgl. Gliederungspunkt 3.3.3.2). Menschen sind demnach bereit, die Einhaltung sozialer Regeln einzufordern. SCHEUNPFLUG und SCHMIDT (2002) ziehen aus den Ergebnissen von COSMIDES und TOOBY eine weiterführende Schlussfolgerung, die an dieser Stelle kurz diskutiert werden soll: Die Autorinnen fassen die Ergebnisse von TOOBY und COSMIDES folgenderweise zusammen: „Unsere Vernunft arbeitet offensichtlich kontextabhängig und besonders genau, wenn es um die Einhaltung sozialer Regeln in konkreten Gruppen des Nahbereichs geht. Sobald soziale Regeln aber konkrete Kontexte verlassen, erscheinen sie uns weniger anschaulich, beispielsweise wenn es etwa darum geht, sozialverträgliche Regeln im Weltwirtschaftssystem zu etablieren“ (SCHEUNPFLUG/ SCHMIDT, 2002, S. 126). Meines Erachtens geht diese Interpretation über die von COSMIDES und TOOBY vorgestellten Ergebnisse hinaus. So sind beispielsweise die guten durchschnittlichen Ergebnisse der Versuchspersonen bei der Lösung der Probleme des Stamms der „Kaluame“ (vgl. Gliederungspunkt 3.3.4) schwer dadurch erklärbar, dass es sich um konkrete Gruppen im „Nahbereich“ handelt. Wesentliche Erkenntnis ist eher, dass es sich dabei um die Kontrolle sozialer Normen handelt, zu der menschliches Denken nach den Ergebnissen von TOOBY und COSMIDES besonders prädestiniert scheint. Dass die Probanden diese Leistung eben auch bei einem nicht dem Nahbereich entnommenen Beispiel wie bei dem Stamm der Kaluame vollbringen konnten, zeigt die Möglichkeiten der kognitiven Erarbeitung

(Zugänglichkeit)

der

Überschreitung

weltgesellschaftlichen Sozialzusammenhängen.

von

Regeln

auch

in

Naturwissenschaftlich anthropologische Grundlagen

194

Meines Erachtens können deshalb aus den Erkenntnissen der Forschungsarbeiten von COSMIDES und TOOBY mindestens zwei wesentliche Folgerungen formuliert werden, die didaktisch für die Lernherausforderungen Konzepte Globalen Lernens ausgewertet werden können. Zum einen ist es wesentlich, dass weltweit verbindliche soziale Regeln explizit formuliert und anerkannt werden. Hiermit ist ein weiteres Arbeitsfeld für Konzepte Globalen Lernens angerissen. Zum anderen ist es sinnvoll, da Menschen nach COSMIDES und TOOBY logische Zusammenhänge dann am besten nachvollziehen können, wenn sie im Kontext zur Überprüfung von sozialen Normen formuliert sind, diese Erkenntnis didaktisch bei der „Präsentation“ von logischen Zusammenhängen zu nutzen.

195

Fazit und Ausblick

4. Fazit und Ausblick Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Lernherausforderungen, die in Konzeptionen Globalen Lernens dargestellt werden, aus Sicht einer naturwissenschaftlichanthropologischen Theorieperspektive zu analysieren. Im ersten Schritt der Arbeit wurde dargestellt, welche Lernherausforderungen in Konzepten Globalen Lernens formuliert werden. Drei Komplexe von Lernherausforderungen wurden ausführlich beschrieben. Dazu zählte der Umgang mit Komplexität und weltweiten Vernetzungen, weiterhin die Entwicklung von Zukunftsbewusstsein und drittens die Förderung einer weltweiten Solidarität und globalen Gerechtigkeit. Diese Lernherausforderungen werden in den dominierenden Konzepten Globalen Lernens im deutschsprachigen Raum inhaltlich und konzeptionell unterschiedlich gefüllt. In der vorgenommenen Analyse wurde ersichtlich, dass sich die Autoren in sehr unterschiedlicher Weise und Intensität mit der theoretischen Unterfütterung und Analyse der Lernherausforderung befassen. Eine Klärung und Definition der zentralen Begriffe „Komplexität“, „Zukunft“ und „Solidarität“ wird nur von einzelnen Autoren geleistet. Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns und menschlicher Einsicht im Hinblick auf die Lernherausforderungen werden in den meisten Konzepten Globalen Lernens kaum diskutiert. In der Mehrzahl der Konzepte wird das zugrundeliegende Menschenbild nicht reflektiert, sondern – so die Analyse - implizit transportiert. Der Umgang mit Komplexität wird postuliert, aber nicht lerntheoretisch begründet. Normativ wird gefordert, dass sich das Verhalten von Menschen an den Möglichkeiten der Zukunft orientiere. Solidarisches Verhalten wird über moralische Kommunikation eingefordert. Im zweiten Schritt der Arbeit wurden naturwissenschaftlich anthropologische Forschungsergebnisse im Hinblick auf die drei Lernherausforderungen Umgang mit Komplexität, Umgang mit Zeit und Zukunft und Förderung einer weltweiten Solidarität zusammengestellt. Die vorgestellten Forschungszweige ermöglichen es, die Lernherausforderungen Globalen Lernens begrifflich zu präzisieren und realistische Möglichkeiten

und

Grenzen

des

menschlichen

Umgangs

mit

diesen

Herausforderungen aufzuzeigen. Als wesentliches Ergebnis der evolutionären Erkenntnistheorie ist festzuhalten, dass die Lernherausforderungen Globalen

Fazit und Ausblick

196

Lernens im Vergleich zu der jahrhunderttausenden von Jahren dauernden menschlichen Evolution neuartige Anforderungen darstellen. Es wurde gezeigt, in welcher Weise die menschliche Erkenntnisfähigkeit für diese neuartigen Anforderungen „gerüstet“ ist. Die naturwissenschaftliche Anthropologie beschreibt Menschen vor dem Hintergrund ihrer evolutionären Geschichte und macht deutlich, dass die menschliche Weltwahrnehmung und Weltorientierung ein Produkt des evolutionären Erbes darstellt und Verhalten von daher historischen Bedingungen angepasst ist. Die längste Zeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte haben Menschen in nomadisierenden Kleingruppen gelebt. Menschen scheinen in ihrer spontanen Problemlösungsfähigkeit auf Erfahrungen im Nahbereich spezialisiert zu sein. Ihr Verhalten kann so interpretiert werden, als ob es im Hinblick auf Fragen von Abstraktheit und Anschaulichkeit, Fragen sozialer Regelhaftigkeit, den Umgang mit Komplexität und Fragen der Moralität nicht auf die heutigen Bedingungen menschlichen Lebens in einer globalisierten Weltgesellschaft evolviert sei. Zudem ermöglicht die Soziobiologie einen Blick auf die Anpassungsstrategien von Menschen. Verhalten kann als eine Strategie der Anpassung im Sinne einer KostenNutzen-Bilanz verstanden werden. Die Kosten werden mit dem erwarteten Nutzen im Hinblick auf die eigene Fitness - so das evolutionäre Paradigma - verrechnet, ohne dem menschlichen Bewusstsein zugänglich zu sein. Diese Bilanz bedingt das Verhalten. Dementsprechend werden Verhaltensweisen als konditionale Strategien in einer ganz bestimmten Umwelt verstanden. Mit Hilfe dieser Überlegungen kann aus spieltheoretischer Sicht die Entstehung von Solidarität plausibel gemacht werden. Weitere spieltheoretische Untersuchungen mit dem sogenannten Ultimatumspiel zeigten, dass sich Menschen aber nicht als reine Nutzenmaximierer verhalten. Anscheinend werden kulturell abhängig gewisse Gerechtigkeitsvorstellungen geteilt und eingefordert. Vor diesem Hintergrund ließen sich folgende Anregungen für ein Konzept Globalen Lernens formulieren: -

Ein kompetenter Umgang mit Komplexität ist offensichtlich nicht einfach, aber

durchaus lernbar. Die Diskussion hinsichtlich der Fähigkeiten im Umgang mit komplexen Problemen hat gezeigt, dass es Menschen nicht leicht fällt, mit vernetzt zusammenhängenden Problemen umzugehen. Überlegungen hinsichtlich der räumlich im

197

Fazit und Ausblick

Nahbereich evolvierten und deshalb für den Nahbereich optimierten Erkenntnisfähigkeit konnten diese Ergebnisse begründen. Im prägenden Zeitalter der menschlichen Entwicklung waren die heute auftretenden komplexen Probleme schlichtweg noch nicht vorhanden bzw. nicht überlebensrelevant, weshalb eine besondere Begabung im Umgang mit diesen heute aktuellen Problemen evolutionär nicht selektiert wurde. Es ist deshalb zur Lösung solcher Probleme darauf zu achten, die vorhandenen kognitiven Ressourcen adäquat zu nutzen und die steinzeitlich angepasste Vernunft nicht zu übersehen. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie hat mit der differenzierten Beschreibung des Vorstellungs- und Abstraktionsraums, die weit über den Nahbereich hinausgehen können, weitere Erkenntnisebenen dargestellt, deren Schulung eine höhere Kompetenz im Umgang mit komplexen Problemen ermöglicht. Für Globales Lernen signalisiert dieser Befund, dass eine Verbesserung der Kompetenz im Umgang mit globalen und komplexen Problemen weniger über spezifische Fachfragen und eine Einsicht in die Involvierung in globale Vernetzungen erhöht wird, sondern über ein gezieltes Training im abstrakten Denken. Dieses Training kann anhand vielfältiger Themen geschehen und erscheint nicht begrenzt auf Themen der Einen Welt, die in Konzepten Globalen Lernens bevorzugt Verwendung finden. -

Menschen sind offensichtlich nicht evolviert, sich intensive Gedanken um

Nachhaltigkeit zu machen und ihr Verhalten an in ferner Zukunft liegenden Eventualitäten auszurichten. Hinsichtlich einer Zukunftsfähigkeit wurden die wenigsten naturwissenschaftlich anthropologischen Ergebnisse diskutiert, da hierbei auch im Bereich der naturwissenschaftlichen Anthropologie noch keine umfassenden Forschungsarbeiten vorliegen. Die Ergebnisse, die zugänglich waren, stellen die in Konzepten Globalen Lernens geäußerten Hoffnungen auf die Möglichkeit eines selbstgängigen zukunftsgerechten menschlichen Handelns in Frage. Klar dargestellt wird durch die bisher vorliegende Forschung, dass sich Menschen schwer tun, mit zeitlichen Perspektiven umzugehen und Entwicklungen über lange Zeiträume realistisch einzuschätzen. Diese mangelhaften Fähigkeiten liegen nach Auffassung der Evolutionären Erkenntnistheorie daran, dass die Erkenntnisfähigkeit in der evolutionären Entwicklung nur an aktuellen Problemen geschärft werden konnte. Zukünftige Entwicklungen konnten auf die evolutionäre Entwicklung keinen direkten Einfluss nehmen, da sie faktisch eben in der prägenden Gegenwart noch nicht vorhanden sind. Aus genegoistischer

Sicht

wäre

eine

langfristige

Berücksichtigung

von

zukünftigen

Fazit und Ausblick

198

Eventualitäten, beispielsweise im Hinblick auf die nächsten 500 Jahre, wenig vorteilhaft, da der weitervererbte Genanteil bei jeder Reproduktion um die Hälfte abnimmt. Für Konzeptionen Globalen Lernens signalisiert dieser Befund, dass es sinnvoll erscheint, langfristige Lernperspektiven mit kurzfristigen eintretenden Konsequenzen zu verknüpfen. Belohnungen oder Bestrafungen haben eine direkte Auswirkung auf die Kosten-Nutzen-Bilanz von individuellem Verhalten und machen dadurch Verhaltensanpassungen wahrscheinlich. Um didaktische Möglichkeiten umfassend zu nutzen, erscheint die Zusammenarbeit zwischen pädagogischen Institutionen mit anderen Institutionen aus beispielsweise Politik oder Recht weiterführend. -

Solidarisches Verhalten ist nach den Erkenntnissen der Soziobiologie weniger

eine Frage gewissensgeleiteter Prinzipien als eine Frage der individuellen Bilanz, in die genegoistische Interessen eingehen. Auch hinsichtlich der Entstehung einer globalen Solidarität wurden verschiedene Ergebnisse aufgezeigt. Die Soziobiologie erklärt Motivationen für unterschiedliche Arten von Altruismus. Nepotismus ist auf verwandtschaftliche Beziehungen beschränkt, reziproker Altruismus auf Gegenseitigkeit angelegt und Mutualismus von gemeinsamen Zielen motiviert. Beobachtungsaltruismus basiert auf der Aussicht eines verbesserten Prestiges. Alle beschriebenen Altruismusarten sind nicht uneigennützig. Durch jede Strategie werden individuelle Ziele verfolgt. In einer Kosten-Nutzen-Bilanz bewertet jedes Individuum Vor- und Nachteile. Die Entstehung von Solidarität wird durch unmittelbare Gewinnaussicht erhöht. Für Globales Lernen heißt das, dass im eindeutigen Aufzeigen von Vorteilen ein wesentliches didaktisches Hilfsmittel zur Förderung von globaler Solidarität liegt. Moralische Kommunikation ist bei den meisten soziobiologisch differenzierten Motiven von Solidarität wenig nutzbringend. Lediglich wenn davon ausgegangen wird, dass Beobachtungsaltruismus auch durch die Vorstellung einer moralischen Beobachtungsinstanz ausgelöst werden kann, ist moralische Erziehung zur Motivation globaler Solidarität sinnvoll.

Offene Forschungsfragen Nicht alle Fragen, die im Laufe der Arbeit entstanden sind, konnten befriedigend bearbeitet werden. Verschiedener Forschungsbedarf ist sowohl im naturwissenschaft-

Fazit und Ausblick

199

lich anthropologischen Bereich als auch im erziehungswissenschaftlichen Bereich feststellbar.

Anregung für Forschungen im naturwissenschaftlich anthropologischen Bereich Die vorliegende Arbeit hat naturwissenschaftlich anthropologische Forschungsarbeiten untersucht und hinsichtlich ihrer Aussagen bezüglich der Lernherausforderungen Globalen Lernens ausgewertet. Interessant wären im naturwissenschaftlich anthropologischen Bereich weiterführende Forschungsarbeiten, die für spezielle pädagogische Fragestellungen bezüglich der drei diskutierten Lernherausforderungen Globalen Lernens relevant sind. So sind im Hinblick auf die Lernherausforderung „Umgang mit Komplexität“ einige Einflussfaktoren, wie beispielsweise der Einfluss von Intelligenz, Wissen oder Training mit Computersimulationen auf die komplexe Problemlösungsfähigkeit, die meiner Meinung nach aufgrund ihrer pädagogischen Zugänglichkeit besonders interessant sind, aus psychologische Sicht noch nicht entgültig geklärt. Diesbezüglich sind gesicherte und eindeutige Ergebnisse erstrebenswert. Meines Erachtens wären pädagogisch auch Untersuchungen weiterführend, die den Einfluss von unterschiedlichen Schularten auf die Problemlösungsfähigkeit von komplexen Problemen ihrer Schüler darstellen. Sind Schüler, die ein Gymnasium besuchen, besser oder schlechter im Umgang mit komplexen Problemen als Hauptschüler, oder lässt sich kein Unterschied feststellen? Gibt es bestimmte Modi der Weltverarbeitung, wie sie in den einzelnen Schularten dominieren, die zu einer besseren oder zu einem schlechteren Umgang mit Komplexität führen? Die Forschungen machten deutlich, dass Expertise, d.h. eine Beschäftigung mit ungefähr 10.000 Arbeitsstunden mit einem Fachbereich, zuträglich für die Fähigkeit im Umgang mit komplexen Problemen ist. Ungeklärt blieb aber die Frage, welcher Fachinhalte am hilfreichsten für ein gutes Abschneiden im Umgang mit komplexen Szenarien sind. Welche Inhalte sollten vermittelt werden, um ein sicheres Umgehen mit Komplexität zu ermöglichen? Weiterhin liegen bislang keine Forschungsergebnisse vor, ob Versuchspersonen, die in einem komplexen Problemlösungsexperiment erfolgreich abgeschnitten haben, auch andere komplexe Szenarien erfolgreich bewältigen.

200

Fazit und Ausblick

Auch hinsichtlich der von der evolutionären Erkenntnistheorie vorgestellten Ergebnisse

wären

weiterführende

Untersuchungen

hilfreich.

Interessant

wäre

beispielsweise die Frage, wie der Übergang zwischen den drei Erkenntnisräumen Handlungsraum, Vorstellungsraum und Abstraktionsraum geübt werden kann. Weiterhin wichtig wäre die Klärung, auf welche Weise Dinge, die in die Erkenntnis gelangen, tatsächlich verhaltensrelevant werden. Nicht alles, was in den Vorstellungsraum gelangt, betrifft Menschen auf die gleiche Weise. Die menschliche Erkenntnis trifft anscheinend Abstufungen in der Bedeutsamkeit. Spielfilme haben eine andere Bedeutung als Nachrichten, auch wenn die Zahl der Toten oft ähnlich sind. Auf welche Weise kann die Bedeutsamkeit gezielt gefördert werden? Die vorgestellten psychologischen Untersuchungen zum Thema „Zukunftsfähigkeit“ haben gezeigt, dass Menschen die Prognose von Entwicklungen und der Umgang mit zeitabhängigen Problemen schwer fällt. Als hindernde Einflussfaktoren wurden u.a. die Momentan- und die Strukturexploration bzw. -inversion festgestellt. Ungeklärt blieb die Frage, ob sich ein Erfolg von Trainingsmethoden empirisch nachweisen lässt, der diesen Einflussfaktoren entgegenwirkt. Interessant wären weiterhin Untersuchungen hinsichtlich der Quantität von Einflussfaktoren, durch die eine Inkaufnahme von langfristigen Kosten zugunsten kurzfristiger Vorteile, wie sie durch soziobiologische Erkenntnisse prognostiziert werden, genauer abgeschätzt werden kann. Wie groß muss ein kurzfristiger Vorteil sind, damit Menschen einen bestimmten langfristigen Nachteil akzeptieren? Können hierbei unterschiedliche Verhaltenstypen belegt werden? Kann durch Einflussnahme die Bewertung von kurzfristigen Vorteilen verändert werden? Soziobiologische, spieltheoretische und evolutionspsychologische Untersuchungen stellen unterschiedliche, sich ergänzende Perspektiven zur Entstehung und zur Absicherung von Solidarität dar. Spieltheoretische Untersuchungen zur Genese und Etablierung von Kooperationsstrategien zeigen, wie sich Menschen unter bestimmten Rahmenbedingungen verhalten. Untersuchungen zu der Frage, ob sich kooperierendes Verhalten, z.B. nach der TIT- FOR- TAT- Regel erlernen ließe, liegen allerdings bisher noch nicht vor.

Fazit und Ausblick

201

Wie unter Gliederungspunkt 3.3.3.1 bereits ausgeführt, wäre es weiterhin interessant, die Handlungsalternativen bei Untersuchungen des Gefangenendilemmas nicht auf zwei zu beschränken, sondern realitätsnäher auf mindestens vier Möglichkeiten auszuweiten. Erst dann ist die Beantwortung der Frage möglich, wie strategisch sinnvoll echtes aufopferndes Verhalten ist. Spieltheoretische Untersuchungen mit beispielsweise dem Ultimatumspiel haben gezeigt, dass Menschen sich kulturabhängig nicht als reine Kosten-Nutzen-Maximierer verhalten. Es werden gewisse Gerechtigkeitsvorstellungen geteilt und wechselseitig eingefordert. Interessant wären Untersuchungen, die die Entwicklung von Gerechtigkeitsvorstellungen zeigen, wenn kulturell verschiedene Spielpartner am Spiel beteiligt sind. Werden in diesem Fall Gerechtigkeitsvorstellungen einander angeglichen? Welcher Zeitraum und wie viele Kontakte sind zu einer Änderung von Gerechtigkeitsvorstellungen nötig? Gibt es kulturell übergreifende dominante Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich erst durch die Untersuchung von kulturell gemischten Gruppen feststellen lassen?

Anregung für Forschungen im erziehungswissenschaftlichen Bereich Darüber hinaus liefert die vorliegende Arbeit auch Anregungen für weitergehende Forschung im Kontext der Konzepte Globalen Lernens. Die vorliegende Auseinandersetzung fand auf einem rein theoretischen Niveau statt. Ergänzend zu dem theoretischen Abgleich ist es für die Diskussion anregend, die gewonnenen Erkenntnisse durch empirische Forschung im Bereich Globalen Lernens zu erweitern. Es müsste beispielsweise dringend mit empirischer Forschung die Frage geklärt werden, ob sich der in vielen Konzepten Globalen Lernens angeratene Perspektivenwechsel dazu eignet, zu einer besseren komplexen Problemlösungsfähigkeit beizutragen. Unbearbeitet blieb weiterhin der theoretische Abgleich der in den Konzepten Globalen Lernens formulierten methodischen und didaktischen Überlegungen mit den naturwissenschaftlich anthropologischen Erkenntnissen. Es wäre eine dringend zu bearbeitende Forschungsfrage, wie und ob sich methodische Vorschläge wie z.B. der „Projektunterricht“, der „ganzheitliche Unterricht“, oder der „handlungsorientierte Unterricht“ vor dem Hintergrund einer naturwissenschaftlichen Anthropologie begründen

Fazit und Ausblick

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lassen und ob diese Vorschläge empirisch zu besseren Ergebnissen führen. Die Unterrichtsforschung (vgl. HELMKE, 2003) legt dies nicht zwingend nahe. In einigen Konzepten Globalen Lernens (vgl. S ELBY/RATHENOW , 2003) wird davon ausgegangen, dass kooperative Lernformen auf das systemische Denken positive Auswirkungen haben. Diese Aussage wird von den vorliegenden naturwissenschaftlich anthropologischen Untersuchungen weder be- noch widerlegt. In den vorliegenden Untersuchungen werden andere Variablen als Einflussfaktoren untersucht, die einer Untersuchung zugänglicher sind als die sehr allgemeinen Begrifflichkeiten, die in Konzepten Globalen Lernens Verwendung finden. Auch diese Frage müsste einer weitergehenden empirischen Untersuchung unterzogen werden. Welche weltgesellschaftlichen Herausforderungen lassen sich als Nichtnullsummenspiele formulieren? Die Klärung dieser Frage könnte dazu beitragen, die Förderung einer globalen Solidarität auf reziprok altruistische Grundlage stellen zu können. Diese Frage wäre zunächst eher konzeptioneller bzw. theoretischer Natur; müsste aber in einem zweiten Schritt ebenso einer empirischen Überprüfung unterzogen werden.

Konzeptionelle und praxisbezogene Überlegungen Wie kann die theoretische Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen von Lernherausforderungen Globalen Lernens letztendlich von naturwissenschaftlich anthropologischen Forschungserkenntnissen profitieren? Für eine realistische Konzeptionierung von Zielen Globalen Lernens ist es naheliegend, in einem ersten Schritt festzuhalten, was Menschen aus eigenem Antrieb tun und was sie besonders gut können. Besonders gut können Menschen im sozialen und kognitiven Mesokosmos handeln. Naheliegend ist es deshalb, durch konkrete Lerngegenstände die Nahbereichsbevorzugung von Lernenden zu befriedigen. Allerdings wird dies nicht reichen, um globale Problem- und Handlungsfelder zu erfassen. Der Umgang mit globalen Problemen, die nicht direkt sinnlich wahrnehmbar sind, stellt die menschliche Erkenntnis vor besondere Herausforderungen. Hierzu ist Lernen nötig. Die Ergebnisse der Evolutionären Erkenntnistheorie legen die explizite Schulung von Vorstellungs- und Abstrakti-

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onsraum für einen verbesserten Umgang mit komplexen und globalen Problemen nahe. Da es unmöglich erscheint, inhaltlich umfassend globale Problemlagen zu begreifen, rückt eine besondere Methodenkompetenz in den Vordergrund. Hinsichtlich einer Schulung des kompetenten Umgangs mit Komplexität und vernetzten Problemen erscheint es weniger weiterführend, das Lernen von fachlichen Inhalten in den Vordergrund von Globalem Lernen zu stellen. Sinnvoller erscheinen vor dem Hintergrund der dargestellten Ergebnisse Übungen im abstrakten Denken. Dazu zu zählen ist eine Strukturierungskompetenz und die Fähigkeit, möglichst variantenreiche Hypothesen aufstellen zu können. Weiterhin ist dazu die Bereitschaft und Fähigkeit zu zählen, aufgestellte Hypothesen kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen. Hinsichtlich der Befähigung zu einer Zukunftsfähigkeit ist es wichtig, entweder prinzipiell zukunftsoffen zu sein, oder aber Verlaufsstrukturen von Prozessen so präzise einschätzen zu können, um sich auf zukünftige Ereignisse möglichst gut einstellen zu können. Zukunftsoffenheit kann durch eine möglichst variationsreiche Ausbildung vermittelt werden, die möglichst wenig „Einbahnstraßendenken“ einübt. Weiterhin müssten konzeptuelle Überlegungen derart gemacht werden, wie die Prognosefähigkeit für Entwicklungsprozesse verbessert werden kann. Da Menschen laut den vorliegenden Erkenntnissen dazu neigen, zukünftige Entwicklung falsch einzuschätzen, ist es wichtig, diese Fähigkeit zu verbessern. Die Operationsfähigkeit im Vorstellungsraum erscheint hilfreich, zukünftige Ereignisse zu antizipieren. Mannigfaltige Eindrücke können dazu beitragen, den Vorstellungsraum zu erweitern. Wesentlich erscheint eine alteradäquate Förderung, die keine Einschränkungen bevorzugt. Die Motivation für Menschen, langfristige Überlegungen in ihren Handlungen zu berücksichtigen, kann durch kurzfristig eintretende Konsequenzen für ihre Aktivitäten erhöht werden. Praktisch kann aus dieser Feststellung für Unterrichtsgestaltung gefolgert werden, dass es weniger sinnvoll erscheint, durch moralische Kommunikation Lernende zu zukunftsgerechtem Handeln zu bewegen, sondern über didaktisch eingesetzte unmittelbar spürbare Konsequenzen für das Handeln. Für eine Realisierung ist hierbei die pädagogische Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, die Konsequenzen positiver oder auch negativer Art ermöglichen können, unbedingt angeraten (z.B. mit politischen und juristischen Einrichtungen). Konzeptuell müssen hierfür Themenfelder ausgearbeitet werden.

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Soziobiologische und spieltheoretische Forschungsergebnisse machen beispielsweise die Ausweitung von solidarischem Handeln im Sinne von Mutualismus und reziproken Altruismus auf Bezugspersonen jenseits des sozialen Mesokosmos plausibel. Der Abgleich zwischen den Lernherausforderung der Konzepte Globalen Lernens und den analysierten spezifischen Ergebnissen naturwissenschaftlich anthropologischer Forschung ermöglicht es, die Möglichkeiten sowie auch die Grenzen der menschlichen kognitiven und emotionalen Leistungsfähigkeit in globaler Bezugsebene zu präzisieren. Hinsichtlich der Entstehung einer globalen Solidarität erscheint es weniger zielführend, an das Gewissen von Menschen zu appellieren. Sinnvoller erscheint es, die Motivation für solidarische Handlungen entweder mit handfesten Vorteilen zu verknüpfen oder durch gemeinsam vereinbarte und allen zu einem Gewinn reichenden Zielvorstellungen zu erhöhen. Vorteile können aus naturwissenschaftlich anthropologischer Sicht auf unterschiedliche Weise entstehen. Eine mögliche Motivation ist Reziprozität. Verträge können dabei helfen, Verhalten zu stabilisieren. Unterrichtspraktisch ist die Ausarbeitungen von Beschäftigungsmöglichkeiten wichtig, die das Erleben von reziprok altruistischen Situationen in weltweit vernetzten Lerngruppen ermöglichen. Dazu müssen Arbeitsfelder herausgearbeitet werden, die die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten von Akteuren auf den unterschiedlichen Erdteilen in einer sinnvollen Konzeption verbinden. Kommunikationsmöglichkeiten wie sie beispielsweise das Internet sind besonders zu berücksichtigen, da sie weltweite Verbindungen ermöglichen. Es erscheint sinnvoll, spezielle Homepages zur Vermittlung von weltweit vernetzten reziproken Arbeitsfeldern bereitzustellen. Weiterhin erscheint es sinnvoll, Themengebiete aufzuarbeiten, durch die die Entstehung von mutualistischen Motivationen begünstigt wird. Dazu zu sind Arbeitsfelder zu zählen, deren Lösung sowohl ein erstrebenswertes Ziel für alle ist, als auch durch gemeinsame Anstrengung und Zusammenarbeit leichter zu erreichen ist als durch Konkurrenz. Über die gemeinsame Lösung solcher Herausforderungen in vertrauten Lerngruppen hinaus ist es erstrebenswert, mutualistische Zusammenarbeit auch in anonymen weltweit verstreuten Arbeitsgruppen zu ermöglichen. Auch hierbei erscheint eine stärkere globale Vernetzung von didaktischen Anstrengungen nützlich.

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226 Matthias Huber

PERSÖNLICHE ANGABEN geboren am 2. Juli 1973 in Erlangen katholisch verheiratet mit Birgit Huber, geborene Oberfell, seit 19.6.04 Vater von Hannes Huber seit 27.5.05 Lehrer an der Ritter-von-Traitteur Schule in Forchheim AUSBILDUNG

1979 – 1983

Michael-Poeschke-Schule Erlangen

1983 – 1992

humanistisches Gymnasium Fridericianum Erlangen Abschluss: Allgemeine Hochschulreife

1992 – 1993

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Pädagogik, Psychologie, Philosophie

1993 – 1997

Otto-Friedrich-Universität Bamberg Diplom-Pädagogik Abschluss: Diplom-Pädagoge Univ.

1994 – 1999

Otto-Friedrich-Universität Bamberg Lehramt an Hauptschulen Abschluss: 1. Staatsexamen

2000 – 2002

Referendariat an der Hauptschule Neunkirchen am Brand Abschluss: 2. Staatsexamen

2002 - 2004

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Promotionsstudium

SPRACHKENNTNISSE

Latinum Graecum Englisch in Wort und Schrift

E-Mail: [email protected]

227 WISSENSCHAFTLICHER WERDEGANG 1998 – 1999

Otto-Friedrich-Universität Bamberg Wissenschaftliche Hilfskraft im DFG-Projekt „Unterrichtskommunikation“ Leitung: Prof. Dr. H.-D. Dann, Prof. Dr. T. Diegritz, Prof. Dr. H.S. Rosenbusch

2000 – 2001

Otto-Friedrich-Universität Bamberg Mitarbeit an der Evaluierung des „Reformvorhabens Schulinspektion“ in Bremen; Leitung: Prof. Dr. H.S. Rosenbusch

2002-2004

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Promotionsstipendiat

SCHRIFTENVERZEICHNIS

Huber, M.:

Innovative Schulsysteme im Reformprozess am Beispiel der Gründung der Schulinspektion im Zusammenhang mit dem Organisationsentwicklungsprogramm für Schulbehörde und Schulen im Bundesland Bremen, Erlangen, 1997 (unveröffentlichte Diplomarbeit)

Diegritz, T./ Rosenbusch, H. S./ Haag, L./ Dann, H.-D. (unter Beteiligung von Mauer-Derleth, A. und Huber, M.): Intragruppenprozesse und Gruppenstrukturen in Schülerarbeitsgruppen; in: Dann, H.-D./ Diegritz, T./ Rosenbusch, H. S. (Hrsg.): Gruppenunterricht im Schulalltag – Realität und Chancen, Erlangen, 1999 Rosenbusch, H. S./ Schlemmer, E. (unter Mitarbeit von Merzbacher, G. und Huber, M.): Empirische Erhebungen zur Schulinspektion in Bremen, Bamberg, 2001 (Projektbericht) Rosenbusch, H. S./ Huber, M.: Die Einführung der Schulinspektion in Bremen – eine Projekthistorie, Bamberg, 2001 (Projektbericht) Huber, M.:

Projektorientiertes Arbeiten am Lernziel „Gewalt im Alltag – Umgang mit Konflikten“ des GSE – Lehrplans der 8. Jahrgangsstufe der Hauptschule, Erlangen, 2002 (unveröffentlichte Zulassungsarbeit zum 2. Staatsexamen)

ERLANGEN, 6. Juni 2005

E-Mail: [email protected]