Symposium: Einblick Durchblick Ausblick mit Beratung im Kontext von Schule

Symposium:  „Einblick–Durchblick–Ausblick  mit  Beratung  im  Kontext  von  Schule“  –  27.11.2015     Vom inneren Tragen äußerer Veränderungen – Su...
Author: Joseph Gerstle
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Symposium:  „Einblick–Durchblick–Ausblick  mit  Beratung  im  Kontext  von  Schule“  –  27.11.2015  

  Vom inneren Tragen äußerer Veränderungen – Supervision und Schulentwicklung1 Sehr herzlichen Dank der PH Kärnten – vor allem meiner Kollegin Mag.a Erika Mikula – dafür, dass ich hier mit Ihnen einige Erfahrungen und Erkenntnisse teilen darf. Ich freue mich, wenn Sie sich den einen und/oder anderen Gedanken, die eine und/oder andere Idee, das eine und/oder andere Beispiel mitnehmen. Die Zusammenführung von Schulentwicklung und Supervision mit dem Fokus auf die Akteur/innen und Theorien Pierre Bourdieus ist auch für mich eine Art Experiment, das ich gerne zur Diskussion stelle. Professionelle Reflexion in unterschiedlichen Aufgabenfeldern, Rollen und Funktionen Ich hatte im Laufe meiner Berufsbiografie immer wieder die Gelegenheit und Chance durch Supervision begleitet zu werden – und es war für mich kein Luxus sondern die pure Notwendigkeit. In der Supervision erweiterte ich mein Wahrnehmungsrepertoire, generierte neue Perspektiven. Das machte mich in vielen Bereichen sicherer, aber oftmals auch unsicher, ich war immer wieder irritiert, wurde in der Folge jedoch neugierig auf theoretische Argumentationen, Begründungen, Konzepte und wollte das dann auch immer gerne in der Praxis erproben. Das Wichtigste: In Supervisionsprozessen konnte ich in jedem meiner beruflichen Kontexte (Funktionen, Rollen, Aufgaben) meine eigenen Involviertheiten – Verstrickungen aufspüren und sie mir bewusst machen, um die notwendige Distanz für ein professionelles Handeln herzustellen. Vor mittlerweile mehr als 30 Jahren konzipierte und führte ich die erste Integrationsklasse Österreichs in Oberwart. Das war sowohl schul- als auch gesellschaftspolitisch eine Herausforderung. Ich fand Integration gut und wichtig und war überzeugt davon, dass alle am Schulsystem Beteiligten Integration gut finden werden, dass die Kolleg/innen es begeistert aufgreifen werden. Dem war nicht so – bis heute ist das nicht so. Uns wurde damals Supervision durch eine Schulpsychologin gewährt und das hat mich sehr dabei unterstützt, das zu tragen, was in der Region, in der pädagogischen

                                                                                                                1  Dieser

Text basiert auf den Ergebnissen meiner Dissertation “Vom inneren Tragen äußerer Veränderungen. Lehrer/innen und Schulleiter/innen in der Spirale der Schulentwicklung“, die im März 2011 an der Karl-FranzensUniversität approbiert wurde.   Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  Einheit, in der Klasse fachlich, methodisch-didaktisch und in meiner Haltung zu tun und zu verändern war. Ähnlich erging/ergeht es mir als Schulentwicklungsberaterin. Seit 16 Jahren begleite ich Schulen in ihren Qualitätsentwicklungs- und sicherungsprozessen. Ich war bei meinem Einstieg in diese Aufgabe davon überzeugt, dass Lehrer/innen, Schulleiter/innen dieses Instrumentarium begeistert aufgreifen (zumal ich mir solch ein Instrumentarium bei der Konzeptionierung, Installierung und Führung der Integrationsklasse sehr gewünscht hatte) und als Unterstützung und Hilfe für ihre komplexen und oftmals schwierigen Aufgaben sehen würden. Es war bis auf wenige Ausnahmen das gerade Gegenteil der Fall. Ich erleb(t)e sowohl einen aktiven Umgang mit, als auch erbitterte Widerstände gegen Schulentwicklung und den zur Verfügung gestellten Instrumentarien wie QIS, SQA, QIBB – und das oft innerhalb eines Kollegiums. Ich beobachtete Widersprüche und Paradoxien, deren Mechanismen und Voraussetzungen ich vor allem in meiner ersten Zeit als Schulentwicklungsberaterin nicht nachvollziehen konnte. Ich begegnete einer Vielzahl von „Symptomen“ wie Resignation, Widerstand und Ignoranz. Die Ursachen der Probleme, mit denen Lehrer/innen zu tun haben, suchte ich anfangs bei ihnen selbst – was übrigens auch dem gesellschaftlichen und medialen Bild dieser Berufsgruppe entspricht: Sie seien nicht flexibel, motiviert und professionell, ganz einfach nicht leistungs- und einsatzbereit genug und übernähmen auch nicht die notwendige Selbstverantwortung, um sich mit ihrem pädagogischen Tun und ihrem pädagogischen Alltag auseinanderzusetzen und sich ihren Konflikten zu stellen. Wir Schulentwicklungsberaterin hatten regelmäßig Supervision – was es mir erleichterte, nicht in diesen Zuschreibungen zu verharren, sondern auf diesem Wege die Mechanismen und Dynamiken systematisch zu verstehen. Und nicht zuletzt als Forscherin – durch die „Involviertheit“ und das „Verstricktsein“ in die von mir beforschten Themen lief ich in den Forschungsprozessen immer wieder Gefahr die Geschichten der Interviewpartner/innen zu meiner Geschichte zu machen, meine eigenen Erfahrungen und mein politisches Engagement auf sie zu projizieren. Ich reagierte mit Trauer, Wut und Aggressionen, suchte die Schuldigen und Verantwortlichen. Und verfasste „Streitschriften“. Ich lief Gefahr, dass ich keinen klaren Blick für wissenschaftliche Analysen entwickeln konnte. Und ich holte mir professionelle Unterstützung. Von den unterschiedlichen Begleitungen war Supervision die hilfreichste und unterstützte mich in der für eine Forschung Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  notwendigen Distanzierung. Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrungen und Zugänge sind auch meine Ausführungen zu sehen. Das Feld Schule und sein Akteur/innen „Veränderungen treffen immer auch auf konkrete Akteur/innen mit ihren Biografien, mit einer Geschichte, mit Bedürfnissen und Interessen“. So wichtig die Instrumente sind, um Entwicklungen zu initiieren und zu begleiten, so „unverzichtbar für ein hinreichendes Verstehen dieser Dynamiken ist der aufmerksame Blick darauf, wie die Akteur/innen praktisch in diesen Prozessen handeln, welchen Sinn sie den Veränderungen geben und welche habituelle Ressourcen sie dafür tatsächlich aktivieren und aktivieren können.“ (Dölling, 2011) Insoferne war es für mich wichtig, Lehrer/innen als Akteur/innen zu begreifen, ihr Alltagshandeln, ihre Alltagspraxen und Bewältigungsstrategien mit den praxeologischen Konzepten und Theorien Pierre Bourdieus zu verbinden. Pierre Bourdieu (1930 – 2002) ein französischer Philosoph, Soziologe, Kulturwissenschaftler sieht Theorie und Empirie gleichrangig und ordnet beides dem Verstehen unter. Bourdieu kommt mit wenigen Begriffen aus und diese will er als analytische Werkzeuge verstanden wissen. Seine zentralen Begriffe und Konzepte sind die soziale Praxis, der Habitus, das soziale Feld und der soziale Raum. Das Feldkonzept setzt an den sozialen Strukturen und an den Positionierungen der Akteur/innen im sozialen Raum (Gesellschaft) an, das Konzept des Habitus als System inkorporierter Wahrnehmungs-, Deutungs-, Denk-, Handlungs-, Bewertungsschemata erklärt deren soziale Praxis bzw. den Rahmen, die Möglichkeiten und Grenzen der Praxisformen. Die Kapitalien, die einer Akteur/in zur Verfügung stehen bilden das Scharnier zwischen Feld und Habitus.2 Habituelle Prägungen sind bestimmend dafür, welchen Blick Lehrer/innen auf ihre Schüler/innen werfen - wie sehr die Denk- und Handlungsschemata und die dahinterliegenden Kategorisierungen auf Grund gesellschaftlich und kulturell vorgegebener Dispositionen sie dabei beeinflussen. Gleichzeitig werfen Lehrer/innen als Individuen einen durch ihre jeweilige Sozialisation bedingten Blick auf die                                                                                                                 2

Vgl. Bourdieu, P.: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg. 2001.; Barlösius, Eva: Pierre Bourdieu. Frankfurt/Main. 2006.

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  Schüler/innen, der ihr pädagogisches Handeln oft unbewusst und unabhängig von ihren Fachkompetenzen mitbestimmt Und – jeder einzelne (Lehrer/innen, Schulleiter/innen, Lehreraus- und Fortbildner/innen, Entscheidungsträger/innen) wird von der Gesellschaft konstruiert und konstruiert die Gesellschaft – diese Wechselwirkung ist als zirkuläre Beziehung zu sehen.3 Das wurde für mich in meinen Tätigkeiten ein wichtiger Orientierungsbzw. Referenzrahmen, dass alles relational zu sehen ist und ich gefordert bin, mir meinen Standpunkt im sozialen Gefüge bewusst zu machen und diesen zu reflektieren. Supervision kann das aufgreifen und ich behaupte, es ist ein notwendiger Teil von Schulentwicklung und SE-Prozessen. Ich möchte dazu 3 Pflöcke einschlagen und eine These in den Raum stellen: ♦ Schule als Kristallisationsstelle gesellschaftlicher Veränderungen ♦ Schule als Sozialisationsraum zur Entfaltung des Menschlichen4 ♦ Schule als „Produktions- und Reproduktionsstätte gesellschaftlicher Machtverhältnisse“ und damit auch sozialer Ungleichheit Das Wirken der Pädagog/innen stellt die „eigentliche inhaltliche Leistungsebene“5 im Bildungs- und Schulsystems dar, die von keinem anderen Akteur erbracht werden kann. Lehrer/innen sind diejenigen, die maßgeblich für die Qualifizierung und Bildung der nächsten Generationen zu sorgen haben und an entscheidender Stelle mitbestimmen, welche Teilhabe den Schüler/innen an der Gesellschaft ermöglicht wird. Ihnen gilt die größte Aufmerksamkeit. Schule ist Kristallisations- und Transformationsstelle gesellschaftlicher Veränderungen Ein Blick aus einer Makroperspektive – auf größere gesellschaftliche Dynamiken – zeigt systembedingte Spannungsfelder, die auf Lehrer/innen wirken. Das Bildungssystem befindet sich gegenwärtig in einem Übergang zwischen etablierten                                                                                                                 3

Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Bielefeld. 2003.  

4  RIBOLITS, Erich: Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung …. In:

Schule zwischen Staat, Profession und Markt. Schulheft 96. 1999. S. 9-25.  

5  Brüsemeister, Thomas: Steuerungsakteure und ihre Handlungslogiken im Mehrebenensystem der Schule. In:

Kussau, Jürgen/Brüsemeister, Thomas: Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wiesbaden. 2007. S. 63-95.

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  Auffassungen und einer neuen Auffassung von Schule als Prozess, der sich den Gegebenheiten gesellschaftlicher Veränderung anpassen soll. Das Bildungs- bzw. Schulsystem wird immer mehr und immer stärker von der gesamtgesellschaftlichen Matrix wie Wirtschaft, Technologie und Migration oder Auflösung der traditionellen Familienstrukturen berührt. Das systematische Betreiben von Schulentwicklung an den Schnittstellen eines Wandlungsprozesses institutioneller Kultur rührt in hohem Maße auch an den Grundfesten traditioneller Ordnungsstrukturen. Gerade in einer Schwellensituation, in der alte Strukturen ersetzt werden sollen, werden die „impliziten Ordnungen“ einer Gesellschaft oder eines Systems offenbar. Wo treffen alte und neue Ordnungen aufeinander und was bedeutet das für die Lehrer/innen und Leiter/innen? Wie bewusst und reflektiert können sie sich auch damit auseinandersetzen? Meine Erfahrungen und Wahrnehmungen als Schulentwicklungsberaterin: Aus der Sicht der Lehrer/innen stellt Schulentwicklung zunächst einen Eingriff in ihre alltägliche berufliche wie auch private Arbeitspraxis dar. Daraus eröffnet sich eine Reihe von Konfliktfeldern, die von Ansprüchen geprägt sind, welche als gegensätzlich empfunden werden. Deutlich wird dies beispielsweise darin, dass Schulentwicklung von den involvierten Personen ein zusätzliches Maß an persönlichem Engagement erfordert und damit bei vielen – speziell in der Einstiegsphase – den Eindruck hinterlässt, ihre Freizeit dafür „opfern“ zu müssen. Gleichzeitig werden die als Unterstützung intendierten Maßnahmen oft als Kontrollsystem wahrgenommen. Schulentwicklungsberater/innen beraten und begleiten einerseits Kollegien, Teams bei ihrer Arbeit, andererseits werden im Zuge dieses Prozesses die daran Beteiligten und ihr pädagogisches Handeln auch evaluiert. Darüber hinaus geraten die im Schulentwicklungsprozess eingebrachten neuen pädagogischen Ansätze häufig in einen eklatanten Widerspruch mit den bisher gängigen Praxen der Lehrtätigkeit. Diese Einflussnahme „von oben“ oder „von außen“ wird nicht selten als Abwertung der eigenen Kompetenzen erlebt. Sowohl historisch (wir wissen, wie wirkmächtig die Geschichte sein kann) als auch gegenwärtig kommt Lehrerinnen und Lehrern nicht nur die Aufgabe der Inhaltsvermittlung zu, vielmehr waren sie schon immer eine wichtige Stütze gesellschaftlicher Ordnungssysteme.

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  Das Akzeptieren der Regeln des Feldes und das Sich-Eingliedern in das Feld sind notwendig, um Lehrer/in zu werden und folgende zentrale Absichten des Staates zu realisieren: •

Sicherung von Hierarchien und sozialen Ordnungen



Aufteilung der Schüler/innen über Zugangsberechtigungen



Allokationsfunktion von Schule durch Selektion

Doch das, was Lehrer/innen bis jetzt Stabilität und Sicherheit vermittelte, wird brüchig. Einerseits gelten sie nicht mehr als unhinterfragte Autoritäten in Bildungsangelegenheiten, andererseits werden ihnen über ihre bisherigen Aufgabenbereiche hinausgehende Verantwortlichkeiten übertragen: Die Forderung nach Gestaltung der Schulpartnerschaften, die Öffnung der Schule nach Außen, die zunehmende Heterogenität und die soziale und kulturelle Differenz der Schüler/innen in der Schule stellen Lehrer/innen vor neue Aufgaben der Positionierung und Kommunikation. Veränderungswünsche beziehungsweise – je nach Blickrichtung – Veränderungsnotwendigkeiten drängen sich dem Schulsystem von innen und außen verstärkt auf. Das Beharrungsvermögen des Schulsystems entwickelt jedoch Mechanismen, notwendige Anpassungen zu verhindern oder auf ein moderates Maß abzuschwächen und „herunterzukühlen“. Wie können sie das alles tragen? Ein Beispiel aus der Peripherie: In einem regionalen SE-Prozess – initiiert, beauftragt und durchgeführt von der Vertreterin der Schulaufsicht Pflichtschulinspektorin (PSI) Gerlinde Potetz – wird seit 2002 versucht, den Veränderungen kontinuierlich mit einem „durchkomponierten“ Schulentwicklungskonzept zu begegnen. Ausgangspunkt der schulischen Qualitätsentwicklung auf Bezirksebene war seitens der Bezirksschulinspektorin folgende Überlegung: „Wenn die Schulen das machen sollen und im Aufgabenprofil der Schulaufsicht drinnen steht, dass wir – so wie die Schulen für Schulentwicklungsprozesse an den Schulen– für regionale Entwicklungsprozesse verantwortlich sind, dann sollte ich das nicht nur fast auswendig gelernt haben, sondern sollte ich das auch und vor allem aus einer Vorbildrolle heraus tun.“6                                                                                                                 6  Schrammel, Sabrina/Leimstättner, Brigitte/Schröder, Brigitte: Lernherausforderungen von Schulleiter/innen im Kontext kooperativer Schulentwicklung. PHB in Kooperation mit ÖZEPS: nähere Informationen unter: http://www.ph-burgenland.at/fileadmin/user_upload/information-ueber/f-e/forschungsprojekte/abgeschlosseneprojekte/Projektbericht_Kooperation_PHB_OEZEPS_09_07_2014_Lit.erg..pdf Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  Vor diesem Hintergrund wurden von der PSI „drei Säulen für Qualitätsentwicklung“ für den Schulbezirk Jennersdorf definiert: ∆ verstärkte Zusammenarbeit der Schulaufsicht mit den Schulleiter/innen der pädagogischen Einheiten ∆ Akteur/innen (Lehrer/innen und Schulleiter/innen von Pflichtschulen) arbeiten im mehreren Teams an einem Bildungskonzept für den Schulbezirk Jennersdorf ∆ Fachlich-inhaltliche Themen werden von Expert/innengruppen bearbeitet Ziel der Pflichtschulinspektorin war es, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, um auf Bezirksebene kooperativ Schulentwicklung zu betreiben (z.B. in Form von Netzwerken, Schulverbünden, Steuergruppen, Qualitätsforen im Rahmen des Entwicklungsprojekts „Regionales Bildungsmanagement Jennersdorf“). Ein weiterer zentraler Anspruch seitens der PSI war die schulartenübergreifende Kooperation von Akteur/innen im Pflichtschulbereich. Die Beteiligten bringen zum Ausdruck, dass in diesen Kooperationen Lernprozesse möglich sind, weil es auf einer gewachsenen vertrauensvollen, tragfähigen Arbeitsbeziehung basiert – sie konnten sich zu einer „regionale Verantwortungsgemeinschaft“ entwickeln. Vor 5 Jahren ist der Bezirk Güssing dazugekommen und die Schulen werden systematisch mit der notwendigen dynamischen Geduld miteinbezogen. Gelingende kooperative Entwicklungsprozesse erfordern aus praxeologischer Perspektive eine reflektierende und analytische Auseinandersetzung mit den je spezifischen strukturellen Bedingungen sowie mit den unterschiedlichen (berufs-)biografischen Dispositionen der am Prozess beteiligten Akteur/innen. Um dies zu gewährleisten werden Einzelne, Teams, Arbeits- bzw. Qualitätsgruppen und Kollegien in Form von fachlichen Inputs, Schulentwicklungsberatung, Supervision und Coaching unterstützt. Schule soll auch verstärkt als Sozialisationsraum zur Entfaltung des Menschlichen gestaltet werden. Ich möchte diesen eingeschlagenen „Pflock“ an Hand von zwei Beispielen beschreiben: Integration Seit ca. 25 Jahren ist die „Integration“ von Schüler/innen mit besonderen Bedürfnissen, mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen Herkünften und Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  konfessionellen Hintergründen eine besondere Herausforderung für die Schule und ist ein gutes Beispiel für das Bemühen, selektierende und segregierende Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssysteme in Frage zu stellen und umzubauen. Georg Feuser – einer der ersten Integrationstheoretiker – diagnostiziert bei einem Vortrag in Graz, die Integration sei gescheitert. Er meint, dass die für eine durchgängige oder umfassende Umsetzung von Integration erforderlichen gesellschaftlichen und politischen Analysen und damit verbundenen Fragen bis heute unbeantwortet bleiben: „Das ‚gründliche Denken der Integration’, [...] stellt ein wesentlich fachintern zu bewältigendes erziehungswissenschaftliches Moment des Prozesses dar, der [...] in seiner gesellschafts- und bildungspolitischen Umsetzung genau so gründlich gedacht werden muss.“7 Auf der Homepage des bmbf ist zu lesen: Wir nehmen alle mit. Wir lassen keinen zurück. Die Voraussetzung für eine gelingende Integration wäre der Bruch mit dem „Modus der Evidenz“ des Schulsystems als Unterschiede produzierende und reproduzierende Institution. Sie verlangt auf Grund der historisch und kulturell inkorporierten Haltung gegenüber dem „Fremden“ eine Veränderung des „kollektiven Habitus“, sowohl im Feld Schule durch die Akteur/innen und der am Schulsystem Beteiligten (Schulaufsicht, Vertreter/innen der Verwaltung, des BMUKK, Unterstützungssysteme), als auch eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Die Schwierigkeit, den institutionellen und personellen Habitus zu verändern, kann Bourdieu folgend, aus zwei Sichtweisen, die sich gegenseitig ergänzen bzw. verstärken, erklärt werden. Einerseits zeichnet sich der Habitus durch eine „außerordentliche Trägheit (aus), die aus der Einschreibung der sozialen Strukturen in die Körper resultiert“, und eine dauerhafte Transformation desselben ist nur durch eine „wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übungen einschließt“8 zu erzielen, andererseits gibt er den Akteur/innen auch eine „generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht“9 und bindet sie an ihren Auftrag. Das normativ geprägte Paradigma der „Integration“ ist mittlerweile jenem der                                                                                                                 7

FEUSER, Georg: Von Selektion über Integration zu Inklusion. Vortrag beim Symposium „Die inklusive Schule. Jede(r) ist willkommen!“ der Katholische Pädgogische Hochschule, (Eggenberg) in Kooperation mit Landesschulrat für Steiermark & Heilpädagogische Gesellschaft Steiermark (HPG), Graz, 4. und 5. April. 2008 8 Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg. 2001, S. 220 9 ebd. Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  „Inklusion“ gewichen, der positiv konnotierten Betonung und Bewertung von Differenz, Diversität und Heterogenität. Dem Bestreben zur Weiterentwicklung gängiger Konzepte steht die (empirische) Erkenntnis gegenüber, dass solche Neuerungen an der Basis – bei den Lehre/rinnen – oft gar nicht oder nur schleppend angenommen werden. Eine sinnvolle Analyse dieser „Trägheitsmomente“ in der Umsetzung aktueller pädagogischer Konzepte muss daher ein besonderes Augenmerk auf die Divergenzen zwischen institutionellen bzw. konzeptionellen Innovationen, deren Implementierungspraktiken und dem vorherrschenden kollektiven Habitus, sowie den habituellen Dispositionen der Akteur/innen legen. Aus meiner Erfahrung kann dies Schulentwicklungsberatung allein nicht leisten. Die Veränderung des kollektiven Habitus in Bezug auf Inklusion bzw. inklusive Pädagogik braucht geeignete Settings, die in Supervisionsprozessen gewährleistet werden können. „DA HAT MEIN GUTES HERZ NICHT GEREICHT!“ – Die Geschichte einer Schulleiterin einer Kleinstschule an der Peripherie Österreichs Ich durfte eine Schulleiterin über einen längeren Zeitraum beim Schulentwicklungsprozess an ihrer Schule begleiten. Nennen wir sie Frau T. Frau T. arbeitet in einer Kleinschule als Lehrerin und Leiterin. Sie sieht die Schule aus der Perspektive ihrer Biografie und Ausbildung als „Sozialisationsraum zur Entfaltung des Menschlichen“. Ihre Geschichte ist zwischen postulierten Ansprüchen und etablierten Strukturen angesiedelt. Sie resignierte angesichts der Unlösbarkeit der Schwierigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sah, zwar nicht, zog jedoch mit Hilfe von Schulentwicklungsberatung und vor allem eines intensiven und privat bezahlten Supervisionsprozesses die Konsequenzen und legte die Schulleitung zurück. Frau T. lernte ich bei einem von mir moderierten Seminar für Schulleiter/innen und Schulleiter kennen. Sie schien mir neugierig, interessiert und offen für Neues. Ihre Begeisterung fiel mir auf, ebenso der Umstand, dass sie auch ihre Gefühle mitteilte. Sie kam auf mich mit dem Vorhaben zu, ein Leitbild für ihre Schule mit Unterstützung der Eltern entwickeln zu wollen. Sie wünschte sich von der Schulentwicklungsberatung ein Feedback zu ihrer Vorgangsweise und allenfalls Hinweise auf Chancen, Risiken und Fallen. Frau T. war im Dorf sehr gut integriert, sie engagierte sich in unterschiedlichen Vereinen. Zu dieser Zeit wurden Asylwerberfamilien im Ort untergebracht, deren Kinder die Volksschule besuchten. Frau T. bemühte sich, sie zu Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  fördern und den im Lehrplan für Volksschulen definierten Bildungszielen zu entsprechen. Sie ging auch am Nachmittag in die Schule, um die Kinder in Deutsch zu unterrichten, um ihnen den Anschluss zu erleichtern. Als immer mehr Kinder aus Asylwerberfamilien in ihre Schule kamen, begannen die ortansässigen Eltern ihr Vorwürfe zu machen: Sie kümmere sich um die Kinder des Dorfes weniger als um die neu hinzugekommenen ausländischen Kinder. Frau T. suchte Lösungsmöglichkeiten, Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen, z.B. redete sie in einer Lehrveranstaltung des Pädagogischen Institutes offen über ihre Schwierigkeiten und nahm sich dort den Raum, um Unterstützung und Verständnis für ihre Situation zu bekommen. Zu Beginn sah sie ihre „Schwierigkeiten“ noch als „pädagogische Probleme“. Sie versuchte, allen Schüler/innen das zu ermöglichen, was sie in ihrer jeweiligen Individualität brauchten: „Lesen, Schreiben und Rechnen, diese Selbstverständlichkeiten müssen bleiben als Pfeiler, aber die nächste wichtige Aufgabe ist schon zu verhindern, dass Außenseiter entstehen.“ Damit formulierte sie ihr persönliches Ideal, mit dem sie Schritt für Schritt an ihrer Schule scheiterte. Dazu Elisabeth Katschnig-Fasch: „Gerade bei mit hohem Idealismus ausgestatteten Lehrer/innen tritt der Widerspruch zur Realität des neoliberalen Umbaus besonders krass zutage. Sie leiden mit Schülern, die auf der Strecke bleiben, mit und spüren dabei schmerzvoll ihre eigene Ohnmacht. Die Tatsache, dass immer weniger Zeit und Mittel zur Verfügung stehen, wird mit Selbstausbeutung kompensiert.“10 Trotz Einsatz und Engagement konnte sie die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Schüler/innen nicht mehr angemessen abdecken und damit weder ihren eigenen noch den Ansprüchen des Lehrplans oder der Eltern gerecht werden. Sie fühlte sich zunehmend unter Druck und das Gefühl der Unzufriedenheit, der Hilflosigkeit und Ohnmacht machte sich breit. Sie erzählt: „Und da war ich das erste Mal ausgepowert. Da habe ich nämlich einen Alptraum gehabt, den vergesse ich nicht. Aus allen Körperöffnungen habe ich geblutet. So war der Traum. Aus Ohren, Nase, Mund und allen anderen Öffnungen. Ich bin in einem warmen Blutbad entsetzt aufgewacht.“ Obwohl Frau T. erkennt, was notwendig wäre, damit sie die Betreuung der Kinder in der Weise betreiben kann, wie es dem Auftrag aus dem Lehrplan entspricht, hat sie                                                                                                                 10

Katschnig-Fasch, Elisabeth: In der Spirale der Auflösung – Zur Krise der Schule. In: Dies. (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus. Wien, S.125-131. 2003.

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  letztendlich keinen Einfluss darauf, wie die Integration von Kindern aus Asylwerberfamilien faktisch vollzogen werden kann. Sie findet sich in einer Situation wieder die dem entspricht, was Bourdieu meint, wenn er von der rechten und der linken Hand des Staates spricht. Frau T. durchlebt die „Widersprüchlichkeiten eines Staates, dessen rechte Hand nicht mehr weiß oder gar noch schlimmer, nicht mehr wissen will, was die linke in Form immer schmerzhafterer double-binds tut.“ Frau T. sieht die aus dem Mangel erwachsenden Kompensationsnotwendigkeiten, sie setzt sich z.B. für eine Familie ein, die das Dorf wieder verlassen muss, obwohl sie bereits sehr gut integriert ist und die Kinder in der Schule sehr gute Fortschritte machen. Eine aussichtslose Aufgabe „in einem Klima der mangelnden Anerkennung, die schließlich auch zu Reaktionen wie Abwehr, Resignation, Aggression und Ausgebranntsein führt“11 und damit das Gegenteil von dem provoziert, was in den Bildungszielen gefordert wird. Für den Umgang mit kulturellen Unterschieden sind die meisten Lehrer/innen nicht geschult, schon gar nicht für die Arbeit mit traumatisierten Kindern. Es ist, wie Frau T. argumentiert: Lehrer/innen haben gelernt, ihren Schüler/innen Schreiben, Lesen und Rechnen und einer homogenen Gruppe von Kindern ganz bestimmte soziale und kulturelle Kompetenzen beizubringen. Sie haben aber nicht gelernt, mit Kindern Kriegserfahrungen zu bearbeiten, weder mit ihnen selbst, noch mit den Folgen innerhalb der Klasse. Als Akteurin fühlt Frau T. sich in dieser Spirale aus Entwertung von Arbeit und Engagement ohnmächtig. Es ist der Zynismus gegenüber den Notsituationen der Betroffenen, das Ignorieren der fehlenden Rahmenbedingungen und der fehlenden Ressourcen einerseits und andererseits auch das habituell angeeignete Selbstbild, das dazu führt, dass der Sinn in der beruflichen Biografie bricht: „Die im Habitus angelegten Dispositionen, Erwartungen und Selbstanforderungen stammen noch aus vergangenen Zeiten und sind nicht mehr an die aktuellen gesellschaftlichen Strukturen rückvermittelbar. Das, was den Habitus kennzeichnet, seine Abgestimmtheit ohne ausdrückliche Abstimmung, ist verloren. Gerade weil der Habitus nach Kohärenz strebt, werden die Widersprüche, Missklänge und Disharmonien, die sich im Innersten des Subjekts niederschlagen, als persönliche Tragödien erlebt, und nicht als das, was sie sind, nämlich gesellschaftliche Brüche

                                                                                                                11

Katschnig-Fasch, 2003, S.129-131.

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  und Kontradiktionen.“12 Besonders stark spürbar wird diese „innere Zerrissenheit“ dann, wenn zusätzlich die Konflikte mit den Eltern der Schüler/innen − die persönliche Enttäuschung und Kränkung innerhalb der sonst engen und bewährten Dorfgemeinschaft − sich auf ihr gesamtes Leben auszuwirken beginnen. Frau T. hat sich sehr bald private Hilfe geholt in Form von Supervision – das hat sie in ihrer schwerwiegenden Entscheidung gestärkt, die Schulleitung zurückzulegen. Menschen, die innerhalb des Systems arbeiten, die etwas verändern wollen, die an Themen arbeiten, die unter den Nägeln brennen erleben die etablierte Praxis als Kühlmechanismus. Er gewährleistet, dass sich nichts Grundsätzliches ändert. Während die Notwendigkeit bestünde, spezifischen Problemen ganz konkret mit Zuwendung im Sinne von notwendigen Ressourcen zu begegnen, wird oftmals mit dem Herunterkühlen der heißen Themen auf persönliches „Versagen“ alles beim Alten belassen. Der 3. Pflock, den ich einschlagen möchte, um zu verdeutlichen, dass professionelle Reflexion und Unterstützungsmaßnahmen in Form von Supervision notwendig sind: Schule ist (Re-)Produktionsstätte gesellschaftlicher Herrschafts- und Machtverhältnissen und sozialer Ungleichheit Lehrer/innen und Schulleiter/innen sind als Akteur/innen –Teil des „sozialen Spiels“. Lehrer/innen werden als Schüler/innen, später als Studierende und danach als Berufseinsteiger/innen im Feld Schule sozialisiert. Das folgende scheinbar unscheinbare Beispiel aus der pädagogischen Praxis allein könnte Anlass für berufsimplizite Supervision sein: Ein Lehrer erzählte mir, dass er seit Jahren beobachtet, wie unterschiedlich seine Kolleg/innen mit verschiedenen Kindern umgehen, die an die Tür des Konferenzzimmers klopfen, wenn sie ein Anliegen haben: „Bei Kindern aus den Arbeiterfamilien oder aus einem niedrigeren Sozialmilieu ist im Vergleich zu Kindern aus privilegierteren Milieus das Verhalten unfreundlich, sie [die Lehrer/innen] sind kurz angebunden, ungeduldig und fühlen sich gestört.“13 Es gäbe viele Interpretationsmöglichkeiten. Meine ist wie folgt:

                                                                                                                12

Barlösius, 2006, S.88.

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Leimstättner, B.: Vom inneren Tragen äußerer Veränderungen. Lehrer/innen und Schulleiter/innen in der Spirale der Schulentwicklung. Unveröffentlichte Dissertation. Karl-Franzens-Universität Graz. 2010. Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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Symposium:  „Einblick–Durchblick–Ausblick  mit  Beratung  im  Kontext  von  Schule“  –  27.11.2015  

  Eine Art „kulturelles Unbewusstes“ der Schule lässt alltägliche Handlungen als „natürlich“ erscheinen und tatsächlich sind sie in vielen Fällen kulturell konstruiert. Es ist erstaunlich, dass Menschen sich in ihr gesellschaftliches „Schicksal“ fügen, dass sie die gesellschaftliche Ordnung bis auf wenige Ausnahmen als gegeben hinnehmen und sie auf diese Weise immer wieder und wieder reproduzieren. Bourdieu bezeichnet dieses Phänomen als Doxa: das unmittelbare „Verwachsensein“ mit der natürlich erlebten und als selbstverständlich vorgegebenen Welt der Überlieferung – es wird vieles stillschweigend als gegeben hingenommen, es gibt keinen Grund zu zweifeln, nachzufragen. „Alles erscheint selbstverständlich gegeben. Die Selbstverständlichkeit der erfahrenen sozialen Praxis wird durch die Evidenz des routinisierten Diskurses über die soziale Welt gleichsam verdoppelt. Die diskursive Verdopplung der erfahrenen sozialen Praxis begründet und bekräftigt die Einmütigkeit der Doxa, woraus der Anschein der Geschlossenheit der sozialen Welt entsteht.“14 Erklärbar ist es mit Habitus und Feld. „Mit, gegen und durch die verschiedenen Felder wird der Habitus geformt“ bzw. dialektisch ausgedrückt: „Die spezifische Logik eines Feldes nimmt als spezifischer Habitus Gestalt an.“ Die Objektivierung in den Leibern ist „der Habitus“, also die „Leib gewordene Geschichte“, die Objektivierung in den Institutionen – im „Feld“ – ist die „Ding gewordene Geschichte“.15 Das klingt im ersten Moment sehr determinierend. Ist es aber keineswegs. Der Habitus repräsentiert kein festgezurrtes Korsett des Handelns, beherrscht keineswegs bedingungslos das gesamte Tun und Lassen eines einzelnen Akteurs oder einer Gruppe von Akteuren. Vielmehr bildet er ein – mit den Worten Bourdieus – „offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird“16, sich neuen Situationen und Lebensumständen in einem bestimmten Rahmen auch anpassen kann. Das ist sozusagen die gute Nachricht. Allerdings braucht es die Zeit als Einprägekraft17, was die Notwendigkeit von kontinuierlicher, professioneller Reflexion wie zum Beispiel Supervision unterstreicht. Ein Beispiel dafür aus der Praxis ist die kooperative Schulentwicklung von drei Schulleiterinnen aus einer ein-, einer zwei- und einer vierklassigen Volksschule. Sie arbeiten nun seit 2 Jahren an dem Thema Kollegiale Hospitation und besuchen                                                                                                                 14

Barlösius, 2006, S.28. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/Main. 2001. S. 20. 16 Bourdieu, Pierre; Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main. 1996. S. 167–168. 17 Barlösius, 2006, S. 185. 15

Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  sich gegenseitig zwei Mal im Semester im Unterricht. Sie wollten im Vorfeld selbst Erfahrungen sammeln, bevor sie ihre Lehrer/innen in diesen Entwicklungsprozess einbinden. Zuerst erarbeiteten sie Beobachtungskriterien und Beobachtungsbögen, die sie nach den ersten Hospitationen und der anschließenden Reflexion als nicht hilfreich genug verwarfen. Im weiteren Diskussions- und Reflexionsverlauf stellte sich immer deutlicher heraus, dass es ihnen darum gehe, welche Haltungen, (verborgenen) Machtmechanismen und Dynamiken im Kontakt mit den Schüler/innen zur (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit führen. Es ist ihnen ein Anliegen, sich gegenseitig dabei zu unterstützen, ihre pädagogischen Alltagspraxen auf die impliziten Unterscheidungshandlungen hin zu überprüfen, diese ihrer scheinbaren Natürlichkeit zu entziehen und ihre Unterscheidungsmacht bloß zu legen. Dafür nehmen sie sich Zeit und Raum in unterschiedlichen Settings. Sie werden von einer Schulentwicklungsberaterin der Pädagogischen Hochschule begleitet, parallel dazu erhalten sie Supervision. Im nächsten Schritt wollen sie ihre Kolleg/innen achtsam ins Boot holen und „Kollegiale Unterrichtshospitation“ als mögliche Unterstützung für professionelles Lehrer/innenhandeln an ihren Schulen Schritt für Schritt implementieren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine kontinuierliche Reflexion des pädagogischen Handelns ein selbstverständlicher und impliziter Anteil unserer Profession sein muss. Das darf nicht allein dem individuellen Engagement und dem Zufall, der Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, der Einzelnen überantwortet werden. Und zwar sowohl im laufenden Schulalltag, als auch in der Ausbildung. Postulierte Ansprüche etablieren sich dann in der Praxis, wenn sie vom Feld Schule, der pädagogischen Einheit und den Lehrpersonen als Akteur/innen selbst getragen werden. Schulentwicklungsberatung und Supervision können eine wichtige Unterstützung und einen notwendigen Beitrag dazu leisten. Literatur: Barlösius, Eva: Pierre Bourdieu. Frankfurt/Main. 2006. Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg. 2001. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  Frankfurt/Main. 2001. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main. 1996. Brüsemeister, Thomas: Steuerungsakteure und ihre Handlungslogiken im Mehrebenensystem der Schule. In: Kussau, Jürgen/Brüsemeister, Thomas: Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wiesbaden. 2007. Dölling, Irene: Pierre Bourdieus Praxeologie – Anregungen für eine kritische Gesellschaftsanalyse. Vortrag in der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften am 10. Februar 2011. Link: http://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2012/11/05Dölling.pdf (letzter Zugriff: 30.11.2015) Feuser, Georg: Von Selektion über Integration zu Inklusion. Vortrag beim Symposium „Die inklusive Schule. Jede(r) ist willkommen!“ der Katholische Pädgogische Hochschule, (Eggenberg) in Kooperation mit Landesschulrat für Steiermark & Heilpädagogische Gesellschaft Steiermark (HPG), Graz, 4. und 5. April. 2008. Katschnig-Fasch, Elisabeth (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus. Wien. 2003. Katschnig-Fasch, Elisabeth: In der Spirale der Auflösung – Zur Krise der Schule. In: Dies. (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus. Wien. 2003. Kussau, Jürgen/Brüsemeister, Thomas: Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wiesbaden. 2007. Leimstättner, Brigitte: Vom inneren Tragen äußerer Veränderungen. Lehrer/innen und Schulleiter/innen in der Spirale der Schulentwicklung. Unveröffentlichte Dissertation. Karl-Franzens-Universität Graz. 2010. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Bielefeld. 2003.

Dr.in  Brigitte  Leimstättner:  Vom  inneren  Tragen  äußerer  Veränderungen  –  Supervision  und  Schulentwicklung  

 

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  RIBOLITS, Erich: Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung …. In: Schule zwischen Staat, Profession und Markt. Schulheft 96. 1999. S. 9-25. Schrammel, Sabrina/Leimstättner, Brigitte/Schröder, Brigitte: Lernherausforderungen von Schulleiter/innen im Kontext kooperativer Schulentwicklung. PHB in Kooperation mit ÖZEPS: nähere Informationen unter: http://www.phburgenland.at/fileadmin/user_upload/information-ueber/fe/forschungsprojekte/abgeschlosseneprojekte/Projektbericht_Kooperation_PHB_OEZEPS_09_07_2014_Lit.erg..pdf

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