Im Zweifelsfall verstehe ich, was du denkst. Alle denken so, und es mag auch stimmen. Aber ich ertrage nicht, dass ausgerechnet du mir das heute an den Kopf wirfst. 13:36 – CHARLOTTE PERRIN-LAURENT Tut mir ja so leid, leid, leid, meine Chloé! Ich bin eine grässliche Freundin. Sag mir, dass du mir verzeihst, sonst lege ich auf der Stelle eine Fehlgeburt hin. Und zwar mitten in dein Tatar. 13:37 – CHARLOTTE PERRIN-LAURENT Du hast schon wieder nichts gegessen …

Fast hätte ich gelächelt und beginne, auf meinem Handy zu tippen, dass ich ihr nicht mehr böse bin, sie im Grunde die Lage richtig beurteilt und dass ich mich, wäre sie nicht da, direkt beim Tierschutzverein melden könnte. Gerade als ich meine SMS schreibe und sich die Fahrstuhltür hinter mir schließt, hält eine manikürte Hand sie im letzten Moment auf. Mir stockt der Atem. Da ist sie, weizenblond, mit dunkelblauen Augen, im tadellosen Kleid von Maje, mit gelben Pumps, deren Absätze farblich zu ihrer Tasche passen, und am Finger, so hell blitzend, dass mir die Augen wehtun, der in Weißgold gefasste Mauboussin-Diamant, den Guillaume ihr zur Verlobung ausgesucht hat. »Guten Tag«, sagt Manue, ohne mich anzuschauen. Es ist so weit. Jetzt ist mir wirklich speiübel.

Tagebuch von Constance Delahaye 15. Februar 2013 – 13:17 Uhr Heute ist mir das Arbeiten besonders schwergefallen. Immerhin habe ich ich ein paar konstruktive Schritte (für mich, aber nicht wirklich für Grable & Smith, genannt G&B) unternommen. So habe ich im Internet beim Casting von Christian Grey für die Kinoversion von Fifty Shades of Grey mit abgestimmt. Wie gern hätte ich Ryan Gosling in der Rolle gesehen, doch das wird wohl nichts. Trotzdem wäre es einfach wunderbar, wenn er doch gewählt würde. Ich sollte vielleicht mal wieder eine Kerze in der Kathedrale von Notre-Dame anzünden, damit es klappt, auch wenn die letzten Kerzen für Johnny Depp und Vanessa nicht gerade zum erhofften Erfolg geführt haben. Anschließend habe ich die Wunschliste zur Hochzeit meines Cousins Jonathan genauestens studiert. Er heiratet im Juni, und ich suche nach einem Geschenk zu einem vernünftigen Preis. Ein vernünftiger Preis wäre ein Betrag, der mich nicht als Geizhals erscheinen lässt, aber auch nicht meine Kreditkarte überstrapaziert. Nachdem ich meine Konten online geprüft und den Saldo in der ersten Zeile gute zehn Sekunden lang angestarrt hatte, befand sich mein Gehirn irgendwo zwischen Panikattacke und Aneurysma-Ruptur, und ich musste wohl oder übel begreifen, dass es einen vernünftigen Betrag nicht gibt. Es waren gerade noch siebenundachtzig Euro für den restlichen Monat übrig. Ich verdächtige meinen Berater bei der Bank, sich auf meine Kosten zu bereichern. Was kann ich denn nur ausgegeben haben? Immer noch mit den Gedanken bei meiner dramatischen Finanzlage, hob ich den Kopf und stellte fest, dass mein Chef, Hans Schmidt, vermutlich bereits seit einiger Zeit neben meinem Schreibtisch stand. »Ja?«, stotterte ich, und er fragte mit tiefer und autoritärer Stimme, wie weit mein Marketingplan 2014 für G&B, Abteilung Damenbinden, sei. Ich stammelte einen für Otto Normalverbraucher absolut unverständlichen Satz, ließ rasch die Webseite meines Bankkontos verschwinden, und auf dem Bildschirm erschien der nackte und herrliche Oberkörper von Ryan Gosling. Rot wie eine Tomate und in Katastrophenstimmung schloss ich alle aufgerufenen Seiten, bis endlich meine Grafik erschien, die das Verhältnis zwischen menstruierenden Frauen und der Verkaufsentwicklung von Damenbinden darstellte, mit meiner Anmerkung – den steigenden Verkauf von Tampons 2012 berücksichtigen! – als Beweis für meine unzweifelhaft professionelle Glaubwürdigkeit. Zu meiner allergrößten Überraschung begnügte sich Hans Schmidt damit, die Augen zu verdrehen und kommentarlos sein Büro aufzusuchen. Vielleicht ist er doch im Grunde seines Herzens dem Charme von Ryan Gosling erlegen, oder aber er war milde gestimmt, weil er um die Hand der unterkühlten Tussi angehalten hat, die seit vier Jahren als seine Freundin gilt: Bertha Kreidenberg, eine 1,78 Meter lange Bohnenstange, siebzehn Kilo leicht, Mannequin, sechsundzwanzig Jahre alt und wahrscheinlich ein hochgiftiges Miststück.

Mit Hochgenuss verpasse ich allen Pärchen in meiner Umgebung die Namen berühmter Paare. Zum Beispiel nenne ich meine Kollegin Julie und ihren Christophe aus der Buchhaltung – sie schlafen seit letztem Januar miteinander – Edward und Bella aus Twilight: Sie sehen aus, als seien sie gerade einem Sarg entstiegen oder als hätten sie zwei Wochen Urlaub in einer Salzgrotte verbracht, denn ihre Gesichtsfarbe verändert sich nie, egal welche Jahreszeit herrscht. Wären Tristan Grant und ich zusammen, so wären wir Elizabeth Bennet und Mister Darcy aus Stolz und Vorurteil. Meine Freundin Héloïse und ihren Schürzenjäger von Freund, der sie bei jeder Gelegenheit betrügt und in Tränen aufgelöst heimkehrt, wenn sie es erfährt, nenne ich Valmont und Madame de Tourvel aus Gefährliche Liebschaften und so weiter. Na, ich will keine schlechten Witze machen, aber Hans Schmidt und Bertha Kreidenberg sind für mich Adolf und Eva, Version schwedische Mannequins.

Chloé Ich schwöre, dass während der fünf Jahre, die ich nun schon in der Firma arbeite, der Fahrstuhl noch nie so lange gebraucht hat, die zweiundzwanzig Stockwerke bis zu unserem Büro hinaufzufahren. Manue sagt kein Wort. Sie sortiert Papiere in ihrer Handtasche, zieht ein paar gebrauchte Metrotickets hervor, einen lilafarbenen Prospekt und eine leere Packung Kaugummi mit Chlorophyll. Zu allem Überfluss riecht sie ungemein gut. Ich hasse sie. Wir begegnen uns praktisch nie, denn wenn sie hin und wieder herkommt, um mit Guillaume mittagessen zu gehen, wartet sie unten auf ihn. Ich beobachte sie heimlich. Gleichzeitig fallen mir Charlottes Worte wieder ein, und ich fühle vage Schuldgefühle, weil ich mit ihrem Verlobten schlafe. Ich vermute, sie weiß, dass wir zusammen waren. Nur noch drei Etagen. Ich fingere am Reißverschluss meiner Tasche. Der Lift hält, und ein Mann, das Telefon am Ohr, steigt ein. Eigentlich sieht sie nicht boshaft aus. Eher erinnert ihr Gesicht an einen blonden Engel, Stil Heilige Jungfrau. Guillaume hat sie in einer Bar in New York kennengelernt. Sie ist Tanzlehrerin, soweit ich weiß, was die hoheitsvolle Kopfhaltung erklärt. Doch abgesehen davon, habe ich keine Ahnung, wer sie ist. Guillaume spricht nie über sie. Wortlos verlässt sie den Fahrstuhl und strebt hüftschwingend auf ihren Stilettos direkt auf Guillaumes Büro zu. Mit nonchalanter Geste wirft sie ihren aussortierten Abfall in meinen Papierkorb, und diese Geste macht mich vollends krank. Von allen Schreibtischen und allen Papierkörben unserer Etage wirft sie ihren Müll ausgerechnet in meinen Papierkorb neben meinem Schreibtisch. Sie betritt Guillaumes Büro. Ich setze mich und werfe den Computer an. Nur nicht in seine Richtung sehen! Ich öffne Excel, meine Hände zittern. Nur nicht den Kopf heben, nur nicht hinüberschauen! Natürlich hebe ich den Kopf und werfe einen Blick auf die beiden. Guillaume betrachtet sie voller Bewunderung, so wie er früher mich betrachtet hat, wie jemand, der zum ersten Mal das Meer sieht. Er legt seine Hand auf ihre Wange. Zum ersten Mal sehe ich sie zusammen und wie sie vor Glück alles um sich herum vergessen. Endlich verstehe ich. Er wird sie heiraten. Cha hat recht. Er wird sie heiraten und mich hängen lassen, mutterseelenallein zurücklassen, oder aber ich werde die Mätresse eines verheirateten Mannes. In beiden Fällen würde ich bis an mein Lebensende unglücklich bleiben und selbst daran schuld sein. 13:42 – CHLOÉ LACOMBE Bin soeben Manue im Fahrstuhl begegnet. Horror! Du hast auf der ganzen Linie recht. 13:42 – CHARLOTTE PERRIN-LAURENT BRICH JETZT NICHT IN PANIK AUS! Habe dein Tatar gegessen, noch ein Schokoladeneis bestellt und

Sophie an eine Roma verkauft, um die Rechnung zu bezahlen. Tu einfach so, als würdest du Manue gar nicht sehen! 13:43 – CHARLOTTE PERRIN-LAURENT Siehst du, ich habe immer recht :-) 13:44 – CHLOÉ LACOMBE Das alles bringt mich noch um. 13.46 – CHARLOTTE PERRIN-LAURENT Du bist viel zu gut für ihn. Sei nicht traurig, du wirst bald Prinz Harry finden oder Barack Obama, sobald er sich von Michelle getrennt hat.

Ich seufze und lege das Handy hin. Von einer Männergeschichte werde ich mich doch nicht aus der Bahn werfen lassen. Bin ich eine unabhängige Frau, oder nicht? Auf der Stelle mache ich mich an die Arbeit und vergesse Guillaume und Manue, zeige Reife und Vernunft. Plötzlich streift mein Blick den Papierkorb, nur ein paar Zentimeter von meinen Füßen entfernt. Hochinteressant! Nein, ich wühle nicht in meinem eigenen Abfalleimer mitten im Großraumbüro, um den Müll meiner Rivalin zu durchsuchen. Nein, nein und nochmals nein! Ich wende den Blick von dem verführerischen Papierkorb und konzentriere mich verzweifelt auf die Excel-Tabelle. Die Zahlen auf dem Bildschirm scheinen mir ein Schnippchen schlagen zu wollen. Nervös kaue ich auf der Unterlippe. Es sieht doch keiner! Verstohlen schaue ich nach links und nach rechts und ziehe mit den Füßen den Korb heran, bis er zwischen meinen Knien steht. Niemand hat etwas bemerkt. Als sei es ganz normal, beginne ich mit dem Inventar: drei Kreditkartenbelege, einer vom Sofitel in La Défense, datiert auf den 14. Februar, 14:07 Uhr. Ich werde blass. Dann haben sie die Mittagspause im Hotel verbracht – am Valentinstag! Genau an diesem Tag hatte mich Guillaume gebeten, um die Mittagszeit im Büro zu bleiben und an einer Akte zu arbeiten. Das ist doch wohl ein Witz! Und er vögelte derweil mit Manue im Sofitel. Jetzt ein Beleg der Boutique Claudie Pierlot, dann noch einer von dem Sandwichladen La Brioche Dorée, Metrotickets und … Plötzlich öffnet sich die Tür von Guillaumes Büro, Manue tritt lachend über die Schwelle. Guillaume wirft einen erstaunten Blick auf den Papierkorb zwischen meinen Knien und den kleinen Stapel zerknittertes Papier auf der Tastatur des Computers. Ich raffe alles zusammen und schiebe es in meine Handtasche. »Ich habe einen Beleg verloren. Ich mache gerade meine Spesenabrechnung«, murmele ich. Mein herausfordernder Blick soll Manue davon abhalten zu widersprechen. Ich erröte nie, und ihr gegenüber fange ich damit heute sicher nicht an. Sie sieht mich belustigt an. Unser schweigender Blickaustausch dauert zwei lange Sekunden, in denen sie ruhig an meinem Schreibtisch vorbeischreitet. Der Ausdruck in ihren Augen ist so intensiv, dass ich darüber Guillaumes Gegenwart ganz vergesse. Plötzlich lächelt sie nicht mehr, und ich stelle fest, dass sie nicht wirklich schön ist. Ihr aufgestecktes California-Blondhaar ist perfekt frisiert und hebt