Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit. Konferenz Inhaltsverzeichnis:

Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Konferenz 1999 Inhaltsverzeichnis: 0. Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort:...
Author: Meike Geiger
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Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit

Konferenz 1999

Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitlosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitlosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

Vorwort : Aktivierung und Flexibilisierung Dem Anspruch, Arbeitslose für einen Wiedereinstieg in das Arbeitsleben aktivieren zu müssen, ist die Unterstellung inhärent, Arbeitslose würden eine Beschäftigungsaufnahme von sich aus nicht anstreben. Besonders zynisch erscheint jeder Versuch von Aktivierung bei jenen Arbeitslosen, die durch die neoliberale Flexibilisierung des Arbeitsmarktes produziert werden. Rund ein Drittel aller Arbeitslosen werden nämlich aufgrund von Auftragsschwankungen der Betriebe kurzfristig "freigesetzt", um nach einer Periode der Arbeitslosigkeit beim selben Dienstgeber wieder eingestellt zu werden. Dieses Phänomen trifft also längst nicht mehr bloß auf Saisonbranchen zu. Gleichzeitig wächst mit der Flexibilisierung die Zahl der Teilzeitjobs, der befristeten Dienstverhältnisse und der Leiharbeitsverhältnisse. Für viele Arbeitslose bedeutet Aktivierung daher einen – zugegeben statistikschonenden – Wechsel von Armut ohne bezahlte Beschäftigung in Armut mit bezahlter Beschäftigung. Arbeitslose und Flexibili-täts-Beschäftigte befinden sich nicht selten im selben Boot. Gerade in der aktuellen Diskussion, die unter dem Deckmantel "Soziale Treffsicherheit" geführt wird, sind diese Flexibilitätsarbeitslosen im Visier der Sparpolitik. Mit rigiden Maßnahmen versucht man Aktivierung herbeizuführen, die kontraproduktiv ist. Die Beiträge im vorliegenden Band der Denkwerkstätte belegen dies. Graz, Oktober 2000 Hans Kaiser, Landesgeschäftsführer des AMS Steiermark Dr. Helfried Faschingbauer, stellv. Landesgeschäftsführer des AMS Steiermark

3

1 Einleitung: Ein straffes Wirtschaften — Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit Hans Georg Zilian Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitlosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

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1.1 Das Ende der Geruhsamkeit? Die westlichen Industrienationen waren als ökonomische Einheiten geradezu spektakulär erfolgreich; sie produzieren heute einen derartigen Überfluß materieller Güter, daß auch den Verlierern unserer gesellschaftlichen Wettbewerbe mehr bleibt als den Siegern vergangener Epochen. Gleichzeitig mehren sich aber die Anzeichen der Anomie und der Entfremdung; noch nie waren so viele wohlhabende Menschen gleichzeitig so unglücklich. Die Ursachen der Malaise sind mannigfaltig, doch steht außer Zweifel, daß die Arbeitslosigkeit dabei eine Rolle spielt. Ironischerweise hat dazu gerade die Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems den entscheidenden Beitrag geleistet. Steigerungen der Produktivität mögen als technologische und ökonomische Erfolge gefeiert werden -- gleichzeitig können sie aber auch moralische Panik auslösen. Wenn es ein moralisches Desiderat darstellt, daß alle Menschen ihren Beitrag zur gemeinsamen Güterproduktion leisten, und wenn sich dies gleichzeitig aus ökonomischen Gründen erübrigt, dann hat ein arbeitsteiliges System ein Problem, das in irgendeiner Weise gelöst werden muß. Das Problem besteht, seit die Arbeit in Beschäftigungsverhältnissen formalisiert wurde und seitdem daher ein ehemals loses Kontinuum zwischen Arbeit und Müßiggang vom wohl definierten Gegensatz von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit abgelöst wurde.1 In Zeiten der "Flexibilisierung" wird dieser deutliche Kontrast wieder verwischt, und das Problem nimmt neue und derzeit nicht so ohne weiteres rekonstruierbare Konturen an. Schon immer hat die Arbeitslosigkeit ein Thema dargestellt, an dem sich die politischen Geister geschieden haben; dahinter lagen verschiedene Konzeptionen der lebenswerten, der wohl geordneten oder der wirklich freien Gesellschaft. Hinzu trat, daß in der dogmengeschichtlichen ökonomischen Tradition die Idee einer "erbarmungslos straffen" Wirtschaft trotz ihrer Weltfremdheit stets ein Ideal dargestellt hat. Man vergleiche hiezu A. G. Hirschman: "Die Gesellschaft als ganze produziert einen hinreichenden und vielleicht sogar ständig steigenden Überschuß, während jedes einzelne Unternehmen isoliert betrachtet gerade noch durchkommt, so daß ein einziger falscher Schritt seinen Untergang bedeutet. Infolgedessen wird jeder ständig dazu veranlaßt, sein Leistungsoptimum zu geben, und die Gesellschaft als ganze operiert an ihrer – ständig expandierenden –'Produktionsgrenze', wobei ihre wirtschaftlich brauchbaren Kapazitäten zur Gänze ausgelastet sind. Dieses Bild einer unablässig straffen 1

Keyssar 1986, S. 36.

3

Wirtschaft hat in der ökonomischen Analyse einen bevorzugten Platz selbst dann eingenommen,

wenn

der

vollkommene

Wettbewerb

als

rein

theoretische

Konstruktion ohne großen Realitätsgehalt erkannt wurde."2 Da aber das Bild einer "erbarmungslos straffen" Ökonomie nicht nur insoweit weltfremd ist, als es der Wirklichkeit inadäquat ist, sondern auch der Rolle der "Schlaffheit", des "slack", nicht gerecht werden kann, müssen wir versuchen, der ökonomischen und sozialen Rolle des slack etwas besser Rechnung zu tragen, als dies bisher meist geschah; im Kontext der vorliegenden Einleitung ist dies allerdings nur in Ansätzen möglich. Sieht man von neueren Arbeiten mit Titeln wie "Lob der Verschwendung"3 ab, dann manifestierte sich in der ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Literatur im allgemeinen im Bekenntnis zur "Straffheit" eine fundamentale ideologische Prämisse der herrschenden Theorien des Wirtschaftens. Wie man von der Natur glaubte, sie hätte einen horror vacui, so hat auch die Gesellschaft großen Abscheu vor der Untätigkeit. Deshalb hat auch die leere Geschäftigkeit als Reaktion auf eine allzuschwache Nachfrage nach Arbeitskraft heute ebenso ausgedient wie die Geruhsamkeit des geschützten Sektors. Die auf freien Märkten tätigen Unternehmen sind unter dem in der globalisierten Weltwirtschaft verschärften Konkurrenzdruck dazu übergegangen, ihren Beschäftigten stand sehr eng an die jeweilige Auftragslage anzupassen. Dies bedeutet, daß es immer häufiger zu Entlassungen und zu Neueinstellungen kommt. Innerhalb von Firmen wird slack in immer geringerem Ausmaß toleriert; gleichzeitig bewirkt die (immer häufiger temporäre) Arbeitslosigkeit, daß in den wirtschaftlichen Gesamtsystemen ein stets steigender Prozentsatz der Arbeitsfähigen keine Beschäftigung in der offiziellen Ökonomie findet. Daher ist es schon seit geraumer Zeit ein erklärtes Ziel nicht nur der OECD, sondern auch verschiedener staatlicher Regierungen, die europäischen Wirtschaftssysteme auf Trab zu bringen, indem unter anderem deren Arbeitskräfte "aktiviert" werden. Aus pessimistischer Sicht wird dann die Welt zu einem Hamsterkäfig, in dem alle Menschen immer schneller und schneller laufen. Das Thema des vorliegenden Bandes entsteht so aus einer zweifachen Entwicklung: Einerseits wollen die Unternehmen so "schlank" wie möglich sein, weshalb sie andererseits immer mehr von jener Arbeitslosigkeit produzieren, die bei einzelnen Arbeitskräften jenen Überschuß der verfügbaren über die aktuell genutzten Ressourcen entstehen läßt, den man als personal slack bezeichnen könnte. Das Programm der derzeit herrschenden Perspektive auf die 2 3

Hirschman 1974, S. 7f. Grabher 1994.

4

Arbeitswelt erscheint als offensichtlich inkohärent, wenn es tatsächlich die Senkung der Produktionskosten durch Eliminierung von organizational slack und gleichzeitig die hektische Aktivität aller potentiellen Arbeitskräfte vorsieht. Es ist dies eine Inkohärenz, die allerdings nicht selten durch ideologische Begriffsmanipulationen verschleiert wird. Es drängt sich daher bereits an dieser Stelle die Vermutung auf, daß die Einrichtungen des Wohlfahrtsstaates und das damit verknüpfte höhere Ausmaß von Geruhsamkeit nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar aus schlichten Effizienzüberlegungen abgeleitet werden könnten, die der Rolle der Reserve von Arbeitskraft ihren gebührenden Raum zugestehen. Das Bekenntnis zu einer straffen Ökonomie ist aufs engste verknüpft mit der häufig schon fix zu nennenden Idee, man müsse den Arbeitskräften Anreize verschaffen, an der offiziellen Ökonomie teilzunehmen. In vielen europäischen Ländern entschied man sich für eine Beschäftigungspolitik, die Leute "aktivierte", aus der Reserve zu kommen und in die offizielle Arbeitswelt einzutreten. Die Sprache, in der diese Politik formuliert

wird,

tendiert

dazu,

die

bei

"Aktivierungen"

im

allgemeinen

eingesetzten

Zwangsmechanismen zu verschleiern, wenn auch nur sehr notdürftig: Es ist ja schließlich evident, daß man niemanden zu "aktivieren" braucht, jene Entscheidungen zu treffen, die ihm den höchsten Nutzen verheißen. OECD und EU huldigen derzeit einem "gemäßigten Neoliberalismus", der an die Funktionsfähigkeit der freien Marktwirtschaft glaubt und institutionelle Vorkehrungen zur Absicherung der Arbeitskräfte und der Arbeitslosen als "Rigiditäten" auffaßt, die den Markt in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist dieser Auffassung nach auf zu hohe Löhne und auf Schutzbestimmungen, die im allgemeinen von der Arbeitnehmerseite erkämpft wurden und werden, zurückzuführen. Es ist dies eine Verallgemeinerung der Idee, daß die Arbeitslosenversicherung die Krankheit ist, für deren Therapie sie sich hält. Für das europäische politische Establishment ist daher die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, also die Beseitigung von Rigiditäten, die wichtigste Waffe gegen die Arbeitslosigkeit. Die Gegenposition, die man hier beziehen könnte, würde darauf verweisen, daß die Dynamik der modernen Wirtschaft bereits ohnehin für eine massive Flexibilisierung sorgt und daß es den politischen Instanzen der europäischen Gesellschaften obliegt, an diese Tendenzen die geeigneten sozial-und beschäftigungspolitischen Instrumente

heranzubringen.

Von

einem

Standpunkt

aus,

der

sich

weniger

um

die

Besetzungsprobleme der Unternehmer kümmert als um die Sicherheit und Freiheit der Arbeitnehmer, sind "Rigiditäten" durchaus wünschenswert; der Unterschied in den Perspektiven ist einerseits einer des wertenden Rahmens, andererseits einer der Konzeption der relevanten Kausalbeziehungen. Werden Leute arbeitslos, weil es das Arbeitslosenversicherungssystem gibt, oder werden sie durch 5

Einrichtungen wie das Arbeitslosenversicherungssystem unterstützt, weil sie arbeitslos geworden sind? Ganz ähnlich entsteht die Frage, ob Frauen unterstützt werden sollen, wenn sie arbeitslos sind, oder ob ihnen bessere "Anreize" geboten werden sollen, in die offizielle Ökonomie überzutreten. Auch hiebei handelt es sich um eine politische Entscheidung, die mit Behauptungen über Kausalzusammenhänge fast untrennbar verflochten ist.

1.2

Europäische Einigung und die Entpolitisierung der Wirtschaft

Die Vermischung normativer und empirischer Fragen im hier diskutierten Bereich hat die Tendenz gefördert, die Beantwortung der politischen Fragen jenen zu überlassen, die man als für die Analyse komplexer empirischer Zusammenhänge besonders geeignet erachtet, nämlich den Ökonomen. Es handelt sich hier um eine sozusagen innerwissenschaftliche Parallelentwicklung zum paradoxen Nebeneinander eines Trends der europäischen Einigung mit einem Abschied von der politischen Steuerung des wirtschaftlichen Lebens. Die Europäische Union hat sich weitgehend dem Neoliberalismus verschrieben, was bedeutet, daß das neugewonnene Organisationspotential nur in geringem Ausmaß im Interesse der Arbeitnehmer eingesetzt wird. Im Gegensatz zu diesem weitverbreiteten Ökonomismus erinnert Markus Marterbauer in seinem einleitenden Beitrag zum vorliegenden Band unter anderem daran, daß auch die Idee der Arbeitszeitverkürzung eine essentiell politische Dimension hat. Marterbauer skizziert das wirtschafts- und beschäftigungspolitische Paradigma der EU als weitgehend anti-interventionistische Konzeption, bei der der Wirtschaftspolitik vor allem die Aufgabe zugewiesen wird, für Preisstabilität und Einschränkung der Verschuldung der öffentlichen Haushalte und damit für stabile Rahmenbedingungen des Geschehens im Kontext der "freien Marktwirtschaft" zu sorgen. Lediglich selektive Korrekturen von "Marktversagen" sind erwünscht.

Die

Lohnstarrheiten

Beschäftigungspolitik und

andere

ist

Rigiditäten

diesem erzeugen

allgemeinen nach

Vorbild

Auffassung

der

nachempfunden. EU

strukturelle

Arbeitslosigkeit; damit wird die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zur wichtigsten Waffe gegen die Arbeitslosigkeit. Dies teilt sich auch den jährlich verlautbarten "beschäftigungspolitischen Leitlinien" mit, die die Richtung der von der EU für notwendig erachteten Strukturreformen vorgeben – Modernisierung

der

Arbeitsorganisation,

Flexibilisierung

der

Arbeit,

Verbesserung

der

Beschäftigungsfähigkeit vor allem von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen, Entwick¬lung des Unternehmergeistes und Abbau von Diskriminierungen, vor allem von Frauen. Dieser Ansatz sieht 6

das Problem vor allem auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes angesiedelt, weshalb er für Marterbauer lediglich auf eine Symptomkur hinausläuft. Marterbauer möchte dieser Strategie des offiziellen Europa eine stärker institutionalistische Alternative gegenübergestellt sehen. Die Institutionen – Organisationen, Regeln und informelle Arrangements – haben den Hauptzweck, dort Sicherheit zu stiften, wo Unsicherheit der Erwartungen herrscht. Marterbauer bekennt sich daher zu einem modernisierten Wohlfahrtsstaat als institutionellem Instrument dieser Erzeugung von Sicherheit; tatsächlich dürften solche Instrumente gerade in einer Zeit, da der Kapitalismus in den Over-drive zu gehen scheint, von besonderer Bedeutung sein. Jedenfalls weist der Ökonom Marterbauer in weiser Selbstbescheidung darauf hin, daß Fragen wie jene einer stärker beschäftigungsorientierten Arbeitsmarktpolitik oder der Arbeitszeitverkürzung zuallererst politische Fragen sind, die allein aufgrund von ökonomischen Kalkülen nicht beantwortet werden können. Mit dieser Selbstbescheidung steht jedoch auch er auf verlorenem Posten gegen die kuriose Tendenz, die Frage, wie wir leben sollen, zur Beantwortung an den ökonomischen Sachverstand zu übergeben; die Antworten fallen dann dementsprechend aus und prägen – unbeschadet ihrer Legitimität – die öffentliche Meinung. Gesellschaften mit hoher Arbeitslosigkeit nehmen eo ipso Arbeitszeitverkürzung in Kauf, über den Mechanismus der Arbeitslosigkeit. Im Gegensatz zur allgemeinen geordneten Arbeitszeitverkürzung bewirkt die Arbeitslosigkeit jedoch eine prinzipienlose Umverteilung wertvoller Ressourcen und bringt so Ungerechtigkeit und Irrationalität hervor. Das sind Kategorien, die nicht aus einer ausschließlich technokratischen Perspektive behandelt werden sollten bzw. können; es ist dies ein wichtiger Grund für den interdisziplinären Zugang des vorliegenden Tagungsbandes, der neben der Ökonomie und der Soziologie auch der Philosophie eine Plattform bietet. Arbeitslosigkeit ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und der Menschenwürde; daß letztere im öffentlichen Bewußtsein eine gewaltige Bedeutung gewonnen hat, steht in einem eigentümlichen Kontrast zur Gleichmütigkeit, mit der Arbeitslosigkeit weithin toleriert und den Rezepten der neoliberalen Hexenküche überlassen wird. Wie in allen derartigen Fragen treffen hier die Tauben auf die Falken. Die Anhänger des Grundeinkommens sind selbstverständlich gurrende Täubchen, während die OECD immer schärfere Falkentöne von sich gibt. In den einzelnen europäischen Ländern sah man sich zwar mit den Vorgaben der EU und den herrschenden ökonomistischen Ideologien konfrontiert, doch gab es starke einzelstaatliche Variationen der Reaktion auf die Herausforderung der Arbeitslosigkeit. Diese Variationen haben begonnen, im modernen gesellschaftspolitischen Diskurs eine wichtige Rolle zu spielen; Verweise auf das "schwedische Vorbild" oder das "dänische Modell" oder allgemeiner den 7

angeblichen Erfolg liberaler Arbeitsmarktregimes haben bereits fast rituellen Charakter angenommen; im folgenden werden wir einige dieser internationalen Befunde Revue passieren lassen, ohne uns dabei – wie das so häufig geschieht – auf bloßes Hörensagen zu stützen.

1.3

Aktivierung und Flexibilisierung in Europa

Die Vielfalt der in Europa vorzufindenden wirtschafts- und sozialpolitischen Regimes macht deren Analyse zu einer formidablen Aufgabe; andererseits bieten sich dadurch Möglichkeiten, Problemlösungen in nationalstaatlichen Kontexten zu erproben – dadurch könnte sich die Europäische Union als ein politischer Verband von hoher Anpassungs- und Lernfähigkeit erweisen. Ein instruktives Beispiel für diese Vielfalt der Regimes und der Lehren, die man aus ihrer Analyse ableiten kann, liefern Bill Jordan und Jorn Loftager, indem sie die Frage der "Aktivierung" am Beispiel Großbritanniens und Dänemarks erörtern; sie unterscheiden dabei zwei verschiedene Konzeptionen der Aktivierung, von denen eine mit dem liberalen wohlfahrtsstaatlichen Modell (z.B. jenem der USA) und die zweite mit dem paternalistischen, sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat (mit dem Musterfall Schweden) assoziiert ist. Trotz Mrs. Thatcher und der langdauernden Herrschaft der Konservativen in Großbritannien war es dort erst Tony Blairs "Dritter Weg", der die Aktivierung von Arbeitslosen zu einem zentralen Element der britischen Beschäftigungspolitik machte. Auch in Dänemark, das der Gruppe der paternalistisch agierenden sozialpolitischen Regimes zuzurechnen ist, wurde Aktivierung erst relativ spät auf die politische Tagesordnung gesetzt. Jordan und Loftager führen dies zunächst auf die traditionell gut verankerte liberale Tradition der beiden Länder zurück; für den Liberalen ist das "Aktivieren" ein ziemlich problematischer Eingriff in das Leben von Menschen. Nach der Überwindung der Hindernisse, die durch das liberale Erbe aufgerichtet werden, wird in beiden Ländern die "Aktivierung" als moderne Alternative zur "De-Aktivierung" durch die "Hängematte" des Sozialstaates aufgefaßt. Vor allem das Grundeinkommen wurde in Dänemark zu einem Strohmann der Diskussion, der dazu diente, Aktivierungsstrategien im öffentlichen Bewußtsein zu legitimieren. Das Paper illustriert sehr gut, daß Grundeinkommen und Aktivierung Elemente zweier verschiedener Paradigmen der Beschäftigungs- und Sozialpolitik darstellen. Diese sind eingebettet in allgemeinere politische Entwürfe, die nicht so einfach zu verstehen sind; so verblüfft etwa der Befund, daß in Dänemark sich vor allem jüngere Befragte gegen das Grundeinkommen aussprechen, während die 8

aufgeklärte" Berliner Jugendszene noch bis vor kurzem von der "Reise nach Tunix" zu träumen pflegte.4 Der entscheidende Unterschied zwischen Großbritannien und Dänemark liegt darin, daß in Großbritannien durch die Unattraktivität der von einem deregulierten Arbeitsmarkt angebotenen Arbeitsplätze eine Arbeitslosigkeitsfalle einstand, wo Arbeitslose nur sehr zögernd bereit waren, ihre Ansprüche auf Unterstützung zugunsten unsicherer und schlecht bezahlter Arbeitsmöglichkeiten aufzugeben, während in Dänemark Entmutigungseffekte vor allem auf die Großzügigkeit des Wohlfahrtsregimes zurückzuführen waren. Wir haben hier empirische Illustrationen des abstrakten Sachverhalts, daß der Anreiz der Option "Arbeitsaufnahme in der offiziellen Ökonomie" gesteigert werden kann, indem die Arbeit attraktiver oder die Arbeitslosigkeit unattraktiver gemacht, bzw. beides zugleich bewirkt wird. In Großbritannien, so Jordan und Loftager, stellt es ein Vermächtnis des Thatcherismus dar, daß die Arbeit vor allem am unteren Ende des Statusgebildes immer unattraktiver wurde. Eine an aktivierenden Anreizen orientierte Arbeitsmarktpolitik kann daher eine Abwärtsspirale auslösen. Jordan und Loftager merken an, daß das dänische Modell dem hierzulande und in ganz Europa viel beachteten niederländischen Modell nahe verwandt ist. Geert van Hootegem und Luc Sels liefern eine Darstellung des letzteren, wobei sie einen instruktiven Vergleich mit Belgien ziehen. In beiden Ländern entsteht slack, also die Unterauslastung von der Volkswirtschaft im Prinzip zur Verfügung stehender Arbeitskraft durch temporäre Arbeitslosigkeit. Belgien hat dabei ein System, bei dem Arbeitskräfte für eine bestimmte Zeit in die Reserve entlassen werden, wo sie Arbeitslosengeld beziehen, ohne daß deshalb ihre Arbeitsverträge aufgelöst werden müßten; in Holland hingegen bevorzugt die Unternehmerseite einzelvertragliche Regelungen, um zu dem von ihr gewünschten Niveau der Flexibilität zu gelangen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der beiden Autoren steht dabei jene Enge der Bindung zwischen den Arbeitsmarktparteien, die in Kündigungsbeschränkungen zum Ausdruck kommt; dabei halten sie fest, daß Entlassungskosten und Kündigungsfristen einen wichtigen Beitrag zur Langzeitarbeitslosigkeit leisten. Es ist dies die typische Auswirkung vieler Regulierungsinstrumente, die die Insider des Arbeitsmarktes begünstigen, während sie gleichzeitig die Outsider diskriminieren. Die elanvoll jugendlichen Ideologen in den Zentralen der europäischen Organisationen verfallen gerne in medizinischen Jargon, wenn sie sich von traditionelleren politischen Zugängen zum Arbeitsmarkt abgrenzen; so auch im Fall Belgiens, wo ein angebliches Ausmaß von

4

Streeck 1998, S. 42.

9

Überregulierung als "Belgosklerose" gebrandmarkt wird. Darauf erwidern Sels und van Hootegem, indem sie bei der OECD einen übertriebenen "Reduktionismus" diagnostizieren: Fasziniert von den derzeit um sich greifenden "neuen Flexibilitätsfonnen" wird übersehen, daß auch reguläre Beschäftigung ein bedeutsames Flexibilitätspotential aufzuweisen hat. Die Autoren kommen zur Schlußfolgerung, daß "flexible Rigiditäten" in modernen Arbeitsmärkten unverzichtbar sind. Die Unterscheidung Insider/Outsider wird gerade angesichts dynamisierter Arbeitsmärkte mit hohem Beschäftigtenumschlag immer bedeutsamer. Man kann heute nicht länger mehr von der Annahme ausgehen, daß die Zugehörigkeit zu den höheren und den niedrigeren Segmenten der Statuskonfiguration über die Biographie von Individuen stabil bleiben könnte. In der modernen Gesellschaft mit ihrer hohen Mobilität und ihren stark leistungsorientierten Mustern der Statuszuschreibung kann auch das bloße Älterwerden auf ein Absacken in die "Unterschicht" hinauslaufen; dies gilt natürlich nur in einem speziellen metapho¬rischen Sinn: Es sinken die Arbeitsmarktchancen der Älteren, die Chancen auf dem Arbeits- und dem Paarungsmarkt, und wenn man arbeitslos wird, sinken auch Einkommen und Prestige. In anderen Worten besteht für ältere Menschen die Gefahr, zum underdog zu werden, zu einer stigmatisierten Person, die über die Mechanismen der Stigmabewältigung verfügen muß und die psychischen Kosten der Stigmatisierten zu tragen hat. Mutatis mutandis gilt dies auch für die Kranken.

1.4

Aktivierung vs. Betreuung

Die Idee der "Aktivierung" steht in enger Beziehung zu jener der "freiwilligen Arbeitslosigkeit". Da aber viele Menschen unfreiwillig arbeitslos sind, sollte man sich von den Assoziationen der "Faulheit" und der "Arbeitsunwilligkeit", die mit der Aktivierung verknüpft sind, lösen. Die Behinderten, die psychisch Instabilen und eine ganze Reihe anderer Personengruppen sind der Gefahr ausgesetzt, als Dauerarbeitslose permanent vom Arbeitsmarkt bzw. zumindest von dessen attraktiveren Segmenten ausgeschlossen zu werden. Die derzeit ablaufende Umstrukturierung der Arbeitswelt kann für die "schwächeren" Arbeitskräfte nur gravierende Konsequenzen haben. Manchen von ihnen könnte eine flexibilisierte Arbeitswelt insofern entgegenkommen, als sie mehr Gelegenheiten für einen "perforierten" Arbeitsalltag bietet; andererseits ist zum Beispiel die Rolle des mit Unterbrechungen jobbenden Leiharbeiters bei niedrigen Löhnen und steigendem Leistungsdruck nicht sonderlich attraktiv. Die Aufgabe, marginale Arbeitskräfte in zumindest halbwegs akzeptable 10

stabile Beschäftigungsverhältnisse zu bringen, erweist sich dann als kaum bewältigbar. Thomas Kieselbach liefert ein dem Sachverhalt Rechnung tragendes Beispiel einer Analyse der Ursachen und Konsequenzen von Arbeitslosigkeit, ergänzt durch Vorschläge zu konkreten Maßnahmen im Bereich der Betreuung von Arbeitslosen. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, daß berufliche Transitionen wie Arbeitsplatzwechsel und Requalifizierung in der Zukunft zu einer immer häufigeren Erfahrung der Beschäftigten werden dürften; dies wird neue Formen der gesellschaftlichen Begleitung der Arbeitsbiographie unter anderem in Form eines "sozialen Konvois" notwendig machen. Empirische Daten legen nahe, daß es sich bei den Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen um die wichtigste Problemgruppe des Arbeitsmarktes handelt. Das sollte nicht überraschen, da die Kränklichen eher abgebaut werden und es auch schwieriger finden, wieder in die Arbeitswelt zurückzukehren. Spezielle Formen der Unterstützung für diese Personengruppe scheinen nicht nur moralisch geboten zu sein, sondern werden auch auf weitgehende Akzeptanz seitens der Bevölkerung stoßen. Wenn anläßlich der diversen Stigmatisierungskampagnen gegen Arbeitslose immer wieder zwischen den "wirklich Bedürftigen" und den "Schmarotzern" unterschieden wurde, dann stellt dies ein Echo der traditionellen Distinktion zwischen den "deserving" und den "undeserving poor" dar. Wie auch Koller anmerkt, würde ein allgemeines unbedingtes Grundeinkommen das Problem eliminieren, hier Entscheidungen zu treffen, die nur sehr schwer durchzuführen sind. Kieselbachs Aufsatz rückt den Abgang von Beschäftigten aus dem Arbeitsverhältnis in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen; als Zugang in die Arbeitslosigkeit ist er für die Beschäftigten von offenkundiger – und nicht selten einschneidender – Bedeutung, während für Firmen bisher die Aufnahme in das Unternehmen im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Berufliche Transitionen, so Kieselbach, werden in der flexibilisierten Wirtschaft immer bedeutsamer werden. In der Tradition der europäischen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sollten die für die Betroffenen oft schmerzhaften Umbrüche durch einen "sozialen Begleitschutz" in Form von vernetzten Maßnahmen der für das Problem Arbeitslosigkeit zuständigen Institutionen abgemildert werden. Hiezu würde es einer Reform der

derzeit

allzu

statisch

ausgerichteten

und

kaum

transitionsorientierten

europäischen

Unterstützungssysteme bedürfen. Die Frage, was Arbeitskräfte tun, wenn sie in der "Reserve" sind, ist identisch mit jener, was mit diesen Menschen geschieht, wenn sie aus dem Beschäftigungsverhältnis ausscheiden. Wie andere Fragen – zum Beispiel jene nach den Überlebensmöglichkeiten einer Familie, wenn deren "Ernährer" erkrankte oder verstarb – wurden auch diese früher meist als Privatproblem betrachtet. Mit der 11

Herausbildung des Wohlfahrtsstaates kam es zu einer stetigen Transformation von Privatproblemen in öffentliche Anliegen; in den USA erfolgte dieser Transformationsprozeß weniger über zentrale Interventionen als über den Mechanismus des Schadenersatzrechtes. Erstaunlicherweise hat sich im Heimatland des Puritanismus die Tendenz durchgesetzt, zum Beispiel die Raucher von ihrer Eigenverantwortung freizusprechen. Die in diesem Bereich naheliegende Reaktion "Selber schuld!" ist stattdessen auf dem Arbeitsmarkt von unveränderter Legitimität. Den Abgang aus dem Beschäftigungsverhältnis als Privatproblem zu betrachten, bot sich früher allerdings geradezu an: In einer Zeit, da die Industriearbeiter nach ihrer Entlassung wieder als Fischer oder Bauern tätig sein konnten, war es auch naheliegend, die Transition in die Reserve zum Privatproblem der Arbeitnehmer zu erklären. Diese Haltung ist heute, angesichts der Abhängigkeit der Menschen von der Teilnahme am Arbeitsmarkt, inadäquat geworden; es fasziniert, daß eine Gesellschaftsordnung, die es zuläßt, daß sich jedermann bei anderen schadlos halten kann, wenn er seiner eigenen Narretei zum Opfer gefallen ist, gegenüber den unpersönlichen Mächten des Arbeitsmarktes untätig zeigt, also gerade dort, wo der politische Gestaltungswille sein Handlungsfeld finden sollte. Frauen waren noch viel länger damit konfrontiert, daß sie bei nachlassender Arbeitskräftenachfrage in die Reserve entlassen und bei Bedarf wieder zu den Fahnen der industriellen Armee gerufen wurden. Die bisher skizzierten Veränderungen der Arbeitswelt betreffen Frauen in spezifischer Weise. Die Marginalisierung durch den Einsatz der Familie als Reserveinstrument trifft auf zunehmenden Widerstand; damit werden auch Themen wie Kinderbetreuungsschecks und dergleichen zum Gegenstand der Kontroverse.

1.5

Frauen zwischen Abdrängung und Aktivierung

Frauen mit Arbeitsplätzen im primären Segment des Arbeitsmarktes kehren im allgemeinen sehr rasch wieder in den Beruf zurück; der Gesetzgeber hat zusätzlich Möglichkeiten geschaffen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufzuweichen, z.B. durch die Väterkarenz. Angesichts der Anstrengungen der Frauen, auf dem Arbeitsmarkt die Gleichberechtigung zu erlangen, können Ideen wie das Grundeinkommen nur ziemlich kontrovers sein. Margareta Kreimer unterscheidet in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band zwei Modelle der Integration von Frauen in das System der sozialen Sicherheit, das Arbeitsmarktintegrationsmodell und das Betreuungsmodell Sie zeigt, daß die meisten konkreten derzeit diskutierten sozialpolitischen Instrumente Eh- beide Modelle herangezogen werden 12

können, kommt jedoch dann zum Schluß, daß erst eine Überwindung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung das Ziel des Geschlechteregalitarismus der Verwirklichung nahe bringen könnte. Die "Aufwertung" der Betreuungsarbeit wird nach Kreimer kaum ausreichen können, sie hält das Betreuungsmodell jedenfalls für leichter durchsetzbar als das Integrationsmodell, da es den Männern ihre alten Privilegien beläßt. Es ist von zentraler Bedeutung, daß Kreimer zufolge ein "Hineindrängen" der Frauen in den Arbeitsmarkt ohne eine begleitende

Politik

des

Aufbrechens der

geschlechtsspezifischen

Arbeitsteilung "massive neue Spaltungslinien im „Frauenarbeitsmarkt" erzeugen würde. Genau ein solches "Hineindrängen" findet eher derzeit statt; erste Ansätze des von Kreimer gewünschten "Aufbrechens" finden sich im Segment der "aufgeklärten" und gut verdienenden Arbeitnehmer; die Väterkarenz kann am ehesten von gutverdiendenden Männern mit gutverdienenden Ehefrauen genutzt werden; und während noch tapfer für "Halbe/Halbe" bei der Hausarbeit gestritten wird, bahnt sich schon längst ein "Null/Null" an; soll heißen, daß zwei gutverdienende Ehepartner unter den Bedingungen des Turbo-Kapitalismus genug verdienen, um jegliche Hausarbeit auf

ökonomisch

Schwächere — und natürlich insbesondere auf Frauen — zu überwälzen. Das von Kreimer und vielen anderen Menschen erwünschte Aufbrechen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, das wohl auch nicht allzu schwer gerechtfertigt werden kann, wird unter den derzeit herrschenden Bedingungen nur schwerlich stattfinden können; mit anderen Worten wird der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen nicht erfolgversprechend geführt werden können, wenn man die vom Neoliberalismus unablässig vertieften Spaltungen zwischen Arm und Reich hinnimmt. Zumindest auf der rhetorischen Ebene sind nur wenige Teilnehmerinnen am relevanten Diskurs bereit, diese Spaltungen hinzunehmen, doch folgt aus der Avantgarde-Funktion der gebildeten Reaktion auf die traditionellen Machtverhältnisse, daß egalitäre Ziele, die nicht über Geschlechterdisparitäten definiert sind, weitgehend auf der Strecke bleiben. Wenn Kreimer dem Staat die Fähigkeit zuschreibt, ein neues Arbeitsteilungsmodell zwischen den Geschlechtern zu fördern, dann übersieht dies, daß ihm vielleicht die Macht fehlt, andere gesellschaftliche Formen der gesellschaftlichen Gleichheit gegen die wirtschaftlichen Prozesse unserer Zeit durchzusetzen. So gerechtfertigt das Streben nach Gleichberechtigung der Frauen auch sein mag, so gering sind dessen Verwirklichungschancen unter den derzeit gegebenen Bedingungen. Die zunehmende Verrechtlichung der industriellen Beziehungen hat dazu geführt, daß gerade in einer Zeit, da der Flexibilitätsbedarf der Arbeitgeber sehr hoch ist, die Bereitschaft, diese Form der Flexibilität zu beweisen, immer seltener anzutreffen ist. Das Problem dabei ist, daß der 13

Flexibilitätsbedarf der Firmen ja keine taktische Erfindung darstellt; er ist durchaus real und nicht weniger real als der Wunsch der Frauen, in der Arbeitswelt als vollgültige Mitglieder behandelt zu werden. Dieser Konflikt von jeweils legitimen Interessen verschärft eine Schere, die unter anderem auch aus dem Verschwinden der Nebenerwerbslandwirte entsteht. In der Bauwirtschaft stellten sich damit die vorhersagbaren Reaktionen ein — die informelle und staatlich subventionierte Strategie, Bauarbeiter

über

den

Winter

auf

ihre

Höfe

zu

entlassen,

verliert

zunehmend

ihren

Anwendungsbereich; im Gefolge kommt es zu neuen Zeitkontenmodellen, die das funktionale Äquivalent der alten informellen und semi-devianten Regelung abgeben sollen. Die Einrichtung der Arbeitslosenversicherung war natürlich die bedeutsamste Reaktion, durch die der Staat Verantwortung

für

das

Schicksal

abgebauter

Mitarbeiter

übernahm;

hinzu

traten

Abfertigungsregelungen, später auch Branchen- und Unternehmensstiftungen, die zusammen mit anderen Maßnahmen ein ganzes Bündel staatlicher Aktivitäten in diesem Bereich bildeten. Die Strategie des "Outplacement" wurde hingegen als privatwirtschaftliche Initiative entwickelt; wie wir gesehen haben, ist die Idee des "sozialen Konvois" die zentral finanzierte Variante des Outplacement. Der Beitrag von Flecker et al. liefert eine Übersicht über verschiedene in Österreich mögliche Formen, durch unternehmensinterne Vereinbarungen Beschäftigungssicherung zu betreiben. Der Aufsatz wirft die Frage auf, ob sich in diesem Bereich die beschäftigungspolitische Verantwortung der Unternehmen zeigt, oder ob es sich hier eher um Versuche handelt, im unablässigen Verteilungsgerangel der Arbeitsmarktparteien wiedereinmal zu punkten. Flecker et al. kommen aufgrund ihrer empirischen Analyse zu eher skeptischen Schlußfolgerungen. Der Aufsatz befaßt sich mit Instrumenten der Überleitung von Arbeitskräften aus der Beschäftigung in Arbeitslosigkeit, Pension oder anderweitige Beschäftigung, die auf der Unternehmensebene – und dabei meist als Resultat von Verhandlungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft – eingesetzt werden können. Ein Großteil der so getroffenen Vereinbarungen bezieht sich dabei weniger auf Maßnahmen der

Beschäftigungssicherung

als

auf

Regelungen

eines

vergleichsweise

schmerzfreien

Personalabbaus. In Österreich existiert eine ganze Palette derartiger Instrumente bis hin zu den allseits beliebten Arbeitsstiftungen. Es kann nicht überraschen, daß bei derartigen Prozessen die Unternehmensleitungen fast immer die besseren Karten in Händen halten; der Übergang von einem verantwortungsvollen und kooperativen Umgang mit den durch den internationalen Konkurrenzdruck erzeugten Problemen zur Erpressung der Beschäftigten ist dabei freilich fließend, wie auch unklar ist, welche Zugeständnisse der Belegschaft als notwendiges Solidaropfer aufzufassen sind und welche 14

das Ergebnis der schlichten unternehmerischen Gier nach Erhöhung der Renditen darstellen. Es sind dies moralische Mehrdeutigkeiten, wie wir sie heute in allen gesellschaftlichen Bereichen vorfinden und die dann entstehen müssen, wenn man von einfachen und brutalen Maßnahmen absieht; solche Mehrdeutigkeiten fehlen zum Beispiel in den USA, wo "abrupte Massenentlassungen sanfteren Abbaumethoden vorgezogen werden, auch wenn letztere nur wenig teurer wären"5. Solche moralischen Dilemmata und Mehrdeutigkeiten sind der Preis von Kalkülen, die über die reine Wirtschaftlichkeitsrechnung hinausgehen. Wenn man Luttwak und anderen Beobachtern Glauben schenken kann, muß dieser Preis im Turbo-Kapitalismus nicht mehr entrichtet werden. Zumindest in Europa hat sich die Ideologie des Minimalstaates noch nicht durchgesetzt Hier herrscht weiterhin die Idee, in modernen Gesellschaften müsse auf quantitativ bedeutsame und kollektiv hervorgebrachte Defizite oder Mißstände reagiert werden; die Anhänger des Minimalstaates möchten den Bereich derartiger Interventionen so weit wie möglich eingeschränkt wissen; Anhänger des Wohlfahrtsstaates sehen die Angelegenheit umgekehrt. Trotz gegenteiliger Behauptungen nimmt die Arbeit noch immer einen zentralen Platz im Leben der allermeisten Menschen ein; da es auch anders als über die Vermarktung der eigenen Fähigkeiten und Leistungen in der modernen Gesellschaft kaum möglich ist, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, haben die Ersatzleistungen des Staates,

die

an

Erwerbsunfähige

und

Arbeitslose

gezahlt

werden,

in

der

modernen

Massengesellschaft eine gewaltige Bedeutung gewonnen. Es ist die soziale Absicherung der Gesellschaftsmitglieder, die über solche Mechanismen gewährleistet werden soll – zugleich aber auch ihre Freiheit, so zu leben, wie sie es für richtig halten und wie es ihnen gefällt. Bereits daraus geht hervor, daß Arbeitslosenversicherungssysteme ein schillerndes Phänomen darstellen, das nicht so einfach zu durchschauen ist und vielleicht gerade deshalb zum Gegenstand der Kontroverse werden mußte. Echte Versicherungen werfen nicht die Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf; der Vertrag zwischen einer privaten Versicherungsfirma und dem Versicherten ist ein schlichtes Rechtsgeschäft; doch ist klar, daß die diversen Arbeitslosenversicherungssysteme mit einer privaten Versicherung nur eine entfernte Ähnlichkeit haben.

5

Luttwek 1999, S. xf. 20

15

1.6

Umverteilung und Treffsicherheit

Es leuchtet ein, daß die Notstandshilfe, die Sozialhilfe etc. bestenfalls in einem metaphorischen Sinn als "Versicherungsleistung" aufgefaßt werden können; es handelt sich bei ihnen vermutlich um Formen der Umverteilung. Letztere nimmt im vorliegenden Band Richard Sturn zum Ausgangspunkt seiner Erörterung der seiner Auffassung nach derzeit wichtigsten Themen der Sozialstaatsdebatte, der "Treffsicherheit" von umverteilenden Maßnahmen und der Grundsicherung. Umverteilung, so Sturn, kann nicht nur verteilungsethisch, sondern auch systembedingt und quasi-funktional begründet werden. Politisch gesteuerte Umverteilung beruht auf der unterschiedlichen Zusammensetzung der Haushalte, in denen die Mitglieder kapitalistischer Marktgesellschaften leben und auf der Tendenz solcher Gesellschaften, die Aktiva der Haushalte (v.a. das Humankapital) neu zu bewerten. Auch die Chancengleichheit und Staatsausgaben, die dadurch motiviert sind, daß bestimmte Aktivitäten zwar gesamtwirtschaftlich effizient, einzelwirtschaftlich jedoch unrentabel sind, bedeuten etwas anderes als die Korrektur von Querschnittsverteilungen. Auf dieser Grundlage behandelt Stirn dann zunächst das Postulat der "Treffsicherheit", wobei er einer Senkung der Staatsquote eine Absage erteilt. Erhöhung der "Treffsicherheit" der Umverteilung gerät seiner Auffassung nach in Konflikt mit den systembedingten Funktionen sozialer Sicherheit, die Korrektur von Marktversagen sei unabhängig von ihren Verteilungswirkungen zu rechtfertigen, und drittens seien "besondere Anreizprobleme und Falleneffekte" eben als Resultat "treffsicherer", mit steigendem Einkommen sinkender staatlicher Leistungen zu erwarten: Wenn nur den "wirklich Bedürftigen" geholfen wird, dann entsteht ein Anreiz, bedürftig zu sein oder zumindest zu erscheinen. Die Reaktionen auf den Sachverhalt bilden ein Dilemma: Man geht das Risiko ein, auch Unwürdige zu unterstützen, und reduziert so die Treffsicherheit, oder man verengt den Kreis der Anspruchsberechtigten unter der Devise "Make them suffer!" Es stellt dies eine Parallele zu Haltungen im Bereich der retributiven Gerechtigkeit dar, wenn man dort das Risiko, einen Sünder ungestraft zu lassen, höher bewertet als das Risiko, einen Unschuldigen zu bestrafen. Sturn kommt zum Fazit, daß die Parole der Treffsicherheit als Maxime der Systemreform des Wohlfahrtsstaates zurückzuweisen ist. Wir werden später sehen, daß er auch dem Grundeinkommen interessante Gegenargumente entgegenstellen kann. Wenn ich festgehalten habe, daß die Arbeitslosenversicherung ein mehrdeutiges Phänomen ist, dann wäre zu ergänzen, daß diese Mehrdeutigkeit zumindest zum Teil in der komplexen Begrifflichkeit der "Arbeit" wurzelt. Die unter Sozialphilosophen weiter als bei der werktätigen Bevölkerung verbreitete 16

Idee, die Arbeit als "Gut" zu konzipieren, basiert auf einer unleugbaren Teilwahrheit, die man allerdings nicht für die ganze Wahrheit nehmen sollte.

1.7

Arbeitsanreize und Grundeinkommen

Arbeit ist weder ein unvermischtes Glück noch ein eindeutiges Übel. Sie trägt seit jeher schon das Doppelantlitz von opus und molestia, das eine Analyse des Arbeitsbegriffs vor formidable Schwierigkeiten stellt. Diese begrifflichen Probleme teilen sich auch der Analyse der "Arbeitsanreize" mit: Wir benötigen bekanntlich keine speziellen zusätzlichen Anreize, wenn wir unter den Kindern bei einer Geburtstagsparty eine Torte aufteilen möchten – die Torte selbst bietet (unter normalen Umständen) genügend Anreiz, um zur Annahme des Tortenstücks zu motivieren: Die Annahme einer Arbeit ist allerdings etwas gänzlich anderes. Sie ähnelt eher dem Eintritt in einen Verein. Wenn die Mitgliedschaft mit einem komplexen Bündel von Rechten und Pflichten, von Chancen und Risiken verknüpft ist, dann wäre es ein Fehler, diese Mitgliedschaft als ein simples Gut zu betrachten. Die Mitgliedschaft im Bundesheer etwa ist noch von wenigen Leuten als unvermischtes Gut aufgefaßt worden. Sozialphilosophische Rechtfertigungen des Grundeinkommens scheinen häufig von dieser Komplikation überfordert; dies könnte auch auf den hier vorliegenden Beitrag von Peter Koller zutreffen. Koller wandelt wie Philippe van Parijs6 auf Rawls' Spuren und konzipiert "Arbeit" in meines Erachtens irreführender Weise als Gut; eine Variation des Themas ist die feministische Idee, die Teilnahme an der offiziellen Ökonomie sei unweigerlich der Tätigkeit im informellen Sektor vorzuziehen. Sehr häufig wird der Übertritt in ein offizielles Arbeitsverhältnis mit einer Erhöhung des Nutzenniveaus verbunden sein, doch für die Annahme eines Putzfrauenjobs kann das kaum gelten. Der banale Sachverhalt kann nur in einem intellektuellen Klima unbemerkt bleiben, wo die Fragen der schichtspezifischen Ungleichheit von der Tagesordnung genommen wurden. Um diese Fragen haben sich im allgemeinen die Marxisten gekümmert; mit der Diskreditierung der sozialistischen Planwirtschaft, wie sie auch von Koller diagnostiziert wird, scheint heute auch das Thema Ungleichheit stigmatisiert. Wer sich ihm auf dem Weg über die Diskussion des Grundeinkommens zuwendet, bleibt dabei nicht selten einer Mittelschichtperspektive verhaftet, die Arbeit nur mehr als "opus" konzipieren kann. Kollers Arbeit bietet eine sehr verdichtete Zusammenfassung der hier 6

van Parijs 1995.

17

erörterten Problematik aus der Sicht des Rechts- und Sozialphilosophen. In den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, so Koller, hängen die Lebenschancen der Menschen vom Zugang zum Arbeitsmarkt ab. Angesichts der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus geraten sowohl die Teilnahmemöglichkeiten an der Gesellschaft als auch der Schutz gegen die kaum vorhersehbaren Wechselfälle des Lebens unter Druck. In Reaktion darauf scheine es angebracht, eine Neuorientierung der Wirtschafte- und Sozialpolitik durchzusetzen, indem einerseits aktive Beschäftigungsmaßnahmen gesetzt werden und andererseits das System der sozialen Sicherung auf ein allgemeines Grundeinkommen umgestellt wird. Wenn es nun tatsächlich der Fall sein sollte, daß in unseren Gesellschaften jeder Mensch einen moralischen Anspruch auf Arbeit hat, ein Recht "auf eine Arbeit", so Koller, "die seinen Fähigkeiten und Ambitionen so weit wie möglich entspricht", dann dürften wir dazu verdammt sein, in einer unmoralischen Welt zu leben. Der Grund dafür liegt darin, daß Personen wohl auch ein Recht auf eine Ausbildung haben – wie auch Koller selbst betont –, die ihrem Potential entspricht; leider kann das Wirtschaftssystem der Entwicklung des Bildungssystems nicht rasch genug folgen, sodaß bei Verwirklichung von Kollers moralischer Vision Phänomene, wie wir sie bereits jetzt in gewissem Ausmaß beobachten können - das Abschreiben von Bildungsinvestitionen und die Annahme von Arbeiten, für die man überqualifiziert ist -, zur Regel werden müßten. Koller lädt so einer Gesellschaft mit positionalen Knappheiten eine moralische Bürde auf, die diese nicht tragen kann. Kollers Ansatz teilt jedoch mit jenem von van Parijs eine Stärke, die man in einer unübersichtlichen Welt nicht allzu geringschätzen sollte: Während die Gegner des Grundeinkommens befürchten, daß es den Anreiz, Arbeit in der offiziellen Ökomomie aufzunehmen, gänzlich zerstören könnte, erledigt sich für diese Theoretiker das Problem - bei einer gerechten Verteilung der Arbeit werden alle eine Arbeit haben, die das wollen, und auch die freiwillig Arbeitslosen werden einen Anspruch erlangen, für die ihnen durch ihre Untätigkeit entgangenen Auszahlungen der Teilnahme an der Arbeitswelt entschädigt zu werden. Da vor allem die letztere Konsequenz mit etablierten Intuitionen und Perspektiven in massiven Konflikt gerät, stellt sich hier die Frage, inwieweit es möglich ist, die öffentliche Akzeptanz des Grundeinkommens herbeizuführen, ohne die Adressaten der Botschaft von der moralischen Legitimität des Grundeinkommens einer umfangreichen sozialphilosophischen Schulung zu unterwerfen. Es eröffnet sich an dieser Stelle ein Dilemma: Je enger sich eine Konzeption des Gerechten an unsere Intuitionen anschmiegt, desto redundanter ist sie - je überraschender sie jedoch ist, desto geringer sind ihre Chancen auf politische Verwirklichung. Es ist dies ein Dilemma, das sich allen Ergebnissen der philosophischen Analyse stellt, seien sie nun generell oder sehr spezifisch. 18

1.8

Die Rechtfertigung von Abfertigungszahlungen

Während uns Koller einen Eindruck davon vermittelt, wie sich die politische Philosophie mit den allgemeinen Problemen auseinandersetzt, die durch den Wandel der Arbeitswelt wieder von neuem aufgeworfen werden, verschafft uns John McCalls Paper Einblick in einen Zugang, der sich mit den konkreten Details der Arbeitsmarktpolitik befaßt. McCall stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung von Zahlungen an Arbeitskräfte, die von Firmen nicht mehr benötigt werden. Solche Zahlungen existieren in Europa schon seit langem; sie heißen hier "Abfertigungen" und stellen eine der "Rigiditäten" dar, die nach Auffassung der Anhänger der freien Marktwirtschaft die Funktionsfähigkeit der europäischen Arbeitsmärkte beeinträchtigen. Die Eliminierung der Abfertigungen wäre somit Teil der vielerorts geforderten Flexibilisierung der Arbeitswelt der europäischen Wirtschaftssysteme. McCall erinnert daran, daß die vielgerühmte Flexibilität des US-amerikanischen Arbeitsmarktes auf das nur wenig ausgebaute soziale Netz der amerikanischen Gesellschaft und auf das im Vergleich zu Europa unterentwickelte Abfertigungswesen zurückgeführt wird, warnt allerdings davor, in der Nachahmung des amerikanischen Modells ein Allheilmittel zu sehen - so überzeugend es in seiner theoretischen Stringenz auch zu sein scheint, so zweifelhaft wird es bei näherer empirischer Betrachtung. Vor allem sehen die ökonomischen Kennziffern der USA nicht mehr ganz so eindrucksvoll aus, wenn man über die Arbeitslosenrate hinausgeht. Die mangelnde Flexibilität der europäischen Arbeitsmärkte hat allem Anschein nach das Wirtschaftswachstum und die Produktivität nicht beeinträchtigt; umgekehrt weist die USA eine Einkommensungleichheit auf, die in keiner anderen industrialisierten Gesellschaft ähnlich stark ausgeprägt ist. In der zweiten Hälfte seines Papers erörtert McCall anstelle der empirischen Konsequenzen sozialpolitischer Regimes die normative Rechtfertigung einer konkreten Institution, eben der Abfertigung. Die Fragestellung entpuppt sich dabei als eine Variante der Frage nach der gerechten Verteilung der Erträge der Kooperation von Arbeit und Kapital. McCall kommt zum Schluß, daß Unternehmen ein großes Ausmaß von moralischer Verantwortung gegenüber jenen Beschäftigten haben, die sie ihrer Auffassung nach nicht mehr benötigen. Diese Schlußfolgerung widerspricht nicht nur der herrschenden Meinung in den USA und bei den Neoliberalen; zusätzlich kommt ihr sogar im gegenwärtigen politischen Kontext der europäischen Diskussion eine unübersehbare Bedeutung zu; wenn etwa in Österreich gefordert wird, den Abfertigungsanspruch auch auf den Fall der Selbstkündigung auszudehnen, dann ist klar, daß die Frage der Rechtfertigung solcher Zahlungen 19

thematisch werden muß, solange die politische Diskussion noch nicht zu einem bloßen Theater der Forderungen degeneriert ist.

1.9

Die moralische Mehrdeutigkeit arbeitsmarktpolitischer Interventionen

Die Regelung der Abfertigungszahlungen erinnert uns an einen Sachverhalt von allgemeiner Bedeutung für unser ganzes Thema, den man in einem einfachen Slogan zusammenfassen kann. Das politökonomische Spiel "Teilnahme an der Arbeitswelt, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarktpolitik" ist unter anderem - ein Spiel zu dritt. Die Parteien sind die Beschäftigten, die Arbeitslosen und die Unternehmen. Aus dieser Perspektive können zumindest drei verschiedene Regimes unterschieden werden: 1.

In Europa werden die bereits Beschäftigten auf Kosten der Arbeitslosen geschützt. Angesichts der - früheren - Stärke der europäischen Gewerkschaften kann das auch nicht sonderlich überraschen. Die gut organisierten Insider verschafften sich die Bedingungen, die heute als "Rigiditäten' von der OECD abwärts kritisiert und auch bekämpft werden.

2.

In den USA herrscht "Flexibilität'; das verhilft den Arbeitgebern und den Managern zu Verteilungsgewinnen und begünstigt Konsumenten auf Kosten der Produzenten. Die Arbeitslosigkeit ist niedriger als in Europa (Großbritannien ausgenommen). Die Insider fallen, wenn sie nicht zu den bestverdienenden 20% gehören, gemeinsam mit den Arbeitslosen zurück. Der Arbeitsmarkt ist, leider nur an seinem unteren Ende, gegenüber Neueintretenden sehr durchlässig.

3.

In Japan sorgen eine Reihe von Mechanosmen, die auf dem traditionalistischen Erbe dieses Gesellschaftssystems beruhen, für allgemeinen sozialen Einschluß. Im Gegensatz zu Europa und den USA wird Arbeitskraft gehortet, und eine Fülle von teils protektionistischen Regulierungen schützt fast alle Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit 7. Wie in den USA ist auch die Insider/Outsider-Kluft weniger tief als in Europa, wenn auch aus anderen Gründen. Der Preis für dieses Horten von Arbeitskraft wird von allen Japanern in ihrer Rolle als Konsumenten entrichtet; die Preisunterschiede zu den westlichen Wirtschaftssystemen stellen

7

Luttwark 1999, S 116ff.

20

eine Art kulturell erwungene Solidarsteuer dar. Solidarität ist in die Struktur dieser Gesellschaft hinein-verwoben und muß nicht über politische Kanäle und Vorschläge mobilisiert werden. Es leuchtet unmittelbar ein, daß im Rahmen dieses Spieles zu dritt einzelne arbeitsmarktpolitische Interventionen

moralisch

mehrdeutig

werden,

ganz

wie

die

miteinander

rivalisierenden

Gesamtregimes. Auch leuchtet ein, daß die in Österreich betriebene "Aktion Fairness", die arbeitsrechtliche Gleichstellung verschiedener Beschäftigtenkategorien, den beschäftigten Arbeitern als wesentlich fairer erscheinen muß als den beschäftigungslosen, für die durch die Verbesserung der Position der Insider immer unüberwindlichere Hürden gegenüber der Arbeitswelt entstehen. Werden nun die zusätzlichen Sicherheiten, die sich die Insider aufgrund der Innovationen der "Aktion Fairness" verschaffen können, zu den institutionellen Handicaps der schlecht ausgebildeten und krankheitsanfälligen manuellen Arbeiter, dann erscheint es wie Zynismus, die letzteren noch zusätzlich "aktivieren" – im Klartext "schikanieren" – zu wollen. Aktivierung erübrigt sich bei den "Flexibilitätsarbeitslosen"



das

sind

jene

Arbeitslosen,

die

in

Reaktion

auf

Auslastungsschwankungen entlassen werden und nach ihrer Betroffenheitsphase wieder zum ursprünglichen Arbeitgeber zurückkehren. Als "flexibilitätsarbeitslos" kann z.B. in Österreich bereits ein Drittel der Arbeitslosen aufgefaßt werden.8 Im klassischen Fall der Arbeitslosigkeit im Baugewerbe bestand eine fast perfekte Interessenskonvergenz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die gemeinsam die öffentliche Hand belasteten (es war dies ein Beispiel der öffentlichen Finanzierung von slack; da wie Hirschman erläutert – slack häufig durchaus sinnvoll ist, kann diese öffentliche Finanzierung nicht einfach a piori abgelehnt werden). Aktivierung erübrigt sich auch bei jenen, die bereits höchst aktiv nach einem guten Job suchen; es sei denn, man wollte sie zur Annahme eines Jobs motivieren, für den sie überqualifiziert sind. Aktivierung bedeutet immer, daß (ein für sinnvoll gehaltener) Zwang ausgeübt wird. Die offizielle europäische Politik eines "gemäßigten Neoliberalismus" ist eine Politik, die den Unternehmern und den primären Arbeitnehmern nützt, jedoch den Arbeitslosen schadet, vor allem Jenen, bei denen Arbeitslosigkeit mehr ist als eine Episode der Arbeitsbiographie und in die Nähe eines persönlichen Merkmals rückt; das sind vor allem die Langzeitarbeitslosen, die meist nicht ohne Grund langzeitarbeitslos sind. Das Ideal auch des gemäßigten Neoliberalismus ist eine Ökonomie von schlanken Firmen, in denen workaholics schuften. Wer das Tempo nicht mitgehen kann, der muß aus der Sicht der herrschenden

8

Vergleiche hiezu ausführlich Zilian et al., 1999

21

Ideologien eben auf der Strecke bleiben. Damit wird unübersehbar, daß diese Perspektive sich den Interessen der Sieger der Konkurrenzgesellschaft unterordnet. Der zweite Teil von Sturns Beitrag erörtert das Grundeinkommen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln, unter bezug auf seine Auswirkungen im Familienbereich und hinsichtlich seiner QuasiVersicherungsfunktion. Stute kritisiert das möglichst hohe Grundeinkommen a la Philippe van Parijs, weil es das "male breadwinner"-Modell der Familie begünstigt; jene "wirkliche Freiheit", die das höchstmögliche Grundeinkommen verheißt, sei daher wiedereinmal den Männern vorbehalten. Stute möchte sich zwar im Detail nicht festlegen, meint aber, seine Erläuterungen könnten verdeutlichen, daß Kritik am höchstmöglichen Grundeinkommen nicht nur aus der konservativen Ecke kommen kann – vermutlich will er dadurch nahelegen, daß die feministische Kritik an der durch das Grundeinkommen eröffneten "Frauenfalle" progressiv ist. Was das genau heißen könnte, ist unklar, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, daß die Subventionierung der Lebensform von Frauen der Unterschicht an eine Falle anknüpft, die der Kapitalismus schon längst zuschnappen hat lassen. Sturns zweiter Kritikpunkt geht von der Idee des "Humangenußkapitals" aus. Letzteres wird nach Stute entwertet, wenn jemand z.B. arbeitslos wird; eine Spannung entsteht, da ein Risiko, das gerade angesichts des dem Grundeinkommen zugrundeliegenden Abschieds von der Arbeitsgesellschaft immer wichtiger wird, nicht versicherbar ist. Sturn kommt zum Schluß, daß es unrealistisch wäre, ein höheres als das existenzsichernde Grundeinkommen zu befürworten. Es ist zu vermuten, daß das "Humangenußkapital" nicht zu den wichtigsten Sorgen jener am wenigsten privilegierten Gesellschaftsmitglieder gehört, deren "wirkliche Freiheit" durch die Entwürfe von Rawls, van Parijs und Koller sichergestellt werden soll.

1.10

Die Aktivierung der Unterschicht

"Aktivierung" kann von jenen nur als Bedrohung wahrgenommen werden, die die unattraktiven Arbeitsplätze besetzen sollen; andere haben von diesen neoliberalen Strategien wenig zu befürchten. In der deregulierten Ökonomie kann die Frage der "Arbeitsanreize" ohne eine Portion Zynismus heute vermutlich kaum mehr diskutiert werden. Dies läßt sich am Beispiel des abschließenden Beitrages

des

vorliegenden

Bandes

zeigen.

Während

auf

dem

Kontinent

verschiedene

Adaptierungen der gewohnten hochregulierten Arbeitsmarktregimes ausprobiert werden, mancherorts sogar mit Erfolg, gehen die angelsächsischen Länder unbeirrt den Weg der Deregulierung. Ein 22

britischer Beobachter, David Fryer, kommt daher auch zu ziemlich drastischen Schlußfolgerungen für die moderne Arbeitswelt. Im Zeitalter der Flexibilisierung – wo die Zahl der Teilzeitjobs, der befristeten Arbeitsverhältnisse, der Leiharbeitsverhältnisse und anderer prekärer Formen der Beschäftigung immer stärker zunimmt – bedeutet der Übertritt aus der Arbeit in Beschäftigung nicht selten, daß man aus der Armut ohne bezahltes Einkommen in die Armut mir bezahltem Einkommen gerät. Empirische Untersuchungen haben ergeben, daß der früher stabile Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischen Schwierigkeiten, wie z.B. Depressionen, dabei ist zu verschwinden, und zwar nicht, weil es den Arbeitslosen heute besser geht als früher, sondern weil die Beschäftigung heute psychisch mindestens ebenso destabilisierend ist wie die Arbeitslosigkeit. Wie Fryer erläutert, sollte die gewohnte Dichotomie zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung radikal überdacht werden. Arbeitslosigkeit ist selbst eine Art von Arbeit, bei der man –unter strenger Staatsaufsicht – ständig damit befaßt ist, ein meist geringes Einkommen zu erzielen; umgekehrt ist der soziale Einschluß in den Arbeitsmarkt der prekär Beschäftigten häufig auch eine Form des Ausschlusses. Jene Totalisierung der Arbeitswelt, die die Arbeit in das Zentrum des täglichen Lebens der Menschen rückt, ist also ebenfalls ein mehrdeutiges Phänomen. Sie fordert Anpassung und Unterwerfung von Alt und Jung, von Mann und Frau, von den Gebildeten und Starken wie von den Schwächsten; während dieser Prozeß jedoch auf den höheren Ebenen des Statusgebildes durch Belohnungen aller Art für die Integration sorgt, und der Ausschluß von der Arbeitswelt vor allem wegen des Ausschlusses von diesen Belohnungen schmerzt, erfolgt die Integration weiter unten vor allem durch Zwang und Gewalt; und der Übergang aus der Arbeitslosigkeit in die Arbeit (oder umgekehrt) ist gleichbedeutend mit dem Übergang vom Regen in die Traufe (oder umgekehrt).

1.11

Fazit

Es ist Teil der Formalisierung der Arbeitslosigkeit und der Arbeitswelt überhaupt, daß der Aufenthalt in der Reserve heute in überwiegendem Ausmaß die Form der unterstützten Untätigkeit angenommen hat. Wer auf seinen Bauernhof zurückkehren konnte, der war nicht jener Arbeitslose, der in der Phantasie der Menschen als Schmarotzerphantom auftrat, nicht jenes Ärgernis erregende Anhängsel der arbeitsteiligen Gesellschaft, das moralische Panik auslöste. Wer , etwas anderes tat, der erschien nicht als Verräter an den kulturellen Werten der Industriegesellschaft; ähnliche Erwägungen gelten für Studenten, die nach eine kurzen Beschäftigungsphase zu ihren Studien 23

zurückkehren, zumal wenn diese als Vorbereitung auf ein nützliches Leben interpretiert werden können. Zentral finanzierte Unterstützungszahlungen an Personen, die sich auf die Teilnahme an der Arbeitswelt vorbereiten bzw. sich dafür bereithalten, erscheinen dann nicht nur fair, sondern auch gut angelegt. Flexibilitätsarbeitslosigkeit unterscheidet sich aus diesem Blickwinkel vor allem durch ihre Dauer vom bezahlten Urlaub. Aktivierung scheint nun vor allem darauf abzuzielen, die Dauer des (als unverdient betrachteten) Urlaubs herabzusetzen und dadurch die Arbeitslosenraten zu senken und die Nöte der Arbeitgeber zu lindern. Die Politik der Aktivierung am unteren Ende des Statusgebildes ergibt allerdings nur dort einen Sinn, wo ein sehr undifferenziertes und niedrig qualifiziertes Angebot auf die dazu passende Nachfrage trifft, z.B. bei den Putzkolonnen. Es wäre unübersehbar irrational, den Bauarbeiter, der auf den Frühlingsbeginn wartet, dazu zu motivieren, sich um jene Stelle zu bewerben, für die bereits eine andere Arbeitskraft vorgesehen ist: Zwischen dem Bauarbeiter und seiner Firma hat die Arbeitsmarktabpaarung bereits stattgefunden, und Versuche der Aktivierung könnten nur schaden statt nützen. Eine Arbeitsmarktpartnerschaft mit jenen Unterbrechungen, die durch die Vermeidung von slack notwendig geworden sind, ist besser als gar keine solche Partnerschaft. Um an dieser Front Erfolge zu erzielen, dazu bedürfte es institutioneller Eingriffe, wie z.B. einer Veränderung der Berechnungsmethode der Höhe der Arbeitslosenunterstützung; der Versuch, der "Arbeitswilligkeit" der Saisonarbeitslosen auf die Sprünge zu helfen, wäre offenkundig nicht sehr sinnvoll. Die Langzeitarbeitslosen bieten da ein als lohnender erscheinendes Ziel. Deren Betroffenheitsspannen können zunächst einmal durch Manipulationen der offiziellen Statistik verkürzt werden; dadurch entsteht der Anschein der Bearbeitung des Problems, etwas, mit dem sich die postmoderne Politik ganz gerne zufrieden gibt. Zweitens kann es tatsächlich zum Übertritt in verschiedene Formen der Beschäftigung kommen, sei es aufgrund von Angeboten oder von Drohungen. Das Grundeinkommen hätte zur Konsequenz, daß sich letztere in erstere verwandeln; ein solcher Abbau von Zwangsmechanismen käme vor allem der Unterschicht zugute. Umgekehrt wären ihre Angehörigen von einer strengen Politik der Aktivierung unverhältnismäßig betroffen. Die Arbeitgeber kämen dadurch in vielen Fällen zu den von ihnen so dringend benötigten Arbeitskräften für unattraktive Stellen, und die Insider, die Beamten, die Privilegierten, werden finanziell (und eventuell auch emotional) entlastet: In dieser Politik wird eine Koalition der Arbeitgeber mit den Angehörigen der Kembelegschaften sichtbar, die sich noch in vielen anderen Details zeigt – in den Stabsfunktionen einiger weniger Mitarbeiter der gastronomischen Betriebe, die die Stubenmädchen und Schankburschen dirigieren, wie die Feldwebel, die mit den Offizieren gemeinsame Sache 24

machen, in der Haltung gegenüber der Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften und in zahllosen anderen Einzelheiten. In Summe ist die Politik der Aktivierung nicht nur ausschließlich gegenüber der Unterschicht überhaupt durchsetzbar, sondern sie fördert in nur schwerlich bestreitbarer Weise die Interessen der Eliten – es gibt nicht nur einen rollback of the state, sondern gleichzeitig eine reaktionäre Umkehrung des Demokratisierungsschubes und der Bewegung in Richtung von mehr Gleichheit, die den Eliten schon viel zu weit gegangen sind. Es waren ja schließlich die Eliten, die festgestellt haben, daß sich die allermeisten Menschen für die unattraktiven Arbeiten "zu gut" seien. Daß dem egalitären Schub Einhalt geboten wird, ist dann auch durchaus kohärent; wenn einmal sehr viele Leute auf die Sonnenseite gewechselt haben, dann ist es rational, gegen den weiteren Zufluß Dämme zu errichten; daß eine derartige Politik überhaupt durchgesetzt werden kann, ist nur auf dem Hintergrund einer weitgehenden Verhexung des Verstandes erklärbar, durch die Armut als selbstverschuldetes Unglück erscheint, das immer nur die anderen trifft. Slack ist eine Reserve, die anläßlich von besonderen Herausforderungen abgerufen werden kann. Hierher gehört auch das Horten von Arbeitskraft – gehortete Arbeitskräfte können im Bedarfsfall innerhalb des Betriebes "aktiviert" werden; diese positive Funktion ist so unbestreitbar wie die Tatsache, daß die Hortung auf Staatskosten billiger kommt. Freilich stimmt das nur aus der Perspektive der Firma, der es gelungen ist, die Kosten der Reservehaltung auf die öffentliche Hand zu überwälzen. Irgendjemand zahlt immer für den Lebensunterhalt der Arbeitskräfte, die in die Reserve entlassen wurden, und seien es nur die Freier der Prostituierten oder die Opfer der Raubüberfälle. Firmen, die erfolgreich "abgespeckt" haben, entlasten dadurch ihre Aktionäre und belasten die Allgemeinheit. Das Ausmaß der Belastung sinkt mit sinkenden Unterstützungszahlungen und mit der Verkürzung der Betroffenheitsspannen. Aktivierung steht dabei offensichtlich im Dienste dieser Entlastung der Insider des Arbeitsmarktes und reduziert horizontale Umverteilungseffekte. Die Befürworter des Grundeinkommens haben damit einen langen und damenreichen Weg vor sich; sie werden die Privilegierten gegen sich haben, soferne diese zumindest erahnen, daß sie durch die Einführung des Grundeinkommens nur verlieren können, gleichzeitig aber auf den Widerstand jener stoßen, die davon profitieren könnten, den Sachverhalt aber weder verstehen noch akzeptieren wollen.

25

Literatur

Grabher

Gernot

(1994):

Lob

der

Verschwendung.

Redunanz

in

der

Regionalentwicklung:

Ein

sozioökonomisches Plädoyer. Berlin: Edition Sigma. Hirschman, Albert O. (1974): Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten , Tübingen: I.C.B. Mohr. Keyssar, Alexander (1986): Out of Work — The First Century of Unemployment in Massachusetts, Cambridge: Cambridge University Press. Luttwak, Edward (1999): Turbo-capitalism: Winners and Losers in the Global Economy. New York: Harper Collins Publisher. Streeck, Wolfgang (1998): "Einleitung: Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie?" In: Ders. (Hg.): Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen an die Demokratietheorie. Frankfurt/Main: Campus, S. 11-58. van Parijs, Philippe (1995): Real Freedom for All: What (if anything) can justify capitalism? Oxford: Clarendon Press. Zilian, H. G.; Lassnigg, Lorenz; Wroblewski, Angela (1999): Arbeitslosenschulung in der flexibilisierten Wirtschaft. Am Beispiel der Evaluierung und der Analyse eines Schulungssystems. München und Mering: Hampp.

26

2 Europäische Beschäftigungspolitik – erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels? Markus Marterbauer Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

2.1

Arbeitslosigkeit in Europa – ein Rückblick

In Europa ist die Arbeitslosigkeit in drei großen Wellen auf 18 Millionen angestiegen: In der Wirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre, in jener zu Beginn der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Jahre. Die Ursachen für dieses Faktum sind vielfältig, denn die Entwicklung der Arbeitsmärkte ist ein Spiegelbild der Entwicklung auf Güter-, Dienstleistungsund Finanzmärkten, der demographisch und institutionell bedingten Veränderung des Arbeitskräfteangebots und wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen. In der Öffentlichkeit wird oft übersehen, daß das Ausmaß des Wirtschaftswachstums einen der wichtigsten

Bestimmungsgründe

für

die

Entwicklung

der

Beschäftigung

darstellt1.

Der

Zusammenhang zwischen den beiden Größen war in Osterreich wie auch in den anderen europäischen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten relativ eng und stabil. Steigende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen bewirkt auch eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Beschäftigungsintensität des Wirtschaftswachstums hat sich längerfristig – aufgrund des Strukturwandels hin zum Dienstleistungsbereich, wo die Arbeitsproduktivität unterdurchschnittlich steigt – sogar etwas erhöht. Das Wirtschaftswachstum selbst verlangsamte sich allerdings nach dem abrupten Wandel der weltwirtschaftlichen Regulierungsbedingungen durch den Übergang zu Monetarismus und Neoliberalismus in den siebziger Jahren merklich gegenüber den Raten des "goldenen Zeitalters" der fünfziger und sechziger Jahre. Zudem bildet eine instabile wirtschaftliche Entwicklung mit tiefen Rezessionen immer den wichtigsten Bestimmungsgrund für den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die drei großen Rezessionen der letzten dreißig Jahre, die jeweils mit einem neuen Schub an Massenarbeitslosigkeit verbunden waren, stehen in engem Zusammenhang mit markanten Fehlentscheidungen der internationalen Wirtschaftspolitik, die als Kooperationsversagen beschrieben werden können. Dies gilt sowohl für den Zusammenbruch

des

internationalen

Währungssystems

von

Bretton-Woods

und

den

darauffolgenden ''ersten Ölpreisschock", als auch für den Übergang zur Hochzinspolitik des Monetarismus Ende der siebziger Jahre oder die Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank und das Fehlen einer erfolgreichen Kooperation in der europäischen Wirtschaftspolitik, die zur besonders schlechten Wirtschaftsentwicklung in den neunziger Jahren geführt haben. Das

1

Den engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung haben P. Verdoom in den späten vierziger Jahren und N. Kaldor in den sechziger Jahren empirisch und theoretisch analysiert. Es wird daher auch oft von der "Verdoom- oder KaldorRelation" gesprochen.

3

Wirtschaftswachstum blieb in Europa zwischen 1990 und 1999 mit durchschnittlich 1 3 /4% real pro Jahr um etwa % Prozentpunkte unter dem langfristigen Trendwachstum. Die Folge war, daß die Beschäftigung fast nicht mehr gestiegen ist und die Arbeitslosigkeit sich seit Beginn des Jahrzehnts um die Hälfte erhöht hat. Auffallend ist, daß die Wachstumseinbrüche oft – und in letzter Zeit noch verstärkt – von Krisen auf den internationalen Finanzmärkten bzw. von der Geldpolitik ausgehen.

Der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum einerseits und Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit andererseits kann auch quantifiziert werden: Wenn das BIP stärker als im Durchschnitt 1975/1999 (+21/2%) wächst, beschleunigt sich – mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung - auch die Beschäftigungsausweitung, und die Arbeitslosigkeit geht zurück (vgl. Marterbauer/Walterskirchen 1999).

4

Für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist neben der wachstumsbestimmten Nachfrage nach Arbeitskräften aber auch die Entwicklung des Angebots an Arbeitskräften von großer Bedeutung. Demographische

Faktoren,

steigende

Erwerbsbeteiligung

vor

allem

von

Frauen

im

erwerbsfähigen Alter, Migration und die Arbeitszeitentwicklung spielen eine wichtige Rolle für die Ausweitung des Erwerbspotentials in den letzten Jahrzehnten (vgl. Tichy /994). Oft ist das Arbeitskräfteangebot allerdings auch institutionell beeinflußt: Die Kürzung der Bezugsdauer des Karenzgeldes im Zuge des "Sparpakets 1996/97" oder die Einschränkung der Möglichkeiten, vorzeitige Alterspension, Invaliditätspension oder Sonderunterstützung in Anspruch zu nehmen, haben das Arbeitskräfteangebot und damit die gemessene Arbeitslosigkeit in Österreich 1998 merklich erhöht, obwohl sich materiell für die Betroffenen wahrscheinlich nicht sehr viel verändert hat. Andererseits hat der massive Ausbau der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Jahr 1999 zu einem stärkeren Rückgang der gemessenen Arbeitslosigkeit geführt, als rein aus dem Ausmaß des Anstiegs der (Teilzeit-) Beschäftigung zu erwarten gewesen wäre.

2.2

Das wirtschaftspolitische Paradigma der EU

Unter "der Europäischen Union" als wirtschaftspolitischem Akteur sollen im Folgenden alle relevanten europäischen Institutionen verstanden werden, von der Europäischen Kommission, 5

über den Rat bis zum Europäischen System der Zentralbanken. Die Konzeption der Wirtschaftspolitik der EU kommt vor allem den jährlich neu verabschiedeten "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" www.europa.eu.int/comm/dg02) zum Ausdruck, sie basiert auf zwei maßgeblichem Pfeilern:

-

Eine "freie Marktwirtschaft" wird als grundsätzlich stabil und wohlstandsfördernd angesehen. In die Verwirklichung des EU-Binnenmarktes wurden deshalb große Hoffnungen in bezug auf die wirtschaftliche Dynamik gesetzt (The costs of Non-europe). Eine wesentliche Aufgabe der Wirtschaftspolitik besteht darin, Strukturreformen umzusetzen, die die Funktionsfähigkeit der Märkte verbessern. Dazu zählen nun vor allem die Liberalisierung (ehemals) öffentlicher Infrastrukturbereiche wie Telekom, Verkehr, Energie. Dort, wo Marktversagen konstatiert

wird

(ungleichgewichtige

regionale

Entwicklung,

Landwirtschaftssektor,

Konzentrationsprozesse u.a.), werden selektive Instrumente der Wirtschaftspolitik eingesetzt (Regional- und Strukturfonds, Gemeinsame Agrarpolitik, Wettbewerbsbehörde). -

Die Aufgabe der makroökonomischen Wirtschaftspolitik besteht nach Sichtweise der EU

darin,

stabile

Rahmenbedingungen

für

die

wirtschaftliche

Entwicklung

zu

gewährleisten. Darunter wird die Kombination von "price stability and sound public finance" verstanden.2 Zur Erreichung dieser makroökonomisch für adäquat erachteten Rahmenbedingungen wurden zwei institutionelle Arrangements getroffen: Eine – von anderen wirtschaftspolitischen Instanzen – völlig unabhängige Europäische Zentralbank, die primär

auf

das

Ziel

der

Preisstabilität

hin

orientiert

ist;

ein

"Stabilitäts-

und

Wachstumspakt", der mittelfristig die Rückführung der Defizite in den Staatshaushalten auf

null

vorsieht.

Mithilfe

dieser

Regelungen

soll

sichergestellt

werden,

daß

wirtschaftspolitische Fehlverhaltensweisen, wie Inflationierung oder lockere Fiskalpolitik, vermieden werden.

Damit ist ein einfaches wirtschaftspolitisches Regime aufgebaut, indem klare und spezifizierte Zielzuweisungen für die einzelnen wirtschaftspolitischen Akteure vorhanden sind und das in den

2

Sowohl in Hinsicht der Intensivierung der Marktwirtschaft, als auch in bezug auf die Priorität der Ziele der Preisstabilität und der Verringerung der (Neu-) Verschuldung der öffentlichen Haushalte unterscheidet sich dieser Ansatz nicht von jenem des Internationalen Währungsfonds oder der OECD.

6

Grundzügen

dem

orthodoxen,

neoklassischen

Separierungsmodell

des

deutschen

Sachverständigenrates ähnlich ist: Der Staat soll vor allem die Allokationsbedingungen, d.h. die Funktionsfähigkeit der Märkte verbessern. Von stärkerem Wettbewerb auf liberalisierten Märkten verspricht man sich höhere wirtschaftliche Dynamik. Die Zentralbank ist geschaffen, um die Preisstabilität – die (von Seiten der EZB) relativ eng mit einer Inflationsrate von 0% bis 2% definiert wird – zu erhalten. Die Lohnpolitik soll auf die Beschäftigung hin orientiert sein. Das

bedeutet

laut

EU-Kommission,

daß

die

Lohnsteigerungen

unter

dem

Produktivitätsfortschritt liegen sollen, damit genügend Spielraum für steigende Gewinne entsteht, von denen man sich höhere Investitionen erhofft. Im wesentlichen steht dahinter die Vorstellung, daß sinkende (Real-) Löhne zu mehr Beschäftigung fuhren. Dieses wirtschaftspolitische Regime der EU auf Makroebene kann als gemäßigter Neoliberalismus bezeichnet werden.

2.3

Das arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Paradigma der EU

In diesem neoklassischen Separierungsmodell ergibt sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt aus den spezifischen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt selbst. Zum einen kann der Preis für Arbeit – das heißt das Ergebnis der Lohnverhandlungen – zu hoch sein, zum anderen können staatliche Regulierungen – wie Kündigungsschutz, Arbeitslosenversicherung, Mindestlöhne etc. – zu Arbeitslosigkeit Fähren. Beide Faktoren verhindern die "Räumung" des Arbeitsmarktes, das heißt das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage auf Vollbeschäftigungsniveau. Die so entstandene Erwerbslosigkeit wird als "strukturelle Arbeitslosigkeit" bezeichnet. OECD und EUKommission klassifizieren den weitaus überwiegenden Teil der in Europa zu beobachtenden Arbeitslosigkeit als strukturell. Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte ist deshalb die wichtigste Waffe gegen die Arbeitslosigkeit. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre hat aufgrund der mißlichen Lage auf den europäischen Arbeitsmärkten und einigen politischen Veränderungen auf Regierungsebene wichtiger Nationalstaaten das Thema Beschäftigungspolitik auch auf europäischer Ebene an Bedeutung gewonnen ("Luxemburg-Prozeß"). In den neuen Unionsvertrag wurde ein eigenes Beschäfligungskapitel aufgenommen, in dem das Procedere der europäischen Beschäftigungspolitik festgehalten wird. Wirtschaftspolitik kann nur über die Erreichung von Preisstabilität, ausgeglichenen öffentlichen Haushalten und die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der 7

Gütermärkte die Rahmenbedingungen für die Arbeitsmarktentwicklung schaffen. Arbeitslosigkeit selbst muß durch zurückhaltende Lohnpolitik und Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten bekämpft werden. Die Richtung der Strukturreformen wird mit den jährlich neu angepaßten "beschäftigungspolitischen Leitlinien" (www.europa.eu.inticomm/dg05) vorgegeben, die die Mitgliedsstaaten dann mit Hilfe der "Nationalen Aktionspläne für Beschäftigung" (vgl. BMAGS/BMwA 1999) umsetzen. Die Leitlinien konzentrieren sich auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit (v.a. Bekämpfung von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit und verstärkte Qualifizierungspolitik), die Entwicklung des Unternehmergeistes (Erleichterung der Unternehmensgründung, Verringerung der Abgabenbelastung des Faktors Arbeit), Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen

und

ihrer

Beschäftigten

(Modernisierung

der

Arbeitsorganisation

und

Flexibilisierung der Arbeit), Förderung der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern (Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, Frauenfördermaßnahmen).

2.4

Ein alternativer wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Ansatz

Zahlreiche Elemente der Beschäftigungspolitik der EU werden sicherlich auch von jenen begrüßt werden,

die

das

wichtigste

Hindernis

für

den

Rückgang

der

Arbeitslosigkeit

nicht

in

Strukturproblemen auf dem Arbeitsmarkt, sondern im ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Umfeld, das besonders in mangelndem Wirtschaftswachstum zum Ausdruck kommt, sehen. Vermehrtes Augenmerk auf Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen für Jugendliche und Langzeitarbeitslose, eine Ausweitung der Zahl der Kinderbetreuungseinrichtungen oder die Erhöhung der Qualität der Grund- und Weiterbildung verbessern mit Sicherheit die Chance, einen Job zu finden. Dennoch krankt die europäische Beschäftigungsstrategie an der Form ihres Zugangs. Die Zahl der offenen Stellen liegt in ganz Europa weit unter jener der Arbeitslosen. Es gibt einfach zu wenig Jobs. Eine Beschäftigungsstrategie, die primär auf strukturellen Reformen im Arbeitskräfteangebot aufbaut, stellt deshalb nur eine Symptomkur dar. Umso notwendiger ist es, dem skizzierten wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Paradigma der EU einen alternativen Zugang gegenüberzustellen.

8

2.4.1 Institutionenorientierung und Kooperation in der makroökonomischen Wirtschaftspolitik

Ein solcher alternativer Ansatz muß dem Institutionensystem einer Ökonomie hohe Bedeutung zumessen. Unter Institutionen können Organisationen, aber auch Regeln und Konventionen verstanden werden. Der Ansatz geht nicht von der Selbstregulierung der Märkte aus, weil in der Realität weder eine Stabilität der wenigen Märkte, die nur durch sich selbst reguliert werden, noch ein institutionenfreie Marktwirtschaft zu beobachten ist. Er mißt der Funktionsfähigkeit von Märkten große Bedeutung zu. Jedoch dürfen Institutionen in der Marktwirtschaft nicht als Rigiditäten aufgefaßt werden, wie dies die Textbuchökonomie tut. Sie erfüllen die wesentliche Funktion der Sicherheitsstiftung in einer Volkswirtschaft, deren Stabilität durch Unsicherheit in den Erwartungen immanent gefährdet ist. Eine fair die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft wichtige Institution stellt zum Beispiel ein funktionierendes

Lohnverhandlungssystem

und

ein

daraus

resultierender

nomineller

Lohnanker dar. Eine stetige Entwicklung der Löhne sichert nicht nur den sozialen Ausgleich und stabilisiert

die

Erwartungen

von

Arbeitnehmern

und

Konsumenten

einerseits

und

Unternehmern andererseits, sondern sie bildet auch den wichtigsten Bestimmungsgrund fier die Preisstabilität. Denn Inflation ist primär ein Phänomen, das politisch und zwar in den Arbeitsbeziehungen

bestimmt

Geldmengensteuerung.

Eine

wird, instabile

und

nicht

ein

Lohnentwicklung

technisches würde

Problem

deshalb

primär

der zu

Preisschwankungen führen, einmal Deflation und einmal Inflation auslösen und so die Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure und damit die gesamte Wirtschaft destabilisieren. Hingegen kann eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, die Lohnerhöhungen am Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ausrichtet, eine stabilisierende Rolle für die Gesamtwirtschaft übernehmen und dafür sorgen, daß die Lohnentwicklung ihre Nachfrage- und Kosteneffekte ausreichend berücksichtigt und nicht inflationär oder deflationär wirkt. Freie, "auf dem Arbeitsmarkt" (was immer darunter genau zu verstehen sei) gebildete Löhne können diese Aufgabe nicht leisten. Lohnsteigerungen können – horribile dictu – aus gesamtwirtschaftlicher Sicht auch zu niedrig sein. Sie führen dann zu deflationären Situationen – das heißt zu einem gesamtwirtschaftlichen Preisrückgang, verbunden mit einer Nachfrageschwäche und steigender Arbeitslosigkeit. Zentralisierte Lohnverhandlungen, die durch Institutionen der Sozialpartnerschaft

9

gesteuert werden, haben hingegen den Vorteil, daß sie makroökonomisch ausgerichtet werden können.3 Kollektivvvertragliche oder gesetzliche Mindestlöhne, ein Kündigungsschutzsystem oder das Bestehen einer Arbeitslosenversicherung bilden ebenfalls wichtige Institutionen. Diese stellen eine Art Versicherung bereit, die die Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisieren kann. Viele Arbeitsmarktelemente, die von internatioen Organisationen wie der OECD oder dem IMF gerne als Rigiditäten bezeichnet werden, bilden einfach ein Spiegelbild sozialer Normen in einer Ökonomie – z.B. hat sich bei uns als Norm herausgebildet, daß in einer reichen Volkswirtschaft niemand im Fall von Arbeitslosigkeit oder Krankheit am Hungertuch nagen soll. Dies widerspiegelt sich in der Institution der Arbeitsloversicherung – ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt. Andere sogenante Rigiditäten tragen zur Verbesserung des Funktionierens einer Marktinschaft bei, z.B. ein Kündigungsschutzsystem. Es sorgt für eine Stabilisierung der Erwartungen der Arbeitnehmer und Konsumenten und beinhaltet für Unternehmer – vor allem in Kombination mit einer Abfertigungsregelung – einen Anreiz zu Investitionen in Weiterbildung. Andere

Arbeitsmarktcharakteristika

können

aber

durchaus

auch

hemmend

auf

die

Beschäftigungsentwicklung wirken. Ein Arbeitslosenversicherungssystem, das im Fall von Arbeitslosigkeit hohe und lange Zeit ausbezahlte Einkommensersatzraten vorsehen würde und gleichzeitig keinen Druck auf die Arbeitslosen zur Wiederaufnahme von Beschäftigung beinhaltet, würde eine wenig sinnvolle Anreizstruktur darstellen. Ein weiteres Beispiel für eine wichtige stabilisierende Institution bildet die Zentralbank. Gerade in einer realen Welt, in der die Vermögens-, insbesondere die Finanzmärkte die Entwicklung von Güter- und Arbeitsmärkten dominieren, spielt die "Glaubwürdigkeit" der Zentralbank eine wichtige

gesamtwirtschaftliche

Rolle.

Als

entscheidende

Beiträge

zur

Herstellung

der

"Glaubwürdigkeit" der Notenbank werden in der herrschenden politischen Diskussion in Europa

die

vollständige

Unabhängigkeit

gegenüber

politischen

Instanzen

und

die

ausschließliche Orientierung am Ziel der Preisstabilität angesehen. Wenig Berücksichtigung findet das 3

Verhältnis

zwischen

Zentralbank

und

Finanzmärkten.

Allzuoft

scheinen

Die inhaltliche Basis für die österreichische Lohnpolitik im Rahmen der Wirtschaftsund Sozialpartnerschaft bildet seit Jahrzehnten die Orientierung der Lohnverhandlungen am Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität. Damit akzeptieren die Gewerkschaften den Status Quo der funktionellen Verteilung, die Unternehmer das Vollbeschäftigungsziel. Es besteht Konsens darüber, daß die sozialpartnerschaftliche Einkommenspolitik wesentlich zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilität in Österreich beigetragen hat. Die produktivitätsorientierte Lohnpolitik hatte Anteil an der im internationalen Vergleich günstigen Lage auf dem Arbeitsmarkt, dem relativ hohen Wirtschaftswachstum und der niedrigen Inflation.

10

Notenbankentscheidungen unter dem Druck der Finanzmärkte und der dort dominierenden Interessen zustande zu kommen ("die Märkte verlangen diesen oder jenen Zinsschritt"). Ein Konzept der Glaubwürdigkeit müßte demnach zum ersten auch ein klares Verhältnis gegenüber den Finanzmärkten

beinhalten.

Es

sollte

zweitens

Transparenz

bezüglich

Strategie

und

Entscheidungen der Zentralbank und ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber demokratisch gewählten Organen beinhalten. Und es sollte drittens die wirtschaftlichen Effekte der Geldpolitik berücksichtigen, Glaubwürdigkeit kann nicht darauf reduziert werden, daß die Notenbank einseitig auf das Preisstabilitätsziel ausgerichtet ist und damit ein Ziel, das sie selbst nicht direkt kontrollieren kann (die Notenbank kann die Inflation nur indirekt über die Beeinflussung der Konjunktur "steuern"), um den Preis hoher Wachstums- und Beschäftigungsverluste zu erreichen sucht. Die - in technischer Hinsicht unabhängige - Zentralbank sollte vielmehr in Zusammenspiel mit anderen Institutionen versuchen, Wachstum und Beschäftigung zu fördern und hohes Vertrauen in das Geldsystem aufzubauen. Damit wurden bereits wesentliche Elemente eines zweiten zentralen Elements der "common sense economics" herausgearbeitet, eine enge Kooperation in der Geld-, Lohn- und Budgetpolitik 4. Wenn die Lohnpolitik ihre oben beschriebene Aufgabe erfüllt, dann trägt dies zu stetiger Nachfrageexpansion bei und es kann kein kostenbedingter Deflations- oder Inflationsschub entstehen. Damit ist es der Notenbank möglich, sich auf die Stabilisierung des Finanzsystems zu konzentrieren und mit ihrer Zinspolitik einen Beitrag zur Stimulierung von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung zu leisten. Auf die Fiskalpolitik käme in dieser Konstellation eine mehrfache Aufgabe zu. Sie muß zum einen im Sinne der Verbesserung der Allokationsbedingungen dafür sorgen, daß eine ausreichende

öffentliche

Infrastruktur

(etwa

in

den

Bereichen

Bildung,

Gesundheit,

Alterssicherung, Kommunikation, Information oder Verkehr), die die Voraussetzung für privates Wirtschaften darstellt, zur Verfügung steht. Zum anderen soll sie - primär passiv über die Wirkung der

"automatischen

Stabilisatoren"

der

öffentlichen

Haushalte

-

eine

antizyklische,

konjunkturstabilisierende Politik machen und so in der Rezession den - langfristig besonders gefährlichen - Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindern. Und drittens soll sie umverteilend zugunsten der unteren Einkommensschichten wirken, nicht nur aus sozialen Gründen, sondern auch 4

aus

ökonomischen,

denn

aufgrund

der

höheren

Konsumneigung

der

unteren

Einen guten Überblick Ober die Literatur zur Kooperation in der Wirtschaftspolitik (insbesondere in bezug auf die Europäische Währungsunion) geben Mooslechner/Schürz 1999.

11

Einkommensschichten Umverteilungspolitik

wird

durch

betrifft

nicht

Umverteilung nur

die

kurzfristige

gesteigert 5

Gesamtnachfrage

Maßnahmen

der

Steuer-

und

Transferpolitik, sondern vor allem langfristig wirkende Maßnahmen, die die Teilnahme aller Bevölkerungsschichten am Bildungs-

und Qualifizierungssystem sicherstellen. Alle drei

Funktionen der Fiskalpolitik wirken wachstums- und beschäftigungsfördernd. Budgetpolitik kann demnach nicht nur zu expansiv sein, wie Finanzmärkte und internationale Organisationen zu glauben neigen, sie kann auch zu restriktiv sein, wenn sie die drei beschriebenen Funktionen nicht wahrnimmt. Beide Fehlentwicklungen haben langfristig negative Effekte auf Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit. Wirtschaftspolitik

ist

wirkungsvoll,

gerade

in

Hinblick

auf

die

Beschäftigungs-

und

Arbeitsmarktentwicklung. Das haben die letzten Jahrzehnte schmerzlich gelehrt. Nur unter der Annahme der Funktionsfähigkeit einer völlig urregulierten Marktwirtschaft - wobei dieser Terminus schon in sich einen Widerspruch beinhaltet, denn auch der Markt ist eine spezifische Form der Regulierung - und der Konstellation einer unkooperativen Geld-, Lohnund Fiskalpolitik kann man zu der Schlußfolgerung kommen, daß sich die Wirtchaftspolitik und der Staat generell möglichst aus dem Wirtschaftsgeschehen zurückziehen sollen. Eine realistische Sichtweise mißt dem Beitrag von Institulionen für die bessere Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft hohe Bedeutung bei. Märkte und Staat bedingen einander. Eine

erfolgreiche

europäische

Beschäftigungsstrategie

verlangt

nach

einer

Institutionalisierung der Kooperation der makroökonomischen Geld-, Fiskal-und Lohnpolitik. Im sogenannten "Kölner Prozeß" wurde auf EU-Ebene versucht, die Kooperation der Akteure der makroökonomischen Wirtschaftspolitik anzuregen. Diese - erfreuliche - Initiative stößt allerdings aufgrund der vertraglichen Vorgaben (vollständige Unabhängigkeit der EZB, Stabilitätspakt) rasch an Grenzen. Eine Kooperation der Wirtschaftspolitik würde aber jedenfalls eine Ausrichtung dieser Politikbereiche auf eine Förderung des Wirtschaftswachstums erleichtern. Viele heute für strukturell

erachtete

Ursachen

der

Arbeitslosigkeit

würden

bei

einer

merklichen

Wachstumsbeschleunigung rasch verschwinden. Wenn die Unternehmen aufgrund reger

5

Die Konsumquote des untersten Einkommensdrittels liegt höher als 1 (was durch Vererbung, innerfamiliäre Transfers oder den Aufbrauch von Ersparnissen ermöglicht wird), jene des obersten Einkommensdrittels bei etwa 3/4. Zudem ist die Importneigung des Konsums des untersten Einkommensdrittels deutlich niedriger als jene des obersten.

12

Nachfrage nach ihren Produkten und Dienstleistungen dringend nach Arbeitskräften suchen, werden sie stärker als heute bereit sein, Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen im Betrieb zu setzen, sie werden - wie in den sechziger und siebziger Jahren - Betriebskindergärten aufbauen, um Frauen auf den Arbeitsmarkt zu locken, und sie werden verstärkt sogenannte Problemfälle auf dem Arbeitsmarkt (Behinderte u.a.) einstellen. Das zeigt, wie schwierig es ist, konjunkturelle von struktureller Arbeitslosigkeit zu trennen. Der Forderung nach einer stärker wachstumsorientierten Beschäftigungspolitik wird oft mit dem Argument der ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums begegnet. Dies ist zum Teil sicherlich berechtigt, wenn man etwa an die Ausweitung des Individual- und Schwerverkehrs denkt. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts berücksichtigt in den herkömmlichen Definitionen der Volkswirtschaftlichen

Gesamtrechnung

kaum

die

qualitative

Zusammensetzung

des

Produktionswachstums. Wirtschaftswachstum beinhaltet z.B. aber auch die Befriedigung von Nachfrage

und

die

(Gesundheitssystem,

Ausweitung Altenpflege,

von

Produktion

Bildung),

den

im

Bereich

Strukturwandel

sozialer Dienstleistungen zugunsten

höherwertiger

Produkte und Produktionsmethoden usw. Vielfach wurde in der Vergangenheit die Bedeutung technologischer Innovationen für die Ausweitung der ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums unterschätzt. Wachstum an sich sollte deshalb nicht negativ besetzt sein, für die Politik lassen sich aber durchaus Argumente für eine qualitative Wachstumslenkung ableiten. Wenn die europäische Wirtschaftspolitik stärker auf die Förderung des Wirtschaftswachstums hin orientiert ist, dann kann eine Intensivierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wie sie derzeit im Rahmen

des

"Luxemburg-Prozesses"

in

der

EU

erfolgt,

sehr

wichtige

Beiträge

als

"Schmiermittel" für die Anpassungsfähigkeit des Arbeitskräfteangebots an die Ausweitung der Arbeitskräftenachfrage leisten. Gerade im Fall einer wachstumsorientierten Beschäftigungspolitik ist es wichtig, Institutionen zu entwickeln, die Inflationsgefahren hintanhalten. Aktive Arbeitsmarktpolitik kann eine derartige Institution bilden, zentralisierte Lohnverhandlungen stellen wie weiter oben dargestellt - eine weitere dar. Im Moment aber vermittelt die europäische Beschäftigungsstrategie, die fast ausschließlich auf Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten orientiert ist, noch ein recht einseitiges Bild. Eine rasche Lösung der großen Probleme auf den europäischen Arbeitsmärkten dürfen wir uns deshalb nicht erwarten.

13

2.4.2 Arbeitszeitverkürzung

In Abschnitt 2.1 wurde die Ausweitung des Arbeitskräfteangebots als ein wesentlicher Bestimmungsgrund der steigenden Arbeitslosigkeit angeführt. Bis Anfang der achtziger Jahre wurde dieser Entwicklung durch relativ regelmäßige Arbeitszeitverkürzungen - vor allem im Wege der Verkürzung der Wochenarbeitszeit und der Verlängerung des Urlaubsanspruches gegengesteuert. Seither haben allerdings in Europa die Bemühungen um Arbeitszeitverkürzung nachgelassen. Nur in Deutschland und in den Niederlanden ist die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Beschäftigten in den achtziger Jahren noch merklich gesunken. Arbeitszeitverkürzung hat allerdings dennoch stattgefunden - meist in der Form von Arbeitslosigkeit, in vielen Ländern aber auch in der (sozial weniger schmerzlichen) Form von Frühpensionierungen. Arbeitszeitverkürzung kann vor allem in einer Wirtschaftsentwicklung, die durch schwaches durchschnittliches Wirtschaftswachstum und hohe Produktivitätssteigerungen gekennzeichnet ist, befürwortet werden. In dieser Situation bleibt sie - neben einer Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung - sogar oft die einzige Möglichkeit der Beschäftigungspolitik (Walterskirchen 1999). Die neunziger Jahre waren in Österreich und in Europa durch dieses Charakteristikum geprägt. Das Wirtschaftswachstum hat sich aufgrund restriktiver Fiskal- und Geldpolitik merklich abgeschwächt, die Produktivitätszuwächse im privaten Sektor wurden aber durch die Globalisierung

und

vor

allem

die

Integration

Binnenmarkt,

Ostöffnung,

Währungsunion)

vorangetrieben. Die Verkürzung der Arbeitszeit soll allerdings nicht einseitig unter ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert werden, noch wichtiger erscheinen gesellschaftspolitische Überlegungen. Sie ist wohl eine der wichtigsten Grundbedingungen für einen Übergang "vom Reich der Notwendigkeiten in ein Reich der Freiheit". Arbeitszeitverkürzung hat in den neunziger Jahren wieder stärkeres politisches Gewicht bekommen. In den Niederlanden bildete die Ausweitung der Teilzeitarbeit den wichtigsten Grund für das sogenannte Beschäftigungswunder, Dänemark hat - neben der Ausweitung der Aktivierungspolitik

-

in

umfangreichen

Ausmaß

Karenzierungsmodelle

eingesetzt.

In

Frankreich und in Italien wurde der Übergang zur 35-Stunden-Woche auf die politische Agenda gesetzt. In den letzten Jahren haben sich vielfältige Modelle einer Verkürzung der (Lebens-) Arbeitszeit herausgebildet. Ansatzpunkte bilden - neben den schon erwähnten Formen - das 14

Recht auf Teilzeitarbeit während der Kinderbetreuungsphase (es ist in Skandinavien verwirklicht), der Abbau der regelmäßig geleisteten Oberstunden (in Österreich ist die Hälfte der Beschäftigten betroffen), der solidarische Arbeitszeit- und Einkommensverzicht in Hochlohnbranchen mit temporärem Nachfrageausfall (die deutsche Autoindustrie bildet ein Beispiel). Vor allem angesichts der - aus demographischen Gründen gerechtfertigten -Tendenzen zur Erhöhung

des

Pensionsantrittsalters

sollte

die

Arbeitszeit

in

jüngeren und mittleren

Alterskohorten rasch verkürzt werden. Gleichzeitig wird die Weiterbildung während des Erwerbslebens zu einem immer wichtigeren Faktor für wirtschaftlichen und sozialen Erfolg. Das Modell der Bildungskarenz bietet sich unter beiden Gesichtspunkten als besonders geeignet an. Die Erwerbstätigen erhalten bei dieser - in Dänemark und Norwegen mit Erfolg praktizierten

-

Maßnahme

die

Möglichkeit,

in

regelmäßigen

Abständen

länger-dauernde

Karenzzeiten zum Zwecke der Weiterbildung in Anspruch zu nehmen. Die Arbeitsmarktpolitik versucht gleichzeitig, Arbeitslose als Ersatzarbeitskräfte während der Abwesenheit zu vermitteln. Dies stellt eine besonders innovative Form der Arbeitszeitverkürzung dar. In Österreich wurde 1997 ein Modell der Bildungskarenz eingeführt, das allerdings aufgrund der geringen Anreizwirkung und des niedrigen Bekanntheitsgrades bislang praktisch keine Bedeutung erlangt hat. Sicherlich bildet Arbeitszeitverkürzung ein defensives Instrument der Beschäftigungspolitik, weil nur der

Arbeitsplatzmangel

umverteilt

wird.

Unter

den

Bedingungen

schwachen

Wirtschaftswachstums ist damit allerdings schon einiges gewonnen. Aufgrund des bestehenden strukturellen Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern muß allerdings – besonders bei Kombinationen von Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung – darauf geachtet werden, daß Arbeitszeitmaßnahmen nicht einseitig auf Kosten der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer gehen. Arbeitszeitverkürzungen treten oft in Konflikt mit Einkommensverteilungszielen. Sie können, ohne die internationale Konkurrenzfähigkeit zu gefährden, nicht bei vollem Lohnausgleich durchgeführt werden. Vernünftigerweise bietet sich an, daß

die

Unternehmer

die

Produktivitätseffekte

tragen

und

die

Arbeitnehmer

die

Be-

schäftigungseffekte – das würde nach langjährigen Erfahrungen etwa einen Lohnausgleich von 2/3 erlauben. Selbst dieser Einkommensverzicht kann im unteren Einkommensbereich problematisch sein. Eine Politik der Arbeitszeitverkürzung müßte demnach mit einer verteilungspolitischen Offensive kombiniert werden. In Österreich passiert das nicht – im Gegenteil. Zwischen 1995 15

und 1998 hat eine merkliche Verkürzung der durchschnittlich je Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit

stattgefunden:

Die

Teilzeitbeschäftigung

ist

stärker

gestiegen

als

die

Gesamtbeschäftigung, die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze ging zurück. Diese Form der Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich findet jedoch primär in Niedriglohnbranchen (Handel, wirtschaftsnahe Dienstleistungen) statt.

2.4.3 Grundeinkommen oder Wohlfahrtsstaat?

Die Verbreitung von Massenarbeitslosigkeit in Europa hat in den letzten Jahrzehnten zu erheblichen Verteilungsungleichgewichten und auch zum Entstehen von Armut geführt. Gleichzeitig hat sie zu erheblichen Finanzierungsproblemen in den Sozialhaushalten und im öffentlichen Budget wesentlich beigetragen. Diese sozialen und ökonomischen Probleme im Wohlfahrtsstaat haben der Idee des Grundeinkommens wieder mehr an Attraktivität verliehen. Ein Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit stellt ein interessantes Konzept dar, das mehr individuelle Freiheit verspricht. Die Befürworter erwarten sich, daß Armut verhindert, ineffiziente Sozialbürokratien, die primär horizontal ("von einer Tasche in die andere") umverteilen, reduziert und der Zwang zur Erwerbsarbeit mit all ihren problematischen Aspekten an gesellschaftlicher Kraft verlieren würde. Das Konzept des Grundeinkommens bringt aber zahlreiche Folgen mit sich, die weniger wünschenswert erscheinen. Zunächst erscheint seine Finanzierbarkeit äußerst fraglich. Ein Grundeinkommen in einer Höhe, die ein Auskommen halbwegs sichert (etwa in der Höhe der Ausgleichszulage der Pensionsversicherung von etwa öS 8.000,- pro Person und Monat), würde die wirtschaftlichen Ressourcen in hohem Ausmaß in Anspruch nehmen. Die Kosten würden bei fast der Hälfte

des

gesamten

erzielten

Volkseinkommens

liegen.

Die

Einfühlung

eines

Grundeinkommens müßte somit – auch konzeptuell – mit einer Zerschlagung des Wohlfahrtsstates einhergehen. Das derzeitige Sozialsystem würde vollständig ersetzt werden. Dies würde für viele Sozialleistungsempfänger allerdings eine merkliche finanzielle und gesellschaftliche Schlechterstellung mit sich bringen. Die Durchschnittspension liegt in Österreich über dem angesprochenen Niveau, genauso wie die Hälfte der Arbeitslosengelder. Andere öffentliche

Ausgaben

für

die

Infrastruktur

(Gesundheits-,

Bildungs-,

Verkehrs-,

Informationssystem) müßten drastisch reduziert werden. 16

Ein Grundeinkommen würde primär eine massive Umverteilung zu jenen Bevölkerungsgruppen mit sich bringen, die bislang keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Dazu zählen sicherlich Bezieher von Notstandshilfe und Sozialhilfe, die den Weg zurück zur Erwerbsarbeit nicht mehr finden. Aber auch Personen, die es sich leisten können, keiner Erwerbsarbeit nachzugehen – z.B. Hausfrauen in Haushalten mit hohem Einkommen, Studierende aus Haushalten der oberen Einkommenskategorien, Rentiers. Die Einführung eines Grundeinkommens würde – der liberalen Tradition, in der es steht, entsprechend – erhebliche Veränderungen der Strukturen des Arbeitsmarktes mit sich bringen. Wenn die soziale Absicherung durch ein Grundeinkommen gegeben ist, steht einer vollständigen Arbeitsmarktflexibilisierung nichts im Wege. Massives Lohndumping könnte auftreten. Aktive Integrationsmaßnahmen – wie etwa Bildungs- und Qualifizierungspolitik für Arbeitslose, Kinderbetreuungseinrichtungen – entsprechen dem passiven Charakter des Konzepts nicht. Das Hauptproblem bei der Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens wäre jedoch die Gefahr der gesellschaftliche Spaltung zwischen jenen, die der Erwerbsarbeit nachgehen und so Netto-Zahler bilden, und den subventionierten Grundeinkommens-Beziehern. Die Höhe des Grundeinkommens ist ein Ergebnis eines gesellschaftlichen Verhandlungsprozesses. Die Bereitschaft der arbeitenden Bevölkerung, über hohe Abgaben ein Basiseinkommen zu finanzieren, ohne daß den Beziehern ein verpflichtender Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung abverlangt wird, kann als gering eingeschätzt werden. Damit könnte das Grundeinkommen leicht unter ein akzeptables Einkommensniveau sinken, es würde die Kategorie eines Almosens erlangen, das den Armen zugestanden wird, und könnte damit langfristig nicht einmal mehr seine Ziele der Armutsbekämpfung erreichen. Demgegenüber hat der Wohlfahrtsstaat mit seinem ausgeprägten Versicherungscharakter zahlreiche Vorteile. Der Lebensstandard jener, die über den Bezug von Erwerbseinkommen ins System einzahlen, wird im Fall von Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Invalidität gesichert. Die soziale

Absicherung

umfaßt

damit

fast

die

gesamte

Gesellschaft.

Obwohl

im

kontinentaleuropäisehen Wohlfahrtsstaat die Umverteilung primär horizontal ausgerichtet ist ("von den Gesunden zu den Kranken", 'von den Arbeitenden zu den Arbeitslosen" usw.) bringt das System erhebliche vertikale Umverteilungwirkungen mit sich. Während in Österreich die Abgabenbelastung

weitgehend

proportional

zum

Einkommen

verteilt

ist,

fließen

die

Staatsausgaben zu einem überproportionalen Teil ins untere Einkommensdrittel (Guger 1996). Der Wohlfahrtsstaat trägt in großem Umfang zum sozialen Ausgleich in der Gesellschaft bei. Er 17

bildet ein erfolgreiches Projekt der Solidarität und sollte weiter erhalten werden. Unter der Annahme stetigen Wirtschaftswachstums und laufender Anpassungen an die Herausforderungen der Demographie ist seine Finanzierbarkeit auch weiterhin gesichert. Jedoch machen wirtschaftlicher und sozialer Wandel Ergänzungen in einigen Bereichen notwendig und sinnvoll. Der europäische Wohlfahrtsstaat braucht für seine Funktionsfähigkeit nicht nur eine positive Wachstums-

und

Beschäftigungsentwicklung,

sondern

auch

Verteilungspolitik.

Diese

Bereich

der Erwerbseinkommen ("forcierte

Mindestlohnpolitik"),

als

sollten auch

sowohl im

im

Steuersystem

("earned

neue

Anstrengungen

income

tax

der

credit",

Vermögensertragsbesteuerung) und den Staatsausgaben (Qualifizierungssystem ) ansetzen. Eine bedarfsorientierte, d.h. nicht erwerbsarbeitsabhängige, Mindestsicherung könnte den Wohlfahrtsstaat der Zukunft dort ergänzen, wo das Versicherungssystem Armut nicht in ausreichendem Maß verhindern kann (vgl. die Vorschläge der Expertenarbeitsgruppe, 1999). In einer Wirtschaft, die durch raschen Strukturwandel gekennzeichnet ist, kommt dem Bildungssystem besondere Bedeutung für die Einkommenserzielungschancen des Einzelnen und damit auch für die gesellschaftliche Einkommensverteilung zu. Daraus lassen sich Argumente für einen stärker "aktivierenden Wohlfahrtsstaat" ableiten, der der Qualifizierung der Jugendlichen, der Arbeitslosen und auch jener, die neue Erwerbschancen suchen, breite Aufmerksamkeit widmet.

2.4.4 Schlußfolgerungen

In der Europäischen Union hat die Beschäftigungspolitik seit 1997 erheblich an Bedeutung gewonnen. Dies ist Ausdruck der bestehenden Probleme, aber auch eines politischen Wandels. Beschäftigungspolitik konzentriert sich im Konzept der EU derzeit auf Strukturreformen auf den Arbeitsmärkten. Während die makroökonomische Politik dem neoliberalen Modell verhaftet bleibt – der weitgehend unregulierte Binnenmarkt, Preisstabilität und ausgeglichene öffentliche Haushalte bleiben die wichtigsten angestrebten Rahmenbedingungen – werden die Maßnahmen der

aktiven

Arbeitsmarktpolitik

Beschäftigungspolitik,

die

einseitig

und

der

Arbeitsmarktflexibilisierung

und

euphemistisch

auf

verstärkt.

"Strukturreformen“

auf

Eine dem

Arbeitsmarkt setzt, steuert allerdings auf erhebliche Verteilungskonflikte zu. Diese sind jedoch nicht unausweichlich. Denn es bestehen auch Alternativen in der beschäftigungspolitischen 18

Orientierung. In diesem Beitrag wurde vor allem auf eine stärker beschäftigungsorientierte Makropolitik und forcierte Arbeitszeitverkürzung hingewiesen. Ob diese Maßnahmen auch umgesetzt werden, ist weniger eine ökonomische als eine politische Frage.

Literatur

BMAGS; BMWA (1999): Nationaler Aktionsplan für Beschäftigung, Wien. Expertenarbeitsgruppe (1999): Einbinden statt ausgrenzen. Neue Strategien gegen die Armut, Wien. Lager, A. (1996): Umverteilung durch den Staat in Österreich. In: WIFO-Monatsberichte, 1996, 69 (10). Marterbauer, M.; Walterskirchen, E. (1999): Bestimmungsgründe des Anstiegs der Arbeitslosigkeit in Österreich. In: WIFO-Monatsberichte, 1999, 72 (3). Mooslechner, P.; Schürz, M. (1999): Wirtschaftspolitische Kooperation in der WWU: Herausforderungen für die europäische Wirtschaftspolitik? In: OeNB, Berichte und Studien, 1999 (2). Tichy G. (1994): Das Problem der langdauernden hohen Arbeitslosigkeit. Ursachen und Lösungsansätze. In: Wirtschaft und Gesellschaft, 1994, 20 (4). Walterskirchen, E. (1999): Arbeitslosigkeit durch Rationalisierung: Gibt es ein Gegenmittel? In: Arbeitsgemeinschaft für wissenschaftliche Wirtschaftspolitik (Hg.), Europäische Beschäftigungspolitik in der Arbeitswelt 2000, Wien 1999.

19

3 Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark Bill Jordan und Jørn Loftager Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

3.1

Einleitung

In der die Diskussion beherrschenden sozialpolitischen Literatur scheinen zwei identifizierbare Versionen der Arbeitsmarktaktivierung zu existieren, die mit verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Regimes verknüpft sind. Die erste bezieht sich auf das Wachstums- und Expansionsstadium des Arbeitsmarktes

in

einem

liberalen

wohlfahrtsstaatlichen

Regime,

wo

die

Mitglieder

der

"Reservearmee" der unqualifizierten Arbeit, die im allgemeinen Unterstützungszahlungen erhalten, von den Behörden anläßlich des Aufschwungs der Ökonomie wieder in schlecht bezahlte Beschäftigung zurückgedrängt werden. Piven und Cloward haben in ihrer Studie Regulating the Poor derartige Zyklen der negativen "Aktivierung" beschrieben (Piven/Cloward 1972, für das Vereinigte Königreich siehe Jordan 1974). Die Ursachen des "we fare-to-work" wurden Mitte der 80er Jahre in den USA entwickelt, wobei Lawrence Meads Beyond Entitlement (1986) die theoretische Hauptquelle darstellte, ein Plädoyer für das Bestehen einer sozialen Obligation, als Gegenleistung gegen Unterstützungszahlungen zu arbeiten oder sich schulen zu lassen; dies sollte die Durchsetzung strenger Anspruchsvoraussetzungen rechtfertigen. Die zweite ist die paternalistische sozialdemokratische Form, die sich am ausgeprägtesten in Schweden

findet,

wo

trotz

der

sogenannten

"entkommodifizierenden"

Züge

seines

wohlfahrtsstaatlichen Regimes (Esping-Andersen 1990) arbeitsfähige Bezieher im Erwerbsalter immer unter einem gewissen Druck: standen, nach einer Periode außerhalb des Arbeitsmarktes wieder in diesen zurückzukehren. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Version ist dieses Modell von hohen Ersatzraten und von hohen Niveaus der Schulung, der Gehälter und des arbeitsrechtlichen Schutzes und der Kinderbetreuung gekennzeichnet, weshalb die Arbeitspflicht im Dienste des Allgemeinwohles als nicht nur nützlich für die Gesellschaft, sondern auch für das Individuum aufgefaßt wird. Dieser Patemalismus war verbunden mit anderen inzwischen diskreditierten Merkmalen des schwedischen Modells, wie dem eugenischen Programm, um "asoziale" oder "subnormale" Frauen und jugendliche Kriminelle zu sterilisieten Diese Merkmale bestanden bis in die 70er Jahre (Independent an Sunday I'm7, Channel 4 TV 1999). Weder Großbritannien noch Dänemark passen so ohne weiteres in diese Kategorien - beide müssen als "gemischte Fälle" aufgefaßt werden. Trotz hoher Arbeitslosenraten und hoher Prozentsätze

von

alleinerziehenden

Müttern

und

vor

allem

von

Dauerarbeitslosen

im

erwerbsfähigen Alter in den frühen 80er Jahren und dann wieder in den frühen 90er Jahren unterließ es das Vereinigte Königreich, das US-amerikanische Modell der workfare zu übernehmen. 3

Stattdessen hat die Regierung der Margaret Thatcher trotz ihrer ausgeprägten Rhetorik der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit und trotz ihrer Bewunderung für die Präsidenten Reagan und

Bush

eine

vorsichtige

und

pragmatische

Sozialpolitik

betrieben

und

nur

wenige

Aktivierungsmaßnahmen umgesetzt. Die von John Major geführte schwächere Regierung unternahm entschlossene Schritte in diese Richtungen (die Mitte der 90er Jahre in einem Großteil Europas ebenso wie in den USA bereits orthodoxen Charakter gewonnen hatten), doch es war die New Labour-Regierung von Tony Blair, die in ihrem Programm der Aktivierung einen besonderen Stellenwert zuwies und sich in der eindeutigsten Weise auf deren Prinzipien festlegte. Wir werden argumentieren, daß Ideen über den sozialen Einschluß und die ökonomische Effizienz bei dieser sozialpolitischen Entwicklung eine fast ebenso bedeutsame Rolle gespielt haben wie die neukonservativen Theorien US-amerikanischen Zuschnittes. Obwohl die Finanzierung und das Ausmaß der Unterstützungszahlungen Dänemark der skandinavischen bzw. sozialdemokratischen Gruppe der Wohlfahrtsregimes zuweist, gab es dort kein Gegenstück zur schwedischen Tradition der Aktivierung in der Nachkriegszeit. Tatsächlich legten manche Züge der sozialpolitischen Entwicklung der 80er Jahre nahe, daß es sich in Richtung auf das voraussetzungslose, allgemeine, aus dem Steueraufkommen finanzierte Grundeinkommen zubewegte, ein Prinzip, durch das es der Staat den Individuen überließ, den Beitrag zur Wirtschaft und zur Gesellschaft, den sie zu leisten bereit waren, selbst zu bestimmen. In den Jahren 1993 und 1994 geriet diese Frage jedoch direkt auf die politische Tagesordnung, und eine plötzlich formierte klare sozialpolitische Haltung kehrte sich eindeutig von dieser Möglichkeit ab und entschied sich für die Aktivierung; wir werden jedoch argumentieren, daß die dänischen Aktivierungsmaßnahmen nicht nach dem Muster des schwedischen oder auch des US-amerikanischen Modells gedeutet werden können, sondern einen eigenständigen Zugang repräsentieren, der noch am meisten Berührungspunkte mit den holländischen Ansätzen hat. Es ist daher unser Ziel zu zeigen, daß die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen "Welten des Wohlfahrtskapitalismus", die mit Aktivierungsprogrammen verknüpft sind, eher dem Anschein nach als in der Wirklichkeit besteht, daß verschiedene Traditionen und Methoden zwar weiterhin existieren, daß sie jedoch auf neue Arten vermischt und kombiniert sind. Einige Beobachter haben nahegelegt, daß Aktivierungspolitik ein "neues Paradigma" der sozialen Wohlfahrt und eine Transformation des ganzen Begriffes sozialer Rechte vorwegnimmt (Jesperson/Rasmussen 1998, Cox 1999). Zwar mangelt es diesen Argumenten nicht an einer gewissen Überzeugungskraft, und es gibt auch empirische Hinweise auf spezifische "neue 4

Orthodoxien" in den USA, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und in Dänemark, doch sind wir dennoch skeptisch dahingehend, wie dauerhaft diese sich erweisen werden. Eine unserer Schlußfolgerungen wird darauf hinauslaufen, daß das Grundeinkommen oder eine Form des Bürgergeldes, Strategien, die von den Entwicklungen der Aktivierung an die Wand gespielt scheinen, zum ernsthaften Rivalen dieser Orthodoxien werden könnten, vor allem durch Steuerreformen in vielen Ländern. Aktivierungsstrategien stellen bereits eine gravierende Belastung der finanziellen Situation der öffentlichen Hand dar (vor allem in Dänemark); und Haushalte mit mehreren Verdienen werden eventuell schwere Einbußen hinnehmen müssen, wenn die gegenwärtigen Wachstumsraten nicht erhalten bleiben. Daher mag die Unterstützung für die Aktivierung weniger festgefügt sein, als sie heute erscheint.

3.2

Liberalismus und Aktivierung

Die erste Frage, der wir uns in diesem Zusammenhang zuwenden möchten, bezieht sich darauf, warum Aktivierung im Vereinigen Königreich und in Dänemark bis vor wenigen Jahren keine bedeutsamere Rolle gespielt hat. Schließlich hätte die herkömmliche Klassifikation der Wohlfahrtsstaaten wohl die Vorhersage zugelassen, daß Aktivierung zu einem wichtigen Systemmerkmal in beiden Gesellschaften werden würde, wenn auch in verschiedenen Formen. Wenn sich das Vereinigte Königreich tatsächlich in derselben Gruppe von Regimes befindet wie die USA, wo in den 80er Jahren workfare zu einem dominierenden sozialpolitischen Instrument wurde, warum wurden dann welfare-to-work-Programme im Vereinigten Königreich nicht vor Mitte der 90er Jahre eingesetzt? Und wenn Dänemark ein charakteristisch skandinavisches sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime aufweist, warum verfügte es nicht über den patemalistischen Zugang Schwedens zur Arbeitsmarktpolitik und warum wurde im Land mit dem voraussetzungslosen Grundeinkommen kokettiert, bevor man sich ungefähr zur selben Zeit der Aktivierung zuwendete? Wir glauben, daß die Anwort in den politischen Doktrinen und Institutionen des Liberalismus zu suchen ist, die in beiden Ländern traditionell stark sind und wichtige Prinzipien inkorporieren, die staatlichen Eingriffen in das Leben von Individuen im Wege stehen, vor allem jedoch paternalistischen Eingriffen. Diese liberalen Schranken mußten in beiden Ländern überwunden werden, bevor Aktivierungsprogramme in Angriff genommen werden konnten. 5

Der Liberalismus postuliert, daß die einzelnen Bürger mit starken Personen- und Eigentumsrechten ausgestattet sind, daß sie für ihr eigenes Leben moralisch verantwortlich sind und im Einklang mit dieser Verantwortlichkeit ihre Entscheidungen treffen. Daß der Staat diese Rechte respektiert, zeigt sich im Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und im Verbot des Zwanges (sei es im Interesse des Individuums oder auch der Gesellschaft), wenn nicht die Rechte von anderen beeinträchtigt sind. Nachdem einmal soziale Rechte in den Rahmen der Freiheiten und Ansprüche der Bürger des liberalen Staates aufgenommen worden waren, wie dies nach dem Zweiten Weltkrieg geschah (Marshall 1950), wurde es sehr schwierig, in Ländern mit ausgeprägten liberalen Traditionen dafür zu

argumentieren,

daß

Unterstützungsleistungen

mit

paternalistischen

oder

repressiven

Bedingungen verknüpft sein sollten. Während die Besteuerung der hinkommen als mit den liberalen Prinzipien verträglich aufgefaßt wurde – zum Teil wegen ihrer universellen und unpersönlichen Einhebung

–,

wurden

spezifische

Bedingungen

für

individuelle

Bezieher,

wenn

diese

Verpflichtungen in die Wahlmöglichkeiten für Beschäftigungen oder Aktivitäten eingriffen, für unvereinbar mit den liberalen Prinzipien erachtet. Die Bürger sollten durch die Anreize und Gelegenheiten, die der Arbeitsmarkt bot, zur Teilnahme bewogen werden, nicht jedoch durch offizielle Zwangsmaßnahmen, und seien diese noch so gut gemeint; noch durch ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Staat. Wenn dieses Argument akzeptiert wird, dann fragt sich, warum in den USA workfare eingeführt wurde, obwohl es sich dort offensichtlich um das führende liberale politische Gemeinwesen handelt. Die Antwort dürfte in dem Überwiegen schwarzer "Wohlfahrtsmütter" unter den Beziehern von Aid for Families with Dependent Children zu suchen sein. Trotz der Programme der "Great Society" und der New Frontier aus den 60er Jahren weitete das US-amerikanische Regime die Prinzipien der liberalen Anspruchsberechtigung niemals zur Gänze auf Schwarze aus (Lewis 1997). Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang anzumerken, daß ein Großteil der Argumente zugunsten der workfare, die von Mead und anderen entwickelt wurden, sich gegen schwarze Alleinerzieherinnen und ihren Nachwuchs

wandten;

und

daß

keine

vergleichbaren

Prinzipien

auf

das

Arbeitslosen-

versicherungssystem angewendet wurden, wo die der herrschenden Mehrheit angehörenden Weißen ihre Ansprüche durchsetzen konnten. Umgekehrt hatten im Vereinigten Königreich trotz der Ähnlichkeit zwischen Margaret Thatchers Version des Wirtschaftsliberalismus und jener Ronald Reagans solche Argumente nur wenig Auswirkungen auf die Sozialpolitik. 6

Stattdessen konzentrierte sich die Regierung darauf, die Ausgaben zur Aufrechterhaltung des Einkommens in Perioden hoher Arbeitslosigkeit, die mit der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und dem "Ausfiltern" ungelernter industrieller Arbeitskräfte verknüpft war, niedrig zu halten. Nach den innerstädtischen Unruhen des Jahres 1981 wurden öffentlich finanzierte Programme der temporären Beschäftigung und Schulung (das Community Programme und das Youth Training Scheme) stark ausgeweitet, doch der Druck auf die Arbeitslosen, in diese Programme einzutreten, war – mit der Ausnahme von Schulabgängem – eher schwach. Als sich die Beschäftigung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ausweitete, wurden diese Programme eingeschränkt, und die Politik der Regierung schien ihre Rechtfertigung bekommen zu haben. In der Zeit von 1986-1988 gab es vergleichsweise unbedeutendere Reformen des Einkommenserhaltungssystems, doch Aktivierung gehörte nicht zu diesen Maßnahmen. Es ist signifikant, daß die öffentliche Rhetorik und die Programme den Ideen Hayeks, Mises' und allgemein der "Österreichischen Schule der Ökonomie, die den Segen der Ergebnisse des freien Kräftespieles des Marktes und individueller Entscheidungen betonten, wesentlich mehr verdanken als der Idee der Auferlegung gesellschaftlicher Verpflichtungen; und dies, obwohl Konsultationen mit Lawrence Mead und anderen amerikanischen Experten gepflogen wurden. Es

könnte

extravagant

erscheinen,

Dänemark

zu

jenen

Ländern

zu

zählen,

deren

wohlfahrtsstaatliches Regime vom Liberalismus stark beeinflußt war, doch jüngere Untersuchungen haben eben diesen Aspekt hervorgehoben (Cox 1998, 1999) und sich damit direkt gegen EspingAndersens Klassifikation gewandt. Es ist sicherlich wahr, daß das dänische System der Einkommenserhaltung dem "Skandinavischen Modell" in vielerlei Hinsicht entspricht. Alle Bürger haben Anspruch auf Sozialleistungen und auf Dienstleistungen, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, und die Zahlungen sind im allgemeinen als Sockelbeträge konzipiert statt einkommensabhängig. Sie werden aus hohen Einkommenssteuern und niedrigen Beitragsleistungen

zur

Sozialversicherung

finanziert,

durch

eine

sehr

progressive

Einkommenssteuerstruktur und hohe indirekte Steuern. Fast alle Erwachsenen haben de facto Anspruch auf Zahlungen zur Erhaltung ihres Einkommens, wenn sie nicht beschäftigt sind. Das System ist stark umverteilend; 1985 betrug die Ersatzrate der Arbeitslosenunterstützung 75% der Durchschnittslöhne. Das Einkommenserhaltungssystem wird ergänzt durch ein gut ausgebautes Netz von sozialen Naturalleistungen (wie die Kinderbeaufsichtigung), das seinerseits ungefähr 30% der gesamten Beschäftigten Arbeit gibt. Die Hauptnutznießer eines solchen Wohlfahrtsregimes sind 7

daher Familien mit Kindern, Frauen, Studierende, Personen mit niedrigem Einkommen und Personen mit unstabiler Beschäftigung (Loftager 1998). Anders als das schwedische Modell hat sich jedoch das dänische als "passives“ statt als aktives System ausgeformt. Die frühen Wohlfahrtsprogramme in Dännemark waren von Koalitionen von liberalen und konservativen Parteien eingerichtet worden (Baldwin 1990). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die liberalen Prinzipien der bürgerlichen Berechtigung während der Periode des Ausbaues der Wohlfahrtsleistungen und der vorwiegend sozialdemokratischen Regierung gestärkt (Möller 1981, 1986). Cox argumentiert, daß das liberale Prinzip der moralischen Neutralität gegenüber den Berufsentscheidungen der Bürger in Dänemark und in den Niederlanden von überragender Bedeutung war. Der Paternalismus (nach schwedischem Vorbild) wurde abgelehnt. Als es in den Wer Jahren hohe Arbeitslosenraten gab, blieben die Arbeitslosen weitgehend sich selbst überlassen und konnten Lebensstile und Aktivitäten entwickeln, die außerhalb des Kontextes formaler ganztägiger Arbeitsmarktrollen lagen (Cox 1998). In seiner Zurückweisung der schwedischen Aktivierungsprogramme erwies das dänische Modell dem Marktmechanismus, der die öffentliche Arbeitsplatzbeschaffung als einen Beitrag zur Ineffizienz sah, seine Hochachtung, doch kombinierte es diese Elemente des Wirtschaftsliberalismus mit hohen Mindestlöhnen und ausgedehnten universalistischen Transferzahlungen (Loftager 1996). Daher hat sich während der letzten 15 Jahre die Einkommensungleichheit in Dänemark nicht verschärft.

3.3

Aktivierung in Großbritannien

Während der Rezession der frühen 90er Jahre, als das thatcheristische "Wirtschaftswunder" in Frage gestellt wurde und die Arbeitslosenraten wieder anstiegen, faßte die Regierung Major von neuem Aktivierungsmaßnahmen ins Auge und führte in vorsichtiger Weise eine Reihe von Reformen und Innovationen ein, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit den in anderen EU-Ländern eingerichteten Programmen übereinstimmten. Der theoretische Kontext, in dem das geschah, basierte auf einer zunehmenden Sensibilität gegenüber den Beschränkungen des ökonomischen Individualismus und der marktlichen Motivation als Hauptgründe von Entscheidungen und Handlungen und einem neu-belebten Interesse am kommunitaristischen und sozial-konservativen Denken (Etzioni 1993, Green 1995). Die praktischen Probleme, die sich in diesem Zusammenhang stellten, waren die Zunahme der Dauerarbeitslosen, die Armuts- und Arbeitslosigkeitsfallen 8

innerhalb des Einkommenserhaltungssystems und die Betätigung in der Schattenökonomie als sich aufdrängende Alternative zur formellen Arbeitsmarktteilnahme (Jordan 1995). Die Regierung befaßte sich also mit der Angebotsseite des Arbeitslosigkeitsproblems, doch vor allem indem sie die Bezugsbedingungen verschärfte, statt Schulungsmöglichkeiten auszuweiten oder zu verbessern – ein traditioneller angelsächsischer Zugang (Piven/Cloward 1972, Jordan /974). Dies lief auf keinen größeren ideologischen oder sozialpolitischen Umbruch hinaus, sondern stellte eine pragmatische, traditionelle und inkrementalistische Reaktion auf die anliegenden Probleme dar. Obwohl John Majors "Back to Basics"-Rede mit ihrer Betonung von Moral und Verantwortlichkeit eine Abkehr von Margaret Thatchers "Es gibt überhaupt keine Gesellschaft" bedeutete, hatte er weder die Unterstützung noch die Absicht, einen fundamentalen sozialpolitischen Wandel herbeizuführen. Das Problem der Anreize für Langzeitarbeitslose und Alleinerzieher und -erzieherinnen, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, war seit einiger Zeit bekannt, doch die thatcheristischen Reformen hatten wenig dazu beigetragen, dieses zu lösen. Es entstand zum Teil aus Veränderungen des Arbeitsmarktes, die der Thatcherismus beschleunigt hatte, und zum Teil aus dem einkommensabhängigen Unterstützungssystem in Großbritannien, das von der Regierung ausgeweitet worden war. Die Chancen der Arbeitslosen auf dauerhafte Ganztagsbeschäftigung sanken wegen der Prekarisierung des Sektors der ungelernten Arbeit und wegen des Lohndruckes im unteren Bereich des Arbeitsmarktes. Das reale Arbeitseinkommen, das in Beschäftigung abgegangene Arbeitslose erzielen konnten, war zwischen 1980 und 1996 (Bank of England 1996) kaum gestiegen. Zwischen 1978 und 1992 hatte es bei den realen Löhnen im mittleren Bereich einen 35%igen Anstieg gegeben und einen 50%igen bei den Spitzengehältern, doch die niedrigsten Löhne waren unverändert geblieben (Joseph Rowntree Foundation 1995). Die Deregulierung brachte eine starke Verringerung (von 91% im Jahr 1975 auf 70% im Jahre 1995) des Anteils der Beschäftigten, die über arbeitsrechtliche Schutzrechte verfügten (Gregg/Wadsworth 1996). Teilzeitarbeit, Outsourcing und andere abweichende Formen der Beschäftigung und der Selbständigkeit hatten enorm zugenommen, und ca. 70% der Zunahme der Anzahl der Beschäftigten im Jahr 1995 entfiel auf Teilzeitarbeitsplätze (Unemployment Unit 1996), die vor allem von verheirateten Frauen und Jugendlichen

angenommen

wurden.

Alle

diese

Faktoren

trugen

zur

Entstehung

einer

Arbeitslosigkeitsfalle bei, wo Anspruchsbezieher nur zögernd bereit waren, ihre Ansprüche zugunsten unsicherer, schlecht bezahlter und partieller Arbeitsmöglichkeiten im formellen Sektor aufzugeben. Für Alleinerzieherinnen stellte das Fehlen von erschwinglichen Möglichkeiten der 9

Kinderbetreuung sowie von Steuerbegünstigungen und anderen Konzessionen, die zur Teilnahme ermutigen hätten können, starke negative Anreize dar. All dies wurde noch durch das Steigen der Mieten verschärft – sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor betrug dieser Anstieg zwischen 1989 und 1994 real um die 75% (Ginsburg 1997) –, was die Aufwendungen, die aus dem laufenden Einkommen finanziert werden mußten, erhöhte. Teilweise in Reaktion auf diese problematischen Entwicklungen hatten die Regierungen Thatcher und Major eine Reihe von einkommensabhängigen Lohnsubventionen für niedrige Löhne eingeführt, vor allem für Familien mit Kindem. Die wichtigsten von diesen waren family credit und die Wohnbeihilfe, die von allen Mietem, nicht jedoch von Wohnungseigentümern, beansprucht werden konnte. Während sie in einem gewissen Ausmaß die Arbeitslosigkeitsfall entschärften (zumindest auf dem Papier), intensivierten und erweiterten sie die Armutsfalle. Zwischen Mai 1988 und Mai 1996 stieg die Anzahl der Bezieher von family credit von 190.000 auf 690.000, und die Durchschnittshöhe der Unterstützung wurde mehr als verdoppelt. Von den 4,8 Millionen Menschen, die im Jahr 1997 Wohnbeihilfe beanspruchten, waren 452.000 beschäftigt. Für jene, die sowohl family credit als auch Wohnbeihilfe bezogen, resultierte das Wegfallen dieser Unterstützungen mit steigendem Einkommen in sehr hohen effektiven Grenzsteuersätzen. In den Jahren 1996 und 1997 verloren 645.000 Menschen 70 Pence oder mehr in Abzügen von jedem Pfund, das sie verdienten, wobei die Einbuße von Naturalleistungen, wie z.B. die kostenlose zahnärztliche und augenärztliche Versorgung, noch gar nicht berücksichtigt ist (DSS 1997). Des weiteren bedeuteten die berüchtigten Verzögerungen vor allem der Auszahlung der Wohnbeihilfe und der Bearbeitung von Veränderungen bei allen einkommensabhängigen Unterstützungszahlungen, daß – sogar wenn die Unterstützten im Prinzip durch die Annahme verfügbarer Arbeitsplätze etwas zu gewinnen hätten – sie davon abgeschreckt wurden, da sich während der Behandlung ihrer Ansuchen um Unterstützung die Aussicht auf Verschuldung oder Obdachlosigkeit eröffnete; dieselbe Gefahr drohte auch, wenn sie nach dem Beschäftigungsverlust von neuem um Einkommensunterstützung ansuchen mußten (Millar et al. 1988, Jordan et al. 1992). Die Major-Regierung war unfähig und auch nicht willens, diese Probleme durch radikale positive Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsanreize zu behandeln; daher verfiel sie auf eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen und auf Kampagnen gegen "Sozialschmarotzer". Im Jahr 1995 wurde die Arbeitslosenunterstützung abgeschafft und von der "ArbeitsuchendenUnterstützung" abgelöst, die wesentlich strengere Bedingungen hinsichtlich der Zumutbarkeit von Arbeit und der Aktivität der Arbeitsuche vorsah. Alle vorgemerkten Arbeitslosen mußten einen 10

"Arbeitsuchendenvertrag" mit den mit der Unterstützung befaßten Behörden eingehen und Beweise für die Aktivitäten im Rahmen der Arbeitsuche (Bewerbungen, Anfragen) vorlegen. "Job-Clubs" wurden eingerichtet, um ziemlich elementare preisgünstige Hilfestellungen bei der Vorbereitung von Lebensläufen und der Entwicklung von Bewerbungsskills zu leisten. Gleichzeitig wurden innerhalb der Geschäftsstellen der Arbeitsmarktverwaltung nicht nur Betrugsdezernate eingerichtet, sondem die Öffentlichkeit wurde auch ermuntert, ihre Nachbarn wegen der Betätigung in der Schattenökonomie oder anderen devianten Handlungen über spezielle vertrauliche Rufnummern zu denunzieren. Die Ergebnisse dieser Maßnahmen zeigten sich in den sinkenden Zahlen der arbeitsfähigen männlichen Bezieher im Erwerbsalter Mitte der 90er Jahre. Zwischen September 1992 und Juni 1996 fiel die offiziell erfaßte männliche Arbeitslosigkeit um 544.000, und zwar von 2.161.000 auf 1.617.000. In dieser Zeit gab es jedoch lediglich eine Zunahme von 80.000 Ganztagsarbeitsplätzen für Männer und von 150.000 Teilzeitarbeitsplätzen (Department of Employment 1996). Es war jedoch Tony Blairs New-Labour-Regierung, die die Arbeitsmarktaktivierung als Schlüsselinstrument ihrer besehäftigungs- und wohlfahrtspolitischen Reformen einsetzte. Anders als jene John Majors war die neue Regierung vom Mai 1997 bereit und willens, Ressourcen auf verbesserte und ausgeweitete Schulungsmöglichkeiten aufzuwenden; ihr Versprechen, keine Einkommenssteuererhöhungen durchzuführen, wurde durch das Gelöbnis kompensiert, 3 ½ Milliarden Pfund einer "Gewinnsteuer" auf die privatisierten Versorgungsunternehmen einzuheben und diesem Programm zu widmen. Darüber hinaus verfügte die Regierung Blair über eine wesentlich ausgefeiltere Legitimierung der Aktivierung, die in engem Zusammenhang mit Ideen über die Bekämpfung der Armut und der sozialen Ausschließung im Dienste der sozialen Gerechtigkeit zusammenhing (Blair 1997, 1998). Schließlich knüpften sie noch an besondere Initiativen aus den letzten Major-Jahren an, wie z.B. an Pilotprojekte im Bereich des welfare-towork, strengere Tests für behinderte Bezieher und Anti-Mißbrauchsmaßnahmen, und verknüpfte all dies

in

einer

wesentlich

ehrgeizigeren

Gesamtstrategie,

um

die

Erwerbsteilnahme

der

Beziehergruppen zu steigern. Bei all dem waren Blair und sein Kabinett von den Ideen und Methoden der Regierung Clinton in den USA inspiriert (Waddan 1997, Jordan 1998), sowie von Aktivierungsstrategien in den anderen EU-Staaten, und vor allem durch Maßnahmen, die der sozialen Ausschließung entgegenwirken sollten. Das welfare-to-work-Programm war Teil einer "Strategie der nationalen Erneuerung", die die Wettbewerbsfähigkeit steigern und das Wirtschaftswachstum beschleunigen sollte. Die rhetorische 11

Rechtfertigung des Programmes basierte auf der Behauptung, daß "Arbeit der beste Weg aus der Armut" sei, und daß ein faires und wirksames System der Einkommenserhaltung daher "Arbeit für jene, die können, und Sicherheit für jene, die nicht können" (DSS 1998) bieten müßte. Das Ziel dabei war es, "einen neuen Vertrag zwischen Bürger und Staat" (Blair 1998, S. v) zu schaffen, in dem "das Wohlfahrtssystem rund um die Arbeitsethik" (DSS 1998, S. 3) aufgebaut wurde. Die geplanten Reformen würden den "Dritten Weg" verfolgen, "Gelegenheiten zu schaffen, anstelle von Abhängigkeiten" (ibid., S. 2) – und lieferten so ein Echo von Gordon Browns Ziel der Chancengleichheit durch den Arbeitsmarkt, anstelle der Egalisierung der Ergebnisse durch Umverteilung (Brown 1997). Ein ganzes Kapitel des Green Paper ( Kapitel 9) befaßte sich mit der Stärkung der Schutzmaßnahmen gegen Mißbrauch, da "Mißbrauch dem System Geld entnimmt, und damit auch den wirklich Bedürftigen" (S. 1). In seinen zusammenfassenden Bemerkungen zum Reformbedarf hob das Green Paper hervor, daß fast einer von fünf Haushalten von Personen im erwerbsfähigen Alter keine einzige formell beschäftigte Person aufwies, verglichen mit einem von zehn im Jahr 1979 (DSS 1998, S. 10)–trotz einer allgemeinen Erwerbsbeteiligung, die höher ist als in den meisten anderen Staaten der EU; damit wurde das Problem der Anreize für diese Gruppe zu einem wichtigen Reformziel. Man näherte sich ihm an, indem man einerseits einen landesweiten Mindestlohn einführte (schließlich wurde er auf dem niedrigen Niveau von 3.80 Pfund fixiert) und andererseits eine Steuerreform durchführte (ein neuer niedriger Anfangstarif von 10% plus Steuerbegünstigungen für beschäftigte Familien - Working Families Tax Credits -, um die family credits zu ersetzen). Doch die wichtigste Reform innerhalb des Unterstützungssystems selbst waren Strategien der Aktivierung – ein welfareto-work-Programm, das nach "einem kulturellem Wandel bei den Arbeitslosen, den Arbeitgebern und den Angehörigen des Arbeitsmarktservice, mit allseitigen Rechten und Verantwortlichkeiten", strebte, um das alte passive Unterstützungssystem zu zerschmettern" (S. 24). Die Regierung kündigte New Deals für Jugendliche, arbeitslose Alleinerzieherinnen, Behinderte und die Partner der Arbeitslosen an. Der New Deal für Jugendliche war darunter der ehrgeizigste und teuerste (er kostete 2,6 Milliarden Pfund) und bestand aus Lohnsubventionen für private Arbeitgeber, Vollzeitausbildung oder Schulung, Arbeit mit einer Organisation des freiwilligen Sektors oder Arbeit in der Umweltpflege, bot aber nicht die Möglichkeit, einfach zu Hause zu bleiben und die Unterstützung zu beziehen. Der New Deal für die Langzeitarbeitslosen stellte eine wesentlich bescheidenere Investition in die Schulung für Personen dar, die über 25 Jahre alt und seit mehr als zwei Jahren arbeitslos waren; die Maßnahme gründete auf "individualisierter Beratung, Anleitung und Hilfe" (S. 12

25). Der New Deal für Alleinerzieherinnen machte es für alle Teilnehmerinnen verpflichtend, sich Beratungsinterviews zu unterziehen, und offerierte Steuerbegünstigungen zur Finanzierung der Kinderbetreuung (Child Care Tax Credit) als Teil der allgemeinen Steuerbegünstigung für Familien (Working Families Tax Credit), sowie Ausbildung, Schulung und Beratung. Der New Deal für Behinderte wurde in Reaktion auf die Proteste verschiedener Lobbys beträchtlich modifiziert, doch werden die Bezieher von Beihilfen für Personen mit herabgesetzter Leistungsfähigkeit nun sehr streng getestet, ob sie sich für irgendeine Arbeit eignen; dies ist Teil der allgemeinen Oberprüfung aller derartiger Ansprüche. Das Aktivierungsprogramm der Regierung Blair basiert also auf einer Mischung zwischen workfare im US-amerikanischen Stil und einer stärker europäischen Betonung des Kampfes gegen den sozialen Ausschluß und des Versuches, es allen zu ermöglichen, zum Gemeinwohl beizutragen. Bei Perri 6, einem überzeugten Anhänger der Politik von New Labour, finden wir ein wirtschaftstheoretisch fundiertes Plädoyer zugunsten der Annahmen, auf denen dieses Modell basiert – daß ein Großteil der Arbeitslosigkeit funktional und nicht strukturell ist; daß die Nachfrage nach Arbeitskraft eine Funktion von so unbestimmten Faktoren wie der Innovation, der Entwicklung neuer Industriezweige und des unternehmerischen Verhaltens ist; daß Arbeitslosigkeit von Problemen des Humankapitals, der Qualifikationen und der Arbeitswilligkeit verursacht wird und nicht von Problemen der Arbeitsfähigkeit; und daß die Kosten, der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, politisch akzeptabler sind als die Kosten, nichts dagegen zu tun (6, 1998). Er argumentiert weiter, daß die moralische Rechtfertigung für die Zwangselemente des Pragrammes letztlich – trotz des emphatischen Bekenntnisses zur sozialen Gerechtigkeit durch soziale Einschließung – nicht in einer paternalistischen sozialdemokratischen Verpflichtung, einen Beitrag zu leisten, zu suchen ist, sondern in einer traditionelleren angelsächsischen Verpflichtung, den Steuerzahler nicht mehr zu belasten, als absolut notwendig ist. Daher die schärferen Sanktionen gegen jüngere, vor allem alleinstehende Arbeitslose, wie auch die höheren Mittel, die auf ihren New Deal aufgewendet werden. Im Schlußkapitel unseres Papers werden wir eine vorläufige Analyse dieser Maßnahmen liefern, also ihrer Ursprünge und ihrer bisherigen Konsequenzen, und zeigen, inwieweit sie sich vom dänischen Ansatz unterscheiden, der das Thema des nächsten Abschnittes darstellt.

13

3.4

Aktivierung in Dänemark

Anders

als

Schweden

war

Dänemark

traditionell

ein

Land,

das

innerhalb

eines

wohlfahrtsstaatlichen Regimes hohe Arbeitslosenraten aufzuweisen hatte – unmittelbar nach dem Krieg und wiederum in den 80er Jahren, als die offizielle dänische Arbeitslosenrate zwischen 8 und 11% lag, und jene Schwedens 2 oder 3% betrug (Marklund 1988, Nannestad 1991). Diese hohen offiziellen Arbeitslosenraten spiegeln die Passivität der Arbeitslosenunterstützungsprogramme ebenso

wider

wie

Arbeitsmarktfaktoren;

die

schwedischen

Zahlen

wurden

durch

Schulungsprogramme für Arbeitslose entscheidend gesenkt. Darüber hinaus verzichtete Dänemark im Gegensatz vor allem zu Deutschland (und zu Osterreich, A.d.U.) darauf, viele seiner Arbeitslosen als frühpensioniert zu reklassifizieren; auch wurde anders als im Vereinigten Königreich oder den Niederlanden darauf verzichtet, Arbeitslose als behindert oder als arbeitsunfähig zu reklassifizieren. Die Voraussetzungen des Arbeitslosengeldbezuges waren aus international ergleichender Perspektive eher großzügig. Die Anwartschaft auf Arbeitslosenunterstützung war erfüllt, wenn man ein Jahr lang in einen Arbeitslosenversicherungsfonds eingezahlt hatte und 26 Wochen lang beschäftigt gewesen war. Die Bezugszeit betrug, je nach den Umständen, sieben oder neun Jahre, wobei eine neue Anwartschaft nach 26 zusätzlichen Beschäftigungswochen gegeben war; in der Praxis wurden nur sehr wenige Personen aus dem System verstoßen. Da schließlich die Arbeitslosigkeit hoch war und die Zahl der offenen Stellen gering, wurde die Bedingung der aktiven Arbeitsuche in der Praxis kaum durchgesetzt (Loftager 1998). Die Sozialhilfe beruhte auf dem Prinzip des Ersatzes für ein nicht vorhandenes Einkommen, um den normalen Lebensstandard der Betroffenen zu sichern, und wurde tatsächlich für jene, die gegenüber dem Arbeitslosenunterstützungssystem nicht bezugsberechtigt waren, zu einer dauerhaften Alternative. Reformmaßnahmen in der Zeit vor dem Jahr 1993 ziehen vor allem darauf, es verschiedenen Kategorien von Arbeitskräften zu ermöglichen, den Arbeitsmarkt zu verlassen, um jüngeren Personen Platz zu machen. Die erste von diesen war ein Frühpensionierungsprogramm, und dieses stieß auf derart begeisterten Zuspruch, daß der Zugang dazu Ende der 80er Jahre beschränkt und im darauffolgenden Jahrzehnt weitgehend eliminiert wurde. Die zweite Maßnahme hestand aus dem temporären Austritt aus dem Arbeitsmarkt, um sich Sabbati,als, der Kindererziehung und der Umschulung zu widmen; das Programm sollte seine Teilnehmer dafür entschädigen, daß sie an Aktivitäten mitwirkten, die vom Arbeitsmarkt nicht honoriert wurden. Auch hier war es Teil der 14

Rechtfertigung des Programms, Möglichkeiten für jüngere Arbeitskräfte zu schaffen, die die Beurlaubten ersetzen würden. Diese Programme waren sehr erfolgreich, da sehr viele Personen auf diese Möglichkeiten zurückgriffen, doch haperte es bei der Ersetzung der Abgegangenen. So etwa gingen viele Krankenschwestern in Karenz, doch der hohe Spezialisierungsgrad ihrer Ausbildung erschwerte es, sie zu ersetzen, und verursachte einen Schwesternmangel (Kremer 1995). In einer Berufsgruppe (jener der Straßenkehrer) organisierten sich die Arbeiter in der Weise, daß sie die bezahlten Urlaube unter sich aufteilten, und reduzierten so ihre Arbeitsstunden. Da die Beschäftigten das Recht haben, ihre Arbeitsplätze tu behalten, und da die arbeitsrechtliche Gesetzgebung es schwierig macht, neue Beschäftigte zu entlassen, sind Arbeitgeber davor zurückgeschreckt, Ersatzarbeitskräfte einzustellen; statt dessen scheinen sie es vorgezogen zu haben, die Vertretungsprogramme zur Senkung ihrer Personalkosten zu verwenden. Da die Beliebtheit dieser Programme die Wohlfahrtsausgaben ansteigen ließ, gerieten sie unter Beschuß, und im Jahr 1995 gebot die dänische Regierung ihrem Wachstum Einhalt; das Sabbatical wurde abgeschafft, die Karenzgelder gesenkt und die Vertretung durch strengere Bedingungen geregelt. Zu diesem Zeitpunkt wurden Aktivierungsstrategien – die parallel zu diesen "Deaktivierungs"-Maßnahmen eingeführt worden waren – zum wichtigsten Instrument der Sozialpolitik der Regierung. Ein frühes Aktivierungsprojekt war das Soziale Innovationsprogramm (SUM), das 1988 für einen Zeitraum von drei Jahren eingerichtet wurde. Es war der Zweck dieses Pragrammes, dem sozialen Ausschluß und vor allem der Passivität des Leistungsbezuges entgegenzuwirken, indem die Isolation von der Arbeit und vom Freundeskreis bekämpft wurde und die Probleme der Depression und des Alkoholismus, die man als mit dem sozialen Ausschluß und der Inaktivität verknüpft empfand, in Angriff genommen wurden. Das SUM-Programm vergab finanzielle Mittel im Wert von 350 Millionen dänischen Kronen für Projekte, die das Ziel hatten, auf der Gemeindeebene Gelegenheiten zu Aktivitäten und zur gesellschaftlichen Teilnahme zu schaffen (Sozialministerium 1988). Ungefähr zur selben Zeit verschaffte ein Gesetz zur aktiven Arbeitsmarktpolitik Arbeitslosen das Recht, zu arbeiten und Hilfe in Anspruch zu nehmen, doch legte es den Belegschaften der die Unterstützung leistenden Institutionen die Pflicht auf, bei der Überleitung der betroffenen Individuen in die Beschäftigung eine aktive Rolle einzunehmen (Torfing 1997). Eine Parallele dazu schuf das Gesetz über die Aktivierung auf Gemeindeebene, und zwar im Bereich der Sozialhilfe; die Administration der Sozialhilfe wurde auf die lokale Ebene verlagert, zusammen mit der Verpflichtung, Sozialhilfebezieher zu aktivieren (Bogason 1990). Die jeweiligen örtlichen 15

Verwaltungen haben dieses Gesetz verschieden ausgelegt, so daß eine breite Palette von Aktivierungsmaßnahmen auf der lokalen Ebene entstanden ist. Noch bevor sich Mitte der 90er Jahre die Regierungspolitik drastisch wandelte, war auf diese Weise bereits die Grundlage für die Aktivierung im Rahmen des Unterstützungssystems geschaffen worden. Allerdings riefen die wichtigsten Merkmale des dänischen Wohlfahrtsregimes – Großzügigkeit und Voraussetzungslosigkeit – eine Diskussion hervor, ob das Land sich einem voll entwickelten System des Grundeinkommens annähern sollte, bei dem alle Bürger, unabhängig von ihrer Arbeitsfähigkeit und ihrem Arbeitsmarkt- bzw. Haushaltsstatus, Anspruch auf ein staatlich finanziertes Subsistenzeinkommen hätten. Im Jahr 1993 schlug die Jahreskonferenz der Radikalliberalen Partei die Aufnahme des Grundeinkommens in das Parteiprogramm vor, was die Parteivorsitzende, die Wirtschaftsministerin Marianne Jelved dazu bewog, eine Untersuchung der ökonomischen Implikationen des Grundeinkommens durchführen zu lassen. Die Zusammenfassung des Ergebnisses dieser Analyse hielt folgendes fest: „... ein Grundeinkommen (eine Sockelzahlung der Regierung an alle Bürger und Bürgerinnen) könnte das wohlfahrtsstaatliche System drastisch vereinfachen, die Beschäftigung marginaler Gruppen verbessern und die Erwerbsbeteiligung stimulieren, doch wäre ein solches Programm durch das Steueraufkommen nicht zu finanzieren (in manchen Fällen würde der Grenzsteuersatz 100% übersteigen). Ein modifiziertes Bürgergeld würde nicht über die attraktiven Eigenschaften des 'reinen' Programmes verfügen" (Økonomi-Ministeriet 1993, S. 242). Diese zentrale Botschaft wurde von den Medien und der öffentlichen Meinung sehr bald aufgegriffen, und in den wichtigsten Zeitungen erschienen Artikel führender Politiker und Analysen, die betonten, daß das Grundeinkommen "ökonomischer Unfug" wäre (Christensen 1994). Daher verlor die Idee einen Großteil ihrer Unterstützung innerhalb der Radikalliberalen Partei und wurde 1994 aus dem Parteiprogramm gestrichen (wie es auch im vorhergehenden Jahr die britischen Liberaldemokraten getan hatten). Die Idee erschien durch diesen Schlag gegen ihre ökonomische Glaubwürdigkeit von der politischen Tagesordnung verdrängt. Gleichzeitig begann die Aktivierung die sozialpolitischen Debatten zu beherrschen, vor allem als Kontrastprogramm zum Grundeinkonunen und zum Muster der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung in den frühen 90er Jahren (Gout Andersen 1996). In den Diskussionen und Analysen wurde es zum Gemeinplatz, die Gefahr heraufzubeschwören, daß das Grundeinkommen "durch die Hintertür" eingeführt werden könnte (Ølgaard 1995). Im Jahr 1995 wurde Aktivierung zu einem Eckpfeiler der 16

Regierungspolitik, wobei das Grundeinkommen zum Buhmann wurde, als Gegenteil dessen, was ein realistischer und effektiver Wohlfahrtsstaat bezwecken sollte. Jedoch ähneln weder der Kontext noch die ergriffenen Maßnahmen in Dänemark jenen im Vereinigten Königreich; sie haben eine stärkere Ähnlichkeit mit Aktivierungsprogrammen in den Niederlanden (Cox 1998). Erstens bedeutet die Tatsache, daß die Ersatzrate (um die 90% für niedrige Einkommensgruppen) so hoch ist und daß der Mindestlohn (mit 8.50 Pfund) ebenfalls wesentlich höher ist als im Vereinigten Königreich, daß negative Anreize von der Großzügigkeit des Wohlfahrtsregimes

herrühren,

statt

von

der

Kombination

aus

Niedriglöhnen,

aus

einkommensabhängigen Lohnsubventionen und Besteuerungsmechanismen wie im Vereinigten Königreich. Die einzige wirkliche Parallele zwischen den beiden Arbeitsmärkten besteht darin, daß der dänische, verglichen mit Kontinentaleuropa, eine niedrige Arbeitsplatzsicherheit aufweist, da das Vorherrschen von Klein- und Mittelunternehmen in Dänemark eine Politik der Flexibilisierung, die im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit steht, ermutigt hat (Goul Andersen 1996). Des weiteren hat Dänemark seit Beginn der 90er Jahre die niedrigste Rate der Dauerarbeitslosigkeit in der Europäischen Union aufgewiesen (European Commission 1994, S. 148), da die Arbeitslosen gelegentlich zumindest kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse eingehen und ebenfalls in Aktivierungsprogramme eintreten können, die ihre Arbeitslosigkeit unterbrechen (Goul Andersen 1996). All dies bedeutet, daß Dänemark seit Mitte der 80er Jahre die höchsten öffentlichen Ausgaben für sowohl aktive als auch passive Programme für Arbeitslose aufzuweisen hatte. Eine Untersuchung der Europäischen Kommission im Jahr 1994 zeigte, daß die dänischen Regierungsausgaben für passive Programme im Jahr 1985 bei ungefähr 4% des Bruttosozialproduktes lagen und bei 5% im Jahr 1992, verglichen mit 2,5% bzw. 2% im Vereinigten Königreich; auf aktive Programme wandte Dänemark 1985 1% und 1992 fast 2% auf, wiederum mehr als das Doppelte des Vereinigten Königreiches,

dessen

Aktivierungsmaßnahmen

in

diesem

Zeitraum

als

Anteil

des

Bruttosozialprodukts tatsächlich zurückgingen (European Commission 1994, S. 152). Darüber hinaus hatte Dänemark den bei weitem niedrigsten Anteil von Haushalten unterhalb der Armutsgrenze mit einem arbeitslosen Haushaltsvorstand in der EU, nämlich 3%, verglichen mit 50% im Vereinigten Königreich und 45% in Deutschland (European Commission, 1994, S. 141). Untersuchungen der wirtschaftlichen Schattenaktivität ("Pfuschen") in Dänemark zeigten, daß Arbeitslose nicht häufiger mit Schwarzarbeit befaßt sind als Beschäftigte (Pedersen/Smith 1998, S. 92 und S. 97). 17

Trotz dieser positiven Merkmale der dänischen Ökonomie und des dänischen Wohlfahrtsstaates hat es eine Kampagne in Richtung einer Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für Unterstützungszahlungen gegeben. Im Budget 1998 wurde die Zeitspanne der Unterstützung von fünf auf vier Jahre reduziert, wobei die letzten drei Jahre die "Aktivierungsperiode" darstellen, während der die Bezieher sich einem "individuellen Aktivitätsplan" unterwerfen müssen. Mancherorts hörte man den Kommentar, daß die Tatsache, daß Individuen bei der Verfassung dieser Pläne mitwirken, sie in die Lage versetzt, "Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen", "an einem neuen selbstbestimmten Lebensprojekt teilzunehmen" und soziale Integration "durch individuelle Reflexivität und Autonomie des Handelns" zu erreichen — und daß dieses System daher nicht wirklich als workfare aufgefaßt werden könne (Jensen 1999, S. 14). Dem wurde allerdings kritisch entgegengehalten, daß diese Position den Forschungsergebnissen über die Aktivierungskohorten nicht gerecht wird. Trotz Ansätzen der Individualisierung sind Aktivitätspläne großteils standardisierte Pakete. Vor allem schlägt sich im Plan die Machtbeziehung nieder, auf Grund derer die leistungsgewährenden Behörden ihre Zahlungen einstellen können, wenn sie den Inhalt oder die Umsetzung des Planes mißbilligen (Loftager 1997, S. 147f.). Darüber hinaus haben andere Studien festgestellt, daß die Betroffenen über Einbußen ihrer persönlichen Freiheit und Autonomie berichten, da die finanziellen Leistungen von der Einhaltung des Planes abhängen (Weise/Bogaard 1997, S. 138-140). In 20% der Fälle haben die Aktivitätspläne die Jobprioritäten der Betroffenen nicht widergespiegelt (Jǿrgenson/Ho 1999, S. 151). Schließlich besteht am Ende der Aktivierungsperiode kein Recht auf neuerlichen Arbeitslosengeldbezug. Trotz der positiv klingenden Begründungen der Aktivierungsstrategien, die auch im Vereinten Königreich vergleichbar sind — soziale Einschließung und die Bekämpfung von Abhängigkeit und des Verlustes von Engagement und Verantwortlichkeit — und trotz des unterschiedlichen ökonomischen Kontextes hat das dänische Modell einige Parallelen zu jenem des Vereinigten Königreiches aufzuweisen. Die New-Labour-Regierung im Vereinigten Königreich hat ihr Programm allerdings im Zeichen des moralischen Engagements zugunsten einer "Unterklasse, die in Wirtschaft und Gesellschaft marginalisiert ist, begonnen (Jordan et al. 1998). Für Dänemark zeigen Studien, daß in einer prosperierenden Ökonomie mit einem großzügigen Wohlfahrtsstaat angebotseilige Probleme und Marginalisierungen nicht unbedingt auftreten müssen. Eine Analyse des Arbeitsministeriums (1998) fand erneut, daß Langzeitarbeitslosigkeit nicht zum sozialen Ausschluß zu führen scheint (Arbejdsministeriet 1998). Goul Andersen (1997) liefert einen Überblick über empirisches Beweismaterial zur Marginalisierung der Arbeitslosen in Dänemark und 18

fand nur wenige Hinweise darauf. Die meisten Arbeitslosen (60%) sind Frauen; mehr als ein Viertel der Befragten berichteten eine Verbesserung ihrer Allgemeinverfassung, seit sie arbeitslos geworden waren, verglichen mit einem Drittel, die eine Verschlechterung festgestellt hatten; 28% hatten mehr Kontakt mit Freunden und nur 12% weniger. Auf die Frage, ob sie sich längerfristig mit einem Leben als Arbeitslosengeldbezieher abfinden könnten, gaben 44% an, daß ihnen dies willkommen wäre, und nur 27% gaben an, daß sie das nicht akzeptieren würden. (lout Andersen kommt zum Schluß: „Tatsächlich gibt es Marginalisierung, doch ist sie ein Minderheitenphänomen, das mit der typischen Situation jener, die auf dem Arbeitsmarkt marginalisiert werden, nicht verwechselt werden sollte ... die Frage scheint eher zu sein, ob der Wohlfahrtsstaat nicht allzu erfolgreich bei der Vermeidung von sozialer Marginalisierung war und dadurch einen der wichtigen nicht-wirtschaftlichen Arbeitsanreize eliminiert hatte" (1996, S. 175). Was die politische Marginalisierung anging, fand er in einer Wähleruntersuchung bei den 12%, die sich als arbeitslos deklarierten, keine Anzeichen spezifischer politischer Haltungen oder Verhaltensweisen; da ca. die Hälfte der dänischen Bevölkerung zu irgendeinem Zeitpunkt von Arbeitslosigkeit betroffen war, von denen ein Drittel öffentlich Bedienstete waren, erwiesen sich die Solidarität und die Loyalität gegenüber dem Wohlfahrtsstaat als Bollwerke gegen die politische Marginalisierung (Goul Andersen 1996, S. 178-181).

3.5

Schlußfolgerungen

Sowohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die Umsetzungspraxis der britischen und dänischen Aktivierungsprogramme sind sehr verschieden voneinander, doch paßt keines zu den erwarteten "liberalen" oder "sozialdemo-kratischen" Modellen. Im Vereinigten Königreich war die Aktivierung als, Reaktion auf die seit langem erkannte Bedeutung von Anreizproblemen eingeführt worden, die mit einkommensabhängigen Lohnsubventionen, verschärfte Besteuerung niedriger Einkommen und der Hyperprekarisierung des Arbeitsmarktes verknüpft waren (Jordan 1995, 1996). Wäre ein lebhafter Arbeitsmarkt in der Lage gewesen, Leute aus der Arbeitslosigkeit herauszulocken, Strafmaßnahmen,

dann die

hat m

sich den

das

Arsenal

Leistungen

der

verknüpft

Bedingungen, waren,

der

erübrigt;

Sanktionen auch

wären

und die 19

"individualisierten Beratungs- und Hilfsangebote" der Arbeitsmarktverwaltung, die Teil des Programmes von New Labour darstellen, nicht notwendig gewesen. Zunehmende Hinweise auf Betätigung der Arbeitslosen im Sektor der Schattenökonomie (Jordan et al. 1992, Evason/Woods 1995, Rowlingson et al. 1997) stellten eine klare Verknüpfung zwischen einer auf Bargeldbasis operierenden Ökonomie, kurzfristiger Schwarzarbeit und einem Unterstützungssystem her, das weder die Kosten des langfristigen Überlebens für Familien abdeckte noch hinreichend flexibel auf Veränderungen der Umstände reagieren konnte. Die Ausweitung der Maßnahmen, die sich gegen den "Mißbrauch" richten, muß daher im Kontext eines deregulierten Arbeitsmarktes mit hemmungslosem Wettbewerb zwischen Individuen und Gruppen gesehen werden, der die Löhne und die Qualität der Arbeitsbedingungen nach unten drückt – das Vermächtnis des Thatcherismus. Das Aktivierungsprogramm von New Labour ist Teil eines allgemeineren Versuches, einerseits die Ökonomie zu regulieren und andererseits das Unterstützungssystem an Anreizen zur erhöhten Erwerbsbeteiligung zu reorientieren (Jordan/Travers 1998). In Dänemark wandte sich eine ähnliche Rhetorik der sozialen Einschließung und der Verantwortlichkeit ganz anderen Problemen zu – jenen eines Unterstützungssystems, dessen Großzügigkeit

und

Nachgiebigkeit

es

als

dem

gänzlichen

Universalismus

und

der

Voraussetzungslosigkeit zustrebend erscheinen ließ. Aktivierungsprogramme zielten daher mindestens ebenso auf eine Veränderung der sozialpolitischen Orientierung des dänischen Wohlfahrtsstaates ab wie auf eine Modifizierung der Einstellungen und Verhaltensweisen der Arbeitslosen. Darüber hinaus belegen Untersuchungen die Tatsache, daß diese Akzentverlagerung die Betroffenen noch nicht sehr stark beeinflußt hat. Goul Andersens Analyse des dänischen Arbeitslosensurveys klassifizierte die Befragten in die Inaktiven (17,4%), die kein Interesse an einem Job haben und sehr wenig unternehmen, um einen zu finden, die Geschäftigen (16,6%), die im Prinzip einen Job wollen, jedoch nicht gerade jetzt, da sie anderweitig beschäftigt sind; die Zögerlichen (13,5%), die sich vor allem deswegen auf Arbeitsuche befinden, weil sie dies müssen; und die Aktiven (52,5%), die einen Arbeitsplatz wollen und auch suchen (Goul Andersen 1996, S. 182). Angesichts der Lebhaftigkeit des dänischen Arbeitsmarktes und der hervorragenden Aussichten, aus dem Arbeitslosenbezug in vergleichsweise gut bezahlte Arbeit abzugehen, stehen diese Zahlen im Widerspruch zu den Behauptungen der britischen Regierung, daß die überwältigende Mehrheit der Arbeitslosen eine Beschäftigung sucht und soll dies auch auf Alleinerzieherinnen und Behinderte zutrifft (DSS 1998). 20

Was bedeuten also die Aktivierungsprogramme für die Entwicklung der Sozialpolitik in der EU? In manchen Kommentaren wird dies als Teil der Transformation sozialer Rechte dargestellt – und nicht bloß als eine Wandlung der Wohlfahrtssysteme "von Sicherheitsnetzen zu Trampolinen" (Cox 1998), sondern sogar von solidaristischen Prinzipien in Richtung einer Leistungsorientierung; von sozialen Rechten zu Rechten-mit-Verantwortung und von einförmigen Regeln zu der Überprüfung von Einzelfällen. "Diese Veränderungen haben eine starker diskursive Auffassung von Rechten herbeigeführt, derzufolge die formalen rechtlichen Bedingungen, die einst als Wesensmerkmal progressiver Sozialpolitik aufgefaßt wurden, nun als unflexibel und unpersönlich betrachtet werden" (Cox 1999, S. 19). Sicherlich trifft diese Analyse bis zu einem gewissen Maß auf das umfassende Reformprogramm der britischen Regierung im Einklang mit einem seiner selbstbewussten Dritten Weg der politischen und sozialen Theorie zu (Blair 1998, Giddens 1998). Einige würden behaupten, daß Soziale Rechte, die in einem derartigen Ausmaß mit Bedingungen, Kautelen und reziproken Verpflichtungen verknüpft sind, wie dies im Vereinigten Königreich der Fall ist, überhaupt keine Rechte mehr sind (Jordan 1998). Doch kann von Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und sogar Irland nicht dasselbe gesagt werden, wo die Aktivierung zwar sicherlich die frühere Orientierung des Wohlfahrtssystems verändert hat, jedoch starke Traditionen der Berechtigung, des wechselseitigen Respektes und der Solidarität fortbestehen und die Betroffenen ein beträchtliches Ausmaß von Autonomie in ihrer Lebensführung bewahren, während sie gleichzeitig einen verbesserten Zugang zum Arbeitsmarkt gewinnen. Aufschlüsse über die Dauerhaftigkeit und das Durchsetzungsvermögen von Aktivierungsideen wird die zukünftige Karriere des Vorschlages des Grundeinkommens in den sozialpolitischen Diskussionen eröffnen. Wie wir argumentiert haben, war die Wahrnehmung eines Abdriftens in diese Richtung der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung einer der wesentlichen Faktoren der verstärkten Aktivierung in Dänemark – eine Art von "negativem Bekehrungs"-Erlebnis, was die Idee des Grundeinkommens angeht. Doch gelang es der dem Grundeinkommen gewidmeten negativen Publizität irgendwie, ein vertieftes Verständnis dieses Programms zu erzeugen; sie hat es in der dänischen allgemeinen Öffentlichkeit keinesfalls diskreditiert, ganz im Gegensatz zu den politischen Eliten. Einerseits plädierten die Wähler für work-sharing, wo bezahlte Urlaubs aufgeteilt wird, was im Effekt auf ein partielles Grundeinkommen zur Unterstützung von Teilzeitarbeit hinausläuft; 83% der Befragten bevorzugten die sogenannte "Straßenkehrermodell" des Teilens von Arbeit (Goul And 1995, S. 28). Andererseits hielten 40% das vollentwickelte Grundeinkommen für eine "gute" 21

Idee, während 46% es für eine "schlechte" Idee hielten, und 14' mit "weiß nicht" antworteten; lediglich jüngere Befragte sprachen sich entschieden gegen diesen Vorschlag aus. Zusammen mit den Anzeichen einer intensiven Diskussion über das Grundeinkommen in einigen der kleineren Länder der EU (zum Beispiel Holland, Belgien und Irland) weist dies darauf hin, daß Aktivierung nur eine der wichtigen neuen Entwicklungen des Wohlfahrtsstaates darstellt. Auch wenn die politischen Eliten nur schwerlich vom Grundeinkommen als explizitem Reformziel überzeugt werden können – vor allem in Ländern wie Großbritannien, die protestantische Arbeitsethik stark entwickelt und die Abneigung gegen "something for nothing" besonders stark ist–, besteht die Chance, daß Prozesse der Steuerreform und der Integration von steuerlichen Vergünstigungen unaufhaltsam (auf dem Weg über Steuergutschriften) zu einem allgemeinen voraus setzungslosen Grundeinkommen führen werden. Wie es ein frischer Spitzenbeamter jedoch vor kurzem formulierte, werden die Regierungen vermutlich "rücklings in diesen Zugang hineinstolpern", statt sich im Stile von Paulus ihm bekehren zu lassen (Jordan 1999). Im Kontext der heute ablaufenden komplexen Transformationsprozesse der Sozialpolitik werden wir ausschließlich mit gemischten Fällen, mit neuen Kombinationen und paradoxen Auflösungen scheinbarer Widersprüche konfrontiert werden.

(Aus dem Englischen von H. G. Zilian)

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25

4 Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland Luc Sels und Geert van Hootegem Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

4.1

Einleitung

Der Arbeitsmarkt ist kein vollkommener Markt. Wird er sich selbst überlassen, dann entstehen aus der Funktionsweise dieses Marktes soziale Probleme, auf die häufig mit Regulierungen reagiert wurde. Nach Auffassung mancher Ökonomen und Politiker hat die Regulierung heute ausgedient und wurde selbst zum Teil des Problems. Durch die Stärkung der marktwirtschaftlichen Aspekte des Arbeitsmarktes hoffen sie, dessen Funktionsweise verbessern zu können. Dieses Argument zugunsten der Stärkung der Marktkräfte übt unter anderem Druck auf das System des Kündigungsschutzes und auf die Regulierung der flexiblen Beschäftigung aus. Es ist daher zum Teil ein Argument gegen die relative Arbeitsplatzsicherheit und zugunsten einer höheren vertraglichen Flexibilität. Die relative Arbeitsplatzsicherheit, so wird behauptet, würde die Fähigkeit beeinträchtigen, das Ausmaß, die Zusammensetzung, die Reaktionsfähigkeit und die Kosten

des

Personaleinsatzes

an

die

Organisationsziele

anzupassen,

während

der

Kündigungsschutz die Ersetzung von Arbeit durch Kapital beschleunigen und den Umschlag des Beschäftigtenpotentials behindern würde. hin zu stark ausgebauter Schutz der "Insider", so die Idee, würde mit der Verbesserung der Chancen von "Outsidern", in den Arbeitsmarkt einzutreten, in Konflikt geraten. Im vorliegenden Paper sind drei Ziele ineinander verflochten. Wir beginnen mit einer kritischen Einschätzung der theoretischen Argumente zugunsten eines Abbaus des Kündigungsschutzes und der Verwendung flexibler Arbeitsverhältnisse. Wir werden zweitens auf dieser theoretischen Grundlage einen Vergleich der belgischen und der holländischen Gesetzgebung hinsichtlich der vertraglichen und zeitlichen Flexibilität durchführen. Schließlich werden wir uns mit der Frage befassen, ob Unterschiede des jeweiligen institutionellen Rahmens zu Unterschieden bei der Verfolgung von Flexibilitätszielen durch einzelne Unternehmen führen. Die zentrale Frage hier ist die, ob der institutionelle Rahmen die Personalplanung der Firmen bestimmt. Die Entscheidung, Belgien und Holland zu vergleichen, wurde nicht zufällig getroffen. Eine stets wachsende Zahl der flämischen Verantwortlichen für den Arbeitsmarkt haben begonnen, Holland als ein "Modell" zu betrachten. Die Niederlande scheinen bei der Anpassung ihrer sozioökonomischen Institutionen an die Erfordernisse der sich wandelnden Situation erfolgreicher zu sein als irgendein anderes Land der EU. Es besteht daher die Tendenz, die Ansätze einer ausgereiften flämischen Sozial- und Wirtschaftspolitik bei den nördlichen Nachbarn zu suchen. Die bei der Hervorbringung des niederländischen "Wunders" verfolgten Wege waren 3

hauptsächlich

folgende:

Stärkung

der

Wirtschaft,

Herabsetzung

der

Arbeitgeberbeiträge,

Arbeitsplatzbeschaffung für die niedrig Qualifizierten und Anreize, um Arbeitslosengeldbezieher zu ermutigen, Arbeit zu suchen. Doch flämische Kommentatoren des holländischen Wunders beziehen

sich

auch

häufig

auf

die

größere

Flexibilität

des

Arbeitseinsatzes;

und

die'

Durchschnittsanteile der temporären oder in Leiharbeit oder Teilzeitarbeit' Beschäftigten als Teil der Gesamtbeschäftigung sind in der Tat in Belgien. wesentlich niedriger. Die OECD bringt diesen "Mangel" mit einem Übermaß von Schutzbestimmungen in Verbindung. Über die "Belgosklerose" heißt es, sie würde die Lohnkosten hinauftreiben, die Mobilität beeinträchtigen, der Arbeitsplatzschaffung entgegenwirken und den Gesamteinsatz von Arbeitsstunden behindern. Wir wenden uns zunächst einer Bewertung dieser Kritikpunkte zu.

4.2

Argumente zugunsten "flexibler" Regulierungen

Die ökonomische Literatur schenkt der Frage der Auswirkungen der Deregulierung des Systems des Kündigungsschutzes sehr viel Aufmerksamkeit. Diese Deregulierung kann explizite oder implizite

Formen

annehmen

(OECD

1993).

Im

ersteren

Fall

werden

die

Kündigungsbestimmungen gelockert (durch eine Senkung der Abfertigungen, eine Verkürzung der Kündigungsfristen oder durch eine Aufweichung des Erfordernisses, Kündigungen oder Entlassungen voranzumelden usw.). Im Fall der impliziten Aufweichung der Regulierungen bleibt das Kündigungsrecht bei Normalarbeitsverhältnissen in unveränderter Form aufrecht. Parallel zu den geschützten Normalarbeitsverhältnissen wird allerdings ein System flexibler Alternativen aufgebaut – von z.B. befristeter Beschäftigung oder Leiharbeit –, die verwendet werden können, um die vertragliche Flexibilität zu verbessern. Sowohl die explizite als auch die implizite Variante kann zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses führen (Mückenberger 1989). Mehrere Mitgliedsstaaten der EU haben in den 80er und 90er Jahren die relative Arbeitsplatzsicherheit abgeschwächt, manchmal explizit, doch häufiger implizit. Daraus entsteht die Frage, auf welche Überlegungen sich die Behauptung stützt, daß derartige explizite und/oder implizite Deregulierung die Funktionsweise von Unternehmen sowie des Arbeitsmarktes verbessert; sowie die Frage, welche Gegenargumente sich in diesem Zusammenhang finden lassen. 4

Ein erstes Argument geht davon aus, daß Einschränkungen des Kündigungs- rechtes und der vertraglichen Flexibilität die Anpassung der Personalkapazität verzögern. Daher führen sie zu höheren Arbeitsfixkosten und behindern die Ausbildung einer ausreichenden Flexibilität des Personaleinsatzes. Unserer Auffassung nach tendiert man jedoch in diesem Bereich dazu, voreilige und allzu weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen. Man

über

sieht allzu leicht die

Frage, wieviel Flexibilität gewonnen werden kann, ohne das Normalarbeitsverhältnis zu beeinträchtigen, z.B. indem man in stärkerem Maß auf Formen der erhöhten zeitlichen Flexibilität zurückgreift. Bevor wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen, möchten wir einige weitere wichtige Argumente auflisten. Ein

zweites

Argument

stützt

sich

auf

die

negativen

Auswirkungen

der

relativen

Arbeitsplatzsicherheit auf Motivation und Leistung. Relative Arbeitsplatzsicherheit erschwert es, die weniger leistungswilligen Arbeitskräfte zu sanktionieren. Abstriche von dieser Form der Sicherheit werden dann als Disziplinierungsmittel vorgeschlagen. Dem Argument zugrunde liegt die Idee des strategischen Einsatzes von Arbeitsplatzunsicherheit – eine Idee, die angesichts der Forschungsergebnisse über die Auswirkungen von Arbeitsplatzunsicherheit nicht gänzlich unbedenklich ist (De Witte 1996). Vor allem, wenn die erhöhte vertragliche Flexibilität von den ad-hoc-Entscheidungen der Arbeitgeber abhängt, entstehen sehr häufig unvorhergesehene Kosten durch Fehlzeiten und mangelndes Engagement und Loyalität (Delsen 1995). Ein drittes Argument knüpft vor allem an die Konsequenzen hoher Entlassungskosten an. Lange Kündigungsfristen und hohe Abfertigungen stellen potentielle Arbeitskosten dar, die die Nachfrage nach Arbeitskraft dämpfen und die Substitution von Arbeit durch Kapital beschleunigen (OECD 1993). Strenge Kündigungsbedingungen verleiten nicht nur dazu, sich auf "Aushilfen" (Mosley 1994) zu stützen, sondern senken auch die Erwerbsbeteiligung (Lazear 1990). Aus diesem Argumentationsstrang ergibt sich, daß der Abbau der Kündigungsschutzbestimmungen zu einer höheren Nachfrage nach Arbeits

führen

wird.

Die

Beziehung

zwischen

den

Entlassungskosten und der Nachfrage nach Arbeitskraft ist allerdings relativ komplex. In Ländern mit einer restriktiven Regelung der Kündigung (hohen Entlassungskosten), kann es geschehen, daß die Beschäftigung im Wirtschaftsaufschwung langsamer wächst, doch dies kann dadurch kompensiert werden, daß sich im Abschwung der Abbau der Beschäftigung verringert. Daher kommen Bentolila und Bertola (1990) zum Schluß, daß hohe Entlassungskosten einen vernachlässigenswerten Effekt auf das durchschnittliche Beschäftigungsniveau haben. Es ist 5

jedoch

tatsächlich

so,

daß

die

Arbeitslosigkeit

in

Ländern

mit

strengen

Kündigungsbestimmungen sich häufiger zur Dauerarbeitslosigkeit verhärtet (Bertola 1990). Ein starker Kündigungsschutz beeinflußt also die Rekrutierungsmuster in Phasen des ökonomischen

Aufschwungs,

hat

jedoch

auch

dämpfende

Auswirkungen

auf

die

Entlassungsmuster (Mayes/Soteri 1994), eben weil er eine "Rigidität" darstellt, die Unternehmen auf alternative Anpassungsstrategien verweist, die sich weniger schädlich auf die Arbeitsplatzsicherheit und die finanzielle Sicherheit der Beschäftigten auswirken. Eine ähnliche

Beziehung

dürfte

zwischen

der

vertraglichen

Flexibilität

und

der

Beschäftigungsentwicklung bestehen. Delsen und De Jong (1997) z.B. kritisieren die Art und Weise, in der das allgemein bejubelte Beschäftigungswachstum in den Niederlanden zustande gekommen ist. Dieses Wachstum ist vor allem auf eine Zunahme flexibler Jobs zurückzuführen, deren Bestand eng an den Konjunkturzyklus gekoppelt ist (befristete Beschäftigung, Vertretungen und Verträge, die für weniger als ein Jahr abgeschlossen werden). Daher besteht die Gefahr, daß anläßlich einer Rezession die Niederlande in größerem Ausmaß als andere Mitgliedsstaaten der EU mit einer hohen Anzahl von Entlassenen und rapid steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert sein werden. Auch dieses Gegenargument klingt den Anhängern der erhöhten Flexibilität nicht gänzlich überzeugend,

da,

wie

sie

in

einem

vierten

Argument

behaupten,

die

relative

Arbeitsplatzsicherheit die Dynamik der Einstellungen und der Arbeitslosigkeit senkt und daher zu einem versteinerten Arbeitsmarkt führt. Für die "Outsider" bedeutet diese verringerte Fluktuation, daß ihre Chancen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, herabgesetzt sind (Lindbeck/Snower 1988). Es entsteht so eine unfaire Verteilung knapper Arbeitsplätze, ein dauerhaft höheres Niveau der Langzeitarbeitslosigkeit und eine schlechtere Anpassung zwischen Angebot und Nachfrage. Ein damit verwandtes Argument geht davon aus, daß hohe Entlassungskosten und niedrige vertragliche Flexibilität den Wechsel aus Industrien im Niedergang in die innovativen Wachstumssektoren beeinträchtigt (Burgess 1994). Diese Variante der Argumentation nimmt jedoch ihren Ausgang von der allzu optimistischen Annahme, daß die Qualifikationsniveaus in den schrumpfenden und in den innovativen Sektoren mehr oder weniger äquivalent sind. An dieser Stelle heißt es, vorsichtig zu sein: Obwohl es eine theoretische Möglichkeit darstellt, daß höhere Entlassungskosten zu einem höheren Ausmaß von Dauerarbeitslosigkeit führen, wurde letztlich nur wenig empirisches Beweismaterial beigebracht, um das Bestehen dieser Beziehung schlüssig nachzuweisen (Heylen 1992, Mosley 1994). Die von der OECD 6

für Belgien angeführten Zahlen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse (OECD 1993). Obwohl die gesetzliche Kündigungsfrist %r blue-collar-Beschäftigte sehr kurz ist und jene für white-collar-Arbeitskräfte sehr lang (siehe unten), sind beide Gruppen von anhaltend hohen Niveaus der Dauerar Dauerarbeitslosigkeit betroffen. Wir möchten zusätzlich gerne anmerken, daß, wenn es dir Zielvorstellung ist, das Arbeitslosigkeitsrisiko durch erhöhte vertragliche Fexibilität umzuverteilen, dies vor allem zu einer Intensivierung des beständigen Wechsels aus der Arbeit in Arbeitslosigkeit und umgekehrt führen wird. Auch wenn dies das Niveau der Dauerarbeitslosigkeit herabsetzen sollte, würde noch immer die Gefahr entstehen, daß es dadurch zu einer weiteren "Dualisierung" des Arbeitsmarktes kommt (Bentolila/Dolado 1994). Die Insider werden wahrscheinlich zur Auffassung gelangen, daß ihre Verhandlungsposition wegen des Polsters der befristet Beschäftigten gestärkt ist und daher beim Vorbringen hoher Lohnforderungen kaum Zurückhaltung üben.

4.3

Flexibilität und Rigidität: eine Bewertung

In diesem Abschnitt werden wir die Situation in Belgien und den Niederlanden hinsichtlich der dargestellten "Rigiditäten" genauer betrachten. Wir werden uns zuerst den Zahlen und dann den Erklärungen zuwenden (siehe Tabelle 4.1). In den von uns vorgelegten quantitativen Zusammenfassungen präsentieren wir eine Unterscheidung zwischen regulärer und irregulärer Beschäftigung. Reguläre Beschäftigung wird als dauerhafter Ganztagsjob definiert, der keine Schichtarbeit mit sich bringt und auf einem stabilen zeitlichen Arbeitsarrangement beruht (van Hootegem 1992, Sels 1992, SWAV 1997). Formen der irregulären Beschäftigung sind: befristete Beschäftigung (die vertragliche Variante), Teilzeitarbeit, Schichtarbeit und Arbeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten (zeitliche Varianten). In Belgien sind 62,2% der unselbständig Beschäftigten auf regulären Vollzeitarbeitsplätzen zu finden. Gegenüber 1989 (mit 69,3%) bedeutet dies einen Rückgang um 7,1% (van Hootegem 1991). Dies kann nicht auf die Unterminierung der dauerhaften Beschäftigungsverhältnisse zurückgeführt werden: Der Anteil der befristeten Beschäftigungsverhältnisse stieg von 5,4% im Jahr 1989 lediglich auf 5,9% im Jahr 1996. Ein viel ausgeprägteres Wachstum gab es im Bereich der Teilzeitarbeit (von 11% auf 15,9%) und der Schichtarbeit (von 14% auf 18,6%). 7

Die reguläre "fordistische" Ganztagsbeschäftigung ist noch immer für 55% der holländischen Arbeitnehmer die Norm. Diese Zahl liegt deutlich unter jener für Belgien. Wenn wir die Anteile der verschiedenen Formen der irregulären Beschäftigung betrachten, dann werden diese Unterschiede noch ausgeprägter. Die Variante der vertraglichen Flexibilität (befristete und Aushilfsarbeit sowie Leiharbeit) ist in den Niederlanden von wesentlich größerer Bedeutung. Was die zeitlichen Varianten angeht, ist das Bild weniger deutlich. Bei devianten Arbeitsstunden und Schichtarbeit erreicht Belgien wesentlich höhere Werte, wobei Schichtarbeit mit 18,6% die am weitesten verbreitete Form der irregulären Beschäftigung ist. In den Niederlanden existiert ein höherer Anteil von Teilzeitbeschäftigung. Teilzeitbeschäftigung war die wichtigste Methode der Arbeitszeitverkürzung in den Niederlanden – eine Entwicklung, die sowohl den Forderungen nach Flexibilität als auch jenen nach Lohnanpassung entgegenkam (Visser/van Ruysseveldt 1997).

1)

Die Zahlen beziehen sich auf die Kategorie der "Unselbständigen" und lassen daher die Selbständigen unberücksichtigt.

2)

Bei der Berechnung des Gesamtwertes wurden bei den Blue-collar- und den Whitecollar-Beschäftigten die Beamten hinzugezählt.

3)

In Rahmen der belgischen Erhebung wurden alle befristeten Beschäftigungsverhältnisse als temporär gezählt. Die holländische Erhebung zählt temporäre Beschäftigte, Einspringer und Beschäftigte ohne einen permanenten Arbeitsvertrag.

4)

Die holländische Erhebung betrachtet als Teilzeitbeschäftigung Situationen, wo die betroffene Person weniger als 35 Stunden pro Woche arbeitet. Die belgische Erhebung erfragt, ob die Interviewperson teilzeit- oder vollzeitbeschäftigt ist.

5)

Beide Erhebungen zählen Leute, die ständig oder gelegentlich Schichtarbeit zu verrichten haben.

8

6)

Die belgische Untersuchung spricht von devianten Arbeitsstunden, wenn sich die Arbeitsstunden von Woche zu Woche unterscheiden, aufgrund von variablen Arbeitsplänen, einer flexiblen Arbeitswoche, temporärer Arbeitslosigkeit oder systematischer Überstunden. Die holländische Untersuchung erfragt lediglich, ob die Interviewpersonen einen fixen Arbeitsplan haben.

7)

Dies sind Beschäftigte, die aufgrund eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses Vollzeit arbeiten, die keine Schichtarbeit zu verrichten haben und die nicht in devianten Arbeitsstunden beschäftigt sind.

8)

Mehrfacherfassung möglich, weshalb sich die Zeilen 1-4 nicht zur Zeile "irregulär" aufsummieren.

Um diese Unterschiede der Flexibilitätsmuster zu erklären, können zahlreiche Gründe angeführt werden. In diesem Paper werden wir uns auf drei Ebenen der Erklärung bewegen. Wir fragen uns zuerst, ob die niedrigen belgischen Werte für vertragliche Flexibilität (und die größere Betonung

einiger

zeitlicher

Varianten)

mit

einem

strengeren

Regulierungssystem

zusammenhängen könnten. In anderen Worten, wir untersuchen, ob die Niederlande bei der impliziten Aufweichung des Kündigungsschutzes weiter vorangeschritten sind (4.3.1). Eine zweite Ebene betrifft das Recht zur Kündigung und die Kündigungsusancen. Hier untersuchen wir, ob das größere Ausmaß der vertraglichen Flexibilität in den Niederlanden mit einer niedrigeren expliziten Aufweichung des Kündigungsschutzsystems zusammenhängen könnte (4.3.2). Die dritte Ebene bezieht sich auf das Kapazitätsmanagement auf der Firmenebene; als Interpretation von Tabelle 4.1 könnte man die Hypothese aufstellen, daß holländische Unternehmen bei ihrem Kapazitätsmanagement vor allem auf vertragliche Flexibilität zurückgreifen, also auf befristete Beschäftigung, auf Vertretungen und auf Leiharbeit, während belgische Firmen über ausreichende funktional äquivalente "zeitliche" Strategien verfügen, die die Abhängigkeit von zeitlichen Kontrakten reduzieren (4.3.3).

4.3.1 Unterschiede der impliziten "Deregulierung"

In welchem Ausmaß die Unterschiede zwischen den beiden Flexibilitätsmustem durch die Regulierungsunterschiede bezüglich der verschiedenen Formen der flexiblen Beschäftigung erklärt werden können, ist äußerst unklar. Obwohl die Niederlande über Vertretungs- und Einspringerverträge verfügen, sowie über ein flexibleres Regime für Leihpersonal, kann die Regulierung der zeitlichen Verträge am besten unter Rückgriff auf das Ausmaß ihrer 9

Beschränkungen interpretiert werden. Dies geht aus Tabelle 4.2 deutlich hervor; die Tabelle zeigt die "alten" Regulierungen der Niederlande, da diese die derzeitigen Flexibilitätszahlen beeinflußt haben. Dieser regulatorische Rahmen wird derzeit im Anschluß an das Planungsdokument über "Flexibilität und Sicherheit" (vergleiche unten) drastisch revidiert. Die beiden Regulierungsregimes haben sich an den letzten Jahren aneinander angenähert, vor allem seit Kettenverträge auch in Belgien möglich geworden sind. Das Arbeitsvertragsgesetz vom 3. Juli 1978 hatte festgehalten, daß eine Aufeinanderfolge von befristeten Verträgen zu einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis führte. Das Gesetz vom 3. März 1994 gestattet Kettenverträge, ohne daß deshalb ein permanentes Beschäftigungsverhältnis entsteht. Die Anzahl aufeinander folgender Verträge ist allerdings auf ein Maximum von vier beschränkt; die Dauer jedes einzelnen Vertrages darf drei Monate nicht überschreiten und die Gesamtdauer der aufeinander folgenden Verträge darf zwei Jahre nicht übersteigen (Lagasse 1994). Diese "implizite" Aufweichung hat offensichtlich keinen großen Unterschied gemacht; sie hat zu keiner Zunahme der befristeten Beschäftigungsverhältnisse geführt. Ist dies bloß ein Symptom einer gewissen "Trägheit" des Verhaltens, oder stattdessen ein Zeichen, daß das Kündigungsrecht für unbefristete Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitgebern als hinreichend flexibel betrachtet wird? Oder verfügen belgische Unternehmen tatsächlich über ausreichende funktionale Äquivalente (siehe unten)? Die Niederlande verfügen über ein flexibleres Regime für Leiharbeit; es ist nicht unfair, es auch "weniger komplex" zu nennen. Belgien unterwirft die Leiharbeit spezifischen, doch nur schwer zu überprüfenden Anwendungsbedingungen (Tabelle 4.2). Jedenfalls ist die Leiharbeit in den Niederlanden weiter verbreitet (Tabelle 4.3). Berechnungen der UPEDI, der belgischen professionellen Organisation der Verleihfirmen, weisen noch größere Unterschiede aus. Für 1996 wurde dabei eine Durchdringungsrate der Leiharbeit berechnet, die für Belgien 1,38% ergab, verglichen mit 3,80% für die Niederlande. 1 Die Niederlande gehören auf dem Sektor der Leiharbeit zu den führenden Ländern der OECD, obwohl Leiharbeit auch in Belgien eine zunehmend bedeutsame Rolle zu spielen beginnt — nicht nur im Segment der Leiharbeit selbst, sondern auch im Bereich der offenen Stellen, wo Leiharbeit 6% der angebotenen offenen Stellen ausmacht (Simoens et al. 1997). Dadurch wird die Filterfunktion der Leiharbeit wichtiger. 1

Die geleistete Leiharbeit wird in Vollzeitäquivalente umgewandelt und dann als Prozentsatz der unselbständigen Beschäftigten ausgewiesen.

10

11

4.3.2 Unterschiede der expliziten Deregulierung

Unterschiede der impliziten Deregulierung lassen die geringe Verbreitung der befristeten Beschäftigung in Belgien verständlich werden; sie können allerdings nicht als entscheidender Faktor betrachtet werden. Was die Regulierung der befristeten Beschäftigung anlangt, werden in den diversen OECD-Studien Belgien und die Niederlande stets in derselben Kategorie erfaßt, das heißt in der Kategorie mit "gemäßigten" Regimes — nicht allzu streng, doch auch nicht ausreichend flexibel (OECD 1993). In diesem Abschnitt wenden wir uns den individuellen Kündigungsrechten zu.

Die Niederlande

Der Zweite Weltkrieg war noch immer im Gange, als die holländische Exilregierung in London die "außerordentliche Verordnung über die Arbeitsbeziehungen" (BBA; siehe van der Heijden et al. 1995) erließ. Die Verordnung verbot es den Arbeitgebern, Arbeitnehmer zu entlassen, ausgenommen, wo dringende Gründe bestanden, oder unter Zustimmung des Arbeitnehmers oder des Direktors der regionalen Geschäftsstelle der Arbeitsmarktverwaltung — dies ist heute die regionale Direktion der Arbeitsmarktverwaltung, die RDA. Auf diese Weise entstand die Grundlage des "vorbeugenden Kündigungstests", ein Verfahren, in dem die RDA ihre Zustimmung zur Kündigung

gewährt

oder

vorenthält,

und

zwar auf Grundlage ihrer Einschätzung der

Kündigungsgründe. Eines der dabei berücksichtigten Kriterien ist die Überzeugungskraft der

12

angeführten wirtschaftlichen Gründe (Mayes/Soteri 1994). Der vorbeugende Kündigungstest ist einzigartig (Allwart et al. 1988, 1996; OECD 1993). Im Jahr 1953 erhielten die Arbeitsgerichte auch die Befugnis, die Gründe für Kündigungen zu überprüfen (van der Heijden et al. 1995). Dies lief auf ein unübersehbares Bekenntnis zur Bedeutung

dauerhafter

Arbeitsbeziehungen

hinaus,

um

das

Verhältnis

zwischen

Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu verbessern. Der vorbeugende Test blieb davon unberührt, änderte jedoch in der Folge seine Funktion: Er nahm in weit stärkerem Ausmaß die Merkmale einer Schutzmaßnahme gegen willkürliche oder sozial ungerechte Kündigungen an. Der mit Hilfe der RDA durchgeführte vorbeugende Kündigungstest konfrontiert Unternehmer mit dem Nachteil, daß es ziemlich lange dauern kann, bis ein Angestellter tatsächlich entlassen werden kann, und daß er deshalb für einige Zeit mit der Lohnfortzahlung belastet ist. Dem wäre entgegenzuhalten, daß die RDA, wenn sie einer Kündigung zustimmt, dem Arbeitgeber keine Abfertigungszahlung vorschreibt; wenn allerdings der Arbeitgeber eine raschere Lösung in den Arbeitsgerichten anstrebt, muß er sehr wohl mit Abfertigungszahlungen rechnen. Über die Schutzwirkung des holländischen Kündigungsrechtes gehen die Meinungen auseinander. Die strittigste Frage bezieht sich darauf, ob der vorbeugende Test die Kündigung erleichtert oder erschwert. Zieht man die subjektive Wahrnehmung der Unternehmer heran, dann erscheint das System als sehr restriktiv – die Arbeitgeber müssen einen Beamten überzeugen und können mit nachdrücklichem Widerspruch rechnen, wenn ihre Arbeitskraft zu Wort kommt. Wenn allerdings umgekehrt die große Anzahl der in der Praxis gewährten Zustimmungen herangezogen wird, dann scheint dieses Kündigungsregime ziemlich flexibel zu sein. Es ist ein bemerkenswertes Faktum, daß die Unternehmen es in zunehmendem Ausmaß vorgezogen haben, den Gerichtsweg zu beschreiten. Dadurch kam es zu einer allmählichen Verschiebung: An die Stelle einer Arbeitsplatzgarantie trat die Garantie einer gewissen finanziellen

Entschädigung

für

den

Arbeitsver-lust.

Damit

änderte

sich

auch

das

Kündigungsrecht, es ist jetzt weniger ein "Besitzrecht", sondern hat sich in ein Recht auf Zahlungen verwandelt (van den Heuvel 1983). Während in den frühen 70er Jahren der Gerichtsweg noch äußerst unüblich war, erfolgte Mitte der 90er Jahre ein Drittel aller Kündigungen auf gerichtlichem Weg. Van der Heijden et al. (1995) sprechen in diesem Zusammenhang von der "Flexibilisierung" und "Monetarisierung" der Arbeitsbeziehungen. Diese Verlagerung hat vor allem dann Implikationen, wenn die Kündigung als nicht gerechtfertigt betrachtet wird. Dies kann die RDA dazu veranlassen, ihre Zustimmung zur Kündigung zu verweigern, während die 13

Gerichtshöfe wesentlich eher bereit sind, die fehlende Rechtfertigung durch Geldzahlungen abzugelten.

Belgien

Das belgische Arbeitsrecht sieht vor, daß ein Arbeitgeber, vorausgesetzt, er halt sich an die gesetzlichen Bestimmungen, das Beschäftigungsverhältnis seiner Arbeitskraft jederzeit einseitig beenden kann. Dieses Recht ist allerdings durch zahlreiche Einschränkungen beschnitten (Matthijssens 1997). Die wichtigste davon betrifft die Kündigungsfrist. In dieser Frist kommt ein Kompromiß zwischen einander widerstreitenden Werten zum Ausdruck: einerseits das Recht des Arbeitgebers, seinen Geschäften nachzugehen, was bedeutet, daß er seine Vorgangsweise an eine sich wandelnde wirtschaftliche Realität anpassen können muß, und andererseits das Recht des Arbeitnehmers auf eine bestimmte Einkommenssicherheit. Die Kündigungsfrist muß lange genug sein, um es der Arbeitskraft zu ermöglichen, sich allmählich an ihre veränderten Umstände anzupassen. Wird die Kündigungsfrist nicht eingehalten, müssen Entschädigungsleistungen bezahlt werden. Diese Entschädigungszahlung bleibt von den speziellen Umständen des Falles unberührt. Wäre dies nicht der Fall, dann könnten die Gerichte den unter großem Aufwand errungenen gesetzlichen Kompromiß gefährden (Cuypers 1996). Daß es sich bei den Entschädigungen um fixe Beträge handelt, impliziert, daß bei der Bemessung der Entschädigung ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers und die Geschwindigkeit, mit der er einen anderen Job gefunden hat etc., nicht berücksichtigt werden. Dies bedeutet auch, daß das Kündigungsverfahren im allgemeinen ziemlich rasch abgewickelt wird. Allerdings zeigen Untersuchungen, daß trotz dieser gesetzlichen Vorkehrungen der Kündigungsgrand und das Tempo, in dem die Arbeitskraft einen neuen Job findet, in der Praxis der Gerichte dennoch eine Rolle spielen, vor allem wenn die Kündigungsfrist für höhergestellte white-collar-Angestellte festgelegt wird (Cuypers 1991). Der Unterschied zwischen den Regelungen für den blue-collar-Sektor und für die white-collarBeschäftigten verdient unsere Aufmerksamkeit, ebenso wie der Unterschied innerhalb der letzteren Kategorie zwischen den niedrigeren und den höheren Angestellten2 Dieser Unterschied ist 2

Für die white-collar-Beschäftigten in gehobenen Positionen wurde in Durchfiihrung des Generalplans der ersten Regierung Dehaene eine Sondervereinbarung getroffen (Lagasse 1994). White-collar-Beschäftigte, die vor dem ersten April 1994 mit einem Jahresgehalt

14

diskriminierend. Ein Beispiel: Ein junger Angestellter mit niedrigem Einkommen besteht seine Probezeit und erwirbt daher das Recht auf eine dreimonatige Kündigungsfrist; und nach 18 Dienstjahren auf eine Kündigungsfirst von nicht weniger als 12 Monaten. Ein Arbeiter mit 18 Jahren Berufserfahrung hat im Gegensatz dazu lediglich gesetzlichen Anspruch auf eine Kündigungsfrist von 28 Tagen. Um diese Spaltung zu entschärfen, wurde der Begriff der "willkürlichen Kündigung" eingeführt. Wird ein blue-collar-Arbeiter entlassen, dann muß der Arbeitgeber nachweisen, daß die Entlassung auf guten Gründen beruht, die mit der Person, dem Verhalten des betreffenden Arbeiters oder mit der Funktionsweise des Unternehmens zu tun haben. Mißlingt dem Arbeitgeber dieser Nachweis, dann muß er eine Abfertigung von sechs Monatsgehältern zahlen. Diese Regelungen werden jedoch in der Gerichtsbarkeit selten berücksichtigt. Für einen blue-collar-Arbeiter, der weniger als sechs Monate lang beschäftigt war, gilt in Belgien eine Kündigungsfrist von sieben Tagen. Hat der Arbeitnehmer weniger als 20 Dienstjahre, beträgt diese Frist 28 Tage. Bei über 20 Dienstjahren beträgt sie 56 Tage. Das Gesetz vom 3. Juli 1978 eröffnet den Interessenvertretungen die Möglichkeit, auf eine Annäherung zwischen den Regimes für den blue-collarund den white-collar-Sektor hinzuarbeiten (Engels 1992). Aufgrund von Vorschlägen der paritätisch besetzten Ausschüsse kann die Kündigungsfrist durch königliche Verordnungen verändert werden. In der Mineralölindustrie etwa wurden die Kündigungsfristen fir blue-collar-Arbeiter dermaßen verlängert, daß sie sich jenen der white-collar-Arbeiter angenähert haben; und dennoch hat dies nicht zu einer allgemeinen Annäherung zwischen den beiden Regimes geführt – ganz im Gegenteil. Manche königliche Erlässe haben die Kündigungsfrist tatsächlich auf sieben Tage gesenkt oder sogar auf noch weniger, wenn der Beschäftigte in einem Arbeitsverhältnis steht, dessen Dauer sechs Monate nicht übersteigt (in der Textilindustrie, den Sicherheitsdiensten, dem landwirtschaftlichen Sektor, in den Gärtnereien, Ziegelwerken usw.). Belgische blue-collar-Arbeiter sind die vermutlich am schlechtesten geschützten Arbeitnehmer Europas. Sie haben mit Gerichtshöfen zu tun, die die Kündigungsgründe wesentlich seltener einer Überprüfung unterziehen als die Gerichte anderer Lander; die Entschädigungen, die sie anläßlich der Entlassung erhalten haben, sind ebenfalls niedriger: Im Jahr 1990 war in Europa im bluecollar-Sektor die durchschnittliche Abfertigung das Äquivalent von 16,7 Wochenlöhnen, mehr als das Dreifache der in Belgien geleisteten Zahlungen (Mosley 1994). Belgische blue-collar-Arbeiter haben auch wesentlich

von über 1.728.000 belgische Francs (zum realen Wert vom 1.1.1994) ihren Dienst angetreten haben, können mit dem Dienstgeber eine Kündigungsfrist vereinbaren, die dann eingehalten werden muß. Wird bei Aufnahme der Arbeit keine derartige Übereinkunft getroffen, dann kommen die allgemeinen Regelungen zur Anwendung.

15

kürzere Kündigungsfristen, sogar verglichen mit dem 'liberalen" Arbeitsmarkt des Vereinigten Königreichs. In Großbritannien sind Arbeitskräfte, die auf eine Beschäftigungsdauer von ein bis zwei Jahren verweisen können, berechtigt, eine einwöchige Kündigungsfrist in Anspruch zu nehmen; waren sie zwei Jahre beschäftigt, dann erhöht sich ihr Anspruch um eine Woche pro Arbeitsjahr mit einem Maximum von zwölf Wochen. Während ein britischer blue-collar-worker mit zwölf Dienstjahren eine ungefähr dreimonatige Kündigungsfrist in Anspruch nehmen kann, hat sein belgischer Kollege nach 20 Jahren der Beschäftigung Anspruch auf lediglich zwei Monate. Auch das durchschnittliche Niveau des Arbeitnehmerschutzes in den Niederlanden ist höher, obwohl das Regime um einiges komplexer ist. Bestehen keine speziellen Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, entspricht die Kündigungsfrist dem Zeitraum zwischen zwei Lohnzahlungen – i. e. einen Monat; bei wöchentlicher Entlohnung beträgt allerdings die Kündigungsfrist lediglich eine Woche. Zusätzlich muß der Arbeitgeber die Beschäftigungsdauer und das Alter der Arbeitskraft berücksichtigen; mit jedem Dienstjahr erwirbt der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Woche Kündigungsfrist, obwohl dies auf ein Maximum von 13 Wochen beschränkt ist. Der Arbeitgeber muß allerdings für jedes ganze Jahr der Beschäftigung, das zwischen dem 45. und dem 65. Geburtstag des Beschäftigten lag, eine zusätzliche Woche Kündigungsfrist gewähren. In diesen Fällen beträgt die maximale Kündigungsfrist daher 26 Wochen. Das niedrige Schutzniveau für Arbeiter ist nur schwer zu rechtfertigen, da es vor allem Arbeiter von niedrigem Qualifikationsniveau sind, die den harten Kern der Arbeitslosen darstellen und die größten Schwierigkeiten beim Finden eines anderen Arbeitsplatzes haben. In Frankreich genießen daher die "bluecollars"

besseren

arbeitsrechtlichen

Schutz

als

die

Angestellten.

In

Deutschland

hat

das

Bundesverfassungsgericht die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten für nichtig erklärt, mit der

Begründung,

sie

sei

diskriminierend;

dementsprechend

wurden

1993

die

betreffenden

arbeitsrechtlichen Bestimmungen novelliert. Dies ist in Belgien nicht der Fall, obwohl derzeit dem Parlament ein von Bonte und Landuyt (von der sozialistischen Partei) eingebrachter Gesetzesentwurf vorliegt, der darauf abzielt, die Kündigungsfristen für Arbeiter auf die Niveaus anzuheben, die in manchen EU-Staaten üblich sind. Die kurzen Kündigungsfristen für Arbeiter stehen in einem deutlichen Kontrast zu den langen Kündigungsfristen der höheren Angestellten. In dieser Hinsicht steht Belgien an der Spitze der europäischen Tabelle. Wichtig alterdings ist es, sich daran zu erinnern, daß die Entscheidung über den Kündigungsgrund vor allem in den Entscheidungsbereich des Arbeitgebers fällt. Diese Verfügungsmacht kann als Kompensation für die langen Kündigungsfristen aufgefaßt werden. Es ist in der Tat fraglich, ob die 16

Arbeitnehmer diese großzügigen Kündigungsfristen überhaupt als Problem betrachten. Vor allem bei dieser Kategorie von Angestellten scheinen die meisten Arbeitgeber eine tief verwurzelte Firmenloyalität für wichtiger zu erachten als Flexibilität. Dies geht unter anderem aus der Tatsache hervor, daß trotz der langen Kündigungsfristen manche Sektoren und Unternehmen zusätzliche Garantien der Arbeitsmarktsicherheit bieten. So wurde etwa eine Art Pragmatisierungsklausel3 zu einem sehr beliebten Bestandteil vieler Kollektivverträge (Humblet 1994). Diese Garantie der Arbeitsplatzsicherheit wird eben deshalb in die Kollektivverträge aufgenommen, um die Bereitschaft zu erhöhen, sich ständig anzupassen: Arbeitskräfte beweisen eine flexiblere Haltung, wenn ihre Arbeitsplatzsicherheit garantiert wird.

Ein Vergleich

Die Frage, ob die belgischen und/oder holländischen Kündigungsregeln zu restriktiv sind, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Wir haben kein ehrgeizigeres Ziel, als die beiden Regimes aufgrund der bestehenden Untersuchungen zu vergleichen. Die Studie von Mayes und Soteri (1994) ist in den Niederlanden ziemlich "popular", eben weil sie zur Schlußfolgerung kommt, dal) das holländische Kündigungsschutzsystem überhaupt nicht so restriktiv ist, wie der vorbeugende Kündigungsschutztest nahezulegen scheint. Obwohl das holländische Regime als restriktiver aufgefaßt wird als jenes der USA oder des Vereinigten Königreichs, ist es flexibler als die Systeme in den Nachbarländern. Zum Beleg dafür wird die Tatsache angeführt, daß die meisten Ansuchen an die RDA bewilligt werden (im Jahr 1992 wurden 76,8% der Ansuchen positiv erledigt; 6,2% wurden zurückgewiesen; 17% der Ansuchen wurden wieder zurückgezogen). Der sorgfältigste Versuch, Kündigungsregimes zu vergleichen, ist vermutlich jener von Grubb and Wells (1993). Sie erarbeiteten einen "Regulierungsindex": eine Zusammenfassung detaillierter Informationen über die Erfordernisse, die in Hinsicht auf das Verfahren der und die Benachrichtigung von der Kündigung gestellt werden, über Entschädigungen, die bezahlt werden, und über die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn eine Arbeitskraft entlassen wurde, sowie die mit der gesetzwidrigen Kündigung verknüpften potentiellen Kosten. Auf dieser Grundlage sind das portugiesische, das spanische, das italienische, das

3

Die Pragmatisierungsklausel legt dem Arbeitgeber die Verpflichtung auf, alle Wege auszuschöpfen, um eine Kündigung zu vermeiden, bevor er einen Angestellten kündigt. Der Arbeitgeber kann auch für bestimmte Zeiträume auf sein Kündigungsrecht verzichten. Es kann auch Vereinbarungen dahingehend geben, daß bei Neueinstellungen zuerst auf früher gekündigte Mitarbeiter zurückgegriffen wird. In vielen Kollektivverträgen ist allerdings diese Klausel derartig vage gehalten, daß es den Angestellten praktisch unmöglich ist, sie in der Praxis durchzusetzen (Rigaux 1993).

17

österreichische und das griechische Regime am strengsten (Tabelle 4.4), gefolgt von Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Belgien. Dänemark und das Vereinigte Königreich haben die wenigsten Einschränkungen des individuellen Kündigungsrechtes. Der Wert, den die Niederlande bei diesem Verfahren erreichen, ist bemerkenswert. Daß ihr Regime restriktiv ist, ist nicht auf das Niveau der Abfertigungen zurückzuführen, sondern auf die Langsamkeit und Komplexität des Verfahrens, das eingehalten werden muß. Das belgische System spiegelt dies: Global gesprochen, stellt sich das holländische Kündigungsschutzsystem als restriktiver dar als das belgische Regime, sowohl wenn wir den generellen Rang, als auch wenn wir den Index betrachten, der den Grad der Schwierigkeit, eine Kündigung durchzusetzen, darstellt. Die OECD hat das holländische System mehr als einmal als zu komplex und zu streng charakterisiert (OECD 1996).

1)

Verfahrensvorschriften, die sich auf Beratungen beziehen und auf Verzögerungen, die als Ergebnis der Vorschriften, die sich auf Verwarnungen beziehen, entstehen können.

2)

Dies bezieht sich auf eine Anzahl von Vorschriften für Vorwarnungen und für die Zahlung von Entschädigung im Fall von Kündigungen, die nicht als unfair bekämpft werden.

18

3)

Bei der Bestimmung des Scores wurden auch die Regeln einbezogen, die befolgt werden müssen, wenn eine Kündigung als unfair angefochten wird, sowie Klauseln, die sicherstellen sollen, daß der endgültigen Kündigung eine Probezeit vorhergeht.

4)

Je höher der Wert, desto "strenger" das Regime.

5)

Berücksichtigt, welche Einschränkungen der Art von Arbeit bestehen, für die derartige Verträge gestattet sind, sowie die Höchstdauer und die Anzahl der aufeinanderfolgenden Verträge.

6)

Der hohe belgische Wert für "befristete Arbeitsverträge" bezieht die Lockerung der Regulierung des Jahres 1994 (siehe oben) nicht ein.

Quelle: Grubb/Wells 1993, OECD 1994, Büchtemann/Walwei 1996

Des weiteren läßt sich folgern, daß vor allem Länder mit einem strengen Kündigungsregime ihre Regulierungen hinsichtlich flexibler Beschäftigungsformen in den 80er Jahren gelockert haben, obwohl es auch hier Ausnahmen gibt. Arbeitgeber, die sich einem strengen Kündigungsregime gegenübersehen, haben daher häufig mehrere Optionen. Das Ausmaß, in dem ein strenges Kündigungsregime den zunehmenden Einsatz von flexiblen Beschäftigungsformen "stimuliert", hängt unter anderem vom Unterschied der Kosten- und Nutzen-Bilanz zwischen der Einstellung von befristeten Arbeitskräften einerseits und dem Abschluß von unbefristeten Verträgen andererseits ab (Mayes/Soteri 1994). Jedenfalls zeigt sich, daß ein strenges Kündigungsschutzsystem häufig Hand in Hand mit der intensiven Nutzung befristeter Arbeitsverträge geht (Delsen 1997). In den Niederlanden finden wir ebenfalls eine Kombination aus strengen Kündigungsschutzbestimmungen und einem weit verbreiteten Einsatz von befristeten Arbeitsverhältnissen und von Leiharbeit. Das belgische System kann als eine Art Spiegelbild davon aufgefaßt werden, zumindest für blue-collar-Arbeiter, bei denen es nur wenige Beschränkungen des Kündigungsrechts gibt, und wo ein etwas weniger "liberaler" Zugang zu befristeter und Leiharbeit und ein starkes Vorherrschen von stabilen Arbeitsbeziehungen besteht. Die Unterschiede der Strenge sind allerdings nicht sehr groß: In den meisten vergleichenden Studien werden die beiden Systeme derselben Kategorie zugeordnet. Und dennoch gibt es ausgeprägte Unterschiede der Entlassungspolitik. Dies zeigt sich in Tabelle 4.5. Der Anteil der "erzwungenen Abgänge" am totalen Abfluß - entweder in Form der Kündigung durch den Arbeitgeber oder durch Nichtverlängerung befristeter Verträge – war in Flandern signifikant höher: 47% für den bluecollar-Bereich und 55% für den white-collar-Sektor, verglichen mit 40% in den Niederlanden. Die Beendigung durch den Arbeitgeber fällt vor allem bei den belgischen blue-collar-Beschäftigten schwerer ins 19

Gewicht als die Nichterneuerung befristeter Kontakte. Bei belgischen white-collar-Beschäftigten (und zu einem wesentlich größerem Ausmaß beim holländischen Arbeitsmarkt) ist der Abgang, der auf Nichterneuerung befristeter Verträge zurückzuführen ist, für einen größeren (im Fall der belgischen whitecollar worker) oder viel größeren (in den Niederlanden) Anteil erzwungener Abgänge verantwortlich als die Beendigung unbefristeter Arbeitsverträge. Der Unterschied mag mit den Unterschieden der Strenge des Kündigungsregimes zusammenhängen (minimale Schutzbestimmungen für belgische blue-collar-Arbeiter, lange Kündigungsfristen für die belgischen Beschäftigten des white-collar-Segmentes, ein komplexes Verfahren in den Niederlanden). Obwohl diese Unterschiede durch viele verschiedene Faktoren erklärt werden könnten, muß angemerkt werden, daß der

1)

Während sich die holländischen OSA-Daten auf Bewegungen im Jahre 1995 beziehen, weist der Key Figures Survey die Bewegungen zwischen dem 30. Juni 1994 und am 30. Juni 1995 aus.

2)

Der Key Figures Survey ist auf die flämische Nachfrageseite beschränkt.

3)

Die OSA-Panelstudie fragt nach Abgängen in das System der Invalidenunterstützung; der Key Figures Survey konzentriert sich auf den Abgang in die (endgültige) Arbeitsunfähigkeit und den Tod, sowie auf längerfristige (zumindest 1 Lahr) Abwesenheit aufgrund von Krankheit oder Berufsunfällen.

4)

Die OSA-Untersuchung fragt ausdrücklich nach dem potentiellen Abgang aus befristeten Verträgen. Der Key Figures Survey fragt nach der Anzahl der Beschäftigten mit einem befristeten Vertrag, die die Organisation verlassen haben. Dieser Abgang kann auf Ablaufen der vereinbarten Frist zurückzuführen sein, kann aber ebensogut durch freiwillige Abgänge verursacht sein.

Quelle:

Holländische

Daten:

Organisation

für

strategische

Arbeitsmarktstudien

(OSA),

das

Beschäftigungsumfrage-Panel (Praat et al. 1996). Flämische Daten: Key Figures Survey von Steunpunt WAV (Lamberts 1997). 20

Einfluß der Strenge des Kündigungsregimes auf die Zusammensetzung des Personalabganges in Analysen der gesamten Gruppe der EU-Mitgliedsstaaten ebenfalls deutlich hervortritt. Aufgrund von Analysen des Labour Force Survey fand z.B. Mosley (1994) einen starken negativen Zusammenhang zwischen dem Niveau des Kündigungsschutzes und der Häufigkeit, mit der Arbeitgeber die Arbeitsverträge von sich aus beenden. Arbeitgeber, die die Kündigungsregelungen als zu restriktiv ansehen, stützen sich eher auf die Nicht-Verlängerung befristeter Verträge, um die Größe ihrer Belegschaft anzupassen. Welche Variante der "Flexibilisierung" und/oder des Abganges die Unternehmen wählen, hängt offenkundig bis zu einem gewissen Ausmaß von der institutionellen Struktur des Arbeitsmarktes ab. Wenn dem tatsächlich so ist, dann könnten sich die holländischen Zahlen innerhalb von ein paar Jahren gänzlich anders darstellen. Dies ist auf den Wunsch des holländischen Ministeriums für Arbeit und Soziales zurückzuführen, die starke Polarisierung zwischen starren, dauerhaften Arbeitsbeziehungen und flexiblen marginalen Beschäftigungsformen abzuschwächen (Visser/van Ruysseveldt 1997). Die erste Kategorie muß flexibler werden, die zweite braucht einen besseren Schutz. Dieser Gedanke findet die Unterstützung der Sozialpartner, z.B. im Planungsdokument über "Flexibilität und Sicherheit" (Stichling van de Arbeid 1996). Die Zielvorstellung ist dabei eine höhere Vertragsflexibilität für "ständiges" Personal. Am anderen Ende dieses Kontinuums werden Anstrengungen unternommen, dem "prekären" Teil der Belegschaft, z.B. Leiharbeitern und Einspringern, eine bessere rechtliche Stellung zu verschaffen (Ministerie van Sociale Zaken en Werkgelegenheid 1996); dabei gibt es verschiedene Zugänge: •

Die Kündigungsfrist für Arbeitsverträge wird an die Zahl der Dienstjahre gekoppelt und in einem Bereich von mindestens einem und höchstens vier Monaten liegen. Das Entlassungsverfahren unter Einbindung der regionalen Beschäftigungsdirektion (RDA) muß ebenfalls verkürzt werden. Die Mindestkündigungsfrist soll zumindest ein Monat betragen;



die Regulierung von befristeten Verträgen wird abgeschwächt. Innerhalb von drei Jahren wird es möglich sein, drei aufeinanderfolgende befristete Verträge abzuschließen, ohne Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer eine unbefristete Position anzubieten. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag wird nur dann entstehen, wenn mehr als drei befristete Verträge eingegangen werden oder wenn die Gesamtdauer der aufeinanderfolgenden Verträge drei Jahre übersteigt;



1996 wurde den Verleihfirmen, Beschäftigtenpools usw. die Verpflichtung auferlegt, eine Konzession zu erwerben. Dieses Konzessionssystem wird abgeschafft, wie auch die sechsmonatige Höchstdauer für Leiharbeitspositionen. Im Gegenzug wird die Rechtsstellung von Leihpersonal gestärkt (Ministerie van Sociale Zaken en Werkgelegenheid 1997). Leiharbeiter, die 21

über Vermittlung einer Agentur zwölf Monate lang gearbeitet haben, werden in Form eines Dreimonatsvertrages größere rechtliche Sicherheit gewinnen. Nach 18 Monaten Beschäftigung in derselben Firma wird ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis in der Verleihagentur entstehen. Leiharbeiter, die über Vermittlung einer Agentur für verschiedene Firmen arbeiten, werden nach 36 Monaten einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten.

4.3.3 Unterschiede des Kapazitätsmanagements

Jeder

EU-Mitgliedsstaat

Kündigungsschutzes,

der

verfügt

über

befristeten

eine

spezifische

Beschäftigung

und

Konfiguration der

Leiharbeit.

der Die

Regulierung diese

des

Bereiche

umschreibenden Regeln müssen in jedem einzelnen Fall gemeinsam analysiert werden, da hier kompensatorische Mechanismen am Werk sind. Verglichen mit Belgien hat z.B. Holland ein (etwas) weniger strenges Kündigungsschutzsystem. Andererseits sind die Regelungen der befristete Beschäftigung und Leiharbeit (etwas) flexibler. Diese Unterschiede sind allerdings nicht dramatisch. Unserer Auffassung nach können die Unterschiede zwischen den beiden Flexibilitätsregimes (Tabelle 4.1) nur adäquat interpretiert werden, wenn die sehr wichtigen belgischen Regelungen zur Verhinderung von Kündigungen in die Analyse aufgenommen werden. Wir beziehen uns hier auf das System der temporären Arbeitslosigkeit, da das auf das Kapazitätsmanagement belgischer Industrieunternehmen einen wichtigen Einfluß ausübt. Regulierungen, die der Kündigung entgegenstehen, finden sich nicht nur in Belgien (Mayes/Soteri 1994). Deutschland hat Kurzarbeit, ein weithin angewendetes Instrument, das es Arbeitgebern gestattet, kurzfristig die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden und die damit verbunden Lohnkosten (um über 40%) zu reduzieren, ohne Arbeitskräfte freizusetzen (Den Broeder 1996). Dabei verrichten die Beschäftigten für einen

beschränkten

Zeitraum

weniger

Arbeit,

und

ihr

Gehalt

wird

bis

zur

Höhe

der

Arbeitslosenunterstützung subventioniert. Das System zur Verringerung der Arbeitsstunden (Regeling Wertijdverkorting) ist das holländische Äquivalent dazu: Eine temporäre Aussetzung des Verbotes, Beschäftigte für einen kürzeren Zeitraum als die vereinbarten Arbeitsstunden zu beschäftigen. Die Beschäftigten erhalten Arbeitslosenunterstützungszahlungen (Allaart et al. 1996). Dieses System kommt nur dann zur Anwendung, wenn es sich um einen außergewöhnlichen Wirtschaftsabschwung handelt und das Ministerium für Arbeit und Soziales seine Zustimmung gibt. Daher findet es sehr selten Anwendung. 22

Belgien hat hingegen ein System der temporären Arbeitslosigkeit. Bluecollar-Arbeiskräfte können für einen kürzeren Zeitraum entlassen werden und erhalten Arbeitslosenunterstützung. Dies versetzt die Arbeitgeber in die Lage, ihre Lohnzahlungen einzustellen, ohne deshalb den Arbeitsvertrag aufkündigen zu müssen. Das System findet auf white-collar-Beschäftigte keine Anwendung. Tabelle 4.6 zeigt, daß die temporäre Arbeitslosigkeit ein wichtiges Instrument ist. Die quantitative Bedeutung des Systems ist allerdings umgekehrt proportional der Aufmerksamkeit, die ihm in den Debatten über die Flexibilität gewidmet wird. In der internationalen Debatte wird es überhaupt vollständig ignoriert, und wenn es im nationalen Kontext Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann — richtigerweise– uni mißbräuchliche Praktiken, die damit verknüpft sind, zu beleuchten. Dennoch bietet der belgische Gesetzgeber mit diesem System ein attraktives Mittel des Kapazitätsmanagements an; es ist dies ein Instrument, das ganz zweifellos einen Wettbewerbsvorteil darstellt.

1)

Quelle für die Zahl der Beschäftigten im privaten Sektor: Bundesministerium für Beschäftigung.

2)

Quelle fin die Zahl der blue-collar-Beschäftigten im privaten Sektor: Abteilung für soziale Sicherheit.

3)

Die Schätzung des Arbeitsvolumens der unselbständig beschäftigten blue-collar-Arbeitskräfte im privaten Sektor erfolgte durch Korrektur der Anzahl der Jobs mit 90,8%. Diese Zahl ist das Arbeitsvolumen als Prozentsatz der Anzahl der Beschäftigten in der Industrie.

Temporäre Arbeitslosigkeit bedeutet, daß im Fall eines wirtschaftlichen Abschwunges die Unternehmen nicht sofort auf Massenentlassungen zurückgreifen müssen, um dann im Wirtschaftsaufschwung wiederum massenhaft Einstellungen vornehmen zu müssen. Dies versetzt die Arbeitgeber in die Lage, die hohen Transaktionskosten für die Rekrutierung, die Auswahl, die Entlassung, die Einschulung und für Anlaufzeiten zu vermeiden. Betriebsspezifisches Humankapital kann so dem Unternehmen erhalten bleiben. Darüber 23

hinaus erleichtert es das System, in Loyalität gegenüber dem Unternehmer zu investieren: Die Vorteile der lebenslangen Beschäftigung für die Arbeitsmotivation sind nicht nur in Japan offenkundig, sondern gleichermaßen in Belgien. Auch aus sozialer Perspektive ist das System positiv zu bewerten. Tatsächlich kann es als Form der verborgenen Arbeitsumverteilung betrachtet werden: Wegen des Systems beschäftigen Unternehmen mehr Arbeitnehmer, als ihre durchschnittliche Kapazitätsauslastung ermöglichen würde. Als Resultat gibt es nicht nur mehr Beschäftigte, sondern es werden auch mehr Qualifikationen vor dem Verfall bewahrt. Das System der temporären Arbeitslosigkeit kann auch als funktionales Äquivalent des weitverbreiteten Einsatzes befristeter Beschäftigungsverhältnisse, von Oberstunden, von Leiharbeit usw. betrachtet werden. Es ermöglicht es Firmen, die Anzahl der "permanent" Beschäftigten an die durchschnittliche oder auch an die Maximalkapazität anzupassen. Wenn dieses Kapazitätsniveau nicht erreicht wird, dann greifen die Firmen auf das Instrument der temporären Arbeitslosigkeit zurück. Holländische Unternehmen scheinen eher auf eine Minimalstrategie zurückzugreifen. Die Anzahl der dauerhaft Beschäftigten ist an die Minimalkapazität angekoppelt, und Spitzen werden bewältigt, indem "prekäre" Arbeitskräfte eingestellt werden,

möglicherweise

auf

Teilzeitbasis.

In

diesem

Sinn

können

Unterschiede

des

Kapazitätsmanagements einen Beitrag zur Erklärung der Unterschiede zwischen verschiedenen Flexibilitätssystemen leisten. Zu beachten ist allerdings, daß dies nicht bedeutet, daß belgische Unternehmen keinerlei Gebrauch von flexiblen Beschäftigungsformen machten. Temporäre Arbeitslosigkeit ist ein ziemlich plumpes Instrument, um die Flexibilität zu erhöhen, nachdem ihr Einsatz an spezifische Bedingungen gebunden ist.4 Das Instrument kann dazu verwendet werden, große und vorhersehbare Rückgänge

des

Auftragsvolumens

zu

kompensieren,

doch

ist

die

"Feineinstellung"

des

Kapazitätsmanagements häufig durch befristete Arbeitsverträge leichter zu erzielen. Die temporäre Arbeitslosigkeit hat auch ihre Nachteile. Für die weitere Gesellschaft ist das selbstverständlich ein teures und vergleichsweise undurchschaubares System. Obwohl es eine größere Anzahl von Beschäftigten mobilisiert, vertieft es auch die Kluft zwischen jenen, die Arbeit haben, und den Arbeitslosen. Man kann das System im Slogan zusammenfassen, "mehr Insider, doch weniger Zugangsmöglichkeiten für Outsider". Temporäre Arbeitslosigkeit kann auch Überkapazitäten herbeifuhren. Dies ist paradox, da sie im wesentlichen als Mittel gegen Überkapazitäten konzipiert wurde. Das Problem entsteht lediglich in multinationalen Firmen mit austauschbaren Produkten. Wenn auf der Gruppenebene

4

Der Einsatz des Instrumentes muß sieben Tage im vorhinein bekannt gegeben werden. Die Dauer, der Anfangs- und der Endzeitpunkt müssen verlautbart werden. Die Dauer ist auf ein Maximum von vier Wochen beschränkt, nach deren Ablauf die betroffenen Beschäftigten zumindest für eine Woche wieder arbeiten müssen.

24

Überkapazitäten vorhergesagt oder identifiziert werden, ist es nur natürlich, sich nach jenen Teilorganisationen umzusehen, wo das Problem am einfachsten gelöst werden kann. Da sich das System der temporären Arbeitslosigkeit anbietet, ist die Absenkung der belgischen Kapazität nicht selten die offensichtlichste Lösung. Der beteiligte Multi ist im Ergebnis nicht schlechter gestellt; die belgische Wirtschaft ist es allerdings. Es kann angenommen werden, daß das System der temporären Arbeitslosigkeit die Arbeitsteilung verstärkt oder intensiviert. Es ermöglicht es den Firmen, hohe und sehr hohe Kapazitäten zu erreichen; daher besteht die sehr reale Gefahr, daß dies zu Prozessen führt, die in eine große Zahl eng spezifizierter Funktionen "zerlegt" werden. Wird andererseits die Durchschnittskapazität als Ausgangspunkt genommen, dann entsteht ein ganz anderes Szenario. Während des wirtschaftlichen Aufschwungs kann die Kapazität erhöht werden, indem zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. Werden diese dann auf zusätzlichen parallelen Fertigungslinien eingesetzt, dann entstehen Funktionen, die unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsqualität überlegen sind. Man kann sich auch die Frage stellen, ob das System nicht Organisationen gegenüber Marktentwicklungen abschottet, da sie ja nicht gezwungen sind, sich organisatorisch anzupassen. Die Firmen können ihre Belegschaften ohne großes Risiko auf demselben Niveau erhalten wie in der "alten" Situation – bis die ganze Situation nicht mehr tragbar ist, und große Massen von Beschäftigten plötzlich entlassen werden. Ein liberales, individuelles und kollektives Kündigungsrecht springt hier wiederum in die Bresche. Firmen, die über keine derartigen Systeme verfügen, können Marktsignale nicht ignorieren und werden daher wesentlich früher zu innovativen Lösungen gelangen. Dies stellt nicht den einzigen innovationsdämpfenden Effekt dar. Das System erhöht die Effizienz von Schulungsbemühungen, da in Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation Schulungsinvestitionen innerhalb der Organisation durchgeführt werden. Gleichzeitig beeinträchtigt das System allerdings das Schulungswesen. Die beste Zeit für die Schulung sind Zeiten der Überkapazität. Überzählige Beschäftigte können dann ohne Bedenken "in das Klassenzimmer" geschickt werden. Sinkende Produktivität während der Ausbildung "on the job" kann toleriert werden, ohne das Risiko allzu langer Lieferzeiten einzugehen. Schulungen in Zeiten der herabgesetzten wirtschaftlichen Aktivität sind tatsächlich die bewährte Strategie, durch die japanische Firmen ihr System der lebenslangen Beschäftigung aufrecht erhalten. Nicht so in Belgien: Gibt es weniger Arbeit, dann werden die Arbeitskräfte nicht ins Klassenzimmer geschickt, sondern nach Hause. Sind wir nun mit der temporären Arbeitslosigkeit dort, wo wir schon einmal waren? Dies wäre eine sehr voreilige Schlußfolgerung; das System hat seine Nützlichkeit bereits unter Beweis gestellt. Es ist besser, es anzupassen, als es abzuschaffen. Eine solche Anpassung könnte sogar eine Öffnung des Systems 25

zugunsten der ökonomisch empfindlichen Sektoren der Dienstleistungsindustrie bedeuten. Die wichtigste Anpassung, die erforderlich ist, ist die "Aktivierung" des Systems. Im Austausch gegen die leicht lukrierbaren Mittel der Arbeitsmarktverwaltung könnten Firmen ersucht werden, sich in Perioden der Unterauslastung auf Schulungsinvestitionen oder auf Experimente mit Prozeß- bzw. Produktinnovationen einzulassen. Eine solche "Aktivierung" könnte das ganze System – das man dann streng genommen nicht mehr als System der "temporären Arbeitslosigkeit" bezeichnen könnte – empfänglicher gegenüber den Erfordernissen des Personalmanagements von heute machen: die langfristige Mobilisierung und die permanente Höherqualifikation. In anderen Worten: Flexibilität und Innovation müssen einander nicht unbedingt ausschließen.

4.4

Zu restriktiv?

Obwohl die Unterschiede der "Strenge" nicht allzu ausgeprägt sind, und obwohl das belgische und das holländische Kündigungssystem in den meisten Studien nicht unter die strengen Regimes subsumiert werden, glaubt die OECD, daß es notwendig wäre, sie zu lockern. Dies geht aus den Economic Surveys klar hervor. Der Bericht über die Niederlande hält fest, daß "... Entlassungskosten und Kündigungsfristen einen höheren geschätzten Beitrag zur Langzeitarbeitslosigkeit leisten als alle anderen Parameter der Arbeitsmarktpolitik, wie etwa die Höchstdauer des Arbeitslosenbezuges und der Anteil der Ausgaben fir aktive Programme an den Gesamtausgaben für Arbeitslose" (OECD 1996: 55). Für Belgien kommt der Bericht zum Schluß: "Man sollte nach Mitteln und Wegen suchen, befristete Arbeit verstärkt zu fördern; und was noch wichtiger wäre, im white-collar-Bereich sollten kürzere Kündigungsfristen auf die Niedrigverdienenden ausgedehnt werden. Im blue-collar-Bereich sollten die in bestimmten Sektoren bereits geltenden kurzen Kündigungsfristen auf die gesamte Ökonomie verallgemeinert werden. Um, allgemeiner gesprochen, die Unternehmen zu Personaleinstellungen zu motivieren, sollten die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen auf ein Minimum reduziert werden, und es den Einzelverträgen überlassen werden, zusätzliche Vereinbarungen zu treffen" (OECD 1997: 93). Wir möchten uns abschließend kritisch mit diesen OECD-Vorschlägen auseinandersetzen. Zuerst werden wir untersuchen, ob es ausreichende Argumente gibt, um den Kündigungsschutz noch weiter implizit oder explizit zu lockern. In Verfolgung dieses Zieles werden wir eine Anzahl von positiven Auswirkungen eines restriktiven Kündigungsrechtes und von stabilen Arbeitsmarktbeziehungen betrachten (Buttler 1990, Boyer 1993). Wir werden dann auf die Effekte des Überganges von allgemeinen arbeitsrechtlichen 26

Schutzbestimmungen auf die vertragliche Regulierung des Kündigungsverfahrens eingehen. Schließlich werden wir argumentieren, daß die Analysen der OECD unter einem weitreichenden "Reduktionismus" leiden.

Argumente zugunsten relativer Arbeitsplatzsicherheit

Seitens verschiedener theoretischer Schulen werden Argumente vorgebracht, die nahelegen, daß sowohl Firmen als auch Beschäftigte von stabilen Beziehungen, deren Dauer nicht im Vorhinein festgelegt ist, profitieren könnten. Ein erstes Argument stützt sich auf die Analyse der "Umschlagskosten". Zu Beginn einer Arbeitsbeziehung entstehen die verschiedensten Umschlagskosten (für Rekrutierung, Auswahl, Tests, Schulung usw.), und diese Kosten können nur wieder hereingespielt werden, wenn die Beziehung von einer gewissen Dauer ist. Ein zweites Argument verweist darauf, daß ein restriktives Kündigungsrecht die Asymmetrie entschärft, die für die Machtbeziehungen zwischen den Arbeitsmarktparteien so typisch ist. Eben weil sie diese Asymmetrie

abschwächen,

tragen

Kündigungsschutzbestimmungen

zu

effizienteren

marktlichen

Transaktionen bei (Mosley 1994). Der Ansatz, der von den Transaktionskosten ausgeht, weist vor allem dem Übergang zu befristeten Arbeitsverträgen Bedeutung zu (Rogowski/Schömann 1996). Schömann und Kruppe (1993) behaupten, daß klassische ökonomische Ansätze häufig den Begriff der "Transaktionskosten" zu eng fassen. Verhandlungen über die Bedingungen des Arbeitsvertrages werden als nur einmal entstehende Transaktionskosten betrachtet, die lediglich anläßlich der Einstellung eines Beschäftigten anfallen. Wenn es jedoch vorgezogen wird,

anstelle

eines

unbefristeten

Vertrages

mehrere

aufeinanderfolgende

befristete

Verträge

abzuschließen, dann können bei Auslaufen jedes einzelnen Vertrages neue Verhandlungen stattfinden. Diese Verhandlungen erhöhen die Transaktionskosten, vor allem da sie stets mit Ungewißheit über die Vertragsverlängerung verknüpft sind. Hervorgehoben wurde auch die Bedeutung der Stabilität in einer Situation der hohen "Spezifizität des Humankapitals" (Williamson 1981). An vielen Arbeitsplätzen werden betriebsspezifische Fertigkeiten benötigt; Arbeitgeber wie Arbeitnehmer sehen sich dann gezwungen, in sehr spezifischer Weise in Humankapital zu investieren — es sind dies Investitionen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, eng an die wechselseitige Beziehung geknüpft sind (mit der Gefahr von sunk costs verbunden 27

sind) und "Zinsen" für beide Parteien lediglich solange abwerfen, wie die Beziehung währt. In diesen Situationen haben beide Seiten ein Interesse, die Beziehung zu verlängern. Auch die Theorien der internen Arbeitsmärkte schließen sich dieser Argumentation an. Sie versuchen, die Frage zu beantworten, warum die Personalkapazität nicht in allen Segmenten des Arbeitsmarktes in gleichem Ausmaß schwankt. Ihrer Auffassung nach entwickeln sich stabile interne Arbeitsmärkte, die von dauerhaften Arbeitsmarktbeziehungen charakterisiert sind, wenn es die Natur der involvierten Technologie oder der Arbeitsorganisation erforderlich macht, betriebsspezifische Investitionen in Humankapital zu tätigen. Der Einsatz von kurzfristigen befristeten Verträgen bringt die Gefahr der Unterinvestition mit sich. Bei kurzfristigen Verträgen sehen sich sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer mit dem Risiko konfrontiert, daß der Vertrag nicht verlängert wird. Dies senkt nicht nur die Bereitschaft, in betriebsspezifische, sondern auch - in noch größerem Ausmaß — in allgemeine Qualifikationen zu investieren. Befristete Verträge verkürzen auch die Amortisationszeit dieser Investitionen. Ein hoher Personalumschlag unter temporären Beschäftigten bedeutet, daß Schulung häufiger ein Kostenbestandteil ist als eine Investition. Eine

ähnlich

Argumentationslinie

wird

von

Warnungen

gegen

die

Ausweitung

flexibler

Beschäftigungsformen verfolgt, eben weil sie mit der Wichtigkeit des Zieles, durch langfristige Arbeitsmarktbeziehungen eine hochqualifizierte und motivierte Belegschaft zu gewinnen, in Konflikt gerät. Eine erhöhte vertragliche Flexibilität, so das Argument, würde "hire-and Eire-Praktiken" fördern: die benötigten Qualifikationen würden direkt auf dem Außenmarkt eingekauft und schnell abgestoßen werden, wenn sie nicht mehr länger benötigt werden. Dies kann zu größerer Arbeitsplatzmobilität, kürzerer Beschäftigungsdauer und einer höheren Anzahl flexibler Jobs und herabgesetzter Arbeitsplatzsicherheit führen — Tendenzen, die ihrerseits den Zeithorizont verkürzen und Kürzungen der Investitionen in Humankapital anregen können. Eben deshalb finden es Arbeitgeber, die auf Grund von vertraglicher Flexibilität nach einer raschen Anpassung der Qualifikationsstruktur streben, häufig schwierig, eine Balance zwischen den verfügbaren Qualifikationen und den sich rasch wandelnden Qualifikationserfordernissen zu finden. Erhöhte vertragliche Flexibilität kann daher die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen gegenüber kurzfristigen Nachfrageschwankungen erhöhen, doch kann sie auch die längerfristigen Aussichten beeinträchtigen, indem sie jene Sicherheit eliminiert, die für die interne Flexibilität und employability so wichtig ist. Aus dieser Perspektive erscheinen Kündigungsschutzmaßnahmen als "flexible Rigiditäten" (Dore 1986), die unter bestimmten Bedingungen die Leistungsfähigkeit von Wirtschaftssystemen fördern, statt sie zu behindern. 28

Einer anderen Kategorie gehören Studien an, die Extemalitäten von Kündigungsregimes und Formen der erhöhten Flexibilität analysieren. Eine Externalität tritt auf, wenn die von einer Kündigung verursachten externen Kosten die Kosten übersteigen, die von den betroffenen Parteien getragen hätten werden müssen, hätte es keine Kündigung gegeben. Rigiditäten, wie etwa eine Kündigungsfrist und Vorankündigungen, können das Risiko des Auftretens solcher Externalitäten senken (Ruhm 1992, Hamermesh 1987). Wenn der Arbeitgeber ein Frühwarnsystem anwenden oder eine lange Kündigungsfrist einhalten muß, hat die Arbeitskraft die Chance, einen anderen Job zu finden, während sie noch immer beschäftigt ist. Dies dürfte die Friktionsarbeitslosigkeit senken. Auf diese Weise kommt es auch zu einer Entlastung des Arbeitslosenunterstützungssystems und des öffentlichen Beschäftigungssystems. Der Fall Renault in Belgien zeigt, daß solche Rigiditäten vor allem im Zusammenhang mit kollektiven Entlassungen auftreten, da dann die Externalitäten gravierend werden und zu einer massiven Störung des lokalen Arbeitsmarktes führen können.

Die Risiken der vertraglichen Regulierung

Hier entsteht eine zweite wichtige Frage. Wenn Arbeitgeber in manchen Situationen mehr von langfristigen Arbeitsmarktbeziehungen profitieren können als in anderen, wäre es dann nicht besser, das Ausmaß des Kündigungsschutzes einzelvertraglich festzulegen? Sind die an der Arbeitsmarktbeziehung beteiligten Personen nicht am ehesten in der Lage, die zweckmäßigste Regulierung der Kündigung in ihrer spezifischen Situation einzuschätzen? Einzelvertragliche

Reguliereng

ist

nicht

immer

effizient.

Ein

allgemeines

rechtsverbindliches

Kündigungsschutzsystem wird vor allem dort die Effizienz steigern, wo die Durchsetzung vertraglicher Regelungen teuer oder schwierig ist. Vertragliche Übereinkünfte ermangeln oft der Klarheit, was zu widersprüchlichen Interpretationen führen kann. In vielen Fällen ist der Schaden, der einem Beschäftigten daraus entstand, daß vertragliche Vereinbarungen ignoriert wurden, schwer einzuschätzen. Kommt es zu Streitigkeiten, dann muß das Verhalten der Vertragsparteien retrospektiv von einer dritten Partei bewertet werden, von einem externen "Schiedsrichter". Das Sammeln von Information dieses Typs ist schwierig, vor allem im Fall von vage formulierten Verträgen von langer Geltungsdauer. Dadurch wird die Rechtssicherheit gefährdet. Darüber hinaus beschleunigen einzelvertragliche Regelungen den Gang zu den Arbeitsgerichten, und dies kann höhere anstelle von niedrigeren Kündigungskosten erzeugen (Social Dialogue Committee 1995). 29

Rein vertragliche Regulierungen können auch das Risiko erhöhen, sich in das Gefangenendilemma zu verstricken (Levine 1991, Büchtemann/Walwei 1996). Wenn die Verhandlungen über die Beendigungsbedingungen einer Arbeitsmarktbeziehung den Parteien, die direkt an dieser Beziehung beteiligt sind, überlassen werden, dann kann man vernünftigerweise von der Annahme ausgehen, daß genau jene Unternehmen, die ein hohes Niveau des Schutzes bieten, auch eine größere Chance haben, Beschäftigte anzuziehen, die in anderen Firmen mit guten Arbeitsbedingungen ein höheres Entlassungsrisiko aufweisen; dies wird z.B. auf Arbeitskräfte zutreffen, deren Leistungen unterdurchschnittlich sind ("Negativselektion"). Dies mag individuelle Unternehmer nun dazu ermutigen, keine strengen Kündigungsstandards einzuführen. Selbstverständlich werden dann auch jene, die gute Leistungen bringen, davon betroffen sein. Ein ausgebautes Kündigungsschutzsystem kann das Risiko eines solchen Gefangenendilemmas herabsetzen. Das Risiko der Negativselektion wird allerdings durch ein restriktives Kündigungsrecht nicht notwendigerweise eliminiert ( Levine 1991). Dies deshalb, weil ein Arbeitgeber, der einen Beschäftigten rekrutiert, der sich im Nachhinein als unfähig herausstellt, keine Wahl hat, als mit ihm und mit dieser Entscheidung zu leben. Eine Lösung wäre es dann, eine hinreichend lange Probezeit einzuführen, während derer die gesetzlichen Einschränkungen der Kündigungsmöglichkeiten keine Anwendung finden. Dies sollte den Arbeitgeber in die Lage versetzen, die neu eingestellte Arbeitskraft am Arbeitsplatz gründlich zu überprüfen, ohne von allzu strengen Einschränkungen seines Kündigungsrechtes betroffen zu sein.

Reduktionismus

Die Empfehlungen der OECD basieren auf den Argumenten zugunsten expliziter oder impliziter Lockerungen des Systems des Kündigungsschutzes, die am Anfang dieses Papiers angeführt wurden. Daher ignorieren sie die Beobachtung, daß die Mehrheit der Versuche, die Auswirkungen erhöhter vertraglicher Flexibilität und eines verringerten Kündigungsschutzes zu messen, widersprüchliche Ergebnisse zu Tage fördern. Die Auswirkung auf die Arbeitslosenraten, die Erwerbsbeteiligung und die Mobilität sind z.B. wesentlich weniger eindeutig, als oft angenommen wird. Darüber hinaus zeigt der Vergleich von Belgien und den Niederlanden, daß das Ausmaß der Flexibilität eines nationalen institutionellen Rahmens hinsichtlich seiner quantitativen Auswirkungen nicht allein aufgrund der "neuen Flexibilitätsfomen" beurteilt werden kann; die Debatten in der internationalen Öffentlichkeit konzentrieren sich allzu sehr auf diese Zahlen. Die Faszination, die irreguläre Formen der 30

Beschäftigung ausüben, steht in starkem Kontrast zu dem beunruhigenden Desinteresse am Flexibilitätspotential von Konzeptionen der regulären Beschäftigung. Als Konsequenz ergibt sich eine reduktionistische Sicht der wirtschaftlichen Realität und der Funktionsweise des Arbeitsmarktes. Nur eine eingeschränkte Anzahl von Formen der Flexibilität und die zugehörigen Mechanismen werden in Betracht gezogen. Dies ist allerdings nicht das einzige Beispiel des in der öffentlichen Debatte zu Tage tretenden Reduktionismus. Die Fixierung auf das Formelle ist unvermeidlich, aber ebenso vielsagend. Die Diskussion und die daraus abgeleiteten Empfehlungen bewerten den institutionellen Rahmen, indem sie die zu dessen Charakterisierung verwendeten Ausdrücke wörtlich nehmen. Von temporärer Arbeit nimmt man an, daß sie temporär ist und daß sie daher nur unter temporären Umständen eingesetzt werden sollte. Die Tatsache, daß temporäre Arbeit auch Ausdruck einer bedingten Verpflichtung des Arbeitgebers sein kann, wenn er den Arbeitsvertrag schließt, wird kaum je ins Auge gefaßt. In ähnlicher Weise nimmt man von einem permanenten Beschäftigungsvertrag an, daß er eine ganze Karriere betrifft, was allerdings in der Wirklichkeit nicht der Fall sein muß. Die Diskussion würde an Klarheit und Stringenz gewinnen, wenn die Flexibilitätsformen stärker aufgrund der oft weiten Bandbreite ihrer Funktionen beurteilt würden. Es könnte auch sein, daß die Verwendung offizieller Daten nicht mehr zielführend ist und daß international vergleichende Forschung die benötigten Antworten zur Verfügung stellen muß. Die Flexibilitätsdebatte stützt sich immer wieder und in einem fort auf Argumente, die sich auf die Funktionsweise des Arbeitsmarktes auf der Makro-Ebene beziehen. Per se ist dies natürlich legitim, denn die erforderlichen Entscheidungen sind häufig auf dieser Ebene angesiedelt. Die Ergebnisse dieser Maßnahmen können jedoch nur auf der Ebene der Organisationen gemessen werden. Allzu oft werden die Argumente und die Gegenargumente einfach hin- und hergeschleudert, ohne daß jene, die sich ihrer bedienen, Einblick in die wirklichen Bedürfnisse und Leistungen von Organisationen im Bereich der Flexibilität haben. Die Diskussion ist daher mit einem ökologischen Fehlschluß behaftet. Sollen die Effektivität und Effizienz einzelvertraglich regulierter Flexibilität gemessen werden, dann muß diese falsche Perspektive zuallererst beseitigt werden. Wenn wir untersuchen möchten, wie die Flexibilität das Leistungspotential von Organisationen beeinflußt, können wir es nicht unterlassen, die Auswirkungen auf der betrieblichen Ebene zu betrachten. Das vorliegende Papier hat jedenfalls deutlich gemacht, daß in Belgien und den Niederlanden der institutionelle Rahmen in jeweils verschiedener Weise konstruiert wurde. Die holländische Gesetzgebung ermuntert vertragliche Flexibilität und erhöht damit das Ausmaß flexibler Beschäftigung. Die belgische Gesetzgebung konzentriert sich stärker auf die zeitliche Flexibilität. Ein Wettbewerb um das Höchstmaß an 31

Flexibilität hat angesichts dieser Beobachtungen wenig Sinn. Es geht nicht um "mehr" oder "weniger" Flexibilität, sondern um "verschiedene" Formen der Flexibilität. Der Vergleich zeigt, daß der Kompromiß zwischen relativer Arbeitsplatzsicherheit und ökonomischer Flexibilität in verschiedenen Formen eingegangen werden kann. Die funktionale Äquivalenz verschiedene Formen der Flexibilität ist selbstverständlich Beschränkungen unterworfen. Obwohl die beiden rechtlichen Regimes die Flexibilität der Beschäftigung fördern, werden die Auswirkungen nicht dieselben sein. Das holländische Modell begünstigt eine Beschäftigtenstruktur, die auf der minimalen Produktionskapazität basiert. Das belgische Modell stützt sich vor allem auf Personalkapazität, die an das durchschnittliche oder sogar das maximale Produktionsvolumen gekoppelt ist. Welche der beiden Strategien vorgezogen wird, hängt von einer Einschätzung der Pur und wider die beiden Modelle sprechenden Argumente ab. Trotz aller Kritik an einem angeblich allzu rigiden Arbeitsmarkt ist Belgien, wenn es aufgrund des Wesens und Ausmaßes der Arbeitsmarktregulierung beurteilt wird, sehr wohl in der Lage, dem Vergleich mit anderen Ländern des "Rheinischen" Modells, wie z.B. Holland und Deutschland, standzuhalten (siehe Koedijk/Kremers 1996). Eine Untersuchung der verschiedenen Elemente der institutionellen Arrangements und ihres Ineinanderspieles bringt den Beobachter zu dieser Schlußfolgerung. Eine Einschätzung des belgischen Kündigungsrechtes ist z.B. unvollständig, wenn die Regelungen, die sich auf irreguläre Beschäftigungsformen, die Arbeitsstunden und die temporäre Arbeitslosigkeit beziehen, aus der Analyse ausgespart werden. In einem gewissen Ausmaß stellen diese Faktoren einander wechselseitig kompensierende Mechanismen dar. Dieses Fazit entbindet uns selbstverständlich nicht der Aufgabe, weiterhin den jeweiligen institutionellen Rahmen kritisch zu betrachten. Wir haben weiter oben auf die Notwendigkeit hingewiesen, das System der temporären Arbeitslosigkeit zu aktivieren, sowie auf eine Anzahl von Anomalien in der belgischen Regelung des Kündigungswesens, vor allem auf die großen Unterschiede des Ausmaßes von Schutz, das den bluecollar- und den white-collar-Beschäftigten zuteil wird. Doch auch andere Arrangements müssen stetig auf ihre Effizienz und Fairness hin bewertet werden. Zum Beispiel erscheint die Verbesserung der arbeitsrechtlichen Stellung der Leiharbeit in den Niederlanden nachahmenswert – obwohl strengere Schutzmaßnahmen wie diese auch negative Nebeneffekte haben können: Sie machen Leiharbeit attraktiver und üben somit Druck auf das "Normalarbeitsverhältnis" aus. Sie können auch zu einer strengeren Selektion der Leiharbeitskräfte &ihren, wobei die Agenturen nur mehr jene Beschäftigten an sich binden, deren "employability" hervorragend ist. Eine der klassischen Funktionen der Leiharbeit, nämlich den schwächeren Teilnehmern auf dem Arbeitsmarkt die Chance zu geben, eben diese "employability" schrittweise aufzubauen, würde dann zerstört werden. 32

(Aus dem Englischen von H. G. Zilian)

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Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitlosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

Einleitung

Massenarbeitslosigkeit wird auch zukünftig ein Problem von zentraler politischer Relevanz sein, politische Parteien

werden

daran

gemessen

werden,

inwieweit

sie

Lösungen

für

die

drängenden

Arbeitsmarktprobleme glaubwürdig vorschlagen oder realisieren. Während der vergangenen Jahre entwickelte sich eine weltweite Debatte unter Sozialwissenschaftlern und Ökonomen darüber, ob wir in eine "Post-Job-Am" eintreten, das "Ende der Arbeit"1 erreichen oder – um einen weiteren einschlägigen Titel anzuführen– ob wir eine "joblose Zukunft" zu gewärtigen haben.2 Was diese Prognosen der Arbeitsmarktentwicklung gemeinsam aufweisen, ist der Versuch, eine allgemeine Perspektive für die Zukunft der Arbeitsmärkte in den hochindustrialisierten Ländern aufzuzeigen. Ihr Ausgangspunkt liegt in der Tatsache begründet, daß in den meisten westlichen Ländern, insbesondere jedoch in den europäischen Ländern, seit Anfang der 80er Jahre in jedem ökonomischen Abwärtszyklus der Anstieg der Arbeitslosenrate ein höheres Plateau als vorher erreichte – trotz einer z.T. deutlichen Zunahme der Beschäftigtenzahlen. Zum anderen finden sich weit verbreitete Tendenzen von Deregulation und Flexibilisierung, die in zahlreichen Ländern zu einer deutlichen Prekarisierung des Arbeitsmarktes führten. Der Anteil von Beschäftigten, die in den kommenden Jahren die persönliche Erfahrung beruflicher Umbrüche machen werden, wird darüber hinaus noch weiter deutlich ansteigen, wenn man allein die zu erwartenden Verschiebungen zwischen industriellen Arbeitsplätzen und dem tertiären Sektor annimmt und Entwicklungen antizipiert, wie sie sich beispielsweise in den USA schon längst vollzogen haben (Beschäftigtenanteil im tertiären Sektor im Jahre 1991: 77% USA vs. 55% BRD). Im vergangenen Jahrzehnt sind dementsprechend auch psychosoziale Probleme, die als Folge von Arbeitsplatzverlust oder fortdauernder Arbeitslosigkeit auftreten können, zunehmend in den Blick einer kritischen Sozial- und Gesundheitswissenschaft geraten.

5.1 Ausmaß und Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland

Seit Beginn der 80er Jahre weist die Bundesrepublik einen für die Zeit nach 1945 beachtlich hohen Sockel an Arbeitslosigkeit auf (vgl. im folgenden Kieselbach 1998; s. Abb. 5.1). 1 2

Rifkin 1995. Aronowitz/DiFazio 1994.

3

Dabei unterscheidet sich die Situation in Deutschland jedoch nur partiell von anderen europäischen Ländern. Insgesamt hat sich die hohe Sockelarbeitslosigkeit in drei Schüben aufgebaut, als Folge der beiden Ölkrisen Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre, sowie nach der letzten Rezession von 1993. Nach der Vereinigung 1989 entstand mit den wirtschaftlichen Problemen der neuen Länder und ihren transformationsbedingten hohen Niveaus an Arbeitslosigkeit ein zusätzliches spezifisches Problem des vereinigten Deutschland. Die BRD liegt inzwischen im Jahresdurchschnitt 1997 mit einer Arbeitslosenrate von 14,0 in Prozent der abhängigen Erwerbspersonen (oder 12,6% der zivilen Erwerbspersonen, was EUNormen entspricht) über dem gesamten Durchschnitt der EU, in der Ende 1996 mit 10,8% insgesamt 18,1 Mio. Menschen arbeitslos waren. Frauen waren in der BRD kontinuierlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Seit 1994 haben sich diese Werte jedoch angeglichen (1997: Frauen 11,2% vs. Männer 10,7%). Im Osten hingegen sind Frauen deutlich häufiger arbeitslos (1997: Frauen 22,5% vs. Männer 16,6%). Unter einer gesundheitspolitischen Perspektive sind besonders jene Menschen von Bedeutung, die längerfristig in der Arbeitslosigkeit verbleiben und die nach einem Jahr Dauer als Langzeitarbeitslose bezeichnet werden. Ihr Anteil an allen Arbeitslosen bewegte sich in den alten Ländern zwischen 12,9% (1980) und 36,1% (1997), in den neuen Ländern lag er zwischen 24,4% (1992) und 34,7% (1994); ihre absolute Zahl stieg von 450.000 im Jahre 1991 auf 1,46 Mio. im Jahre 1998 an (vgl. Abb. 5.2).

4

Die Unterschiede zwischen den alten Bundesländern und den neuen Bundesländern, in denen sich als Folge der Vereinigung transformationsbedingte hohe Arbeitslosigkeit entwickelt haben, sind regional beträchtlich. Sie weisen zum einen ein Ost-West-Gefalle, aber auch ein erhebliches Nord-Süd-Gefälle in den alten Bundesländern auf. Sie variierten im Januar 1997 zwischen 9,2 % in Baden-Württemberg und 22,4% in Sachsen-Anhalt. Der Anteil Arbeitsloser mit gesundheitlichen Einschränkungen variierte im Westen zwischen 19% in 1985 und 28,7% in 1992; Im Jahr 1997 lag er im Westen bei 25,3% der Arbeitslosen insgesamt. Im Osten stieg er seit dem Jahr 1992 von 10,0% auf 16,4% im Jahr 1997 an. Vertreten sind sie v.a. unter Arbeitslosen aus Arbeiterberufen, Älteren und Langzeitarbeitslosen. Sie stellen die wichtigste Problemgruppe des Arbeitsmarktes dar, ihre Chancen der Reintegration sind deutlich verringert. Ihre absolute Zahl ist inzwischen auf ungefähr 950.000 angestiegen. Zwischen registrierter Arbeitslosigkeit und Beschäftigung haben sich inzwischen eine Vielzahl von Zwischenformen herausgebildet, die neben der Stillen Reserve im engeren Sinne unterschiedliche Formen von Überbrückungserleichterungen oder die Abfederung eines vorzeitigen Ausstiegs aus dem Arbeitsmarkt beinhalten. Zu den im Jahresdurchschnitt 1997 registrierten 4,384 Mio. Arbeitslosen müssen noch die durch arbeitsmarktpolitische Instrumente wie ABM oder Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sowie Regelungen für ältere Arbeitslose (Stille Reserve in Maßnahmen) dem aktuellen Arbeitskräftepotential entzogenen Erwerbspersonen (1997: 1,185 Mio.) hinzugerechnet werden. Wenn man darüber hinaus noch 5

die resigniert Zurückgezogenen, aber prinzipiell an einer Arbeitsaufnahme Interessierten (1997: 1,868 Mio.) als Stille Reserve im engeren Sinne berücksichtigt, waren in der BRD 1997 sogar 7,437 Mio. erwerbsfähige Menschen ohne Arbeitsplatz. Die Prognosen des Arbeitsmarktes lassen für die kommenden Jahre ein noch deutlich größeres Maß an individueller Betroffenheit durch berufliche Umbrüche erwarten. Wenn man bereits vollzogene Entwicklungen in anderen hochindustrialisierten Ländern wie z.B den Trend zum Abbau industrieller Arbeitsplätze zugunsten sowohl gering- als auch hochqualifizierter Tätigkeiten im Dienstleistungssektor betrachtet, als auch konkreten Vorausschätzungen des Arbeitsmarktes Deutschland folgt, lassen sich umfangreiche Bewegungen zwischen der Gruppe der Beschäftigten und derjenigen der Arbeitslosen annehmen. Bereits in den vergangenen Jahren zeigte sich eine deutliche Zunahme bei zeitlich befristeten oder instabilen als prekär bezeichneten Beschäftigungsverhältnissen. Ihr Anteil stieg zwischen 1970 und 1995 von 16,5% auf 31% an.

5.2

Arbeitslosigkeit als psychosozialer Stressor

Die Erforschung des Zusammenhanges zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit ist mit folgenden Schwierigkeiten konfrontiert: Es gibt generell nur wenige Krankheiten, bei denen ein einfacher UrsacheWirkungs-Zusammenhang nachgewiesen werden kann (wie z.B. Infektionskrankheiten oder Vergiftungen), i.d.R. muß man sieh mit Wahrscheinlichkeitsaussagen zufriedengeben. Beim Vergleich des Gesundheitszustandes von Beschäftigten und Arbeitslosen müssen Selektions- (Menschen mit schlechterem Gesundheitszustand werden eher oder bleiben länger arbeitslos) von Sozialisationseffekten (Arbeitslosigkeit führt zu gesundheitlichen Belastungen) getrennt werden. In einer um Arbeit zentrierten Gesellschaft stellt die Berufstätigkeit die wichtigste Verknüpfung mit der Realität dar. Sie beinhaltet neben der Funktion des Gelderwerbs zum selbständigen Lebensunterhalt vielfältige andere psychische Punktionen: Sie stellt eine durch Vertrag vereinbarte verbindliche Aktivität dar, welche soziale Kontakte außerhalb des engeren sozialen Netzes vermittelt, in der Verfolgung gemeinsamer Ziele, welche über individuelle Ziele hinausgehen; zudem bietet sie Möglichkeiten zum Erwerb oder der Anwendung von Fähigkeiten, läuft innerhalb einer gesetzten Zeitstruktur ab und ist verknüpft mit einem sozialen Status, welcher Berufsprestige mit dem zentralen gesellschaftlichen Bewertungssystem Geld verbindet. Diese psychischen Funktionen sind nur schwer – vor allem nicht gebündelt wie in Erwerbsarbeit – durch andere gesellschaftliche Angebote zu ersetzen. 6

Gesundheitliche Belastungen, die aus Arbeitsbedingungen und -anforderungen resultieren, lassen sich nicht gegen die gesundheitlichen Folgen von Arbeitslosigkeit aufrechnen. Stattdessen müssen wir von einem

kreisförmigen

Zusammenhang

dieser

komplementären

Belastungsquellen

ausgehen:

Gesundheitlich belastende Arbeitsplätze erhöhen sowohl langfristig das Risiko gesundheitlicher Einschränkungen, und daraus resultierend wiederum das Risiko eines Arbeitsplatzverlustes. Bereits gesundheitlich belastete Arbeitslose sind gegenüber dem Streß der Arbeitslosigkeit zusätzlich verletzlich – da diese die Effekte anderer eigenständiger belastender Lebensereignisse verstärkt. Ein Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ist jedoch für Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen erheblich erschwert; ihre Arbeitslosigkeit dauert durchschnittlich länger an. Langzeitarbeitslose wiederum haben mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit abnehmende Chancen der Wiedereingliederung. Empirisch durchaus beobachtbare Verbesserungen der körperlichen Gesundheit bei Teilgruppen in der Anfangsphase von Arbeitslosigkeit ("Gesundheitsgewinn" 3) lassen auch einen Rückschluß auf die vorgängigen Arbeitsbelastungen zu. Ein anfänglich möglicher Erholungseffekt wird jedoch im weiteren Verlauf durch die Zunahme belastender Faktoren überlagert. Psychosozialer Streß infolge von Arbeitsplatzverlust und andauernder Arbeitslosigkeit setzt auf unterschiedlichen Ebenen an:

1.

Die mit der Arbeitstätigkeit verbundenen Momente von ökonomischer Sicherheit, sozialer Einbindung, Selbstwertgefühl, Zeitstrukturierung sowie externen Anforderungen schwächen sich ab oder gehen verloren (primäre Viktimisierung).

2.

Erfahrungen von Alltagsproblemen wie finanziellen Sorgen, Zukunftsunsicherheit und sozialer Stigmatisierung führen zu einer Verstärkung von Belastungen (sekundäre Viktimisierung).

3.

Sozial als unangemessen angesehene Formen der Bewältigung werden den Betroffenen selbst angelastet (tertiäre Viktimisierung): - zum einen jenen Menschen, die aufgrund des Mangels an persönlichen und sozialen Ressourcen mit ihrer Situation nur sehr unzureichend fertig werden und gravierende psychosoziale Probleme aufweisen; – zum anderen jenen positiven Bewältigem der Arbeitslosigkeit, die "zu gut" mit der Situation fertig werden, und denen deshalb Selbstverschulden und Mißbrauch des sozialen Sicherungssystems vorgeworfen wird.

3

siehe Brinkmann/Pouhoff 1983.

7

5.3

Moderatorvariablen der Bewältigung von Arbeitslosigkeit

Zweifellos gibt es keine bei allen gleichförmigen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit: Arbeitslosigkeit deckt ein breites

Panorama

unterschiedlicher

Lebenslagen

ab,

die

von

demographischen,

sozialen,

kulturspezifischen und individuellen Faktoren bestimmt werden. Für den einzelnen verbergen sich dahinter sehr unterschiedliche psychosoziale Problemlagen. Zwischen belastungsfreien Bewältigungsformen bei selbstgewählten beruflichen Obergängen und dramatischen Zuspitzungen als Folge einer Summierung alltäglicher Belastungen sowie einem Verstärkungseffekt von Arbeitslosigkeit bei psychosozialen Krisen, finden sich vielfältige Formen individueller Bewältigung. Im wesentlichen bestimmen folgende Faktoren die persönliche Bewältigung:4 Die Bedeutung bisheriger Arbeitserfahrungen stellt als Arbeits- oder Berufsorientierung einen zentralen Faktor dar. Wenn Beschäftigung ein hoher Wert zugeschrieben wird, leidet man erwartungsgemäß unter dem Verlust von Arbeit stärker. Das Ausmaß finanzieller Einschränkungen, der Zwang, Ausgaben drastisch einzuschränken oder Schulden zu machen, beinhaltet gleichfalls eine gewichtige Ursache psychosozialer Belastungen. Im Vergleich zu Ergebnissen der 30er Jahre, die Gesundheitseffekte auch aufgrund von Mangelernährung und schlechten Wohnverhältnissen fanden, muß zwar von einer gegenwärtig unvergleichlich besseren sozialen Absicherung ausgegangen werden, die zumindest ein schnelles Abrutschen von Arbeitslosen in Armut verhindert. Allerdings ist Arbeitslosigkeit inzwischen auch in der BRD wieder zu einem zentralen Verarmungsrisiko geworden; weitere Verschlechterungen der wirtschaftlichen Lage Arbeitsloser können zu einer drastischen Reaktualisierung der damaligen Befunde beitragen. Je nach lebensphasenspezifischer Bedeutung von Arbeit oder in Abhängigkeit davon, ob man bereits die Erfahrung von Arbeit gemacht hat, bestehen altersabhängige Belastungsprofile. Arbeitslose im mittleren Alter (in der Regel mit abhängigen Angehörigen) sind am verletzlichsten, die Belastungen bei Älteren (aufgrund einer oft resignativ vorgezogenen Verrentung) als auch bei Jüngeren (die noch nie gearbeitet haben) sind im Mittel etwas geringer. Jungen Menschen werden aber auch Entwicklungschancen mit der Vorenthaltung von Arbeit genommen, die i.d.R. ihre psychische Gesundheit verbessern (wie der Übergang von Schule in Arbeit), so daß sich zwischen berufstätigen und arbeitslos bleibenden Jugendlichen insofern eine Schere öffnet.

4

vgl. Kieselbach 1994, 1995.

8

Bei einem Vergleich der Reaktionen von Männern und Frauen auf Arbeitslosigkeit zeigen sich vorrangig dann Unterschiede, wenn Berufstätigkeit für diese eine unterschiedliche Bedeutung hat. Das Vorhandensein gesellschaftlicher Alternativrollen zur Arbeit kann die individuellen Folgen des Verlustes abmildern. Bei Frauen sind Alternativen eher in traditionellen sozialen Rollen als Hausfrau und Mutter gegeben, was manchen Frauen eine Abwanderung in die "Stille Reserve" des Arbeitsmarktes nahelegt. Die Ergebnisse aus den neuen Ländern zeigen jedoch deutlich, daß die vormals hohe Erwerbsbeteiligung sowie eine starke Berufsorientierung von Frauen für vergleichbare Belastungen wie bei Männern verantwortlich sind.5 Es besteht ein erhebliches Risiko, daß Arbeitslosigkeit über eine "Retraditionalisierung" von Geschlechterrollen bereits erreichte Ansätze zur Gleichstellung der Geschlechter zunichte machen kann. Während sich in anderen Ländern mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit eher Anzeichen von resignativer Anpassung an die Lebenssituation außerhalb von Erwerbsarbeit aufzeigen lassen, finden wir für die BRD eher einen Anstieg der Belastungswerte. Auch wenn mit der Gewöhnung an Arbeitslosigkeit Phänomene von Normalisierung einer ursprünglich unerträglichen Lebenssituation einhergehen (z.B. durch die Verringerung von Stigmatisierungserfahrungen), verhindern zunehmende Sorgen und finanzielle Schwierigkeiten bei ungebrochener Orientierung auf Erwerbsarbeit eher eine langfristige Anpassung. Arbeitslose mit niedriger Qualifikation haben ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Diese sind von höheren

Belastungen

in

der

Arbeitslosigkeit

betroffen

und

verfügen

zumeist

über

weniger

Bewältigungsfähigkeiten, was ihre ausgeprägteren Streßwerte erklären kann. Der psychosoziale Streß in der Arbeitslosigkeit ist besonders hoch bei jenen, die nur ein geringes Aktivitätsniveau, v.a. bei qualifikationsbezogenen und sozialen Aktivitäten aufweisen, mit denen sie ihre Zeit strukturieren. Demgegenüber gibt es auch Formen aktiver Bewältigung von Arbeitslosigkeit mit starker sozialer Einbindung, die durch geringere Belastungen gekennzeichnet sind. Auch Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft können hier eine wichtige Schutzfunktion erfüllen. Kritische Lebensereignisse wie der Arbeitsplatzverlust können durch ein unterstützendes soziales Umfeld (sozialer Rückhalt) leichter bewältigt werden als in sozialer Isolierung. Menschen, die nicht alleinstehend sind, sich durch Familie oder Freunde unterstützt fühlen, haben bessere Voraussetzungen zur Bewältigung. Arbeitslose Jugendliche haben eher dann eine positive, optimistische Zukunftsorientierung, wenn sie durch ihr Umfeld soziale Unterstützung erfahren; gleichzeitig erfolgt dieses jedoch zumindest in der Familie seltener als bei Beschäftigten.

5

Ehrhardt/Hahn 1993.

9

5.4

Zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit

5.4.1 Gesundheitliche Folgen von Arbeitslosigkeit bei Betroffenen

Bei den Folgen von Arbeitslosigkeit handelt es sich zweifellos nicht um einen Reaktionsautomatismus, der bei jedem Arbeitslosen gleichförmig eintritt. Die differentielle Arbeitslosenforschung hat nachgewiesen, daß die Reaktion auf das kritische Lebensereignis Arbeitslosigkeit variieren kann zwischen relativ belastungsfreien Formen (insbesondere wenn es sich um einen selbstgewählten Übergang in ein anderes Beschäftigungsverhältnis handelt) und katastrophalen selbstzerstörerischen Zuspitzungen, welche sich als Endpunkt einer Summation alltäglicher Probleme herausgebildet haben.6 Für die Moderation der individuellen Bewältigung spielen demographische, soziale und individuelle Faktoren eine wichtige Rolle, wie -

individuelle Einstellungen und Fähigkeiten, z.B. die Arbeits- und Berufsorientierung, das Bewältigungsverhalten in kritischen Lebenssituationen sowie die Verfügbarkeit und die Angemessenheit sozialer Unterstützung,

-

Normen und Werte der Gesellschaft oder Gemeinschaft wie Arbeitsethik, die Arbeitslosenrate, d.h. das Ausmaß der Normalität von Arbeitslosigkeit,

-

die finanzielle Situation in der Arbeitslosigkeit,

-

die Phase, in der sich jemand innerhalb des Arbeitslosigkeitsprozesses befindet starke Streßreaktionen zu Beginn werden von gemäßigten im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit abgelöst, wonach bei einigen eine (häufig jedoch resignative) Anpassung an die Arbeitslosigkeit folgen kann, bei anderen sich die Gesundheitssituation hingegen weiter verschlimmert.7

Im Durchschnitt wirken sich jedoch die Verringerung der finanziellen Mittel, der Verlust der positiven Funktionen von Arbeit sowie die mit ansteigender oder anhaltender Massenarbeitslosigkeit zunehmende Perspektivlosigkeit vieler Arbeitsloser äußerst negativ auf ihre psychische und körperliche Gesundheit aus.8 Die nachgewiesenen psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit wie Depressivität, Angstlichkeit, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, allgemeine Nervosität und Konzentrationsstörungen können, wenn die Arbeitslosigkeit längere Zeit andauert, auch eine Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit zur Folge

6

Wacker 1983; Kieselbach/Wacker 1987. Siehe WHO 1989; Kieselbach 19876, 1988b, 1991. 8 Catalano 1993. 7

10

haben. Bei arbeitslosen Jugendlichen konnten klinische Untersuchungen eine gravierende Zunahme von behandlungsbedürftigen psychiatrischen Störungen nachweisen.9 Es gibt eine weitgehende Übereinstimmung unter Arbeitslosenforschern, daß Langzeitarbeitslose generell eine soziale Gruppe mit hohem Risiko für gesundheitliche Schädigungen als Folge von Arbeitslosigkeit sind.10 Als besonders gravierend lassen sich die Gesundheitseffekte für verheiratete Männer mit abhängigen Kindern einschätzen. Arbeitslosigkeit hat hier die schädigendsten Auswirkungen, infolge -

hoher familiärer Anforderungen,

-

einer intensiven Arbeitsorientierung (wegen ihrer Ernährer-Rolle und der vorherrschenden kalvinistischen Arbeitsethik),

-

erzwungener Abhängigkeit vom Staat, die als beschämend erlebt wird,

-

größerer finanzieller Probleme.

Darüber hinaus sind besonders jene Arbeitslosen besonderen Risiken ausgesetzt -

mit einer geringen Qualität sozialer Unterstützung oder starken Gefühlen von Einsamkeit und

-

mit einem relativ schlechten physischen oder psychischen Gesundheitszustand schon bei Eintritt der Arbeitslosigkeit.

5.4.2 Dimensionen gesundheitlicher Belastungen

Arbeitslosigkeit weist einen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung auf mehreren Ebenen auf:

1.

Arbeitslose

zeigen

deutlich

Gesundheitszufriedenheit,

schlechtere

gesundheitlicher

Gesundheitsindikatoren Probleme

hinsichtlich

(psychosomatische

subjektiver

Beschwerden,

Bettlägerigkeit), eines riskanteren Gesundheitsver-haltens (Rauchen, Alkohol, sportliche Aktivitäten), sowie einer erhöhten Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Dienstleistungen (Medikamentenkonsum, Arztbesuche, stationäre Aufenthalte.11

9

Finlay-Jones/Eckhardt 1984. WHO 1989. 11 Bammann/Helmerl 1994; vgl. ihre deutlich höheren Risiken im Vergleich zu Erwerbstätigen. 10

11

2.

Die Zunahme der Arbeitslosigkeit führt zu einem Absinken des Krankenstandes bei Beschäftigten (BRD 1975-84), entweder weil medizinische Behandlungen unterbleiben oder weil nicht unbedingt notwendige Arbeitsabwesenheiten vermieden werden.12

3.

Die mit einem Anstieg der Arbeitslosenrate einhergehende öffentliche Ressourcenknappheit kann eine Verschlechterung gesundheitsbezogener Dienstleistungen bedingen.

4.

Bereits die ungewisse Arbeitsplatzbedrohung stellt einen erheblichen Stressor dar, der zur Beeinträchtigung der psychischen und körperlichen Gesundheit führt.

Subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes

Hinsichtlich der persönlichen Gesundheitszufriedenheit finden wir durchgängig niedrigere Werte bei Arbeitslosen. Ungefähr ein Viertel von ihnen bescheinigt sich selbst einen schlechten Gesundheitszustand (im Unterschied zu nur 10% bei Erwerbstätigen; vgl. auch Abb. 5.3), bei ausländischen Arbeitslosen ist dieser Anteil noch höher.13 Diese Ergebnisse müssen vorsichtig bewertet werden, da der Indikator Gesundheitszufriedenheit eher undifferenziert ist, da er beispielsweise Kultur- und Schichtunterschiede sowie Differenzierungen zwischen chronischen und aktuellen Befindlichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt.

12 13

John 1987. Elkeles/Seifert 19936.

12

Gesundheitsverhalten

Der mit Arbeitslosigkeit verbundene Verlust an längerfristigen Perspektiven, die ja eine wesentliche Voraussetzung

für

eine

gesunde

Lebensführung

bilden,

kann

zu

einem

risikohafteren

Gesundheitsverhalten führen und damit langfristige Schäden bewirken. Bei arbeitslosen Jugendlichen ließ sich ein solcher gesundheitsriskanterer Lebensstil bezüglich Rauchen, Alkoholkonsum, Schlafgewohnheiten und Mangel an sportlicher Betätigung finden. Der im allgemeinen insgesamt bessere Gesundheitszustand von Jugendlichen führt dazu, daß die gesundheitlichen Folgen eines solchen riskanten Lebensstiles voraussichtlich erst deutlich später auftreten.14 Bei längerer Dauer der Arbeitslosigkeit zeigen sich stärkere Ausprägungen im Bereich physischer Inaktivität, sozialen Rückzugs, der Desorganisation von Schlaf-und Eßgewohnheiten, einem verstärkten Konsum von Alkohol und Tabak sowie dem Aufsuchen medizinischer Dienste.15 Dies ist ein Hinweis darauf, daß sich gesundheitsriskante Verhaltensweisen bei arbeitslosen Jugendlichen in der Regel erst nach einer bestimmten Dauer der Arbeitslosigkeit entwickeln. Rauchen stellt gerade bei Arbeitslosen ein stark verbreitetes Belastungs-Bewältigungsverhalten dar. Das im Gesundheitssurvey (88-91) festgestellte 3-fache Risiko zu rauchen, wurde bereits früher bestätigt. Der Gesundheitssurvey (1984-86) fand bei arbeitslosen Männern eine Raucherquote von 71% (im Vgl. zu 40% bei Vollzeitbeschäftigten; bei Frauen 43% vs. 35%)16. Insbesondere die starken Raucher (>20 Zig./Tag) finden sich unter arbeitslosen Männern. Daraus resultieren abschätzbare zukünftige Gesundheitsrisiken. Es gibt für die BRD keinen allgemeinen Zusammenhang eines Anstiegs der Arbeitslosenrate mit gesteigertem Alkoholkonsum, auch nicht bei Arbeitslosen.17 Bei ihnen intensiviert sich allerdings der Konsum von Alkohol als Droge, wenn ein solches Konsummuster schon vor der Arbeitslosigkeit bestand.18 Dieser Zusammenhang ist besonders stark ausgeprägt bei Männern und dann, wenn die Arbeitslosigkeit bereits längere Zeit anhält, bei großen finanziellen Einschränkungen sowie geringer sozialer Integration und Unterstützung. Besonders verletzlich sind Personen, die schon zum Zeitpunkt des Arbeitsplatzverlustes alkoholabhängig sind. Bei einem erheblichen Teil dieser Arbeitslosen chronifiziert sich das Abhängigkeitssyndrom und es verschlechtert sich ihre körperliche Gesundheit generell. Als ein Hauptproblem im Zusammenhang mit der Rehabilitation von Alkoholabhängigen kann inzwischen

14

Kannas/Hietarharju 1979; zitiert nach ludert 1985. Turtle/Ridley 1984. 16 Bormann 1992. 17 vgl. Gesundheitssurvey 88-91, Schach et al. 1994. 18 vgl. Henkel 1992. 15

13

angesehen werden, daß der Anteil der arbeitslosen Alkoholabhängigen in den ambulanten und stationären Behandlungseinrichtungen auf je nach Klinik zwischen 30% und 45% angestiegen ist, ohne daß in ausreichendem Maße spezifische Rehabilitationsstrukturen für Arbeitslose geschaffen wurden.19 Bei Arbeitslosen liegen die Rückfallquoten nach Behandlung jedoch überproportional hoch. Trotz der zweifellos vermehrt zur Verfügung stehenden Zeit, sind Arbeitslose seltener sportlich aktiv (Nationaler Gesundheitssurvey). Die gerade bei psychosozialem Streß kompensatorischen Chancen sportlicher Aktivitäten können deshalb aufgrund der besonderen Lebenslage Arbeitslosigkeit nicht wirksam werden.

Gesundheitliche Beschwerden

Psychische Beeinträchtigungen, v.a. aus dem depressiven Formenkreis, treten besonders in der Anfangsphase häufiger auf als manifeste körperliche Symptome, die sich ja erst nach einer gewissen Zeit herausbilden. In zahlreichen Untersuchungen fanden sich hinsichtlich der psychischen Gesundheit drastische Unterschiede zwischen Arbeitslosen und vergleichbaren Gruppen Beschäftigter: Depressive Verstimmungen, Unzufriedenheit mit der aktuellen Lebenssituation, Angstlichkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, geringes Selbstwertgefühl, Resignation bis hin zu Apathie, geringes Aktivitätsniveau und soziale Isolation sowie Einsamkeit repräsentieren die wichtigsten Symptome einer schlechteren psychischen Gesundheit Arbeitsloser. Die Verschlechterung bei körperlichen Beschwerden zeigt sich hinsichtlich psychosomatischer Aspekte von Gesundheit und im Bereich jener Faktoren, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Die Auswirkung auf physiologische Indikatoren, welche die psychosomatische Morbidität beeinflussen (Blutdruck, Katecholamin- und Cholesterinspiegel, Immunsystem) wurde bislang nur in anderen Ländern nachgewiesen. 22% arbeitsloser Männer erwähnten im Vergleich zu 13% Erwerbstätiger psychische und körperliche Beschwerden, bei Frauen war der Unterschied nicht so ausgeprägt.20 Insbesondere andauernde Arbeitslosigkeit hat einen schädlichen Effekt auf die psychische und physische Gesundheit und zwar besonders in Abhängigkeit von finanziellen und anderen psychosozialen

19 20

Fachverband Sucht 1996. Bormann 1992.

14

Belastungen.21 Nahezu jeder dritte Langzeitarbeitslose geht davon aus, daß sich seine gesundheitlichen Probleme infolge der Arbeitslosigkeit vergrößert haben oder erst durch sie entstanden sind. 22

"Opfer-durch-Nähe" in der Arbeitslosigkeit

Bislang in der BRD ebenfalls zu wenig untersucht sind die indirekten Effekte von Arbeitslosigkeit auf andere Familienmitglieder wie Partner oder Kinder. Aufgrund von Studien aus anderen Ländern kann angenommen werden, daß diese als "Opfer-durch-Nähe" in der Arbeitslosigkeit mit einem Verzögerungseffekt erheblich mitbetroffen sind; Kinder v.a. dann, wenn die Eltern selbst nicht in der Lage sind, das Problem angemessen zu bewältigen.23 Hier könnten sich möglicherweise langfristige gesundheitsrelevante Effekte herausstellen, wie sie als Langzeitwirkung von Arbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise nachgewiesen wurden: trotz späterer beruflicher Erfolge blieb bei Kindern damals arbeitsloser Eltern das Gefühl, Opfer zu sein sowie eine erhöhte Verletzlichkeit durch Streß erhalten. Wenngleich von vielen arbeitslosen Vätern als positives Moment der Arbeitslosigkeit häufig angeführt wird, "endlich mehr Zeit für die Familie zu haben"24, zeigt sich in der Wirklichkeit jedoch oft, daß es aufgrund der mit dem Arbeitsplatzverlust verbundenen finanziellen Probleme und Alltagssorgen allgemein, der Unplanbarkeit der eigenen beruflichen Zukunft oder der sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung häufig nicht möglich ist, wenigstens diesen Aspekt der unbeschränkt zur Verfügung stehenden Zeit positiv zu erleben. Die meisten Eltern in Arbeitslosen-Familien bemühen sich intensiv darum, die Folgen der Arbeitslosigkeit weitgehend von ihren Kindern fernzuhalten, beispielsweise indem sie Ausgaben für ihre Kinder erst später reduzieren, und sind insofern bemüht, zu verhindern, daß ihre Kinder in der Arbeitslosigkeit besonders belastet werden. Dennoch führt der familiäre Streß auch bei Angehörigen mit einem Verzögerungseffekt zu vergleichbaren Symptomen wie bei Arbeitslosen selbst.25 Die Bewältigung der Arbeitslosigkeit durch die Eltern selbst bestimmt in starkem Maße mit, inwieweit sich z.B. väterliche Arbeitslosigkeit auf die Kinder auswirkt. In einer holländischen Studie zeigten insbesondere

21

BrinkmanNPonhoff 1983.

22

a.a.O Kieselbach 1988; Kieselbach/Lödige-Röhrs 1991. 24 Brinkmann 1984. 25 Buss/Redhurn 1983. 23

15

jene Kinder eine Verschlechterung ihrer Schulleistungen, deren Eltern langzeitarbeitslos waren und die ihre Lage nicht gut bewältigten 26 Ökonomisch deprivierte Kinder, d.h. Kinder aus Familien, die starke finanzielle Einbußen meistens als Folge von Arbeitslosigkeit hinnehmen mußten, machen häufiger selbstabwertende Äußerungen, sie weisen ein deutlich geringeres Selbstwertgefühl auf, sind depressiver, einsamer, empfindlicher, weniger gesellig, mißtrauischer und weniger in der Lage, Streß zu bewältigen.27

Sterblichkeit

Arbeitslosigkeit kann als ein diffuser Stressor zur Entstehung oder Verstärkung einer Vielzahl von Krankheiten beitragen. In anderen Ländern zeigt sich eine deutlich erhöhte allgemeine Sterblichkeit bei Arbeitslosen, v.a. als Folge von Herz-Kreislauferkrankungen. Dabei waren Hinweise auf einen eigenständigen Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit gewichtiger als die Gesundheitsselektion in Arbeitslosigkeit. Auf Basis von regionalen AOKDaten fand sich 1981-1982 für die BRD eine allgemeine Sterblichkeit, die bei Arbeitslosen um das 2,6fache erhöht war.28 Während in einer Reihe anderer Länder (für Deutschland nur zwischen 1923 und 1947) ein Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und (versuchten) Selbströtungen nachgewiesen wurde, insbesondere bei Männern mittleren und höheren Alters, läßt sich dies für die BRD nicht bestätigen

29

Auch für junge

Arbeitslose fand sich eine größere Häufigkeit von Selbsttötungen in verschiedenen Ländern, für die BRD ergab sich hingegen nur eine sehr schwache Verknüpfung.

Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen

Der durch Arbeitslosigkeit ausgelöste Streß kann zu einer Veränderung von Einstellungen gegenüber hilfegewährenden Institutionen und damit auch der Inanspruchnahme führen. Zum einen vermeiden Arbeitslose oft das Aufsuchen professioneller Hilfe bei psychosozialen Problemen, um ihr durch den Verlust 26

Baarda 1988. siehe ausführlicher Kieselbach et al. 19986. 28 Schach et al. 1994. 29 Häfner 1990. 27

16

von Arbeit bereits beeinträchtigtes Selbstwertgefühl durch eine Annahme von Hilfe nicht noch zusätzlich zu gefährden; sie neigen aufgrund der mit Arbeitslosigkeit verknüpften Gefühle wie Selbstwertzweifel, Scham und Stigmatisierung stärker dazu, diese zu verbergen. Dies kann eine Verschleppung und künftige Chronifizierung von Gesundheitsproblemen bedingen. Zudem sind Wiederbeschäfligungschancen eng an Arbeits- und Leistungsfähigkeit gekoppelt, was eine Verharmlosung solcher Einschränkungen nahelegt. Die Krankenrolle kann bei andauernder Erfolglosigkeit der Arbeitsuche aber auch zur subjektiven Entlastung beitragen. Es findet sich einerseits eine geringere Nutzung gesundheitlicher Vorsorgeuntersuchungen für Kinder von seiten Arbeitsloser infolge Unterbrechung oder Abbruch, was sich als Ablenkung der Energien von langfristig orientiertem, präventivem Gesundheitsverhalten verstehen läßt.30 Andererseits ist vielfach empirisch bestätigt, daß Arbeitslose Hilfe in der Gesundheitsversorgung bei bestehenden Beschwerden deutlich öfter aufsuchen als Erwerbstätige.31 Sie sind zwar sehr viel seltener (dann aber länger) arbeitsunfähig gemeldet als Beschäftigte (wobei sich der Unterschied zwischen 1981 und 1991 erheblich verringert hat, a.a.O.), verursachen aber sichtlich höhere Aufwendungen für Arztbesuche, Medikamente und stationäre Behandlungen (um 65-70% in einer Studie bei 2 Ortskrankenkassen Ende der 70-er Jahre)32. Während deutsche Beschäftigte innerhalb eines Vierteljahres im Mittel 4,0mal einen Arzt aufsuchten, taten dies deutsche Arbeitslose 5,5mal; ausländische Arbeitslose gingen sogar 6,9mal zum Arzt O. Vgl. zu 4,4mal bei Beschäftigten)33. Die stärkere Nutzung gesundheitsbezogener Dienstleistungen belegt vorrangig die größere gesundheitliche Problemdichte Arbeitsloser (gleich, ob sie aus früherer Arbeitstätigkeit und/oder Arbeitslosigkeit resultiert), sie kann aber zusätzlich durch den Wunsch nach Beseitigung vermittlungshemmender gesundheitlicher Probleme sowie eine erhöhte Problemaufmerksamkeit motiviert sein.

5.4.3 Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit auf Beschäftigte

Bei der vorrangigen Beschäftigung mit den psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit sollte man jedoch nicht die gesundheitlichen Schädigungen von Arbeitstätigkeiten aus dem Blick verlieren. Darüber hinaus müssen die indirekten Streu-Effekte einer hohen Arbeitslosenrate auf Beschäftigte konstatiert werden. 30

Albrecht-Richter et al. 1984. z.B. Elkeles/Seifert I 993a, Schach et al. 1994); vgl. auch Abb. 5.3. 32 vgl. John 1987. 33 SOEP: Elkeles/Seifert 19936. 31

17

Es läßt sich allerdings ein interessanter kreisförmiger Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Folgen von Arbeit und den Effekten von Nicht-Arbeit konstruieren, sodaß die unproduktive Fragestellung, was ist gesünder oder ungesünder, Arbeit oder Arbeitslosigkeit, auf einer neuen Ebene aufgehoben wird: •

Die gesundheitlichen Belastungen vieler Arbeitsplätze erhöhen das Risiko zu erkranken (deshalb findet sich bei einzelnen Arbeitslosen auch ein'Gesundheitsgewinn' in der Anfangsphase der Arbeitslosigkeit, insbesondere dann, wenn diese vorher besonders belastende Arbeitsplätze hatten).



Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Einschränkungen haben wiederum das höchste Risiko, entlassen zu werden.



Langzeit-Arbeitslosigkeit kann zu gesundheitlichen Schädigungen führen, welche wiederum die Wiedereinstellungschancen verringern.



Massenarbeitslosigkeit

führt

jedoch

auch

zu

einer

Verschlechterung

bestehender

Arbeitsverhältnisse, was häufig damit entschuldigt wird, daß durch die Lockerung gesetzlicher Schutzvorschriften Arbeitslosigkeit eher beseitigt würde. Arbeitsplatzunsicherheit wiederum ist derjenige arbeitsplatzbezogene Belastungsfaktor, welcher einen engen Zusammenhang mit der Entstehung psychischer Störungen aufweist 34 •

Schon in der Phase der konkreten Ankündigung von Entlassungen (der sog. Antizipationsphase von Arbeitslosigkeit) verschlechtert sich die gesundheitliche Situation vieler Beschäftigter beispielsweise in den Dimensionen Schlafstörungen, innere Unruhe und geringe Belastbarkeit35 oder stärkerer Inanspruchnahme medizinischer Leistungen wie Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte.36

5.4.4 Interventionsmaßnahmen und Wiederbeschäftigung

Wie können Arbeitslose in der Bewältigung von Arbeitslosigkeit unterstützt werden? Es liegen gegenwärtig wenig systematische Analysen der unterstützenden Wirkung von Interventionsmaßnahmen bei LangzeitArbeitslosen vor. Zwar konnte ein deutlicher Stabilisierungseffekt infolge der Teilnahme an Interventionsprogrammen wie dem 'Youth Opportunities Programme' (YOP) in Großbritannien nachgewiesen werden. Dieser verlor sich jedoch relativ schnell wieder nach Ablauf der Maßnahme.37 Unter der Bedingung eines sich verschlechternden Arbeitsmarktes fiel dieser positive Einfluß von Interventionsmaßnahmen zudem 34

Dilling et al. 1984. Pelzmann et al. 1987. 36 BealefNethercon 1985. 37 Stafford 1982. 35

18

deutlich geringer aus.38 In Schweden stellte sich ein positiver Effekt von Interventionen nur unter der Voraussetzung ein, daß diese sehr aufwendig und angemessen konzipiert wurden.39 Es gibt allerdings Hinweise darauf, daß viele Hilfs- und Beratungsangebote für Arbeitslose nicht erreichbar, annehmbar oder sensibel genug für deren Problemsituation konzipiert und deshalb auch von nur geringer Wirksamkeit sind.40 Interventionsmaßnahmen der Arbeits- und Sozialverwaltungen zur Begrenzung der schädigenden Effekte von Arbeitslosigkeit verfolgen zwei Ziele: die Erleichterung einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und die psychosoziale Stabilisierung in der Arbeitslosigkeit.41 Höhere Erfolgsraten, insbesondere für längerfristig Arbeitslose, zeigen sich bei Maßnahmen, in denen eine intensive sozialpädagogische Betreuung bei der Bewältigung psychosozialer Probleme hilft. Erfolgreich sind vorrangig Maßnahmen, bei denen Elemente von Beschäftigung, Qualifizierung und Sozialbetreuung in engem Bezug auf die industrielle Realität (z.B. in Betriebspraktika) integriert sind. Psychosoziale Stabilisierung läßt sich oft nur während der Maßnahmenteilnahme selbst feststellen, sie geht bei einem späteren Verbleib in der Arbeitslosigkeit eher wieder verloren. Eine wichtige Funktion, auch in gesundheitsbezogener Hinsicht, nehmen Arbeitslosenprojekte in freier, kirchlicher, gewerkschaftlicher oder verbandlicher Trägerschaft wahr, die 1996 auf ca 1.500 Projekte, davon 160 Arbeitslosenzentren und 120 -treffs, geschätzt wurden (Gewerkschaftliche Koordinierungsstelle). Besonders für die neuen Bundesländer wird von einem starken Beratungsbedarf gesprochen (25.500 Beratungskontakte pro Monat in 1996, Arbeitslosenverband), An dieser Stelle möchte ich auf die Ergebnisse von zwei Längsschnittuntersuchungen aus den Niederlanden und Finnland eingehen, die auch die Gesundheitseffekte von Wiederbeschäftigung ermittelten.42 Jene, die ein neues Beschäftigungsverhältnis auch nach einer länger dauernden Arbeitslosigkeit aufnahmen, wiesen in beiden Ländern ein deutlich verbessertes Wohlbefinden in den Dimensionen depressive Beschwerden (in der holländischen Studie), negative Stimmungen und Gefühle von Einsamkeit (in der finnischen Studie) auf. Die Verbesserungen auch für jene, die erst später wiederbeschäftigt wurden, stellten sich schnell ein und waren spektakulär. Um diese Ergebnisse angemessen zu interpretieren, muß berücksichtigt werden, daß Wiederbeschäftigung nach einer langen Phase der Arbeitslosigkeit zusätzlichen Streß in der Anfangsphase produziert, z.B. 38

Branthwaite/Garcia 1985. Ametz et al. 1987. 40 Buss/Redbum 1983. 41 Kieselbach/Klink 1997. 42 Verkleij 1989; Lahelma/Kangas 1989. 39

19

aufgrund der Notwendigkeit einer Aneignung neuer beruflicher Routinen oder des Akzeptierens schlechterer Arbeitsplatzmerkmale im Verhältnis zur früheren Beschäftigung.43 Deshalb können Ergebnisse hinsichtlich des psychosozialen Wohlbefindens in der Anfangsphase der Beschäftigung auch eher noch eine Unterschätzung der positiven Auswirkungen von Wiederbeschäftigung beinhalten. Wichtig erscheinen mir diese Ergebnisse aber gerade auch hinsichtlich vielfältiger Vorurteile auf Seiten von Unternehmern, die davon ausgehen, daß Langzeitarbeitslosigkeit per se individuelle Defizite produziert, die sich auch durch eine spätere Wiederbeschäftigung nicht mehr kompensieren lassen.

5.5

Resignative und konstruktive Anpassung an Langzeitarbeitslosigkeit

Was löst eigentlich in kritischen Lebenssituationen allgemein Streß aus? Es ist meistens die Diskrepanz zwischen Ziel und Realität bei unzureichenden persönlichen Ressourcen, diese neue Situation zu bewältigen (Kieselbach 1990). Hinzu kommen Chronizität und Unkontrollierbarkeit des Stressors als zusätzliche Faktoren. Die Erfahrung zeigt, daß Menschen sich an Situationen anpassen, damit schädliche Faktoren erträglicher werden, oder weil sie auch schwierige Bedingungen erfolgreich bewältigen wollen. Es muß an dieser Stelle die wichtige Unterscheidung zwischen konstruktiver und resignativer Adaptation an Langzeitarbeitslosigkeit vorgenommen werden, um die langfristigen Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit näher bestimmen zu können44 Resignative Anpassung ist gekennzeichnet durch eine leichte Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, dies bleibt aber deutlich unter demjenigen von Menschen in Beschäftigung. Die Unsicherheit bezüglich der Zukunft nimmt stark ab: sie wird so sein wie die Gegenwart. "Die gegenwärtige Situation mag unangenehm sein, aber die Erfahrung von Sicherheit bezüglich einer unangenehmen Zukunft wird oft einer zweideutigen und unsicheren Situation vorgezogen."45 Durch das Langsamerwerden in kognitiven Bereichen und auf der Verhaltensebene (was kennzeichnend für depressive Stimmungen ist) kann paradoxerweise die Anpassung insoweit erleichtert werden, als die unausgefüllte Zeit dadurch geringer und Langeweile reduziert wird. Eine Reduktion der Berufsorientierung kann ebenfaIls helfen, das psychische Wohlbefinden zu stabilisieren oder zu verbessern. Die Verringerung von Streßwerten, gemessen mit Instrumenten, welche sich primär auf affektives Wohlbefinden beziehen,46 kann jedoch bei resignativer Anpassung auch langfristige negative Effekte in 43

PerfettiBinghmn 1983. Warr 1987, 1989. 45 Wart 1989, S. 37. 46 GHQ von Goldberg 1972. 44

20

solchen Dimensionen psychischer Gesundheit wie Anspruchsniveau, Kompetenz und integriertem Funktionieren ver- bergen. Deshalb ist die Interpretation verringerter Streßwerte, als eine erfolgreiche Anpassung an Arbeitslosigkeit auch eher oberflächlich, da eine solche Verbesserung des affektiven Wohlbefindens die mögliche Verschlechterung in anderen Dimensionen psychischer Gesundheit unberücksichtigt lassen kann. Mit konstruktiver Anpassung ist demgegenüber ein Prozeß gemeint, bei dem sogenannte 'proaktive' Arbeitslose keine oder nur geringe psychosoziale Schwierigkeiten haben und sich auf unterschiedlichen Ebenen psychosozialen Wohlbefindens an die soziale Rolle außerhalb der Erwerbstätigkeit adaptieren.47 Sie kompensieren den Verlust der latenten individual- und sozialpsychologischen Funktionen von Arbeit weitgehend mit anderen sozialen Aktivitäten, wie der Ausdehnung früherer Hobbies, Schwarzarbeiten oder der Intensivierung sozialer Kontakte, und leiden unter der Arbeitslosigkeit nicht oder nur geringfügig. Hierbei sollte jedoch einschränkend berücksichtigt werden, daß proaktive Arbeitslose in der Regel höhere berufliche Qualifikationen besitzen und bereits in ihrer früheren Beschäftigungssituation proaktiv waren. Die empirische Beweiskraft stammt gegenwärtig zudem vorrangig aus einer kleinen qualitativen Untersuchung, bei der Arbeitslose von Sozialarbeitem als gute Bewältiger ('good copers') ausgewählt worden waren.48

5.6

Zur Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Begleitung beruflicher Transitionsprozesse

Bereits gegenwärtig ist von einer erheblichen Zunahme beruflicher Übergänge auszugehen, eine Tendenz, die voraussichtlich zukünftig noch deutlich ansteigen wird. Wenn wirtschaftliche Umstrukturierungsprozesse gesellschaftlich als notwendig angesehen werden, müssen diese jedoch auch gesellschaftlich begleitet werden, da der Einzelne oft überfordert ist, solche beruflichen Transitionsprozesse ohne angemessene Unterstützung zu bewältigen. In diesem Zusammenhang sollen im folgenden Überlegungen zu zukünftigen Entwicklungen berufsbiographischer Verläufe skizziert werden:

-

Die

allgemeine

Zunahme

beruflicher

Übergänge

führt

zu

einer

größeren

Häufigkeit

transitionsbedingten Streßerlebens (primäre Viktimisierung);

47 48

Fryer/Payne 1984; Fryer 1986. Fryer/Payne 1984.

21

-

Stigmatisierungseffekte von Transitionszuständen wie Arbeitslosigkeit verstärken darüber hinaus das individuelle Streßerleben und fordern von Betroffenen größere Bewältigungsleistungen (sekundäre Viktimisierung);

-

die

für

diese

Bewältigungsleistungen

notwendigen

personalen

Ressourcen

(individuelle

Bewältigungskompetenz) und sozialen Ressourcen (soziale Unterstützung) sind oft nicht hinreichend ausgebildet oder z.B. aufgrund zunehmend individualistisch gewordener Lebensformen häufig nicht ausreichend vorhanden, wodurch eine angemessene Bewältigung beruflicher Transitionen verhindert werden kann. Dafür werden dann oft in Form eines "blaming the victim" gerade jene nicht-erfolgreichen Bewältiger selbst noch verantwortlich gemacht (tertiäre Viktimisierung)

Aufgrund dieser Faktoren besteht die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Beratung und Begleitung -

zur Normalisierung und

-

Entstigmatisierung solcher beruflichen Transitionsprozesse, womit eine wichtige Grundlage geschaffen werden könnte zur

-

Verbesserung der individuellen Bewältigung beruflicher Transitionsprozesse.

Zentrale Voraussetzung dafür ist jedoch die Möglichkeit, solche Transitionsphasen individuell sinnvoll ausfüllen zu können, sie nicht lediglich als "Leerstellen" in der eigenen beruflichen Biographie erfahren zu müssen. Auf dem Hintergrund dieser vorgängigen Überlegungen sollten integrierte Konzepte entwickelt werden, welche -

unterschiedliche Dimensionen von Beratung und Begleitung systematisch aufeinanderbeziehen,

-

berufliche Übergänge als qualifikationsbezogenes Moratorium fassen,

-

beim Einzelnen die Angst vor einer ungewissen Zukunft soweit verringern, daß er handlungsfähig bleibt,

-

ihm eine akzeptierte soziale Identität für den Zeitraum des Überganges vermitteln sowie

-

gesellschaftliche Rahmenbedingungen schaffen, in denen gesellschaftliche Verantwortung als Ausgleich für die soziale Ungerechtigkeit der Arbeitslosigkeit sichtbar wird.

Gesellschaftliche Angebote der Begleitung beruflicher Transitionen wären demnach als ein sozialer Begleitschutz zu konzipieren mit 22

-

Brücken aus der Arbeitstätigkeit heraus (Outplacement),

-

Pontons in der Phase der Arbeitslosigkeit in Form von Qualifizierungs- oder sozialen Unterstützungsangeboten und

-

Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zurück in Form von Reintegrationshilfen (Replacement),

-

die auch bis in die Phasen von Wiederbeschäftigung hineinreichen (lnplacement), welche ja oft zu Mißerfolg und damit erneuter Arbeitslosigkeit führen, weil nach längerdauernder Arbeitslosigkeit und der Entwöhnung von Arbeitsroutinen die neue Berufstätigkeit einen eigenständigen Stressor darstellt, für den die vorhandenen persönlichen Ressourcen nicht ausreichend sein können.49

5.7

Vorteile integrierter Outplacement/Replacement-Konzepte

5.7.1 Vorteile für die Entlassenen

Mit dem Arbeitsplatzverlust und einer daraus resultierenden Arbeitslosigkeit können vielfältige Streßerfahrungen verbunden sein. Die Annahme erscheint gerechtfertigt, daß die Antizipation solcher Stressoren sowie professionelle Hilfe als Form sozialer Unterstützung von Bewältigungsprozessen beim betroffenen Individuum psychosoziale Schädigungen zumindest verringern kann.50 Solche individuellen Effekte integrierter Outplacement/Replacement-Konzepte können in folgenden Bereichen angenommen werden:

-

Entindividualisierung beruflicher Transitionen,

-

Abfederung des Schocks, der durch eine Entlassungsankündigung ausgelöst wird,

-

verstärkte Gefühle von Sicherheit hinsichtlich der persönlichen beruflichen Zukunft durch die Antizipation sozialer Unterstützung im beruflichen Obergang

-

Reduzierung des psychosozialen Stresses in der Arbeitslosigkeit aufgrund einer professionellen Beratung, die sich bezieht auf

-

49 50

Klärung finanzieller Probleme,

siehe ausführlicher Kiesclbach 1997. Klink et al. 1995, Kieselbach et al. 1998a.

23

-

Immunisierung gegen den Arbeitslosigkeitsstreß durch Informationen über und die Bearbeitung potentieller Schädigungen aufgrund der Arbeitslosigkeit,

-

Analyse persönlicher Ressourcen und Defizite hinsichtlich Qualifikationen, Interessen, Motivationen etc.,

-

Analyse regionaler Optionen hinsichtlich aktueller und zukünftiger Arbeitsmarktanforderungen und entwicklungen, vorhandener Interventions- und Qualifizierungsangebote etc.,

-

gemeinsame Erarbeitung persönlicher beruflicher Entwicklungspläne, die individuelle als auch soziale Ressourcen und Optionen verbinden.

Die Entwicklung eines solchen integrierten Konzeptes von OP/RP-Beratung läßt sich als ein sozialer Begleitschutz („social convoy"51) interpretieren, der die in-dividuelle Bewältigung beruflichen Wandels erleichtert. Jenen Personen, die von industriellen Umstrukturierungen betroffen sind, werden damit soziale Ressourcen zur Verfügung gestellt. Diese können sie befähigen, in einer schwierigen persönlichen Umbruchsituation aktiv das Wachstumspotential zu nutzen, welches in beruflichen Transitionen ebenfalls vorhanden sein kann, anstatt daß sie sich ledig- lich als soziales Opfer begreifen. Ein integriertes OP/RP-Konzept muß allerdings viele der Beschränkungen überwinden, die mit dem klassischen Outplacement verknüpft sind, welches für einen langen Zeitraum das Image einer besseren "betrieblichen Sterbebegleitung" hatte, die vorrangig dazu diente, organisationsbezogene Reibungsverluste zu verringern, welche mit Personalentlassungen verknüpft sind. Erst wenn auch das Interesse des Individuums, als Ergebnis der OP/RP-Beratung eine äquivalente Wiederbeschäftigung zu erlangen, als gleichberechtigt akzeptiert und einbezogen wird, kann ein solches Instrument ein respektiertes Image gewinnen und in organisationalen und industriellen Settings im Konsens angewendet werden.

5.7.2 Vorteile für die Organisation

Worin könnten die Gründe für eine Organisation bestehen, Ansätze einer integrierten Beratung und Begleitung beruflicher Transitionen der Beschäftigten anzuwenden? Unter der Perspektive einer fortschrittlichen Management-Philosophie muß das soziale Kapital der Belegschaft als zentrale Bedingung einer hohen Produktivität angesehen werden. Wenn Firmen eine umfassende Transitionsberatung im angesprochenen Sinne anbieten, kann dieses die Übernahme sozialer

51

i.S. von Antonucci 1985.

24

Verantwortung für notwendige Prozesse industrieller Umstrukturierung im Interesse der Erhaltung von Wettbewerbsfähigkeit dokumentieren. Während die Antizipation einer möglichen Entlassung durch die Firma im allgemeinen eher zu einer Verringerung des Engagements für die Firma führt, kann das Angebot einer Transitionsberatung im Gegenteil auch zu einer höheren Identifikation beitragen. Die Antizipation einer professionellen und umfassenden Beratung im Fall einer unvermeidbaren Trennung von der Organisation kann eine Verringerung des Antizipationsstreß beim Arbeitsplatzverlust bewirken und gleichfalls langfristig die negativen Gesundheitseffekte von Arbeitsplatzunsicherheit im allgemeinen positiv beeinflussen. Konzipiert als formale Verpflichtung der Organisation, die auch in Arbeitsverträgen festgelegt ist (wobei der Anspruch des Arbeitnehmers auf umfassende Transitionsberatung verbindlich festgeschrieben wird), könnte diese Gefühle wechselseitiger Verantwortung und Verpflichtung begünstigen. Auf diese Weise würde ein legitimer Anspruch die Grundlage von Hilfe bilden: Die zu beratende Person muß sich nicht zwangsläufig erst als unfähig zur eigenständigen Lösung ihrer beruflichen Probleme darstellen und insofern auch nicht ihr Hilfesuchen im Beratungsprozeß als Hinweis auf persönliche Defizite eröffnen,52 sondern kann eine professionelle Beratung als legitimen und garantierten Bestandteil ihres Arbeitsverhältnisses als selbstverständlich akzeptieren. Die Vorteile einer umfassenden Transitionsberatung für die Organisation sind in folgenden Bereichen zu sehen: -

die Vermeidung oder Reduktion organisationsbezogener (z.B. auch juristischer) Konflikte bei Entlassungen,

-

die organisationale Abfederung von Personalabbaumaßnahmen,

-

eine größere Transparenz im Prozeß des Personalabbaus,

-

die Vermeidung von Produktivitätsverlusten als Folge von Demotivation, geringerem Engagement für die Organisation und Tendenzen inneren Ruckzugs von seiten der nicht-entlassenen Beschäftigten als "survivors-of-layoffs".

-

die Übernahme sozialer Verantwortung durch das Unternehmen und die Organisation als Bestandteil der Firmenkultur in ihrer Innen- und Außenwirkung.

Es soll an dieser Stelle betont werden, daß mit dem hier dargelegten, gegenwärtig eher noch programmatischen Konzept nicht intendiert ist, die Verantwortung für berufliche Transitionen und deren gesellschaftliche Begleitung einseitig den entlassenden Unternehmen oder Organisationen zu

52

Kieselbach 1990.

25

überantworten. In der Forderung nach integrierten Konzepten ist beinhaltet, daß eine enge Verzahnung von bereits

bewährten

Interventionsmaßnahmen

der

Arbeitsverwaltung

und

von

Institutionen

der

Sozialverwaltung als auch des psychosozialen Sektors mit einer neu zu konturierenden Verantwortung der Firmen vorgenommen wird. Die Verknüpfung solch unterschiedlicher Beratungsangebote könnte ein Herausfallen cun betroffenen Individuen aus dem institutionellen Kontext des bisherigen Betriebes auffangen, so daß das Risiko einer längerfristigen Unterbrechung der beruflichen Entwicklung vermindert wird. Im Bereich der strukturellen Kurzarbeit, der Schaffung von know-how-Pools qualifizierten Personals außerhalb des entlassenden Betriebes sowie der Initiiemng von Beschäftigungsgesellschaften (vorrangig in den neuen Bundesländern) oder Arbeitsstiftungen (wie in Österreich) zum Auffangen entlassener Beschäftigter gibt es hier gerade in den letzten Jahren erfolgversprechende Ansätze, die es hinsichtIich der dabei gemachten Erfahrungen kritisch zu bewerten gilt. Die Hauptverantwortung für die Bewältigung des Problems Arbeitslosigkeit sollte demnach weiterhin bei der Arbeitsverwaltung liegen, diese sollte jedoch in stärkerem Maße als bislang auch von Synergieeffekten profitieren, die bei einer engeren Verschränkung von betrieblicher Personalpolitik mit Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich Weiterbildung und Ansätzen psychosozialer Beratung zu erwarten sind. Die Begleitung von Menschen in beruflichen Transitionsprozessen, die durch eine industrielle Umstrukturierung erzwungen worden sind, könnten Betroffene durchaus als Ausgleich eines von ihnen subjektiv erlebten Unrechts erfahren. Beratung für Arbeitslose i.S. einer Transitionsbegleitung muß aber sensibel von stigmatisierenden Effekten freigehalten werden, um die bei Arbeitslosen vorhandenen Barrieren gegenüber dem Aufsuchen oder Annehmen von Hilfe zu überwinden. Eine Konzipierung des Verhältnisses zwischen Arbeitslosen und der Gesellschaft auf der Basis legitimer Ansprüche würde die psychosoziale Lage von Arbeitslosen erheblich erleichtern. Sie wären dann nicht mehr Objekt altruistischer Fürsorge, sondern Partner von Beratung und Betreuung in einer beruflichen Transitionsphase.53 Grundlage ihres Verhältnisses zur Gesellschaft und ihren Institutionen wäre demnach die Annahme, daß die Kosten industrieller Umstrukturierungen, die zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und der langfristigen Überlebensmöglichkeiten unserer Volkswirtschaft als unumgänglich angesehen werden, auch solidarisch getragen werden müssen und nicht jenen individuell aufzubürden sind, die davon persönlich betroffen sind.

53

siehe auch Montada 1993, S. 42.

26

Aus einer gesundheitspsychologischen Perspektive ließe es ein hier vorgeschlagener Diskurswechsel in Richtung einer Normalisierung von beruflichen Transitionen mit temporären Arbeitslosigkeitsphasen möglich erscheinen, daß die individuelle Bewältigung des potentiellen Stressors Arbeitsplatzverlust weniger psychosoziale Schädigungen verursacht. Sowohl die primäre Bewertung seines bedrohlichen Charakters bereits in der Antizipationsphase könnte sich dadurch positiv verändern als auch die sekundäre Bewertung personaler und sozialer Ressourcen für die Bewältigung eines bereits eingetretenen Stressors.54 Auf diese Weise könnte eine potentiell schädigende Situation nicht mehr nur als Bedrohung wahrgenommen werden, wobei der Aufinerksamkeitsfokus auf der möglichen Schädigung liegen würde, sondern diese könnte auch unter dem Aspekt der Herausforderung kogniziert werden; hierbei läge die Betonung auf dem Gefühl der Meisterung einer schwierigen Situation oder des persönlichen Wachstums.55 Die berufliche Transition erschiene dem Einzelnen dann zwar nicht völlig kontrollierbar, jedoch in stärkerem Maße durch ihn selbst beeinflußbar. Hierin könnte ein wesentlicher Ansatzpunkt zur Entschärfung der gesundheits- und sozialpolitischen Hypothek von Massenarbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit liegen.

5.8

Nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit (sustainable employability) als Schlüsselkategorie der zukünftigen Arbeitsmärkte

Für die Arbeitsmarktpolitik bedeutet ein solches Verständnis beruflicher Transitionen, daß sie stärker vorausschauende Ansätze formulieren und damit eine präventive Orientierung entwickeln muß. Aus welchen Elementen könnte eine solche präventive Arbeitsmarktpolitik bestehen, die zu verhindern sucht, daß aus der Beschäftigungskrise des Einzelnen eine individuelle Katastrophe wird?

1.

frühzeitige professionelle Beratung: Eine unmittelbar nach der Entlassungsentscheidung einsetzende Beratung durch firmenexterne Berater beinhaltet die Chance des Auffangens massiver emotionaler Trauerreaktionen, welche die Handlungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt deutlich beeinträchtigen können.

2.

Beratungsangebote

auf

der

Basis

legitimer

Ansprüche

statt

der

Selbstdefinition

von

Hilfsbedürftigkeit: Viele Hilfsangebote für Arbeitslose machen explizit oder implizit die Annahme, daß jemand diese Angebote nur dann in Anspruch nimmt, wenn er allein nicht in der Lage ist, seine 54 i.S. von Lazarus/Folkman 1984. 55 Worlman 1983.

27

berufliche Transition eigenständig kompetent zu bewältigen. Das Konzept des sozialen Geleitschutzes meint nicht, daß jeder Arbeitsplatzverlust durch einen professionellen Berater begleitet werden sollte. Oft wird eine solche Beratung weder notwendig sein noch vom Betroffenen gewünscht werden. Sie kann jedoch dazu beitragen, einen beruflichen Übergang überhaupt zu ermöglichen in Fällen, in denen dieses ohne fremde Hilfe ansonsten nicht gelingt oder sie kann einen solchen Übergang beschleunigen. Daran hat in der Regel nicht nur der Arbeitslose selbst, sondern auch die Gesellschaft erhebliches Interesse, da Beratung als Erleichterung auch einen wichtigen Beitrag zur Verkürzung von kostenintensiven und unproduktiven Arbeitslosigkeitsphasen leisten kann. Erst wenn die Inanspruchnahme von kompetenter Beratung im Falle einer Entlassung einen selbstverständlichen Bestandteil der Arbeitsbeziehungen und damit auch die Grundlage für legitime Ansprüche von Seiten des Arbeitnehmers bildet, wird diese Beratung ihre präventive Wirkung umfassender entfalten können. 3.

Barrieren zwischen Arbeitsplatzverlust und Langzeit- oder Dauerarbeitslosigkeit: Um zu verhindern, daß sich durch einen Mangel an sozialer Unterstützung in Form von Beratung und Betreuung die Erfahrung von Arbeitsverlust von einer krisenhaften Erfahrung zu einer katastrophalen Zuspitzung psychosozialer Probleme entwickelt, sollten die für die primäre Viktimisierung bedeutsamen Charakteristika von Chronizität und Unkontrollierbarkeit des Stressors Arbeitslosigkeit durch gesellschaftliche Ansätze wie z.B das von der EU-Kommission für Beschäftigung Mitte der 80er Jahre erstmalig entwickelte Konzept der sozialen Garantie beseitigt werden.56 Damit ist gemeint, daß Arbeitslose, falls ihre Bemühungen um Wiederbeschäftigung bis dahin noch nicht erfolgreich waren, nach einer bestimmten Dauer der Arbeitslosigkeit (gestaffelt für Jugendliche und ältere Arbeitslose) einen Anspruch auf eine Beschäftigung im kommunalen Bereich oder in modifizierten Konzepten zumindest auf die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme erlangen.57

Wenn Globalisierungsprozesse unzweifelhaft dazu beitragen, daß Arbeitsverhältnisse prekärer, d.h. für den Einzelnen weniger planbar und berechenbarer werden, sollten wir dennoch aus der Tradition einer europäischen Sozial-, Arbeitsmarkt- und Industriepolitik heraus versuchen, Konzepte zu entwickeln, die nicht ausschließlich dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit um jeden Preis verpflichtet sind, sondern ein europäisches

56 57

Konzept

eines

neuen

Gesellschaftsvertrages

formulieren,

das

individuelle

MISEP 1986; Mawson 1986. Kempe 1998.

28

Entwicklungsmöglichkeiten mit den Anforderungen industrieller Wettbewerbsfähigkeit in Übereinstimmung bringt. Ein solches Konzept scheint mir in den Überlegungen, die auf EU-Ebene mit dem Terminus Beschäftigungsfähigkeit verknüpft sind, gegeben zu sein. Ich will dies im folgenden näher erläutern: Die umwälzenden Veränderungen, die allein unsere Ökonomie aufgrund der Entwicklung der Kommunikationstechnologie durchlaufen haben, haben den Bereich der Qualifikation der Beschäftigten, d.h. in der Regel den Bereich der betriebsintemen Qualifikation drastisch verändert. Wenn wir jedoch Individuen befähigen wollen, mit einer geringeren Arbeitsplatzsicherheit, wie sie sich bereits in den letzten drei Jahrzehnten zu entwickeln begonnen hat, leben zu lernen, müssen wir überlegen, über welche Kompetenzen Beschäftigte zukünftig verfügen müssen, um angemessene Bewältigungsformen mit diesen Arbeitsverhältnissen auf Zeit und unter deutlich geringer gesetzlich geregelten Bedingungen herauszubilden. Das europäische Modell ist im Unterschied zum nordamerikanischen Modell erheblich stärker durch eine Orientierung

auf

soziale

Verantwortung

gekennzeichnet.

Globalisierungsprozesse,

die

wenig

gesellschaftlich gesteuert werden, bergen die Gefahr in sich, Umorientierungen ausschließlich auf individuelle Verantwortung vorzunehmen, die für das nordamerikanische Modell normativ sind. Das hier vorgetragene Konzept des sozialen Konvois bei beruflichen Transitionen scheint mir am ehesten geeignet zu sein, einer solchen Gefahr zu begegnen. Generell sind allerdings die gegenwärtigen europäischen Unterstützungssysteme von Arbeitslosen sehr stark statisch und wenig transitionsorientiert ausgerichtet.58 Ihre vorrangige Prämisse besteht darin, daß Menschen, die entlassen worden sind, wieder einen neuen Job im Bereich ihrer erworbenen Qualifikationen bekommen. Wenn jedoch die rapiden Veränderungen in Qualifikationsanforderungen sich auch in der Struktur der Sicherungssysteme von Arbeitslosigkeit niederschlagen sollen, müßten diese stärker unter einer Perspektive von employability Qualifizierung und Transitionsbegleitung i.S. des sozialen Konvois beinhalten. Das Konzept der employability (Beschäftigungsfähigkeit) ist jedoch ein recht komplexer Begriff. Dieser spricht gleichzeitig die Fähigkeiten und Kompetenzen des Einzelnen, die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze, die Arbeitsorganisation sowie das Bildungs- und Ausbildungssystem an. Eine Veränderung des Fokus auf employability impliziert jedoch auch eine massive Veränderung der Arbeitsverwaltung bzw. jener sozialen Unterstützungssysteme, die für Arbeitslose zuständig sind. Diese sollten personell so ausgestattet sein, daß sie die Entwicklung verschiedener Berufe sowie potentieller lokaler Arbeitsmärkte 58

Euz€by1999.

29

bewerten können sowie die Koordinierung der Aktionen der unterschiedlichen Akteure zu leisten imstande sind, die auf eine Integration der Arbeitslosen am Arbeitsmarkt abzielen.59 Es läßt sich generell die These vertreten, daß nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit, die eine der vier Säulen der EU-Beschäftigungsstrategie darstellt, an zentraler Stelle die Arbeits(platz)sicherheit der zukünftigen Arbeitsmärkte darstellen wird. Welches sind die längerfristigen gesellschaftlichen Zielperspektiven für die Bewältigung beruflicher Transitionen ? -

Arbeitsplatzsicherheit der Zukunft: nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit

-

Schaffung sozialer Ressourcen: sozialer Konvoi

-

Entwicklung

personaler

Ressourcen:

persönliche

Initiative,

Selbstorganisationsfähigkeit,

Selbstmanagement, Entrepreneurship -

Stärkung personaler Ressourcen für die Bewältigung beruflicher Umbrüche: Sozialisationsziele und -inhalte müssen den gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere im Arbeitsmarktbereich, angepaßt werden (z.B. Neudefinition der Aufgaben gesellschaftlicher Institutionen wie Schule)

-

Konzept der "lemenden Organisation" (prospektive Entwicklung und Anpassung von Qualifikationen an zukünftige berufliche Anforderungen).

Hierbei ist allerdings auch der gesellschaftliche Kontext von erheblicher Bedeutung, in dem Menschen auf neue Anforderungen und Veränderungen reagieren. Wir haben beispielsweise in einem binationalen Vergleich 22 Fallstudien mit mittleren Managern in Italien und Deutschland durchgeführt, die wir zu ihrem Umgang mit Arbeitsplatzunsicherheit befragten. Das erste verblüffende Ergebnis – wir sind jedoch noch mitten in der Auswertung – war, daß obwohl die Firmentypen in Italien und Deutschland vergleichbar waren, die individuellen Reaktionen deutlich nationale Differenzierungen widerspiegelten: Während die italienischen Manager die instabile Situation viel eher als Herausforderung und Öffnung gegenüber Neuem interpretierten, tendierten die Reaktionen der deutschen Manager durchgängig in Richtung einer Bewertung von Arbeitsplatzunsicherheit als massiver Bedrohung.60 Wenn wir ein zukünftiges europäisches Beschäftigungsmodell entwickeln wollen, in dem sich wesentliche Charakteristika von gesellschaftlicher Verantwortung mit verstärkten Flexibilitätsanforderungen verknüpfen, ist es wichtig, sich mit den Ergebnissen der Forschung zur individuellen Bewältigung von Arbeitsplatzunsicherheit kritisch auseinanderzusetzen. Dabei gilt es, jene Momente herauszuarbeiten, die es dem 59

60

Euzeby 1999. Kieselbach et a1. 2000.

30

Einzelnen ermöglichen, mit instabilen Situationen konstruktiv umzugehen. Nur wenn hier eine Balance gefunden wird von Rahmenbedingungen, die förderliche Momente zur individuellen Bewältigung sozialen und

beruflichen

Wandels

beinhalten,

mit

der

Entwicklung

individueller

Kompetenzen

wie

Selbstorganisationsfähigkeit und persönlicher Initiative, läßt sich von einer sozialverträglichen Gestaltung industrieller Umstrukturierung sprechen. Für ein solches umfassenderes Verständnis der Gestaltung beruflicher Übergänge ist jedoch auch eine veränderte Sichtweise der Aufgaben des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes unabdingbar. Dieser müßte sich zukünftig ebenfalls mit Problemen der innerbetrieblichen Ausgestaltung von Personalabbaumaßnahmen, ihrer Verknüpfung mit Anpassungsqualifizierungen sowie einer über die Beschäftigung in der bisherigen Firma hinausreichenden Begleitung befassen. Erste Ansätze finden sich hierzu in den Überlegungen der Working Group "Unemployment and Health" des International Committee an Occupational Health (ICOH). Sie führte die erste internationalen Tagung zu diesem Thema in Paris im September 1998 durch, bei der state-of-the-art-Berichte aus 15 Ländern vorgetragen wurden. Die Ergebnisse der Tagung wurden unter einer Überschrift publiziert, die den Zusammenhang zwischen den Fragestellungen der Arbeitslosenforschung und dem Bereich Occupational Health prägnant formulierte: "Le chömage – est-il une maladie professionnelle?"61

Literatur Albrecht-Richter, J.; Thiele, W.; Ruhl, U. (1984): Quer- und längsschnittliche Analyse der Inanspruchnahme des Früherkennungsprogramms Kinder. In: J. Albrecht-Richter und W. Thiele (Hrsg.): Prävention bei Schwangeren und Säuglingen (S.77-187). Berlin: Berliner Arbeitsgruppe Strukturforschung im Gesundheitswesen (BASiG), TU Berlin. Antonucci, T.C. (1985): Social support: Theoretical advances, recent findings and pressing issues. In: J.G. Sarason und R.B. Sarason (eds.): Social support: Theory, research and applications (pp. 21-38). Dordrecht: Martinus Nijhoff. Amen, B. B.; Wasserman, 3.; Perrin, B.; Brenner, S.-0.; Levi, L.; Eneroth, P.; Salovaara, H.; Hjelm, R.; Salovaara, L.; Theorell, T.; Paterson, I.-L. (1987): Immune function in unemployed women. Psychosomatic Medicine, 49, 3-12. Aronowitz, S.; DiFazio, W. (1994). The Jobless Future. Sei-Tech and the Dogma of Work. Minneapolis: Univ. of Minneapolis Press.

61

Bertran/Claussen 1999.

31

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35

6 Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen Margareta Kreimer Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

6.1

Einleitung

Flexibilisierungsprozesse am Arbeitsmarkt bringen ebenso wie massive Veränderungen beispielsweise in den Familienstrukturen oder bei Normen und Einstellungen die Notwendigkeit von Anpassungen im Sozialsystem mit sich. Obwohl diese Debatte unter verschiedensten Titeln (Reform, Umbau, Abbau etc. des Wohlfahrtsstaates) intensiv geführt wird, bleibt meistens außer Acht, daß damit in hohem Ausmaß geschlechtsspezifische Effekte verbunden sind. Diese beruhen darauf, daß sich die bisherige Integration von Frauen sowohl im Arbeitsmarkt als auch im sozialen Sicherungssystem von der der Männer unterscheidet. Zwei Beispiele aus Osterreich sollen dies einleitend verdeutlichen: Zum ersten zeigen die Daten zur Arbeitslosigkeit von Frauen und Männern folgende Unterschiede: •

Die jahresdurchschnittliche Frauenarbeitslosenquote ist höher als die der Männer, sie sinkt auch in den Monaten mit geringer Saisonarbeitslosigkeit kaum ab.1



Frauen weisen einen deutlich höheren Anteil an schwervermittelbaren Arbeitslosen auf, fast zwei Drittel der schwervermittelbaren weiblichen Arbeitslosen haben Mobilitätseinschränkungen (Arbeitszeit/-ort).2



Die durchschnittliche Gesamtdauer der von Arbeitslosigkeit betroffenen Frauen ist wesentlich höher als bei den Männem.3



Die Leistungsbezieherquote der Frauen liegt unter der der Männer und weist seit 1993 eine sinkende Tendenz auf (AMS 1998b, S. 98ff.).

Die Bewältigung von Arbeitslosigkeit ist Teil des sozialen Sicherungssystems, dessen Aufgabe es ist, das Risiko einer Erwerbsunterbrechung durch Arbeitslosigkeit aufzufangen. Dieses Risiko ist allerdings sowohl hinsichtlich des Zugangs, des Verbleibs und des Abgangs geschlechtsspezifisch unterschiedlich, da Frauen zusätzlich zu (in vielen Fällen ebenfalls differierenden) Arbeitsmarktrisken das "Risiko Familie" tragen. Zum zweiten ist die derzeit in Österreich laufende Debatte zur Umgestaltung der Karenzgeldregelungen44 ein äußerst aktuelles Beispiel für die vielfältige und widersprüchliche Diskussion zu neuen 1

Die Frauenarbeitslosenquote (Basis: registrierte Arbeitslose) betrug im Jahresdurchschnitt 1998 7,5%, die der Männer 6,9%. Die Quote der Männer sinkt in den Sommermonaten auf 5,1%, die der Frauen nur auf 6,9% (vgl. AMS 1998). 45% aller arbeitslosen Frauen und 24% der arbeitslosen Männer wurden 1998 als schwer vermittelbar eingestuft. 63,8% (8%) der schwer vermittelbaren Frauen (Männer) hatten Mobilitätseinschränkungen (vgl. AMS 1998). 3 Durchschnittliche Gesamtdauer der von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen 1998: 132 Tage bei den Frauen, 116 Tage bei den Männern (vgl. AMS 1998a). 2

4

Es geht in dieser Debatte um die mögliche Ablösung des bisher arbeitsmarktbezogenen Systems (Karenzgeld als Versicherungsleistung in Abhängigkeit von vorhergehender Beschäftigung) durch ein arbeitsmarktunabhängiges "Karenzgeld für alle" (vgl. dazu genauer Abschnitt 6.3). 3

Sicherungsstrategien für Frauen. Die anhaltenden politischen Diskussionen deuten darauf hin, daß es hier größere inhaltliche Differenzen über die konkreten Reformen gibt. Beide Beispiele zeigen, daß ein spezifischer Anpassungsbedarf für den Sozialstaat aus der Geschlechterperspektive besteht. Das Ziel meines Beitrages ist es aufzuzeigen, daß die grundsätzliche Ausrichtung von Reformen für Frauen keinesfalls eindeutig abgeleitet werden kann. Vielmehr können unterschiedliche Strategien verfolgt werden, je nachdem, ob der Arbeitsmarkt oder die mehrheitlich von Frauen in den Familien geleistete Betreuungsarbeit als wichtigste Instanz, als Basis der sozialen Sicherheit gesehen wird. Im folgenden sollen die beiden zentralen Strategien vorgestellt und gegenübergestellt werden. Für diese Bewertung werden Kriterien der Geschlechteregalität, der Effizienz und der Umsetzbarkeit herangezogen. Anschließend soll gezeigt werden, daß viele der derzeit diskutierten Reformen des sozialen Sicherungssystems grundsätzlich für beide Strategien einsetzbar sind, allerdings in unterschiedlicher Art und Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen für Frauen. Beide Abschnitte legen es nahe, eine Neuorientierung der Sozialpolitik im Sinne der Unterstützung der Arbeitsmarktintegration von Frauen anzustreben. Einige abschließende Überlegungen weisen darauf hin, daß dies nur vor dem Hintergrund eines gesellschafts- und sozialpolitischen Konsenses über die Art der Integration von Frauen zielführend sein kann. Insbesondere bedarf es einer aktiven Auseinandersetzung mit der Frage der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

6.2

Zwei Modelle der Integration von Frauen ins System sozialer Sicherheit

Die Notwendigkeit der Anpassung des Systems sozialer Sicherheit infolge des massiven Wandels auf dem Arbeitsmarkt und der Familienstrukturen besteht grundsätzlich für beide Geschlechter. Für Männer bzw. für Analysen ohne explizite Berücksichtigung der Geschlechter scheint die Richtung dieser Anpassungen eher klar zu sein: Der Sozialstaat sollte sich verstärkt einer Grundsicherung widmen – da hier der Arbeitsmarkt zunehmend versagt. Die darüber hinausgehende Sicherung sollte vermehrt der individuellen Verantwortung des Einzelnen überlassen werden.5 Im Sinne der Wohlfahrtskriterien von Esping-Andersen (1990) könnte auch von einer Verbesserung der Dekommodifizierung6 durch den Sozialstaat gesprochen werden. 5 6

Die Diskussionen rund um die Reform der Pensionsversicherung gehen beispielsweise in diese Richtung. Dekommodifizierung bezieht sich auf das durch den Sozialstaat ermöglichte Potential, sich dem Zwang zur 4

Frauen unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktpartizipation als auch der Art und des Ausmaßes der Einbeziehung ins soziale Sicherungssystem von den Männern. Diese Unterschiede lassen sich anhand eines (modernisierten) male breadwinner/female caretaker-Modells beschreiben, für dessen Existenz es in Österreich noch eine Reihe von Hinweisen gibt7 Im Sozialsystem entspricht diesem Modell geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung die Differenzierung zweier zentraler Zugangskanäle: jener über Erwerbsarbeit und jener über abgeleitete Ansprüche infolge einer Ehe bzw. Partnerschaft 8 Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Verortung ist die Richtung der notwendigen Anpassungen im Sozialsystem weniger eindeutig: •

Modell Arbeitsmarktintegration: Sollen Frauen die Arbeitsmarktintegration der Männer nachholen, d.h. einen analogen Grad an "Kommodifizierung" erreichen, um dann mit ihnen gemeinsam am notwendigen Wandel des Sozialsystems teilzunehmen?



Modell Betreuungsarbeit: Sollen den Frauen verstärkt soziale Rechte auf der Basis der Pflege- und Betreuungsarbeit in der Familie und am informellen Arbeitsmarkt zugestanden werden? Frauen würden ohne Umweg über den formellen Arbeitsmarkt direkten Zugang zum sozialen Sicherungssystem finden, dieser Arbeitsbereich würde eine Aufwertung bzw. Neubewertung erfahren.

Das Arbeitsmarktintegrationsmodell

Der

Anstieg

der

Frauenerwerbsquote

in

den

letzten

Jahrzehnten

ist

ein

Indiz

für

das

Arbeitsmarktintegrationsmodell; die im Vergleich zu den skandinavischen Staaten relativ geringe Frauenerwerbsbeteiligung zeigt ebenso wie der Rückstand zur Männererwerbsquote, daß hier sicherlich nicht alle Potentiale genutzt wurden.9 Das Stagnieren der Frauenerwerbsquote in den 90er Jahren könnte

Erwerbsarbeit widersetzen zu können. 7

Zur Entwicklung und Modernisierung des breadwinner-Modells vgl. Kreimer 1999, zu den breadwinner-Elementen in der österreichischen Sozialpolitik vgl. Kapeller et aL 1999, Kreimer 1998a. 8 Das wichtigste Charakteristikum des österreichischen Systems sozialer Sicherung ist die vielfache Anknüpfung am Tatbestand der Erwerbstätigkeit beitragsfinanzierte Leistungen werden insbesondere in Abhängigkeit vom vorher erzielten Einkommen gewährt. Die zweite Säule des sozialen Sicherungssystems ist die Ehe bzw. Familie, über die nichterwerbstätige Partner abgeleitete Ansprüche (Hinterbliebenenpension, kostenlose Mitversichening in der Krankenversicherung) erwerben können (zum Sozialversicherungssystem vgl. BadeltOsterle 1998, Tälos/Wörister 1994, zu den zwei Säulen Neyer 1998, zu jüngeren Entwicklungen aus der Geschlechterperspektive Mairhuber 1999, Kapeller et al. 1999, Kreimer I 998a). 9

Die Erwerbsquote der 15- bis 65jährigen Männer benag 1997 76,1%, die der 15- bis 60jährigen Frauen 61,7% (vgl. Sozialbericht 1997, Datenband). 5

sogar als Ende der Frauenarbeitsmarktintegration gewertet werden.10 International vergleichende Studien brachten das Ergebnis, daß die Unterschiede bei den Frauenerwerbsquoten generell wie auch bei den altersbezogenen Erwerbsquoten oder den Teilzeitquoten zu einem guten Teil Resultat unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Politik sind (Pfau-Effinger 1996, Gomick et al. 1997, Meier 1998). Die Arbeitsmarktintegration von Frauen, insbesondere jene von Müttern, ist daher sicherlich eine durch die Sozialpolitik beeinflußbare Entwicklung. Die

Politik

einer

forcierten

Müttererwerbstätigkeit

Arbeitsmarktintegration

ansetzen.

Dies

betrifft

müßte

insbesondere

explizit

die

bei

der

Förderung

Frage

der

institutioneller

Kinderbetreuungseinrichtungen, arbeitsmarktabgestimmte Karenzregelungen und auch die Frage der Betreuungsaufgaben von Schulen (vgl. Gomick et al. 1996, Fagan/Rubery 1996). Weniger direkt könnte die Integration von Frauen über die aktive Neugestaltung des Normalarbeitsverhältnisses und der atypischen Beschäftigungsverhältnisse erhöht werden (vgl. Winker 1998).11 Auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes würden Maßnahmen, die das Angebot sozialer Dienstleistungen im formellen Arbeitsmarktbereich erhöhen, zielführend sein (vgl. Mayer 1997, Esping-Andersen 1996, Btadelt 1997). Nicht

zuletzt

wären

Maßnahmen

zur

Arbeitszeitverkürzung

ein

essentieller

Beitrag

zur

Arbeitsmarktintegration von Frauen (vgl. Auth 1998). Die Sozialpolitik würde weiterhin erwerbszentriert bleiben,12 jedoch in der P rage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen Richtungswechsel zu einem "Nebeneinander" dieser Bereiche (und zwar für beide Geschlechter) vornehmen müssen. Dies wäre mit einem massiven Ausbau sozialer Dienstleitungen im Betreuungs- und Pflegebereich13 zu verbinden.

Das Betreuungsmodell

In Österreich gibt es derzeit rund 500.000 im Haushalt tätige Frauen im erwerbsfähigen Alter, die potentielle Interessentinnen für eine Strategie der Absicherung über Betreuungsarbeit wären.14 Zeitbudgetstudien belegen, daß Männer zwar ihren Anteil an der Betreuungsarbeit steigern, daß dieser Anteil aber noch 10

Die Erwerbsquote der 15- his 60jährigen Frauen erreichte 1992 und 1993 mit 62,0% einen Höhepunkt und ging bis 1996 auf 61,4% zurück. Seither weist sie wieder eine leicht steigende Tendenz auf (Sozialbericht 1997, Datenband). 11 Z. B. befristete Teilzeitmodelle mit Recht auf Rückkehr in Vollzeit, Subventionierung von zeitlich befristeten Ausstiegen; Subventionierung von Eltern Teilzeit-Modellen (vgl. Kirner 1994, Bäcker/Stolz-Willig 1994). 12 Ergänzt um bedarfsgeprüft Leistungen für jene, die für eine Integration tatsächlich nicht zur Verfügung stehen. 13 Unter Umständen und vielfach kritisch gesehen könnte auch die Subventionierung von Dienstleistungen in Privathaushalten als Maßnahme eingesetzt werden (Weinkopf 1997, kritisch dazu: Klenner/Stolz-Willig 1997, Meyer 1997a). 14 Dies entspricht rund einem Fünftel aller Frauen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 60 Jahren (Daten aus dem Mikrozensus 1995-3, vgl. Kapeller et al. 1999a). 6

immer verschwindend gering ist, so daß Frauen weiterhin die Hauptbetroffenen eines auf Betreuungsarbeit ausgerichteten Sicherungsmodells sind. Einige Neuerungen im Sozialsystem in den vergangenen Jahren können als erste Elemente eines solchen Modells interpretiert werden.15 Die derzeitige Diskussion über die Karenzgeldregelungen bzw. die Einführung eines Kinderbetreuungsschecks zeigt die politische Aktualität auf. Das grundlegende Ziel des Betreuungsmodells ist nicht wie bei der Arbeitsmarktintegration die Angleichung der Frauen an die Männer, sondern die Verringerung der Kosten der Differenz (im Idealfall sollten die Kosten Null sein) über die Gleichstellung von Betreuungsarbeit mit Erwerbsarbeit (Fraser 1994). Frauen, die Betreuungsarbeit zu bewältigen haben, sollen befähigt werden, sich selbst und ihre Familie auch tatsächlich auf der Basis der Betreuungsarbeit zu erhalten. Da Betreuungsarbeit relativ selten die gesamte Erwerbsphase ausfüllt, bedarf es als Ergänzung einer Durchlässigkeit zum Arbeitsmarkt, insbesondere in der Form von Teilzeitjobs. Die in gewissem Sinn einfachste Maßnahme, mit der nicht nur Betreuungsarbeit abgesichert werden könnte, wäre ein Grundeinkommen, aber auch ein Erziehungsgehalt, eine Pflichtversicherung für im Haushalt Tätige oder der Kinderbetreuungsscheck sind hier anzuführen. Entscheidend ist zum einen die Kontinuität aller grundlegenden Versicherungsleistungen und Transfers trotz flexibler Karrieren. Es genügt daher nicht, einen generellen Anspruch auf Karenzgeld einzuführen, da sich dieser jedenfalls nur über einige Jahre erstrecken kann. Zum anderen müssen diese Leistungen eine entsprechende Höhe aufweisen, um tatsächlich dem Anspruch, die Kosten der Differenz zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit deutlich zu verringern,16 gerecht zu werden. Eine

Umsetzung

dieses

Modells

würde

das

Sozialsystem

merkbar

verändern,

denn

dem

erwerbszentrierten System müßte ein zweites, betreuungszentriertes System beigestellt werden. Noch massiver wären die Änderungen im Fall eines Grundeinkommens, das auch die Erwerbszentrierung weitgehend auflösen würde. In Österreich wurde bisher sicherlich eher das Arbeitsmarktintegrationsmodell verfolgt, wenn auch nie so explizit und auch nicht so wirksam wie beispielsweise in den skandinavischen Staaten. Die bis jetzt eingeführten Elemente eines Betreuungsmodells sind eher einem pragmatischen Zugang zur Absicherung von Frauen als einer konkreten Zielsetzung zuzuschreiben. In jüngster Zeit scheint sich dies jedoch verändert zu haben: Sowohl einige bereits durchgeführte Änderungen17 als auch laufende Debatten weisen 15

Konkret handelt es sich um die Anrechnung von Kinderersatzzeiten in der Pension und um die Subventionierung der Pensionsversicherung Mr Pflegende ab der Pflegestufe 5. 16 Der Idealfall der Eliminierung erscheint aus heutiger Sicht sehr unrealistisch zu sein. 17

Regelungen zum transferintensiven Pflegegeld, Kürzungen beim Karenzgeld und bei den Frühpensionen für Frauen, stärkeres Durchschlagen der Erwerbszentrierung auf die Pension (vgl. Mainhuber 1999, Kreimer 1998a). 7

tendenziell in die Richtung, Betreuungsarbeit in der Familie zu belassen und dort – zumindest minimal – abzusichern. Ein durchgehendes Betreuungsmodell, wie es zuvor skizziert wurde, ist dabei jedoch keinesfalls zu erkennen.18

Bewertung der Modelle nach Gleichheitskriterien

Als zentrales Kriterium der Bewertung der beiden Modelle soll die Wirkung in Richtung einer geschlechteregalitären Gesellschaft herangezogen werden. Die Wahl dieses Kriteriums trägt nicht nur dem allseits und vielfach geäußerten Forderungen nach einer verstärkten Gleichstellungspolitik Rechnung, sondern soll auch das der Sozialpolitik zur Verfügung stehende Potential, zum Aufbau einer geschlechteregalitären Gesellschaft aktiv beizutragen, herausstreichen. Sozialpolitische Programme und damit der Wohlfahrtsstaat üben nicht nur ihre eigentlichen Funktionen (wie Leistungsgewährung, Garantie sozialer Sicherheit) aus, sondern sie organisieren die sozialen Beziehungen, gestalten diese wesentlich mit. Sie sind Schlüsselvariable für die Strukturierung der Gesellschaft, und zwar nicht nur nach Klassen (z.B. unterschiedliche Pensionssysteme), sondern der gesamten sozialen Ordnung und insbesondere der Geschlechterordnung. Das breadwinner-Modell als nicht geschlechteregalitäres Modell ist solcherart unter anderem auch das Ergebnis sozialstaatlichen Handelns. In Anlehnung an Nancy Fraser (1994) kann die Idee der Geschlechtergleichheit als ein Komplex von fünf Kriterien verstanden werden: -

Bekämpfung der Armut / Erhöhte eigene Absicherung;

-

Bekämpfung der Ausbeutung / Erhöhung der Machtressourcen von Frauen im Haushalt;

-

Gleichstellung in folgenden Bereichen: a) Gleiche Einkommen / Abbau von Arbeitsmarktdiskriminierung; b) Gleiche Freizeit / Abbau diskriminierender Zeitstrukturen; c) Gleiche Achtung / Anerkennung der Arbeit von Frauen;

-

Bekämpfung der Marginalisierung / Gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens;

-

Bekämpfung des Androzentrismus / Neue Normen für Frauen und Männer.

18

Maishuber (1999, S. 45) spricht sogar von einer "Re-Patriarchalisierang" ab Mitte der 90er Jahre. Die Änderungen stärken jedenfalls tendenziell das breadwinner-Modell. 8

Sowohl die Arbeitsmarktintegrationsstrategie als auch jene über die Betreuungsarbeit ermöglichen grundsätzlich eine bessere eigenständige soziale Absicherung von Frauen im Vergleich zur derzeitigen Situation, somit auch einen gewissen Schutz vor Ausbeutung und geringere Abhängigkeit vom "Ernährer". Beide Modelle tragen zum Kriterium der gleichen Achtung bei, da in jedem Fall die Arbeit von Frauen eine verstärkte Anerkennung findet. In Bezug auf die restlichen Kriterien sind die beiden Modelle jedoch unterschiedlich zu beurteilen. Für die Arbeitsmarktintegrationslinie können folgende Argumente angeführt werden: -

Sie dient der Gleichbehandlung über die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsmarkt (Abbau von Einkommensdifferenzen, Herstellung von Chancengleichheit);

-

Eine hohe Arbeitsmarktintegration ermöglicht auch eine verstärkte Teilnahme in Politik und Gesellschaft, was einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Marginalisierung von Frauen darstellt.

Ihre Nachteile dürften in folgenden Bereichen liegen: -

Die schon vorhandene Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf der Freizeitebene wird verschärft, da die Versorgungsarbeit trotzdem geleistet werden muß. Die Gesamtarbeitsbelastung von Frauen dürfte jedenfalls steigen, da zum einen keine vollständige Verlagerung von Betreuungsarbeit in Erwerbsarbeit möglich ist, zum anderen diese Arbeit auf absehbare Zeit großteils bei den Frauen bleiben wird.

-

Zudem bleibt der männliche Erwerbsverlauf die Norm, Frauen müssen sich daran anpassen.

Die Argumente für die Linie der Anerkennung und Aufwertung von Betreuungsarbeit liegen -

in der vergleichsweise geringeren Gesamtarbeitsbelastung für Frauen, d.h. mehr Gleichheit der Geschlechter bei der Freizeit;

-

in einem Abrücken von einer überhöhten männlichen Norm (Androzentrismus), da die von Frauen geleistete Arbeit im informellen Sektor der Ökonomie mehr ins Zentrum gerückt wird.

-

Wenn Frauen auf der Basis von Betreuungsarbeit über eigene Ressourcen verfügen können, bedeutet dies jedenfalls einen Machtgewinn für Frauen im Haushaltszusammenhang (Moro 1998).

Die wesentlichen Nachteile dieser Strategie liegen in der damit verbundenen Festschreibung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung: -

Am von Frauen dominierten Arbeitsmarktsegment mit atypischer Beschäftigung und hoher Konzentration in Niedriglohnbereiche würde sich nichts ändern, Einkommensungleichheiten aus der Erwerbsarbeit bleiben bestehen. Es könnte eine Art mommy track im Erwerbsarbeitsbereich (Fraser 1994) geben, der vor allem für Mütter relevant ist, die neben der Betreuungsarbeit bzw. in 9

bestimmten Lebensphasen erwerbstätig sind, aber nicht der Norm des vollzeitigen, kontinuierlichen Typs (breadwinner-track jobs) entsprechen. Das Eindringen von Frauen in die "guten" Arbeitsmarktsegmente ist schwierig, da ökonomisch klare Anreize in Richtung Spezialisierung eines Partners auf Erwerbsarbeit im breadwinner-track statt partnerschaftlicher Teilung beider Arbeitsbereiche bestehen. -

Auch nach der Aufwertung bleibt die Betreuungsarbeit voraussichtlich Frauenarbeit und schränkt daher ihre Partizipation am allgemeinen Er-werbsarbeitsmarkt ein. Damit dürfte die noch vorhandene Marginalisierung von Frauen in Politik und Gesellschaft verstärkt werden.

Die Bewertung auf der Basis der Kriterien zur Gleichstellung führt zum Ergebnis, daß keines der beiden Modelle die vollständige, gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben fördert und keines der Modelle verlangt Veränderungen von den Männern im Sinne der Übernahme bisher traditionell weiblicher Tätigkeiten. Als Ergebnis dieser sehr allgemeinen Analyse scheinen beide Modelle in etwa "gleich gut" (bzw. "gleich schlecht") zu sein.19 Ausgehend von der Tatsache, daß sich die einzelnen Wohlfahrtsstaaten sowohl in Hinblick auf das Ausmaß der Arbeitsmarktintegration von Frauen (vgl. Maier 1998) als auch in ihren bisherigen sozialpolitischen Strategien zum Geschlechterverhältnis massiv unterscheiden, ist allerdings zu hinterfragen, ob eine solche allgemeine Analyse ausreichend sein kann. Anders gesagt: Sind die von Fraser genannten Gleichheitskriterien und damit auch die Vor- und Nachteile der beiden Modelle für einzelne Staaten jeweils gleichrangig zu sehen? Eine solche Spezifizierung betrifft vor allem die Kriterien zur Marginalisierung und zur Bekämpfung der Armut – denn hier ist zu erwarten, daß potentielle Ergebnisse sozialpolitischer Einflußnahmen vom aktuellen Stand stark abhängen. Meyer (1997) zeigt die Notwendigkeit der Einbeziehung des aktuellen Integrationsausmaßes am Beispiel der Einführung eines Grundeinkommens auf: In dienstleistungsintensiven Staaten mit einer hohen Frauenbeschäftigung (wie Großbritannien) stellt sich die Gefahr der Marginalisierung durch ein Grund19

Fraser (1994) stellt darauf aufbauend Überlegungen an, wie ein drittes, "besseres" Integrationsmodell aussehen könnte, das die Nachteile der beiden Modelle vermeidet. Sie schlägt ein Modell der universellen Betreuungsarbeit vor: Männer sollen dazu ge-bracht werden, in einem stärkeren Maß so zu werden, wie es heute Frauen sind — die gegenwärtigen Lebensmuster der Frauen sollen zur Norm werden, an die Männer sich anpassen müssen. Ein ähnliches Szenario wurde von niederländischen Sozialwissenschaftlerinnen entwickelt (vgl. Advisory Council 1996). Die Gemeinsamkeiten dieser Entwürfe liegen in folgenden Vorschlägen: kürzere Arbeitszeiten Mr alle; Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Betreuungsaufgaben als normale Erscheinung der Arbeitswelt; flexible Gestaltung der Betreuungsarbeit mit teilweise Auslagerung, teilweise neue kollektive Systeme (Nachbarschaftsbetreuung, Einbeziehung kinderloser Personen ...), teilweise in der Familie mit entsprechender sozialer Absicherung (vgl. Kreimer 1999, S. 247ff.). Entscheidend sind Maßnahmen, die Menschen davon abhalten, sich vor bestimmten Aufgaben zu drücken (Fraser 1994, S. 613), d.h. Männer zur Betreuungsarbeit und Unternehmungen zur Übernahme von Kosten der unterbezahlten und unbezahlten Arbeit von Menschen "zwingen". 10

einkommen – das einer Abgeltung von Betreuungsarbeit gleichkommt – ganz anders dar als in Staaten mit niedriger Frauenbeschäftigung und einem noch relativ schwach ausgeprägten Sektor (sozialer) Dienstleistungen (wie Deutschland). In ersteren könnte die Absicherung von Betreuungsarbeit vor allem Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen bzw. mit niedrigem Einkommen helfen, ohne diese Frauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen.20 In Staaten mit der zweiten Charakteristik, zu denen tendenziell auch Österreich zählt, dient ein Betreuungsmodell der Lebensunterhaltssicherung der nicht in den Erwerbsarbeitsmarkt Integrierten – und hält potentiell die Ausgrenzung derselben aufrecht. Das Hauptargument gegen die Betreuungslinie liegt somit in der Gefahr tiefgehender Spaltung bzw. Marginalisierung. Dem (auch bereits hierarchisch gespaltenen) Erwerbsarbeitsmarkt würde ein "Arbeitsmarkt" für Betreuungsleistungen gegenüberstehen, aus dem ein "Entkommen" schwierig ist, da die attraktiven Positionen im primären Erwerbsarbeitsmarkt begrenzt sind. Da die Situation in Osterreich der deutschen hinsichtlich der Frauenbeschäftigung und des Ausmaßes sozialer Dienstleistungen recht ähnlich ist, könnten diese Überlegungen auch für Osterreich gelten. In den Sozialstaaten des Bismarck-Typs (vgl. Schmid 1996) geht es vorerst offenbar darum, zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen vor allem im Bereich sozialer Dienstleistungen zu schaffen, was nahelegt, vor einer wie auch immer gestalteten Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen Arbeitsmarktintegrationsstrategien umzusetzen. Das Argument in Bezug auf die Gleichheitskriterien von Fraser würde daher lauten, daß (zumindest für den Fall Osterreichs) der Nachteil des Betreuungsmodells beim Marginalisierungskriterium stärker gewichtet werden müßte. Zu ähnlichen Ergebnissen führen Überlegungen zum Kriterium der Bekämpfung von Armut. Zwar ist es denkbar, "Betreuungskarrieren" durch konsequente Zuordnung eigener sozialer Rechte und einer entsprechenden Abgeltung durchgängig abzusichern und dem Armutsrisiko zu entziehen. Aber weder sind die bisher in Diskussion befindlichen oder ansatzweise umgesetzten Maßnahmen auf eine dauerhafte Absicherung ausgelegt,21 noch ist davon auszugehen, daß ein Grundeinkommen hoch genug wäre, um das Armutsproblem jedenfalls zu lösen. Dem Armutsrisiko mit eigener Erwerbsarbeit zu begegnen, scheint für die einzelne Person im Vergleich dazu eine noch besser kalkulierbare und auch gestaltbare Option zu sein. Aktuelle Reformüberlegungen mit dem Ziel einer Verringerung des Armutsrisikos in Österreich 20

Die genauen Effekte hängen natürlich von der Konzeption eines Betreuungsgeldes oder Grundeinkommens ab. Um tatsächlich Verdrängungseffekte zu vermeiden, müssen diese Instrumente die Durchlässigkeit zwischen den beiden Arbeitsbereichen gewährleisten bzw. ein Nebeneinander von Erwerbs- und Betreuungsarbeit erlauben, ohne daß die Leistungen gleich wegfallen oder massiv gekürzt werden.

21

Die in Diskussion befindlichen Maßnahmen wie Karenzgeld für alle, Betreuungsscheck oder Erziehungsgehalt beziehen sich immer nur auf bestimmte Betreuungsphasen und berücksichtigen nicht einmal in jedem Fall die Absicherung in der Pension. Bereits umgesetzte Maßnahmen wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Pension sind jedenfalls nur als Ergänzung zu bestehenden eigenen oder abgeleiteten Ansprüchen gedacht.

11

definieren als zentralen Ausgangspunkt "unzureichende Teilhabemöglichkeiten" und sehen daher das Schaffen besserer Erwerbsmöglichkeiten als wichtigste Reform an (vgl. Ezpertlnnenarbeitsgruppe 1999, S. 46f.). Insgesamt spricht einiges dafür, die zuvor gemachte positive Einschätzung des Betreuungsmodells beim Kriterium der Armutsbekämpfung zu relativieren. Die Tatsache, daß auch eine Arbeitsmarktintegration kein absoluter Schutz vor Armut ist, weist darauf hin, daß eine Betreuungsstrategie nur bei massiver Verringerung der Kosten der Differenz zwischen den beiden Bereichen einigermaßen gegen Armut schützen kann, was jedoch derzeit kaum zu erwarten ist.

Bewertung der Modelle nach dem Kriterium der Effizienz

Ein weiteres Kriterium, das als Entscheidungshilfe eingesetzt werden könnte, ist Irres der Effizienz. Entgegen der gängigen Auffassung einiger neoklassischer Theorietraditionen (insbesondere der New Home Economics) kann vermutet werden, daß die mit der traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechlern verbundene Spezialisierung nicht effizient ist.22 Der wesentliche Faktor sind hier die von jungen Frauen bereits in annähernd gleichem Ausmaß wie von Männern getätigten (allgemeinen) Humankapitalinvestitionen,23 die jedoch durch Unterbrechungen der Berufskarriere deutlich entwertet werden. Zudem verlieren Betriebe spezifisches Humankapital und die Gesellschaft als Ganzes verzichtet auf ein möglicherweise kreatives und effizientes Potential (vgl. Pagmn/Rubery 1996). In der Lohnentwicklung herrscht weiterhin ein Druck auf die Löhne der "Ernährer", das öffentliche Budget wird durch Ausgaben zur Verringerung von Kinderarmut bzw. Beihilfen an einkommensschwache Familien belastet. Nicht zuletzt reagieren schon jetzt immer mehr Frauen auf die ungünstigen Rahmenbedingungen mit Kinderlosigkeit oder der Beschränkung auf ein Kind, was jedenfalls in der Zukunft die Kosten der sozialen Sicherheit erhöhen wird 24

22

Dies läßt sich auch innerhalb des neoklassischen Modells zeigen, was Gustafsson (1997) anhand der Modelle zweier feministischer neoklassischer Ökonominnen (Notburga Ott und A. Rosen) dokumentiert. Über die Integration instutioneller Rahmenbedingungen und auch kultureller Faktoren weisen die beiden Ökonominnen nach, daß die Spezialisierung von Frauen auf Hausarbeit zu Verlusten in Bezug auf die Effizienz führt und daß daher eine Gleichstellungspolitik am Arbeitsmarkt der Herstellung größerer Effizienz dient (kritisch zu diesen "feministischen Erweiterungen der Neoklassik" Maier 1998a, die insbesondere eine weitgehendere Befassung mit dem Begriff der Effizienz einfordert). 23 Die berufstätigen Frauen haben in Österreich mit den Männern auf den höheren Ausbildungsebenen (Matura, Hochschulen) bereits gleichgezogen, beim mittleren Bildungsniveau (Lehre, mittlere Schulen) weisen sie insgesamt noch deutliche Rückstände auf, bei den jüngeren Kohorten gibt es kaum mehr Unterschiede (Kapeller et al. 1999, S. 321). 24 Die Geburtenrate lag in Österreich 1995 bei 1,40, 1970 hatte sie noch 2,29 betragen. Nur Italien (1,17), Spanien (1,18), Deutschland (1,25) und Griechenland (1,32) hatten innerhalb der EU noch niedrigere Raten. Die höchsten Geburtenraten hatten 1995 Irland (1,86), Finnland (1,81), Dänemark (1,80) und Schweden (1,73). Das sind mit Ausnahme Irlands Länder mit einer sehr aktiven Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zur Integration von Müttern in den Arbeitsmarkt (zu den Daten vgl. Brauner 1999, S. 18).

12

Weiters kann angeführt werden, daß bei der Begründung der Effizienz geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung meist eine sehr kurzfristige Betrachtungsweise vorherrscht, die Effizienzgewinne durch weitergehende Spezialisierung und Größenvorteile unberücksichtigt läßt. Warum sollte es gerade für diese Arbeitsbereiche nicht zutreffen, daß eine Verlagerung in dafür spezialisierte und qualifizierte Einheiten effizienter ist als die Betreuung im informellen Sektor.25 Die gesamtwirtschaftlichen Vorteile dieser Spezialisierung über den Erwerbsarbeitsmarkt bleiben natürlich solange im Verborgenen, als die tatsächlichen Kosten der informellen Pflege und Betreuung nicht erfaßt werden. Diese und einige Argumentationen mehr26 lassen es nicht nur aus Gleichheitsgründen, sondern auch aus Effizienzgründen geboten erscheinen, das traditionelle Arbeitsteilungsmodell durch eine aktive Gleichstellungspolitik zu verändern und Frauen auch real die Möglichkeit zu geben, ihr Humankapital am Arbeitsmarkt zu verwerten. Unter diesem Effizienzgesichtspunkt würde das Arbeitsmarktintegrationsmodell jedenfalls positiv bewertet werden, während das Betreuungsmodell eher die vorhandenen Ineffizienzen verstärkt.

Zur aktuellen Umsetzbarkeit der beiden Modelle

Als dritte Ebene der Gegenüberstellung kann noch die Frage der Umsetzbarkeit gestellt werden. Hier kommen zumeist beim Arbeitsmarktmodell massive Einwände: Es gibt zuwenig Jobs. Der Verdrängungswettwerb infolge des "Ansturms auf die offizielle Ökonomie" von Frauen nimmt zu, dies führt zu weiteren Spaltungstendenzen auf der Basis individueller Verfügbarkeit und Einkommen (vgl. Kreimer 1998). Die kontinentaleuropäischen Arbeitsmärkte sind nach Esping-Andersen (1996) klassische insiderMärkte mit einer ständigen Tendenz zur Verstärkung und Absicherung der insider-Macht. Um diese Situation aufzubrechen, bedarf es einer aktiven Sozialpolitik mit dem expliziten Ziel der vollwertigen Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Ohne Veränderung der Rahmenbedingungen sowohl am Arbeitsmarkt (d.h. bessere Verteilung der vorhandenen Arbeit, z. B. über Arbeitszeitverkürzungen) als auch in der Frage der Arbeitsteilung hinsichtlich der Versorgungsarbeit (Anreize für die Beteiligung der Männer; 25

z.B.: Betreuung alter Menschen über mobile soziale Dienste mit entsprechender Infrastruktur,_ Ausbildung der Mitarbeiterinnen, direkte und indirekte Arbeitsmarktef- fekte u.a.m. Uber die ökonomische Betrachtung hinausgehende psychische und pädagogische Effekte würden diese Rechnung vermutlich noch bestärken.

26

Beispielsweise könnte hier noch die Verteilung der Kosten und Nutzen von Kindern angeführt werden: Obwohl Kinder in einem gewissen Sinn eine Art öffentliches Gut darstellen, an dessen "Nutzen" alle Gesellschaftsmitglieder partizipieren, tragen primär Frauen (über Einkommensnachteile, Karriereverzicht u.a.m.) die "Kosten" von Kindern (Folbre 1994).

13

teilweise Verlagerung in den Markt – soziale Dienstleistungen) würde die Arbeitsmarktintegrationsstrategie keine Verbesserung für alle Frauen bringen. Notwendig sind daher neue Standards beim Normalarbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Betreuungsarbeit. Diese Zweifel an der weiteren Umsetzbarkeit des Integrationsmodells haben jedenfalls dann Gültigkeit, wenn auf die Anpassungskräfte des Arbeitsmarktes allein vertraut wird. Gerade der Frauenarbeitsmarkt war auch bisher bereits viel stärker als der der Männer von "politischer Rationalität" (Meyer 1997b, S. 240) geprägt, sichtbar im hohen Ausmaß der Beschäftigung von Frauen im öffentlichen Bereich direkt bzw. im subventionierten Dienstleistungsbereich. Daß dieser Spielraum des Wohlfahrtsstaates bisher sehr unterschiedlich genutzt wurde, ist nach Pfau-Effinger (1996) die Erklärung für die Differenzen in den Frauenerwerbsquoten und noch stärker in den Teilzeitquoten. Obwohl die Arbeitsmärkte der westlichen Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten einer ähnlichen Dynamik ausgesetzt waren,27 kam es zu keiner vollständigen Angleichung der Frauenarbeitsmärkte. Es kann daher angenommen werden, daß gerade die Frauenbeschäftigung sozialpolitischen Einflußmöglichkeiten unterliegt und daß diese daher auch unter einer stärkeren geschlechteregalitären tielsetzung erfolgen könnten.28 Aufgrund der bisherigen Erfahrungen in Osterreich29 ist jedoch auch klar, daß eine auf forcierte Arbeitsmarktintegration ausgerichtete Sozialpolitik auf massiven Widerstand verschiedenster Arbeitsmarktakteure wie auch politischer Parteien stößt. Die Umsetzungsprobleme sind demgegenüber beim Betreuungsmodell geringer, da es zu keinen direkten Konfrontationen am Arbeitsmarkt kommt und die dafür notwendigen sozialpolitische Maßnahmen im Direktzugriff der Politik liegen. Das wichtigere Argument in dem Zusammenhang ist jedoch meines Erachtens jenes, daß das Betreuungsmodell praktisch keine Veränderung von den Männern einfordert30 und daher (nicht zufällig) vielfach von männlichen Politikem31 favorisiert wird – Politik und Wirtschaft sind nach wie vor stark männerdominierte Bereiche. Auch ideologische bzw. parteipolitische Positionen gehen

27

Beispielsweise Rückgang der Beschäftigung im Industriebereich mit unvollständiger Kompensation im Dienstleistungsbereich, Zunahme der Arbeitslosigkeit, Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, steigende Frauenerwerbstätigkeit

28

Daß eine aktive Sozialpolitik durchaus wegbereitend in diese Richtung sein kann, zeigt das Beispiel der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten.

29

Dies wird beispielsweise anhand des "Schicksals" des Frauenvolksbegehrens sichtbar. Dieses Volksbegehren fand im April 1997 statt und hatte eine Reihe von Forderungen zur Verbesserung der Erwerbssituation von Frauen und ihrer sozialen Absicherung zum Inhalt — Forderungen, die jedenfalls die Arbeitsmarktintegrationslinie unterstützen würden. Das Volksbegehren wurde von fast 650.000 Personen unterschrieben, mehr als zwei Jahre danach war trotz vieler politischer Beteuerungen davon so gut wie nichts umgesetzt.

30

Sie verlieren höchstens etwas auf der Verteilungsebene, wenn beispielsweise ein steuerfinanzierter Hausfrauenlohn eingeführt werden würde. Die weitere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt bedeutet demgegenüber einen andauernden Kempf um Einkommen und Positionen einerseits und zusehends auch Auseinandersetzungen um die Leistung der Betreuungsarbeit andererseits. "Männer verlieren durch Frauenförderung" (Rosenberger 1998, S. 74), daher ist die Arbeitsmarktintegration von Frauen jedenfalls viel massiverem Widerstand ausgesetzt als ein Betreuungsmodell. 31 "Karenzgeld für alle ist eine zentrale Forderung des Familienministers Martin Bartenstein in Osterteich, die deutschen Überlegungen zum Erziehungsgehalt wurden insbesondere vom sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf geprägt (vgl. Merkel 1997, S. 124f.).

14

durchaus in die Richtung, die Betreuungsarbeit bei den Frauen zu belassen, sie aber dafür etwas aufzuwerten.

Resümee: Bewertung der beiden Modelle

Sowohl auf der Basis von Gleichheitskriterien als auch aus Effizienzgründen spricht meines Erachtens einiges für die Wahl des Arbeitsmarktintegrationsmodells – allerdings nur in Kombination mit einer aktiven Gleichstellungspolitik, die sich dem Ziel des Aufbrechen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verpflichtet. Ein Hineindrängen der Frauen in den Arbeitsmarkt ohne eine solche begleitende Politik würde massive neue Spaltungslinien im Frauenarbeitsmarkt – je nach Verfügbarkeit, Flexibilität und Mobilität – erzeugen. Beim Betreuungsmodell besteht meines Erachtens zu sehr die Gefahr, daß damit nicht eine ausreichende und näherungsweise der Erwerbsarbeit entsprechende Absicherung von Betreuungsarbeit erreicht werden soll, sondern vielmehr eine (eventuell verbesserte) Neuauflage des breadwinner-Modells. Selbst wenn es zu einer Ergänzung des erwerbszentrierten Systems um eine betreuungszentrierte Schiene in ausreichender und existenzsichernder Form kommt, bleibt das Faktum bestehen, daß dieses Modell die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf Dauer zementiert. Daß dies mittlerweile nicht mehr erstrebenswert ist, dafür gibt es vielfache Evidenz.32

6.3

Umsetzung der Modelle am Beispiel aktueller Reformvorschläge

Maßnahmen zum Umbau des Sozialsstaates sind derzeit vielfach und unter unterschiedlichsten Zielsetzungen in Diskussion. Neben der Karenzgelddebatte steht der Ausbau sozialer Dienstleistungen auf der Tagesordnung.33 Dienstleistungspools als Form der Subventionierung von Dienstleistungen in Privathaushalten sind zumindest als Instrument der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit bereits ein Thema, die eigenständige Absicherung von Frauen im Pensionssystem ist jedenfalls ein zentrales Anliegen der

32

Neben den zunehmenden Reaktionen der Frauen selbst (z. B. Frauenvolksbegehren in Österreich, Zunahme von alleinlebenden Frauen, Reduktion der Kinderzahl) hat das Ziel der Veränderung der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sogar in die beschäftigungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union und damit in die nationale Arbeitsmarktpolitik Eingang gefunden.

33

Dies ist explizit der Fall bei Kinderbetreuungseinrichtungen, weniger im Vordergrund steht der Pflegebereich für Behinderte, Kranke und alte Menschen.

15

Frauenministerin. Durch Modelle der politischen Parteien der Grünen und Liberalen ist das Thema Grundsicherung bzw. Grundeinkommen wieder aktuell geworden. Arbeitsmarktpolitik in der Form von Arbeitszeitverkürzungen ist ein weiteres, wenn auch derzeit offenbar wenig populäres Thema. Für diese sozialpolitischen Aktionsfelder soll nun untersucht werden, für welches Modell sie sich einsetzen lassen. Dabei wird sehr rasch sichtbar, daß nahezu alle derzeit diskutierten Reformen für beide Modelle verwenden werden können. Gerade dieser Umstand trägt dazu bei, daß viele der laufenden Diskussionen zur Reform des Sozialsystems höchst widersprüchlich und kontrovers verlaufen, da die eigentliche Zielsetzung in Bezug auf die soziale Sicherung von Frauen selten explizit angesprochen wird.

Karenzregelungen

Die seit einiger Zeit in Österreich geführte Karenzgelddebatte ist direkt mit der Frage "verstärkte Arbeitsmarktintegration" einerseits oder "Aufwertung/Bezahlung von Betreuungsarbeit" andererseits verknüpft. Die während einer Berufsunterbrechung zur Betreuung von Kleinkindern gewährte Ersatzleistung, in Österreich das Karenzgeld, kann als arbeitsmarktbezogene Versicherungsleistung konzipiert sein oder als eine Art Erziehungsgeld, als Abgeltung von Betreuungsleistungen unabhängig vom vorherigen Arbeitsmarktstatus der betreuenden Person. Ersteres ist (mit Einschränkungen) derzeit in Osterreich der Fall,34 letzteres ist impliziert die Folge der aktuellen Forderung nach einem "Karenzgeld für alle"35 oder nach einem Betreuungsscheck.36

-

Ein weiterer Ausbau des Arbeitsmarktbezugs (z. B. Einkommensabhängigkeit des Karenzgeldes, flexible Ausgestaltung) würde die Arbeitsmarktintegration von Frauen unterstützen. Eine Berufsunterbrechung soll nicht attraktiv gemacht werden, sondern sie soll - durch eine

34

Das Karenzgeld entstand als arbeitsmarktbezogene Versicherungsleistung, wenn es auch anderen Leistungen nie völlig gleichgestellt war (die Höhe ist im Gegensatz zum sonst gültigen Lebensstandardprinzip vom Einkommen unabhängig; dic Finanzierung erfolgt nicht nur aus den Beiträgen der Arbeimehmerinnen). In den damit verbundenen Regulierungen kommt dieser Arbeitsmarktbezug auch nach wie vor zum Ausdruck (Anspruchsvoraussetzungen, besonderer Kündigungschutz).

35

Forderung des Familienministers bzw. der Österreichischen Volkspartei: Karenzgeld soll unabhängig vom vorherigen Arbeitsmarktstatus und auch unabhängig vom aktuellen Erwerbsstatus an alle Eltern (real sind derzeit fast 99% der Karenzgeldbezieherlnnen Frauen) gezahlt werden. Damit sollen insbesondere jene Frauen, die derzeit keinen oder nur einen teilweisen Anspruch haben (Schülerinnen und Studentinnen, Bäuerinnen, Selbständige, Hausfrauen), Karenzgeld beziehen können. Es ist allerdings zu fragen, ob dieses Ziel nicht auch erreicht werden könnte, ohne den Arbeitsmarktbezug des Karenzgeldes aufzulösen. 36 Z. B. Modell des Österreichischen Instituts tür Familienforschung (ÖIF 1998): Betreuungsgeld (analog zum "Karenzgeld für alle") bis zum 4. Lebensjahr des jüngsten Kindes, daran anschließend sollen bis zum Ende des ersten Volksschuljahres (in der Regel 7. Lebensjahr) ein Gutschein für eine Halbtagesbetreuung in einem Kindergarten (pro Kind) und ein reduziertes Betreuungsgeld verteilt werden. 16

Einkommensersatzleistung - ermöglicht werden, und sie soll darüber hinaus verstärkt ein "normales" Element in Erwerbskarrieren beider Geschlechter werden. Klar ist, daß diese Strategie nur in Kombination mit ausreichenden Kinderbetreuungseinrichtungen sinnvoll umgesetzt werden kann. -

Im Fall eines "Betreuungsgeldes" steht die familienpolitische Zielsetzung, die Betreuung von Kleinkindern in der Familie zu ermöglichen und zu honorieren, im Vordergrund. Neben dem expliziten Ziel, den aktuell nicht im Arbeitsmarkt integrierten Müttern ein befristetes Einkommen bzw. eine

befristete

Absicherung

zu

gewähren,

werden

auch

andere

Zielsetzungen

wie

"Arbeitsmarktentlastung" oder die Erhöhung der Geburtenrate eingebracht. Während die Ausgestaltung von Karenzregelungen im Rahmen des Arbeitsmarktintegrationsmodells relativ klar abgeleitet werden kann,37 ist die Betreuungsvariante jedenfalls nur in Kombination mit einer Reihe anderer Maßnahmen denkbar. Als isolierte Maßnahme wird ein solches Betreuungsgeld keinem der zuvor genannten Gleichheitskriterien gerecht, da die damit verbundene Absicherung nur von begrenzter Dauer ist. Darüber hinaus kann als Kritik an einem solchen Betreuungsgeld angeführt werden, daß damit die Vereinbarkeitsproblematik mit dem Hinweis auf die Ausstiegsmöglichkeit privatisiert wird, d.h. letztlich vollständig in die Familien- zu Handen der Frauen - rückverlagert wird (Merkel 1997). Hauder (1998, S. 49) nennt den Kinderbetreuungsscheck "ein Schmerzensgeld für den Ausschluß von Müttern aus der Erwerbsarbeit". Angesichts

mangelnder

Alternativen

in

Bezug

auf

Arbeitsmarktchancen

und

Finderbetreuungseinrichtungen wird das von den Befürwortern dieser Maßnahmen meist angeführte Argument der Erhöhung der Wahlfreiheit inhaltsleer Merkel 1997).

Ausbau sozialer Dienstleistungen - Pflege und Betreuung alter, kranker und behinderter Personen

Der Bereich der Pflege und Betreuung kann einerseits auf Sachleistungen und auf Dienstleistungen, die über den formellen Arbeitsmarkt ablaufen, beruhen. Andererseits können monetäre Transfers an die

37

Karenzierungen sind Unterbrechungen der Erwerbskarriere und als solche immer mit einer gewissen Widersprüchlichkeit zur Integration versehen. Dies betrifft insbesondere die Frage der Dauer der Unterbrechung und die Ausgestaltung derselben. Die österreichische Regelung mit einer relativ langen Dauer (maximal 18 Monate für eine Betreuungsperson) und die bisher übliche Praxis der vollständigen Unterbrechung bedeutet trotz Arbeitsmarktbezug der Regelung selbst fir viele Frauen einen mehrjährigen Ausstieg mit massiven Problemen beim Wiedereinstieg. Wenn Karenzierungsmaßnahmen nicht durch entsprechende Kinderbetreuungseinrichtungen unterstützt werden, dient das System oft nur dazu, das Verlassen des Arbeitsmarktes hinauszuzögern, statt eine Brükke zurück in die Erwerbstätigkeit zu bauen (Rubery/Fagan 1998, S. 87). 17

Betreuungsbedürftigen im Mittelpunkt stehen, deren Verwendung nicht an den formellen Arbeitsmarkt gebunden ist. Das österreichische System des Pflegegeldes entspricht dem zweiten Konzept. -

lm ersten Fall werden zusätzliche Beschäftigungsfelder geschaffen, die aufgrund der bisherigen Strukturen vor allem für Frauen Arbeitsmöglichkeiten bieten. Diese Form würde daher klar dem Arbeitsmarktintegrationsmodell entsprechen. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Professionalisierung von Pflegediensten mit weitgehender Qualifizierung (z.B. Hochschulen für Pflegeberufe etc.) verbunden wird, so daß hier (wie auch im Bildungsbereich) tatsächlich "gute" und dauerhafte Arbeitsplätze entstehen.

-

Im Fall der Gewährung von monetären Transfers an die Pflegebedürftigen bleibt der überwiegende Teil der Pflege- und Betreuungsarbeit im informellen Arbeitsmarkt bzw. in der Familie. Es bleibt den beteiligten Personen überlassen, ob und wie die Arbeitsleistungen abgegolten werden, der Betreuungsaufwand selbst wird (zumindest teilweise) sozialpolitisch anerkannt, daher scheint die Zuordnung zum Betreuungsmodell gerechtfertigt zu sein. Der überwiegende Anteil der betreuungsbedürftigen Personen würde weiterhin im Rahmen der Familie betreut (und dort großteils von Frauen), ohne explizite Bezahlung und ohne soziale Absicherung der betreuenden Personen.

Die Anerkennung von Betreuungsarbeit über ein Pflegegeld ist zwar für die pflegebedürftigen Personen eine Verbesserung. Die Betreuungspersonen im erwerbsfähigen Alter setzen sich jedoch mit der Übernahme der Betreuung zahlreichen Risken aus, die ihre Position am Arbeitsmarkt schwächen und Einkommensverluste und Nachteile hinsichtlich der Sozialversicherung zur Folge haben (Holzmann 1995, S. 15). Allerdings könnte dieser Kritik relativ leicht begegnet werden: Blumberger/Dommayr (1998) schlagen vor, einen Teil des Pflegegeldes in der Form von Gutscheinen auszugeben, deren Einlösung an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (und andere Bedingungen) geknüpft ist. Auf diese Weise würden beide Modelle unterstützt, indem ein Teil der bisher informell erbrachten Dienstleistungen in den Erwerbsarbeitsmarkt verlagert werden würde. Eine andere Möglichkeit der aus der Sicht der Pflegepersonen verbesserten Umsetzung eines Betreuungsmodells ist die Gewährleistung ihrer sozialrechtliche Absicherung ohne Verlagerung der Dienstleistungen in den formellen Arbeitsmarkt. Die in Österreich seit 1998 gewährte Subvention für die Pensionsversicherung für Pflegepersonen ab einer bestimmten Pflegestufe ist ein (wenn auch bei weitem nicht ausreichender38) Schritt in diese Richtung. Gerade aber aufgrund der enormen Unsicherheit über die

38

Abgesehen von der Beschränkung auf Pflegepersonen der Stufen 5 bis 7 wird nur der Beitrag zur Pensionsversicherung subventioniert (im Ausmaß des sonst vom Dienstgeber zu leistenden Beitrages). Eine eigenständige Krankenversicherung oder gar eine Arbeitslosenversicherung sind hier nicht inkludiert.

18

Dauer von Pflegeverhältnissen erscheint es nicht sinnvoll zu sein, für diesen Arbeitsbereich im informellen Sektor eine eigene und vollständige sozialrechtliche Absicherung einzuführen.

Ausbau sozialer Dienstleistungen -Kinderbetreuungseinrichtungen

Im Fall der Kinderbetreuung kann ebenfalls einerseits außerhäusliche Kinderbetreuung subventioniert oder bereitgestellt werden, andererseits können den Eltern finanzielle Transfers für Kinder gewährt werden. In Österreich liegt derzeit ein gemischtes System vor, da zum einen Kinderbetreuungseinrichtungen öffentlich bereitgestellt bzw. gefördert werden und diesbezüglich auch ein Ausbauprogramm läuft, wobei nach wie vor ein massives Defizit bei der Betreuung von Kindern von 0 bis 3 Jahren besteht (vgl. Brauner 1999). Zum anderen werden auch die Transfers (Familienbeihilfe) ausgeweitet, die Einführung eines Betreuungsschecks würde diesen Bereich massiv verstärken. -

Analog zum Pflegebereich geht es im ersten Fall um die Schaffung bzw. Förderung von Arbeitsplätzen im formellen Arbeitsmarkt.

-

Transfers an Eltern sind wiederum dafür gedacht, Betreuungsarbeit innerhalb der Familie zu ermöglichen und diese Arbeit zumindest teilweise und jedenfalls befristet abzugelten.

Die Frage der institutionellen Kinderbetreuung ist eng mit der der Karenzregelungen verknüpft - insofern ist die dortige Analyse auch hier gültig, sofern es Kleinkinder (0 bis 3 Jahre) betrifft. Für Kinder im Kindergartenalter (4 bis 6 Jahre) ist zwar ein vergleichsweise hohes Angebot an Betreuungseinrichtungen vorhanden,39 was die wesentlich höhere gesellschaftliche Akzeptanz der außerhäuslichen Betreuung in dieser Altersgruppe widerspiegelt. Dies kann auch dahingehend interpretiert werden, daß ein vollständiges Betreuungsmodell für diesen Betreuungsbereich insbesondere aus pädagogischen Gründen gar nicht erwünscht ist. Eine vollständige Arbeitsmarktintegration von Müttern ist derzeit jedoch auch nicht das Ziel der öffentlichen Kinderbetreuung, dies zeigen die zu einem sehr großen Teil nur halbtags geöffneten Kindergärten bzw. die sehr kurzen Schultage. Abgesehen von der Schwierigkeit, entsprechende Teilzeitstellen zu finden,40 wird mit dieser Konzeption weder die Arbeitsmarktintegration von Frauen gefördert noch die von ihnen geleistete Betreuungsarbeit anerkannt. 39

3% der Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren werden in Österreich in öffentlich finanzierten Betreuungseinrichtungen betreut, etwa die gleich Prozentzahl in privat finanzierten Einrichtungen. Bei den 3- bis 6jährigen werden dagegen immerhin 75% in öffentlichen Einrichtungen betreut, bei schulpflichtigen Kindern (6 bis 10 Jahre) sinkt der Anteil wieder auf 6% ab (Brauner 1999, S. 20ff). 40 Sichtbar beispielsweise im hohen Anteil von wegen Mobilitätseinschränkungen schwer vermittelbaren weiblichen Arbeitslosen, vgl. Einleitung.

19

Subventionierung von Dienstleistungen in privaten Haushaften

Die Nutzbarmachung eines Teils der im Haushalt getätigten Arbeit als Erwerbsarbeit ("outsourcing") wird vielfach als große Ressource für die Arbeitsmarktpolitik gesehen. Da dieser Arbeitsbereich ohne Subventionen nicht marktfähig ist, sind öffentliche Förderungen notwendig. Von den Bedingungen, unter denen Förderungen gewährt werden, hängen letztlich die konkreten Auswirkungen dieses Instruments ab. Klar ist jedoch, daß es sich in jedem Fall um ein eher prekäres Niedriglohnsegment handelt, mit sehr spezifischen Arbeitsbedingungen und Problemen (vgl. Behning 1997). Dienstleistungspools, Haushaltsschecks und ähnliche Formen sind in vielen europäischen Ländern bereits im Einsatz (vgl. Blumberger/Dornmayr 1998), in Österreich gibt es noch keine generelle Regelung, wohl aber einzelne Projekte insbesondere zur Integration von Langzeitarbeitslosen. -

Eine entscheidende Frage ist, ob tatsächlich sozialversicherungspflichtige und auf Dauer angelegte Beschäftigung geschaffen wird, denn nur in diesem Fall kann von einer Arbeitsmarktintegration (wenn auch in einem wenig attraktiven Segment) gesprochen werden.

-

Modelle, die zwar eine steuerliche Absetzbarkeit von Haushaltshilfen und ähnliches vorsehen, aber keine

Bedingungen

in

Bezug

auf

die

Sozialversicherung

stellen,

haben

massive

Verteilungswirkungen, ohne arbeitsmarktwirksam zu sein. Stattdessen wird geringfügige Beschäftigung oder Schwarzarbeit "gefördert", unbezahlt betreuungsarbeitende Personen erhalten die Möglichkeit eines Dazuverdienstes — in diesem Sinne ist eine Zuordnung zum Betreuungsmodell möglich. Generell ist hier jedoch eine Zuordnung schwierig bzw. von der konkreten Ausgestaltung abhängig. Die Ökonomisierung der im privaten Haushalt erbrachten Leistungen scheint das ideale Instrument zu sein, um die historische Trennung zwischen Markt und Haushalt über die Kommodifizierung des letzteren wieder aufzuheben (Behning 1997a, S. 1I). Arbeitsmarktintegration und Aufwertung der Haushalts- und Betreuungsarbeit könnten gleichzeitig angestrebt werden. Für den Pflegebereich sind diese Überlegungen durchaus berechtigt (siehe soziale Dienstleistungen). Für haushaltsnahe Dienstleistungen wie Reinigung, Waschen und Bügeln gibt es jedoch eine Reihe sehr kritischer Einwände (Klenner/Stolz-Willig 1997, Meyer 1997a),

die

insbesondere

auf

der

strukturkonservierenden

Wirkung

in

Hinblick

auf

die

geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beruhen. Wenn jedoch durch diese Ökonomisierungsstrategien eine individuelle

und

eigenständige

Einbeziehung

sonst

ausgeschlossener

Frauen

in

das

Sozialversicherungssystem erreicht werden kann, kann dies bei entsprechender Gestaltung eine Signalwirkung in Richtung einer Aufwertung der Haushaltsarbeiten haben (Klein 1997, S. 212f.) und somit 20

tatsächlich beide Integrationsmodelle unterstützen. Klar ist dabei meines Erachtens jedoch die Reihenfolge: Ökonomisierungsstrategien, die nicht über den formellen Arbeitsmarkt laufen, können diese Effekte keinesfalls aufweisen.

Eigenständige Alterssicherung von Frauen

Jede fünfte Frau über 60 Jahre hatte 1993/94 weder Anspruch auf eine Eigenpension noch auf eine abgeleitete Pension (BMFV 1997, S. 30). Dies zeigt, daß in Österreich die Frage eines eigenständigen, von der Ehe unabhängigen Pensionsanspruchs von Frauen ein sehr aktuelles Thema ist 41 Ähnlich wie bei den haushaltsnahen Dienstleistungen gilt, daß eine Zuordnung zu den beiden Integrationsmodellen nur schwer möglich ist, da jedenfalls beide Arbeitsbereiche betroffen sind und die Auswirkungen von den konkreten Reformen abhängen. -

Eine Verstärkung des Versicherungsprinzips ist jedenfalls mit Arbeitsmarktanreizen verbunden. Eine allzu große Betonung des Versicherungsprinzips, dem Frauen mit ihren diskontinuierlichen Berufskarrieren kaum gerecht werden können, würde jedoch eher das Gegenteil bewirken und Frauen wieder stärker auf die innerfamiliäre Altersversorgung verweisen.

-

Die

Anrechnung

von

Kindererziehungszeiten

in

Kombination

mit

einer

verpflichtenden

Pensionsversicherung für nicht-erwerbstätige Personen oder alternativ dazu eine staatliche Grundpension wären Instrumente für ein Betreuungsmodell. Ob mit diesbezüglichen Maßnahmen Ausschließungsmechanismen vom Arbeitsmarkt in Gang gesetzt werden würden, hängt von den genauen Bestimmungen ab.42 Diese Überlegungen zeigen, daß es gerade bei diesem Instrument kaum möglich ist, sich auf ein Modell zu beschränken. Dies gilt um so mehr, als die Alterssicherung auch besonders sensibel hinsichtlich kurz- und langfristiger Auswirkungen ist: Eine radikale Umstellung auf eine individualorientierte Pflichtversicherung mit Abschaffung der Hinterbliebenenpension mag langfristig eine wünschenswerte Strategie sein, kurzfristig würde daraus vielen Frauen ein deutlicher Nachteil erwachsen. Daraus wird ersichtlich, daß Erwerbsarbeitszeiten wie auch Betreuungszeiten (unter Umständen in begrenztem Ausmaß) Ansprüche 41

Dieses Thema wurde zwar erwartungsgemäß von der Frauenministerin aufgegriffen (vgl. BMFV 1997), spielte jedoch in den häufigen Debatten zur Pensionsreform in den vergangenen Jahren in Osterreich kaum eine Rolle.

42

Dies kann am Beispiel der Kindererziehungszeiten verdeutlicht werden: Diese werden in Osterreich additiv zur Erwerbstätigkeit angerechnet, in Deutschland dagegen werden die Zeiten nur angerechnet, wenn keine oder eine Erwerbstätigkeit in geringem Umfang vorliegt (BMFV 1997, S. 90ff). Bei einer nicht-additiven Anrechnung wird somit das phasenweise Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt belohnt und damit längerfristig der Aufbau einer ausreichenden eigenständigen Alterssicherung gebremst.

21

bedingen sollen, allerdings sollten die Detailmaßnahmen sehr genau auf geschlechtsspezifische Auswirkungen hin geprüft werden (vgl. Leitner 1998). Insbesondere die Orientierung an der Ehe (und damit die Hinterbliebenenpension) scheint entbehrlich zu sein (Hieden-Sommer 1994).

Grundsicherung, Grundeinkommen

Ein Grundeinkommen kann arbeitsmarktbezogen konzipiert sein, und damit vor allem dazu dienen, befristete Ausstiege aus dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen und abzusichern. Das "klassische Grundeinkommen ist dagegen an keine Bedingungen geknüpft und ermöglicht somit eine durchgehende Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. -

Dem Arbeitsmarktintegrationsmodell würden eher arbeitsmarktbezogene Konzeptionen entsprechen. Eine Gestaltung, die es auch für Männer attraktiv macht, zeitweilig aus der Erwerbsarbeit auszusteigen und Betreuungsarbeit zu übernehmen, würde die Arbeitsmarktintegration von Frauen besonders unterstützen.

-

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde jede Form von Betreuungsund Haushaltsarbeit dauerhaft absichern, sofern es in ausreichender Höhe ausgezahlt wird. Allerdings ist gerade bei dieser Form des Grundeinkommens die Gefahr der Marginalisierung besonders groß. Die Gefahr liegt in einer Spaltung entlang der Geschlechtszugehörigkeit: Frauen leisten überwiegend Betreuungsarbeit und erhalten eine Grundsicherung; Männer leisten überwiegend Erwerbsarbeit und bleiben der Hausarbeit noch mehr fern.43 Solcherart vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Grundeinkommensbezieherinnen sind ganz

besonders

der

vorherrschenden

wohlfahrtsstaatlichen

Politik,

die

die

Höhe

des

Grundeinkommens festlegt, ausgeliefert und dabei sicherlich auch mit einem Armutsrisiko konfrontiert.44 Überlegungen dieser Art dürften hinter der Kritik an Grundeinkommenskonzepten von seiten der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung stehen (Stichwort: Frauenfalle). Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Hierarchisierung betreffend Erwerbs- und Betreuungsarbeit würden zementiert statt aufgeweicht, was dem Gleichstellungsziel zwischen den Geschlechtern klar widerspricht.45 In der Frage der 43

Dies entspricht dem klassischen breadwinner-Modell (siehe dazu auch den Beitrag von Sturn in diesem Band). Dies gut zumindest angesichts bisher angestellter, meist eher vager Berechnungen von Grundeinkommensmodellen, wonach die Finanzierung jedenfalls eine kritische Frage ist. Dies gilt um so mehr, als es beim bedingungslosen Grundeinkommen einen trade off zwischen Erwerbsarbeit und damit Finanzierung einerseits und dem Grundeinkommensbezug andererseits gibt: Je attraktiver das Grundeinkommen, desto schwieriger die Finanzierung. 45 Robeyns (1998) untersucht die möglichen Effekte eines bedingungslosen Grundeinkommens auf Frauen. Je nach Arbeitsmarktbindung und Einkommenserzielungskapazität von Frauen werden sich unterschiedliche Effekte ergeben. Robeyns kommt zum Schluß, daß es entscheidend ist, was insgesamt erreicht werden soll: eine Absicherung in einer kurzfristigen Perspektive 44

22

sozialen Absicherung von Frauen ist ein bedingungsloses Grundeinkommen meines Erachtens daher ein nachgeordnetes Instrument, das erst zum Einsatz kommen sollte, nachdem Strategien zur Arbeitsmarktintegration umgesetzt wurden.

Modelle der Arbeitszeitverkürzung

Arbeitszeitverkürzungen können in den unterschiedlichsten Formen umgesetzt werden (vgl. Auth 1998), alle Formen dienen letztlich jedoch einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit. Dieses Instrument hat generell für beide Modelle positive Auswirkungen - sofern die Arbeitszeitverkürzung nicht nur Frauen betrifft. Die derzeit massivste Form der Arbeitszeit- verkürzung über Teilzeitbeschäftigung, die überwiegend Frauen betrifft, ist daher kritisch zu beurteilen: Sie ermöglicht weder eine dauerhafte und nichtprekäre Arbeitsmarktintegration, noch trägt sie zur Aufwertung von Betreuungsarbeit bei. Zielführend wäre hier die Entwicklung hin zu einem "dualen Teilzeitmodell", bei der die Teilzeitarbeit der Frauen von entsprechenden Anpassungen der Arbeitszeit bei den Männern und ihrer Einbindung in die Betreuungsarbeit begleitet wird (Fagan et al. 1999, S. 67).

Resümee: Zur Anwendbarkeit aktueller Reformvorschläge für die beiden Modelle

Grundsätzlich sind offenbar beide Integrationsmodelle mit den genannten Instrumenten erreichbar. Allerdings bedarf es beim Betreuungsmodell jedenfalls einer Kombination mehrerer Instrumente, um eine auf Dauer angelegte Sicherung zu erreichen, während jedes Instrument (mit Einschränkungen beim bedingungslosen Grundeinkommen) zur Arbeitsmarktintegration von Frauen auch isoliert beitragen kann. Die skizzierte Gefahr des verschärften Verdrängungswettbewerbs zeigt jedoch auch hier, daß sich die Frage der zukünftigen sozialen Sicherung von Frauen nicht mittels einzelner Maßnahmen lösen läßt. Wie in Abschnitt 6.2 bereits ausgeführt, bedarf es zur Unterstützung der Arbeitsmarktintegrationsstrategie einer aktiven, an Gleichstellung orientierten Sozialpolitik, die insbesondere Veränderungen von seiten der männlichen "Normalarbeiter" einfordert. Insofern kann auch diese Strategie nur durch den Einsatz eines ganzen Bündels von Maßnahmen befriedigend umgesetzt werden. oder eine Veränderung des ungleichen Geschlechterverhältnisses. Für letzteres kann ein Grundeinkommen allein nicht ausreichen (Robeyns 1995, S. 14).

23

6.4

Schlußbemerkung und Fazit

Sowohl die Bewertung der beiden Modelle als auch die Überlegungen zur Einsetzbarkeit aktueller Reformvorschläge

für

deren

Belange

laufen

meines

Erachtens

klar

darauf

hinaus,

dem

Arbeitsmarktintegrationsmodell den Vorzug zu geben. Allerdings wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß diese Strategie hohe Ansprüche an die österreichische Sozialpolitik stellt. Dies betrifft nicht

so

sehr

die

damit

verbundenen

Kosten

oder

die

Anpassungserfordernisse

im

Sozialversicherungssystem - hierbei wären Veränderungen wie die Einführung eines Grundeinkommens oder auch eines Betreuungsschecks sicherlich anspruchsvoller. Der hohe Anspruch besteht vielmehr in der Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und darauf aufbauen- den Zielfestlegung zur Frage der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung – und dabei insbesondere zur Frage der Organisation der Betreuungsarbeit. Die nicht nur in Osterreich herrschende Asymmetrie derart, daß zwar über den Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten am Arbeitsmarkt weitgehende Einigkeit herrscht, dies aber keinesfalls für den Bereich der Betreuungsarbeit zutrifft, erweist sich als größtes Umsetzungsproblem einer auf die Arbeitsmarktintegration von Frauen ausgerichteten Sozialpolitik, die das breadwinner-Modell endgültig ablösen könnte. Dies wird beispielsweise in den derzeit schon fast als unversöhnlich anzusehenden Gegenpositionen der Frauenpolitik einerseits und der Familienpolitik andererseits, entlang derer sich ja auch die Karenzgelddebatte bewegt, sichtbar. 46 Der erforderliche (sozial-)politische Willensbildungsprozeß müßte sich beispielsweise mit folgenden Fragen auseinandersetzen: -

Wie soll die zukünftige Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Markt- und Reproduktionsarbeit ausschauen?

-

Welche Lebensmodelle, welche Rollenverteilung soll die Sozialpolitik fördern und unterstützen, welche nicht?

-

Wie soll der Bereich der Betreuungsarbeit in das System sozialer Sicherheit aufgenommen werden?

Voraussetzung für die Diskussion dieser Fragen ist es, die Änderungspotentiale durch den Wohlfahrtsstaat in diesen Bereichen zu sehen. "Staatliche Regulierung kann emanzipierende Wirkungen nach sich ziehen, wohlfahrtsstaatliche Regelungen können gesellschaftlichen Wandel einleiten und vorantreiben." (Leitner 1997, S. 143). Der Staat hat grundsätzlich das Potential, ein neues Modell hinsichtlich der Beziehungen

46

Die Familienpolitik scheint in Österreich ein Politikfeld für sich zu sein, das weder mit Verteilungspolitik (siehe dazu Sturn in diesem Band) noch mit Frauenpolitik etwas zu tun hat.

24

zwischen Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit, zwischen öffentlicher und privater Sphäre und damit ein neues Arbeitsteilungsmodell zwischen den Geschlechtern als Ausgangspunkt seiner Politik zu wählen.

Literatur Advisory Council to the Netherlands Government on Equal Opportunity Policy (1996): Concerns for a New Security. Recommandations for an Equal Opportunities Income and Social Security Policy. The Hague. AMS (1998): Arbeitsmarktdaten 1998. Arbeitsmarktservice Osterreich, Wien. AMS

(1998a):

Personenbezogene

Auswertung

zur

Struktur

der

Arbeitslosigkeit

in

Osterreich

1998.

Arbeitsmarktservice, Wien. AMS (1998b): Arbeitsmarktlage 1997. Wien. Auth, Diana (1998): Sozialpolitik als Arbeitszeitpolitik Möglichkeiten und Grenzen der sozialen Absicherung von Arbeitszeitverkürzungen. In: Eicker-Wolf, Kai, Kaper-nick, Ralf, Niechoj, Torsten, Reiner, Sabine, Weiß, Jens (Hg.): Die arbeitslose Gesellschaft und ihr Sozialstaat. Marburg: Metropolis-Verlag, 289-326. Backer, Gerhard, Stolz-Willig, Brigitte (1994) (Hg.): Kind, Beruf, soziale Sicherung: Zukunftsaufgabe des Sozialstaats, Köln: Bund-Verlag. Radelt Christoph (1997): Soziale Dienstleistungen und der Umbau des Sozialstaats. In: Hauser, Richard (Hg.): Reform des Sozialstaats I – Arbeitsmarkt, soziale Sicherung und soziale Dienstleistungen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge Band 251/I, Berlin: Dunker & Humblot, 180-220. Radelt, Christoph, Osterle, August (1998): Grundzüge der Sozialpolitik. Allgemeiner Teil: Sozialökonomische Grundlagen, und Spezieller Teil: Sozialpolitik in Osterteich, Wien: Manz. Behning, Ute (Hg.) (1997): Das Private ist ökonomisch: Widersprüche der Ökonomisierung privater Familien- und Haushalts-Dienstleistungen. Berlin: Ed. Sigma. Behning, Ute (1997a): Einleitung. In: Behning 1997, 11-20. Blumberger, Walter, Dommayr, Helmut (1998): Dienstleistungen für private Haushalte. AMS info 18, Wien: Wissenschaftsverlag. BMFV (1997): Eigenständige Alterssicherung für Frauen. Schriftenreihe der Frauenministerin, Band 14, herausgegeben von der Bundesministerin für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz, Wien. Brauner, Sonja (1999): Situation der Kinderbetreuung in Europa: Ein Ilberblick. In: Renner-Institut (Hg.): Frauen-Dok, 1/99, 17-30. Esping-Andersen, Gosta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Oxford: Polity Press.

25

Esping-Andersen, Gosta (1996): Welfare States without Work: the Impasse of Labour Shedding and Familialism in Continental European Social Policy. In: ders. (Hg.): Welfare States in Transition. National Adaptions in Global Economy. London [u.a.]: Sage, 66-87. Expertlnnenarbeitsgruppe (1999): Einbinden statt ausgrenzen. Neue Strategien gegen die Armut. Bericht einer Expertlnnenarbeitsgruppe, Mai 1999, Wien. Fagan, Colette, Jill, Rubery (1996): Transitions between Family Formation and Paid Employment. In: Schmid, Günther, O'Reilly, Jacqueline, Schömann, Klaus (Hg.): International Handbook of Labour Market Policy and Evaluation. Cheltenham: Edward Elgar, 348-378. Fagan, Colette, O'Reilly, Jacqueline, Rubery, Jill (1999): Teilzeitarbeit in den Niederlanden, Deutschland und dem Vereinigten Königreich: Eine Herausforderung für den Geschlechtervertrag? In: WSI Mitteilungen 1/1999, 5869. Folbre, Nancy (1994): Who Pays for the Kids? Gender and the Structure of Constraint. London, New York: Routledge. Fraser, Nancy (1994): After the Family Wage. Gender Equity and the Welfare State. In: Political Theory, Vol. 22, No. 4, 591-618.

26

7 Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände? Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

Einleitung 2

Einleitung

In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, wie die Sicherung und die Schafbesondere auf der Ebene der Unternehmen, werden. In direkter Form kann dies geschehen, wenn ein Unternehmen eine Anzahl von Arbeitsplätzen oder die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse gegenüber der Arbeitnehmerseite oder gegenüber staatlichen Instanzen garantiert. Häufiger wird Beschäftigung in indirekter Form zum Gegenstand von Verhandlungen und Vereinbarungen, wenn nämlich die Sicherung von Beschäftigung von der Einführung neuer Arbeitszeitformen oder von einem Absenken der Personalkosten abhängig gemacht wird. Das Thema ist in ein Spannungsfeld gegensätzlicher theoretischer Positionen und politischer Programme einzuordnen. Geht es einerseits um die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen und um deren Möglichkeit, unter den Bedingungen hoher Arbeitslosigkeit mit dem Versprechen sicherer Beschäftigung Loyalität und Engagement der Arbeitnehmerinnen zu erreichen, so stehen die auf Beschäftigung bezogenen Verhandlungen und Vereinbarungen andererseits ganz oben auf der neoliberalen Agenda, die auf eine Ausweitung des Handlungsspielraums

für

die

Unternehmensleitungen

und

auf

einen

Abbau

kollektiver

Arbeitnehmerrechte abzielt. In

Österreich

ist

es

mit

einem

Tabu

belegt

worden,

Unternehmen

unmittelbar

in

die

beschäftigungspolitische Verantwortung zu nehmen. In den 70er Jahren noch hatte die Bundesregierung mit Bundeskanzler Kreisky an der Spitze der Verstaatlichten Industrie die Rolle zugewiesen, Beschäftigung zu bieten und aufrecht zu erhalten. Nach der Krise einer Reihe von Unternehmen dieses Wirtschaftssektors setzte nicht nur eine Welle der Privatisierung und des Verkaufs an internationale Unternehmen ein, es wurden in den politischen Diskussionen auch nur noch rein betriebswirtschaftliche Ziele für diese zumeist großen Untemehmen zugelassen. So gelten den Unternehmen, die heute an der Börse notiere Ertragsziele und die Pflege der Aktienkurse als alleinige Orientierung. Innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten hat sich somit die Rationalität des Wirtschaftens mit allen Folgen für Interessenvertretung und Beschäftigungspolitik radikal gewandelt. Nun kann mit Blick zurück auf die Verstaatlichte Industrie zu Recht argumentiert werden, daß Beschäftigung in einer transnationalen, kapitalistische Wirtschaftsordnung nur über die Profitabilität der Unternehmen zu sichern sei Doch wir erleben gegenwärtig auch, daß gewinnbringende Betriebe geschlossen werden, wenn sie geringere Renditen als Finanzanlagen abwerfen oder nicht mehr in das Konzept der Konzernzentralen passen. Zudem wurde die Verringerung der Anzahl der Beschäftigten zum beliebtesten Mittel zur Steigerung Rentabilität – andere und im Gegensatz dazu 3

beschäftigungssichernde Option bleiben ausgeblendet. Mehr noch: Alles, was die Rentabilität des Kapitals höht, wird als günstig für die Beschäftigung angesehen. Denn schließlich ist n dadurch gesichert, daß Investitionen getätigt bzw. daß Kapital nicht abgezog wird. Damit können aber, so paradox

es

klingt,

letztlich

auch

die

Zerschla

von

Unternehmen

und

radikale

Personalabbaumaßnahmen im Dienste des shareholder value als Beschäftigungssicherung ausgegeben werden. Den massiven Problemen am Arbeitsmarkt und der ständigen Bekundung zum Trotz, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit politische Priorität genieße, kommt es heute nur in Ausnahmefällen zu Unmutskundgebungen und Forderung nach höherer gesellschaftlicher Verantwortung der Unternehmensführung. Es wurde offensichtlich in den letzten Jahrzehnten fest in den Köpfen verankert, daß Unternehmen nur dann Beschäftigung sichern können, wenn st in ihren Entscheidungen völlig freie Hand haben, also auch ungehindert Personalabbauen können. Heute verstößt es gegen ein sonderbares Tabu, von Unternehmen die Aufrechterhaltung der Beschäftigung zu fordern oder sie gar zur Lösung arbeitsmarktpolitischer Problemlagen in die Pflicht zu nehmen. Hingegen entspricht es dem Zeitgeist, die kollektiven Regelungen der Arbeitsbeziehungen abzubauen oder zumindest die Regelungskompetenz auf die Ebene des Unternehmens zu verlagern. Die Festlegung der Löhne und der Einsatzbedingungen der Arbeitskraft soll, so die beständigen Forderungen von Arbeitgebervertretem und neoliberaler Politik, weitgehend den Betriebspartei überlassen bleiben, damit diese den konkreten Bedingungen des einzelnen Unternehmens Rechnung tragen können. Vereinbarungen über Beschäftigung sin vor diesem Hintergrund als Tausch zu sehen: Die Arbeitnehmerinnen verzicht auf einen Teil ihrer 'Besitzstände", und die Unternehmensleitung verspricht Gegenzug eine möglichst hohe und stabile Beschäftigung oder auch nur die vorläufige Aufrechterhaltung des Standorts. In vielen Ländern der Europäischen Union ist es zu einer stärkeren Verbreitung von Vereinbarungen über Beschäftigung auf der Ebene der Unternehmen gekommen. Die Unternehmen bieten dabei Sicherheit der Arbeitsplätze oder die Ausweitung der Beschäftigung im Tausch für Zugeständnisse der ArbeitnehmerIinnen oder für Unterstützung durch den Staat an (Freyssinet et al. 1998, Seifert 1949). Als ein Grund für die gestiegene Bedeutung der Unternehmensebene wird neben der generellen Tendenz zur Dezentralisierung der Verhandlungssysteme angeführt, daß die Einhaltung der Vereinbarungen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten, die eine Vermeidung von Kündigungen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Inhalt haben, tatsächlich durchgesetzt werden kann, während Beschäftigungspakte zwischen Kollektivvertragsparteien daran kranken, daß 4

einzelne

Unternehmen

damit

nicht

dazu

verpflichtet

werden

können,

tatsächlich

beschäftigungspolitische Maßnahmen zu setzen (Zagelmeyer 1999, S. 14). Vor diesem Hintergrund wollen wir im folgenden darstellen, welche Vereinbarungen, die auf eine Sicherung der Beschäftigung abzielen, bisher in Österreich Verbreitung fanden.1 Daran schließt die Frage an, ob solche Vereinbarungen als Zeichen einer zunehmenden Einbindung der Unternehmen in die Bemühungen der Beschäftigungspolitik zu interpretieren sind oder vielmehr die Tendenz zur Aushandlung einseitiger Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite widerspiegeln. Wir beschreiben im ersten Abschnitt die Grundlagen für solche Verhandlungen und Vereinbarungen in den österreichischen industriellen Arbeitsbeziehungen. Im Anschluß daran werden wir darstellen, welche Vereinbarungen rum Thema Beschäftigung empirisch vorzufinden sind und wie ihre Verbreitung einzuschätzen ist.

7.1

Grundlagen für Vereinbarungen in den Unternehmen

Ob und in welcher Form Beschäftigung zu einem Thema von Verhandlungen und Vereinbarungen wird, hängt nicht nur von den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen ab. In einem verrechtlichten System der Arbeitsbeziehungen, wie dem österreichischen, sind für bindende betriebliche Vereinbarungen Ermächtigungen auf gesetzlicher und kollektivvertraglicher Ebene erforderlich.

Die

inhaltlichen

Bestimmungen

sowie

die

Verfahrensregeln

des

kollektiven

Verhandlungssystems bestimmen den Spielraum, den die Akteure auf d Ebene des Unternehmens für entsprechende Aushandlungen zur Vereinbarung haben. Daher werden wir in diesem Abschnitt zunächst einige der rechtlich Rahmenbedingungen hervorheben, die Voraussetzungen für Vereinbarung über Beschäftigung auf der Ebene der Unternehmen darstellen können. Es sind dies insbesondere

die

Novelle

des

Arbeitszeitgesetzes

im

Jahr

1997,

welche

Spielraum

für

kollektivvertragliche und betriebliche Vereinbarungen über flexible Arbeitszeiten ausweitete, und die Bestimmungen über Bildungskarenz und das "Solidaritätsprämienmodell", die Grundlage einer Umverteilung von Abeitszeit sein können. Zunächst ist aber auf Öffnungsklauseln in den branche

1

Die Autorin und die Autoren arbeiteten an einem Forschungsprojekt der Forschungs und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) im Auftrag der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, das den Charakter und die Verbreitung von Vereinbarungen über Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit zum Gegenstand hatte.

5

weiten Kollektivverträgen einzugehen, die in Deutschland als Grund für die große Verbreitung von betrieblichen Vereinbarungen über Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit gelten (Seifert 1999).

Öffnungsklauseln:

Im österreichischen Kollektivverhandlungssystem ist es nicht üblich, den Betrieben bzw. den betrieblichen

Verhandlungsparteien

die

Möglichkeit

einzuräumen,

vom

branchenweiten

Kollektivvertrag abweichende Vereinbarungen übe Lohnerhöhungen zu treffen. Eine Öffnungsklausel in diesem Sinne wurde nu im Jahr 1993 zwischen der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, d Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie (GMBE) und der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) für die Metallindustrie ausgehandelt. Sie ermöglichte es den Betrieben, anstelle einer Erhöhung der Istlöhne bzw. -gehälter um 2,8% Maßnahmen zur Sicherung der Beschäftigung durchzuführen und den Gesamtbetrag der Erhöhung dafür zu verwenden. Voraussetzung war, daß diese anderweitige, beschäftigungsfördernde Verwendung eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat fand. Mit ihrem Geltungsbereich für die Arbeiterinnen der eisen- und metallerzeugenden und -verarbeitenden Industrie sowie für den Großteil der Industrieangestellten betraf der Verhandlungsabschluß über 300.000 Beschäftigte. Die faktische Umsetzung der vereinbarten Öffnungsklausel durch betriebliche Vereinbarungen blieb jedoch begrenzt, da nur 76 (3,3%) von 2.300 in Frage kommenden Betrieben von der Möglichkeit, eine betriebsspezifische Lohnregelung zu vereinbaren, Gebrauch machten (Auer/Welte 1994, S. 301). Die Analyse der abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen zeigte, daß in fast 70% der Betriebe Investitionen in Maschinen, Forschung und Entwicklung sowie verkaufsfördernde Maßnahmen als Beschäftigungsförderung im Sinne des Kollektivvertrages vorgesehen waren. In weniger als der Hälfte der Betriebe wurden die durch die ausgesetzte Lohn- und Gehaltserhöhung verfügbaren Mittel (auch) für Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen verwendet. Zudem waren in einem Großteil der Fälle die beschäftigungsfördernden Maßnahmen nur sehr unkonkret geregelt «ebenda, S. 303f). Aufgrund des mangelnden Erfolgs und insbesondere wegen der Unzufriedenheit der Gewerkschaften mit der Umsetzung

der

Vereinbarung

wurde

das

Instrument

der

Öffnungsklausel

in

den

Kollektivverhandlungen der Folgejahre nicht mehr aufgegriffen. Erst im Herbst 1999 wurde in einer Branche, den Elektroversorgungsunternehmen, wiederum eine "Option zur Beschäftigungssicherung" ausgehandelt: während für die Ist-Löhne und Gehälter 6

grundsätzlich eine Erhöhung um 1,6% vorgesehen war, kann mittels Betriebsvereinbarung eine Erhöhung um 1,1% festgelegt werden, wenn zusätzlich ein Betrag von 1% der Lohn- und Gehaltssumme für beschäftigungssichernde Maßnahmen verwendet wird. Solche Maßnahmen können in einer Arbeitszeitverkürzung mit teilweisem Lohn- und Gehaltsausgleich, Bildungsmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen,

deren

Arbeitsplatz

gefährdet

ist,

oder

in

der

Entgeltsicherung

bei

organisatorischen Veränderungen wie Schichtauflösungen oder Versetzungen bestehen (GPA 1999). Wieweit diese Regelung von den Betriebsparteien aufgegriffen wird und welchen Inhalt die entsprechenden Vereinbarungen haben, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht angegeben werden. Insgesamt ist festzuhalten, daß das Instrument der Öffnungsklausel in Österreich kaum eingesetzt wurde und daher im Gegensatz zu Deutschland auch nicht zu einer wichtigen Grundlage von Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung werden konnte.

Regelungen der Arbeitszeit:

Die Gestaltung der Arbeitszeit ist ein bevorzugter Inhalt von Vereinbarungen über Beschäftigung. Die Veränderung der gesetzlichen Bestimmungen im Jahr 1997 weitete den Spielraum der Kollektivvertragsparteien und der betrieblichen Verhandlungsparteien bei der Regelung variabler Formen der Arbeitszeit erheblich aus. Zwar normiert das Gesetz eine 40-Stunden-Woche und einen 8 Stunden-Tag, sieht aber Ausnahmen vor: So kann die tägliche Arbeitszeit auf 9 oder 10 Stunden ausgeweitet werden, um Freizeiten im Zusammenhang mit Feiertagen zu kompensieren. Im Handel sind flexible Arbeitszeiten möglich, wobei innerhalb von 4 Wochen im Durchschnitt 40 Stunden pro Woche erreicht werden müssen. Für alle anderen Arbeitnehmerinnen ermöglicht das Arbeitszeitgesetz 1997 die Einführung variabler Arbeitszeitformen, wodurch bei einer Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit die Bezahlung von Überstundenzuschlägen unter bestimmten Bedingungen vermieden werden kann. So kann die wöchentliche Arbeitszeit auf 50 Stunden ausgedehnt werden, wenn innerhalb von 8 Wochen im Durchschnitt die vorgesehene Wochenarbeitszeit erreicht wird. Wird dieser Durchrechnungszeitraum länger angesetzt, so ist die Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden begrenzt. War auch früher die Flexibilisierung der Arbeitszeit Gegenstand von Verhandlungen auf Unternehmens- und Betriebsebene, so wurde der legale Spielraum dafür durch die Gesetzesänderung ausgeweitet. Es war daher zu erwarten, daß der zeitlich flexible Personaleinsatz etwa im Zuge der 7

Ausdehnung von Betriebszeiten verstärkt zum Gegenstand von Vereinbarungen wird, die sich auch auf Beschäftigungssicherung beziehen. Neben

der

Erteilung

einer

Ausnahme

von

der

Sonn-

und

Feiertagsruhe

sind

die

Kollektivvertragspartner seit der Arbeitszeitgesetznovelle 1997 auch ermächtigt, eine Regelung zur Einführung von Frauennachtarbeit zu treffen, die in Osterreich zuvor in der Industrie nicht erlaubt war. Unter anderem wurde eine solche Regelung in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie getroffen. Die Kollektivvertragsbestimmung

schreibt

den

Abschluß

einer

Betriebsvereinbarung

vor.

Frauennachtarbeit ist insofern beschäftigungsfördernd, als dadurch die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen erhöht werden.

Bildungskarenz, Solidaritätsprämienmodell:

Im Rahmen der Pensionsreform 1997 (Arbeits- und Sozialrechtsänderungsgesetz, ASRÄG) wurden arbeitsrechtliche bzw. arbeitsmarktpolitische Begleitmaßnahmen gesetzt, die einerseits das Ziel verfolgen, einen späteren Pensionsantritt zu erleichtern, andererseits aber auch bestrebt sind, einen durch hinausgezögerte Pensionierungen entstehenden Druck auf den Arbeitsmarkt abzufedern. Der Bildungskarenz ist eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin, wonach der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin gegen Entfall des Arbeitsentgelts von der Dienstleistung freigestellt wird. Die Dauer dieser Freistellung kann einen Zeitrahmen von einem halben Jahr bis zu einem Jahr umfassen. Voraussetzung ist, daß das Dienstverhältnis ununterbrochen drei Jahre gedauert hat. Ein Rechtsanspruch auf diese Bildungskarenz besteht nicht. Nach Ende der Bildungskarenz haben die Arbeitnehmerinnen Anspruch auf Weiterbeschäftigung im Unternehmen. Für

die

Zeiten

der

Bildungskarenz

werden

Förderungsmaßnahmen

von

Seiten

des

Arbeitsmarktservice geleistet. Sofern nämlich die arbeitslosenversicherungsrechtliche Anwartschaft erfüllt ist, besteht Anspruch auf Weiterbildungsgeld in Höhe des (Eltern)Karenzgeldes, wenn die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme nachgewiesen wird. Außerdem kann zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin eine Freistellung gegen Entfall des Arbeitsentgeltes ebenfalls für die Dauer von mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr vereinbart werden, ohne daß eine Bildungsveranstaltung besucht werden muß. Auch für diese Zeit kann eine Förderung aus Mitteln des Arbeitsmarktservice in Anspruch genommen werden, wenn eine Ersatzarbeitskraft eingestellt wird. 8

Im Rahmen des Solidaritätsprämienmodells ist eine Herabsetzung der Normalarbeitszeit des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin unter gleichzeitiger Hinstellung einer Ersatzarbeitskraft möglich. Die Bedingungen hierfür können durch einen Kollektivvertrag oder, falls dieser keine Regelung trifft oder nicht zur Anwendung kommt, in einer Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Gemäß

Arbeitslosenversicherungsgesetz

Beschäftigungsförderung

vorgesehen.

sind Jene

in

diesem

Fall

Arbeitnehmerinnen,

ebenfalls

Leistungen

die

durchschnittliche

ihre

zur

wöchentliche Normalarbeitszeit herabsetzen, haben Anspruch auf eine Solidaritätsprämie, ebenso wie die Ersatzarbeitskraft, wenn diese zuvor Arbeitslosengeld bezogen hat und nicht geringfügig beschäftigt wird. Das Gesamtarbeitszeitvolumen muß gleich hoch bleiben. Die Höhe der Solidaritätsprämie wird anhand des zustehenden Arbeitslosengelds berechnet. Möglichkeiten zur weiteren Reduzierung der individuellen Arbeitszeit wurden im Rahmen der Gleitpension eröffnet. Arbeitnehmerinnen, welche die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer Gleitpension erfüllen, können notfalls mit Zustimmung des Gerichtes eine Herabsetzung ihrer Normalarbeitszeit erreichen. Eine rechtlich etwas abgeschwächte Form dieser Herabsetzung der Normalarbeitszeit gibt es für Arbeitnehmerinnen, die das fünfzigste Lebensjahr vollendet haben bzw. für Arbeitnehmerinnen mit Betreuungspflichten in der Familie. Die Möglichkeit einer Karenzierung für Bildungszwecke wurde im Herbst 1998 in den Kollektivvertragsverhandlungen aufgegriffen. Gewerkschaften und Wirtschaftskammer diskutierten die Möglichkeiten der Unterstützung der Umsetzung dieser Maßnahme in den Unternehmen. Dies führte zu einer "gemeinsamen Erklärung" der Kollektivvertragsparteien, in der sie den Abschluß von Betriebsvereinbarungen empfahlen. Dabei wurde die Notwendigkeit betont, die betrieblichen Zielsetzungen und die Bildungsziele der Arbeitnehmerinnen in Einklang zu bringen. Vor allem Wiedereinsteigerinnen

wurden

als

Zielgruppe

für

diese

Maßnahme

angesehen,

deren

Kündigungsschutz auch während der Bildungskarenzierung aufrechterhalten werden sollte. Die Empfehlung an die Betriebe lautete: "Der Arbeitgeber soll Anträge der Arbeitnehmer auf Bildungskarenz genehmigen und eine entsprechende Vereinbarung abschließen, wenn das betriebliche Interesse nicht nachteilig berührt wird und auf Grund der Ausbildung eine Gewähr dafür besteht, daß die facheinschlägige Weiterbildung im Unternehmen verwendbar ist. In diesem Fall soll das Unternehmen nach einer zu vereinbarenden Weiterverwendungszeit allfällig aufgelaufene Kosten für Sozialversicherung und sonstige Aufwendungen im Zusammenhang mit der Bildungskarenz übernehmen. Unter diesen Voraussetzungen soß die Karenzzeit auch bei Ansprüchen, die sich nach der Dienstzeit richten, angerechnet werden" (Wirtschaftskammer Österreich 1998, S. 67). 9

Obwohl die dargestellten Regelungen schon längere Zeit in Kraft sind, werden sie bisher kaum in Anspruch genommen. Laut übereinstimmenden Aussagen von Interessenvertretern und Beamten haben bis Ende 1998 rund 400 Arbeitnehmerinnen eine Bildungskarenz angetreten, das Solidaritätsprämienmodell wurde gar nur von 17 Arbeitnehmerinnen beansprucht.

7.2

Formen von Vereinbarungen über Beschäftigung in Unternehmen

Im folgenden führen wir aus, welche Formen die Vereinbarungen über Beschäftigung in den Unternehmen annehmen und wie ihre Verbreitung einzuschätzen ist. Wir unterscheiden dabei zwischen

"offensiven"

Vereinbarungen,

kompensatorischen

Vereinbarungen

und

defensiven

Vereinbarungen, die in unterschiedlichem Ausmaß auf die Schaffung oder Bewahrung von Beschäftigung abzielen. Darüber hinaus sind wie bereits erwähnt Vereinbarungen über die Modalitäten eines Personalabbaus anzuführen, da sie die weitaus häufigsten Maßnahmen mit Bezug zu Beschäftigung in Österreich sind.

7.2.1 Offensive Vereinbarungen: Arbeitszeitverkürzung, Bildungsurlaub

Wir bezeichnen Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung dann als offensiv, wenn dadurch Beschäftigung geschaffen bzw. gesichert wird, ohne daß, wie bei den defensiven Maßnahmen, eine unmittelbare Bedrohungssituation bestanden hat. Die Definition schließt auch ein, daß der Bezug zur Beschäftigung direkt und nicht vermittelt über höhere Wettbewerbsfähigkeit gegeben ist. Zudem geht es um die Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen bei gleichbleibendem Niveau der Beschäftigungsbedingungen,

also

ohne

gravierende

Zugeständnisse

von

Seiten

der

Arbeitnehmerinnen. Ein Beispiel dafür ist die Verkürzung der Arbeitszeit. So wurde in der Papierindustrie im Jahr 1999 ein Kollektivvertrag abgeschlossen, der eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 38 auf 36 Wochenstunden innerhalb der nächsten drei Jahre vorsieht, nachdem die 36 Stunden-Woche in vielen Unternehmen bereits im Rahmen von Betriebsvereinbarungen eingeführt worden war.

10

Individuelle Arbeitszeitverkürzungen unter Nutzung des Solidaritätsbonusmodells sind, wie bereits dargestellt, so gut wie ausgeblieben. Wie das Konzept auf Unternehmensebene umgesetzt werden könnte, zeigt das Beispiel eines gemeinnützigen Dienstleistungsunternehmens.

Die Non-Profit-Organisation VBSA beschäftigt etwa 650 Personen, wovon 300 Sozialarbeiterinnen sind. Für diese Beschäftigtengruppe entwickelte der Betriebsrat ein Modell für eine individuelle und freiwillige Verkürzung der Arbeitszeit. Das Ziel war die Verringerung der Arbeitsbelastungen, die Erhöhung der Lebensqualität und die Schaffung zusätzlicher Beschäftigung. Zu Beginn bekundeten laut Betriebsrat 30 bis 40 Personen ihr Interesse an kürzerer Arbeitszeit. In einer Einrichtung wurde das Modell bereits im Jahr 1996, als es die Möglichkeit zu Lohnsubventionen noch nicht gab, unter Inkaufnahme proportionaler Einkommensverluste umgesetzt. Als die gesetzliche Grundlage für einen teilweisen Ausgleich des Einkommensausfalls geschaffen war, schlossen sich weitere Einrichtungen dieser Vorgangsweise an.

Zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat wurden auf zentraler Ebene die Bedingungen der Realisierung des Modells vereinbart. Die Zielsetzung des Management war dabei, Initiativen zu unterstützen, die geeignet sind, die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeiterinnen zu verbessern und zu neuer Beschäftigung zu ihren. In den Verhandlungen gab es keine gegensätzlichen Positionen, und die Vereinbarung aus dem Februar 1998 sieht vor, daft die interessierten Beschäftigten ein Konzept vorlegen müssen, das insbesondere einen Dienstplan enthält. Es wurde vereinbart, daß die Arbeitszeitverkürzung auf Dauer erfolgt. Auf der Grundlage der Vereinbarung wurden in zwei Einrichtungen je ein neuer Arbeitsplatz dadurch geschaffen, daß eine entsprechende Anzahl von Beschäftigten ihre Arbeitszeit reduzierte. Die Erfahrungen mit dem Modell werden als positiv bezeichnet, die Umsetzung in weiteren Einrichtungen das Unternehmens ist geplant. Eine Schwäche des Modells, die seine Verbreitung beschränkt, besteht allerdings darin, daß der Einkommensverlust nur teilweise kompensiert wird. Daher können es sich nicht alle Arbeitnehmerinnen leisten, ihre Arbeitszeit zu verkürzen.

11

In der Bauwirtschaft wurde 1996 ein Jahresarbeitszeitmodell eingeführt, mit dessen Hilfe die Arbeitslosigkeitsperioden im Winter verkürzt werden sollen. Die Maßnahmen bestehen in einer variablen Wochenarbeitszeit, in der Fixierung eines Teiles des Jahresurlaubs auf Dezember und Jänner und in einem Bonus für Unternehmen, die ihre Arbeiter während der Weihnachtsfeiertage in Beschäftigung halten. Zusammengenommen können diese Maßnahmen die Beschäftigung um bis zu sechs Wochen verlängern. Nach dem ersten Jahr wurde die Wirkung des Modells als positiv eingeschätzt. Die Beschäftigungszahlen zeigten tatsächlich ein niedrigeres Maximum im Sommer und einen Zuwachs um 7.500 Beschäftigte in der letzten Dezemberwoche.

In der Folge schränkte die mangelnde Kapazitätsauslastung der Bauwirtschaft im Sommer und Herbst 1998 die Wirkungsweise des Arbeitszeitmodells im Winter 1998/99 allerdings ein. Zudem ist anzumerken, daß das Modell zwar geeignet ist, den Arbeitern im Gegenzug zum Verzicht auf Überstundenzuschläge eine gleichmäßigere Beschäftigung zu sichern, doch ändert es nichts an der hohen Sockelarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft (BUAK 1999).

7.2.2 Kompensatorische Vereinbarungen: Vermeidung negativer Beschäftigungseffekte

Um negative Beschäftigungseffekte insbesondere von Modellen variabler Arbeitszeit zu vermeiden, versuchen Gewerkschaften und Betriebsräte ihre Anwendung auf jene Betriebe zu begrenzen, in denen sie aus wirtschaftlichen Gründen notwendig sind, und mit einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu verbinden. Im Jahr 1998 waren in Österreich rund 50 verschiedene kollektivvertragliche Regelungen variabler Arbeitszeiten in Kraft, die den Unternehmen in der Regel eine Anpassung der Arbeitszeiten an die Auslastung ohne Bezahlung von Überstundenzuschlägen erlauben. Der Kollektivvertrag für die Metallindustrie und das Metallgewerbe aus dem Jahr 1997 beispielsweise sieht variable Arbeitszeiten mit 12

maximal 9 Stunden pro Tag und 45 Stunden pro Woche vor, ohne daß Überstundenzuschläge für die Mehrarbeit bezahlt werden müssen. Die Unternehmen verpflichten sich, Zeitkonten für die Beschäftigten zu führen, auf denen ein Guthaben von maximal 120 Stunden angesammelt werden darf, das innerhalb eines Jahres auszugleichen ist. Ist dies nicht der Fall, bezahlen die Unternehmen für die nicht abgebauten Stunden einen Extrazuschlag, der diese teurer macht als „normale" Überstunden. Diese Verteuerung soll die Unternehmen zu einer exakten Personalplanung und im Zweifelsfall auch dazu bewegen, zusätzliche Arbeitskräfte aufzunehmen. Eine weitere im Kollektivvertrag festgelegte Bedingung für variable Arbeitszeiten ist, daß die Unternehmen keine Leiharbeiterinnen beschäftigen.

Das Unternehmen BMW Motorenwerke Steyr in Oberösterreich, das etwa 3000 Personen beschäftigt, führte im Mai 1999 in der Dieselmotorenmontage ein an die Regelung bei BMW in München angelehntes neues Arbeitszeitschema ein. Es beinhaltet im wesentlichen ein Jahresarbeitszeitmodell mit individuellen Zeitkonten, und es soll die Flexibilität des Unternehmens in der Festlegung der Betriebszeiten erhöhen. Das maximale Zeitguthaben bzw. der maximale Rückstand wurden mit 250 Stunden festgesetzt, ein Ausgleich des Zeitkontos muß etwa innerhalb eines Jahres erreicht werden. Die wöchentlichen Betriebszeiten wurden von 83 Stunden auf 99 Stunden ausgedehnt, indem 11 Schichten zu je 9 Stunden gefahren werden (anstelle von 10 Schichten zu 8,3 Stunden). Damit bekam das Unternehmen die Möglichkeit, bei Bedarf am Samstag eine Frühschicht einzuplanen. Für Samstagsarbeit gilt ein Zuschlag von 50%, für Nachtschichten ein Zuschlag von 100%. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit wurde in diesem Zusammenhang von 38,5 auf 37 Stunden verkürzt, die individuelle Verteilzeit von 25 auf 35 Minuten täglich erhöht und die Zeit für Teambesprechungen (2 Stunden und 38 Minuten pro Monat) muß nicht mehr eingearbeitet werden. Die Arbeitszeitverkürzung wurde mit vollem Lohnausgleich realisiert, d.h. das Monatseinkommen der Arbeiterinnen bleibt gleich. In jenen Bereichen des Unternehmens, in denen Nachtschichten gefahren werden, gilt eine 36-StundenWoche.

In unserem Zusammenhang ist die bei der Einführung des Arbeitszeitmodells ausgesprochene Beschäftigungsgarantie von besonderem Interesse: Die Betriebsvereinbarung legt fest, daß während ihrer Gültigkeitsdauer keine Person, die vom neuen, 13

ausgedehnte Betriebszeiten ermöglichenden Arbeitszeitmodell betroffen ist, vom Unternehmen gekündigt wird. Darüber hinaus ist die beschäftigungssichernde Wirkung der Arbeitszeitverkürzung hervorzuheben: Der Betriebsrat schätzt, daß durch das Arbeitszeitmodell über 40 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen wurden (Der BMW Arbeiter, Mai 1999, S. 4).

Insgesamt haben gemäß einer Umfrage der Gewerkschaft GMBE aus dem Jahr 1998 nur circa 10% der Unternehmen in Metallindustrie und -gewerbe von der seit 1997 bestehenden Möglichkeit zur Einführung des kollektivvertraglich vereinbarten Modells variabler Arbeitszeiten Gebrauch gemacht. Von Seiten der Gewerkschaft wird argumentiert, daß aufgrund der Bestimmungen nur solche Unternehmen das Modell nützen, die es aufgrund ihrer Marktbedingungen

tatsächlich brauchen und nicht nur die

Einsparungsmöglichkeiten bei den Oberstundenzuschlägen im Auge haben.

Die Sicherung der Beschäftigung war bei einem oberösterreichischen Baustoffhersteller mit 465 Beschäftigten eines der vorrangigen Ziele für die Einführung einer variablen 35Stunden-Woche im Jahr 1997. Das Unternehmen befand sich insofern in einer Zwickmühle, als sich aus einer sinkenden Auftragslage, wie in der gesamten Bauwirtschaft, und einer steigenden Produktivität (in Folge der Modernisierung des Maschinenparks) die Notwendigkeit einer drastischen Reduzierung der Beschäftigtenzahl ergab. Management und Betriebsrat einigten sich darauf, variable Arbeitszeiten zwischen 32 und 42 Wochenstunden einzuführen und die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 35 Stunden zu verkürzen. Die Beschäftigten verzichteten im Zuge der Arbeitszeitverkürzung auf 3,5% ihrer Löhne. Laut Angaben aus dem Unternehmen wurden auf diese Weise rechnerisch 60 Arbeitsplätze gerettet.

Die Ausweitung des Handlungsspielraums für die Betriebsparteien in der Gestaltung der Arbeitszeit bezog sich nicht nur auf variable Wochenarbeitszeiten: Seit der Novelle des Arbeitszeitgesetzes 1997 kann nicht nur das Sozialministerium (wegen technischer Notwendigkeit) eine Ausnahme von der Sonn- u Feiertagsruhe erteilen, sondern auch die Kollektivvertragsparteien, wenn dies der Vermeidung ökonomischer Nachteile und der Sicherung der Beschäftigung dient. Die Bedingungen der Sonn- und Feiertagsarbeit müssen in einer Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Ende 1998 haben in der Metallindustrie die Unternehmen auf dieser Basis Sonn- und Feiertagsarbeit eingeführt. Die Gewerkschaft 14

GMBE versucht auch in diesen Fällen, die Einführung von Sonn und Feiertagsarbeit an hohe Zeitzuschläge zu koppeln, die zu einer deutlich Verkürzung der Wochenarbeitszeit führen. Auch in der Chemieindustrie wurden von den Kollektivvertragsparteien mindestens drei solcher Ausnahmegenehmigungen erteilt. Eine davon erhielt ein Unternehmen, das mit unerwartet hoher Nachfrage konfrontiert war, welche die Kapazitäten des Werks übertraf. Weil die Aufträge im Rahmen des 5-Tag Betriebes nicht mehr bewältigt werden konnten, wurde Sonn- und Feiertagsarbeit eingeführt. Die Bedingungen wurden in einer Betriebsvereinbarung festgelegt. Dazu gehörte die Einführung zweier zusätzlicher Schichtgruppen und die Verkürzung der Arbeitszeit von 38 auf 36,4 Wochenstunden, was die Aufnahme zusätzlicher Arbeitskräfte zur Folge hatte. Seit 1998 wurden 400 neue Beschäftigte aufgenommen. Allerdings sind die Arbeitsplätze nur bedingt gesichert: Mitte 1999 ließ die Nachfrage wieder nach, und die Konzernmutter ordnete die Drosselung der Produktion an. Das Werk wurde im Sommer für drei Wochen geschlossen, die Beschäftigten auf Betriebsurlaub geschickt. Nicht untypisch dürfte auch folgendes Beispiel sein: Das Management des Werks eines Elektronikunternehmens trat an den Betriebsrat heran, um über die Einführung eines flexiblen 7-Tage-Arbeitszeitmodells zu verhandeln, nachdem in der Folge eines rasanten Preisverfalles bei Bildröhren am Weltmarkt deutliche Verluste entstanden waren. Durch eine bessere Ausnützung der Maschinen und eine bessere Anpassung der Arbeitszeit an die schwankende Auftragslage sollten die Kosten reduziert und das Werk gegenüber der asiatischen Konkurrenz wieder wettbewerbsfähig gemacht werden. Die Verhandlungssituation war von der Gefahr geprägt, daß es zu einer Schließung des Werks kommen könnte, falls der Betriebsrat dem flexiblen 7 TageBetrieb nicht zustimmt. Um eine möglichst hohe Beschäftigung zu sichern, forderte der Betriebsrat, bei der Ausdehnung der Betriebszeiten nicht nur wie geplant eine, sondern zwei zusätzliche Schichtgruppen einzurichten. Mit dem Hinweis auf die damit verbundenen Kosten lehnte das Management dies jedoch ab. Die Bedingungen des flexiblen 7-Tage-Arbeitszeitmodells wurde ihm Rahmen einer Betriebsvereinbarung fixiert. Dazu gehörte eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 auf 36,43 Stunden und eine Beschränkung des Leiharbeiteranteils auf 20 Prozent. In der Folge wurden zwar neue Arbeitskräfte aufgenommen, das neue Arbeitszeitmodell zeigt sowohl im Hinblick auf die Beschäftigung als auch im Hinblick auf die Kostensituation positive Effekte. Dennoch konnten die Schwierigkeiten des Werkes nicht gänzlich ausgeräumt werden, weshalb 1999 ein Teil der Produktion geschlossen und nach 15

Spanien verlagert wurde. In diesem Zusammenhang wurde eine große Zahl von Beschäftigten im Rahmen eines Sozialplanes gekündigt. In weiterer Folge wurden die restlichen Beschäftigten vom Management aufgefordert, freiwillig auf 15% ihrer Löhne zu verzichten (die nach dem Verzicht immer noch über dem Kollektivvertrag lagen). Die Beschäftigten und der Betriebsrat stimmten angesichts der drohenden Schließung auch dieser Maßnahme zu.

7.2.3

Defensive Vereinbarungen: Verzicht auf Lohn oder Sozialleistungen

Mit defensiven Vereinbarungen reagieren die Betriebsparteien auf wirtschaftliche Krisensituationen. Mit Hilfe einer Kostensenkung, die durch Zugeständnisse der Beschäftigten erreicht werden kann, wird versucht, den Bestand des Betriebes und damit die Beschäftigung zu sichern. Zu solchen Zugeständnissen gehört z.B. ein freiwilliger Lohnverzicht, der im allgemeinen auf Unternehmensebene ausgehandelt wird, dann allerdings der einzelvertraglichen Zustimmung jedes einzelnen Beschäftigten bedarf. Während es sich im oben dargestellten Fall des Elektronikwerks erst noch erweisen muß, ob der Lohnverzicht tatsächlich zur Sicherung der verbleibenden Arbeitsplätze führen wird, hat sich diese Maßnahme im Falle eines Vorarlberger Textilunternehmens bewährt. Der Wäscheproduzent lief 1996 Gefahr, seinen Hauptabnehmer, eine britische Kaufhauskette, zu verlieren. Dieser drohte an, aufgrund von Preisvorteilen in Asien einzukaufen. Dies hätte den Konkurs des Unternehmens nach sich ziehen können, das in den Jahren zuvor hohe Investitionen getätigt hatte. In dieser Situation trat das Management an den Betriebsrat heran und schlug ihm als Maßnahme zur Rettung des Unternehmens und der 460 Arbeitsplätze einen befristeten zehnprozentigen Lohnverzicht vor. Management und Betriebsrat einigten sich in der Folge auf ein dreijähriges, abgestuftes Modell: Im ersten Jahr verzichteten die Beschäftigten auf 3,9%, im zweiten auf 2%, und im dritten auf 1% ihrer Löhne. Nach zwei Jahren wurden aber bereits wieder die früheren Löhne bezahlt. Durch weitere Investitionen in die Modernisierung des Maschinenparks und durch die Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen der Arbeitnehmerinnen war das Unternehmen 1998 bereits wieder konkurrenzfähig.

16

In diesem Fall hatte das Unternehmen keine Beschäftigungsgarantie gewährt, doch wurde vereinbart, daß im Fall von Kündigungen die Lohndifferenz nachträglich an die Betroffenen ausbezahlt würde.

Im letzten Jahrzehnt hat der Verzicht auf bzw. die Rücknahme von freiwilligen Sozialleistungen in Osterreich weite Verbreitung gefunden. Diese Einsparungen erfolgten in nahezu allen Branchen. In der Lebensmittelindustrie verstärkte si der Trend Mitte der 90er Jahre erheblich, als durch den EU-Beitritt Österreich die nationalen Schutzbestimmungen für den Agrarsektor und die damit verbundene Lebensmittelindustrie gefallen sind. Der europäische Binnenmarkt erlaubte es den Unternehmen, ihre Produktion im gesamteuropäischen Maßstab neu strukturieren. Dies führte zur geografischen Konzentration der Produktion zur Schließung vieler Fertigungsstandorte, auch solcher, die für die Unternehmen profitabel waren. Ein Paradebeispiel in dieser Hinsicht stellt ein europäisches Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie mit einer Reihe von österreichischen Produktionsstandorten. Nach dem EU-Beitritt Österreichs intensivierte der Konzern seine Bemühungen, österreichischen Unternehmen neu zu strukturieren und in den europäischen duktionsverbund des Konzerns zu integrieren. Die Gesamtzahl aller Beschäftigten des Unternehmens

in

Österreich

ist

seit

1992

in

Folge

des

Verkaufs

von

Unternehmensteilen sowie der Schließung von Standorten oder der Auflassung von Teilen Produktion von 4000 auf 1200 gesunken. Im Gegenzug zur Zustimmung zu den Sozialplänen, die bei den Kündigungen erforderlich waren, erreichte der Betrieb von der Unternehmensleitung Mr zwei Werke Standortgarantien bis zum Jahr 2 bzw. 2001. Diese Zusagen umfassen zwar keine konkreten Zahlen für die Beschäftigung, trotzdem stellen sie — gemeinsam mit dem Beispiel BMW Motorenwerke unseres Wissens die einzigen Fälle in Österreich dar, wo vom Management schriftliche Beschäftigungsgarantien abgegeben wurden.

7.2.4 Vereinbarungen über Personalabbau

Die häufigsten Vereinbarungen zum Thema Beschäftigung auf Unternehmen bene sind keineswegs Maßnahmen zur Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen, sondern vielmehr Regelungen von 17

Personalabbaumaßnahmen. Da sind die im Arbeitsverfassungsgesetz vorgesehenen "Sozialpläne" als traditionelle Variante des Versuchs anzusehen, den Verlust von Arbeitsplätzen sozial "abzufedern". Die Bestimmungen des Arbeitsverfassungsgesetzes sehen vor, daß der Betriebsrat frühestmöglich davon informiert werden muß, wenn der Betrieb eingeschränkt, verlegt oder stillgelegt wird oder aufgrund der Anzahl der geplanten Kündigungen eine Meldepflicht gegenüber dem Arbeitsmarktservice entsteht. Treten durch diese Umstände nachteilige Folgen für die Belegschaft ein, kann' der Betriebsrat Vorschläge zur Verhinderung, Beseitigung oder Milderung dieser Folgen einbringen. Bringen diese Betriebsmaßnahmen wesentliche Nachteile für alle Arbeitnehmerinnen oder erhebliche Teile der Arbeitnehmerschaft mit sich, besteht die Möglichkeit, einen Sozialplan abzuschließen. Als wesentliche Nachteile sind die Verminderung des Entgelts, der Abbau freiwilliger Sozialleistungen, die Verlängerung des Arbeitsweges oder der Verlust des Arbeitsplatzes anzusehen. Als ausgleichende Maßnahmen können beispielsweise vereinbart werden: Erhöhte Abfertigungen, betriebliche Ruhegelder bis rum Pensionsanfall, Weiterbenützung einer Werkswohnung, Hinausschieben einer Fälligkeit von Darlehen, die dem Dienstnehmer gewährt wurden, Ersatz an Bewerbungskosten für gekündigte Arbeitnehmerinnen, Sonderregelung für Härtefälle, Zahlungen für Ausbildungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Übernahme von Übersiedlungskosten, Wiedereinstellungsklauseln und dergleichen. Kommt es zu keiner Einigung zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung, kann der Betriebsrat den Abschluß, die Abänderung oder die Aufhebung des Sozialplanes über die Schlichtungsstelle erzwingen. Wenn es auch keine Daten über die Häufigkeit des Abschlusses von Sozialplanen gibt, so kann auf der Grundlage unserer Erhebungen angenommen werden, daß Vereinbarungen über Beschäftigungsfragen am häufigsten diese Form rannehmen. In Großbetrieben, in denen ein Betriebsrat eingerichtet ist, werden in der Regel Sozialpläne auch tatsächlich abgeschlossen, wenn die im Gesetz genannten Bedingungen zutreffen. Hingegen ist es in Kleinbetrieben bzw. im Gewerbe weit seltener der Fall, daß Sozialpläne zustande kommen. Die Verbreitung sagt allerdings noch nichts über den Inhalt und die Qualität der Vereinbarungen aus. Nach den Beobachtungen von Gewerkschafterinnen sind transnationale Konzerne zumeist eher als einheimische Unternehmen bereit, in den Verhandlungen über einen Sozialplan den Forderungen der Betriebsräte zuzustimmen. Beschäftigungsgarantien für die verbleibende Belegschaft werden von den Unternehmen in dieser Situation sehr selten gewährt. Handelt es sich um Maßnahmen mit freiwilligen Kündigungen, so kann allenfalls damit implizit ausgedrückt sein, daß von Kündigungen durch das Unternehmen abgesehen wird. 18

In Wirtschaftsbereichen mit hoher Beschäftigungssicherheit für die Arbeitnehmerinnen ist eine kurzfristige Senkung des Personalstandes nur mit Hilfe von Angeboten an die Beschäftigten bei freiwilliger Auflösung des Dienstverhältnisses möglich. Bei den Privatisierungsmaßnahmen der letzten Jahre war daher die Vereinbarung von Sozialplänen an der Tagesordnung, die den freiwillig ausscheidenden Beschäftigten höhere Abfertigungen oder Vorruhestandsregelungen brachten. Das folgende Beispiel illustriert diese Situation. Im Jahr 1996 wurde die Post- und Telegraphenverwaltung aus der staatlichen Verwaltung ausgegliedert und in die Post- und Telekom Austria (PTA) überführt. In einer seiner ersten Stellungnahmen kündigte das Management des seither nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten geführten Unternehmens an, bis zum Jahr 2002 9.600 der mehr als 50.000 Vollzeitstellen zu streichen. Das Management will durch den Beschäftigungsabbau die Produktivität des Unternehmens erhöhen. Im Telefonbereich wird die Produktivität in Mitarbeiter pro Anschluß gemessen. Dieser Indikator liegt bei der PTA bzw. der inzwischen ausgegliederten Telekom Austria AG laut Management unter dem internationalen Niveau. Im Hinblick auf den geplanten Gang an die Börse wurde die Steigerung der Produktivität zu einem vordringlichen Ziel erklärt. Dazu beitragen sollte der Abschluß eines 1997 in Kraft getretenen Sozialplanes, der das Unternehmen nach Darstellung der Postgewerkschaft zunächst Milliarden Schilling kostete. Nachdem zwei Drittel der Beschäftigten der PTA "Dienstleistung zugewiesene", nicht kündbare Beamte und Beamtinnen waren, stand der Hauptteil des Sozialplanes aus einer Vorruhestandsregelung. Beamten zwischen 55 und 59 Jahren wurde angeboten, mit 80 Prozent ihrer letzten Bezüge, aber nach Vollendung des 59. Lebensjahres mit der vollen Pension, in den Vorruhe- stand zu gehen. Jüngeren Beschäftigten wurden abhängig von der Anzahl Dienstjahre freiwillige Abfertigungen angeboten. Insgesamt schieden 4.500 Beschäftigte aus dem Unternehmen aus, also die Hälfte des angepeilten Ziels. Das Management argumentiert, daß durch den Beschäftigungsabbau die Arbeitsplätze verbleibenden Mitarbeiter gesichert würden. Die Postgewerkschaft kritisiert, daß das Unternehmen nicht einmal in Erwägung gezogen habe, durch die Erschließung neuer Geschäftsfelder neue Beschäftigung zu schaffen. Die Einrichtung einer Arbeitsstiftung wurde angeblich mit dem Argument abgelehnt, das Unternehmen wolle nicht Personal für die Konkurrenz ausbilden. 19

Unter den Vereinbarungen, die den Verlust von Beschäftigung regeln, stellen Arbeitsstiftungen eine innovative und sehr erfolgreiche Maßnahme dar. Seit "Stahlstiftung" der VOEST-Alpine im Jahr 1987 in Linz gegründet worden war hat dieses Modell zur Bewältigung von Arbeitsplatzverlust viele Nachahmer auf der Ebene von Unternehmen, Regionen oder Branchen gefunden. Die diesbezüglichen Vereinbarungen sind zwar nicht auf den Erhalt der bedrohten Arbeitsplätze oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze ausgerichtet, es ist jedoch das erklärte und in hohem Ausmaß auch erreichte Ziel aller Stiftungsmaßnahmen, die Teilnehmerinnen wieder eine Beschäftigung finden. Teilweise ist auch die Schaffung von Unternehmen und Arbeitsplätzen Gegenstand der Stiftungsaktivitäten (Lechner/Reiter 1991, Saurug et al. 1998). Die Verbreitung des Stiftungskonzepts läßt sich zum Teil darauf zurückfuhren, daß es den Untemehm die Möglichkeit zu einem "akzeptablen" oder "verantwortlichen" Umgang mit dem Personalabbau bietet, bei dem sie ihre Reduktionsziele dennoch uneinge- schränkt erreichen können. Dennoch fanden wir einige Beispiele, in denen sich die Unternehmen nicht auf eine solche Form der Bewältigung des Personalabbaus einließen. Arbeitsstiftungen basieren auf Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 und des Arbeitsmarktservicegesetzes aus dem Jahr 1994. Sie entwickelten sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Bewältigung der negativen Wirkungen des Strukturwandels. Mit ihrer Hilfe können den Betroffenen nach einer Kündigung Maßnahmen auf der Basis einer kollektiven Vereinbarung angeboten werden. "Arbeitsstiftungen werden von Unternehmen, die einen bedeutsamen Beschäftigungsabbau planen, im Rahmen eines Sozialplans und mit Zustimmung des Betriebsrates gegründet. Sie beinhalten ein Maßnahmenpaket, das je nach individuellem Bedarf aus Berufsorientierung,

aktiver

Arbeitsplatzsuche,

Betriebspraktikum,

(Höher-)Qualifizierung

und

Unterstützung bei einer geplanten Unternehmensgründung besteht" (Beschäftigungsobservatorium 1998, S. 108). Außer Unternehmensstiftungen sind regionale Stiftungen und Branchenstiftungen verbreitet. Mit der Gründung der "Offenen Arbeitsstiftung Steyr" im Jahr 1993 fanden sich erstmals in Osterreich eine größere Zahl an Unternehmen zusammen, um eine gemeinsame Einrichtung mit größeren finanziellen Mitteln zu schaffen. Neben der Schaffung einer beschäftigungspolitischen Initiative für die Region waren damit die Ziele verbunden, einen Arbeitskräftepool für die beteiligten Firmen aufzubauen, Aus- und Weiterbildung zu organisieren und Unternehmensgründungen zu unterstützen. Bisher haben etwa 500 Personen die Angebote der Offenen Arbeitsstiftung Steyr genutzt, fast alle Teilnehmerinnen konnten wieder Beschäftigung finden. Im Jahr 1997 hatten die verschiedenen Stiftungen in Österreich insgesamt über 3000 Teilnehmerhoren. Laut Evaluationsstudien finden über 70% der Teilnehmerinnen eine neue Beschäftigung (ebenda, S. 109). 20

7.3

Schlußfolgerungen

Explizite Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung auf Unternehmensebene sind, so können die Ausführungen in diesem Beitrag zusammengefaßt werden, in Osterreich sehr selten. Nur in wenigen Unternehmen legten sich Geschäftsleitung und Betriebsrat in den letzten Jahren auf konkrete Beschäftigungsziele fest. Solche "Garantien" werden fast ausschließlich im Gegenzug zu vorübergehenden

Lohnkürzungen

oder

Arbeitszeitverkürzungen

zur

Oberwindung

von

wirtschaftlichen

Schwierigkeiten des Unternehmens gewährt. Das heißt allerdings nicht, daß die Sicherung von Beschäftigung in den Verhandlungen auf Untemehmensebene keine Rolle spielt. Wird die Beschäftigung zum Verhandlungsthema, so meist in der traditionellen Form der Bewältigung eines Personalabbaus. Nach unserer Einschätzungen behandelt die Mehrheit der Vereinbarungen rum Thema Beschäftigung die Verminderung des Personalstandes eines Unternehmens durch Kündigungen, wobei es das Ziel der Verhandlungsparteien ist, "akzeptable" Lösungen zu finden. In diesem Zusammenhang haben Maßnahmen der Frühverrentung in Österreich eine lange Tradition. In den Sozialplänen werden in erster Linie die finanziellen Bedingungen der (freiwilligen) Kündigungen geregelt. In Branchen wie Post und Telekommunikation, aber auch in Unternehmen der ehemals verstaatlichten Industrie, sind bisherige, teils weitreichende Beschäftigungssicherheiten der Hintergrund für die Verhandlungen: Der im Zuge von Marktliberalisierung, Privatisierung und Untemehmensrestrukturiem angestrebten Reduktion des Personalstandes stehen teils verbriefte, teils implizierte Beschäftigungsgarantien gegenüber. In dieser Situation konzentrieren sich die Verhandlungen auf der einen Seite auf Anreize für ein freiwilliges Ausscheiden aus dem Unternehmen, auf der anderen Seite auf die Aufhebung der bisherigen Beschäftigungssicherheiten. Die Maßnahmen, die den Verlust von Arbeitsplätzen "sozial verträglich" gestalten sollen, haben als Schattenseite

die

wohl

beabsichtigte

Wirkung,

eine

kritische

Auseinandersetzung

über

Personalabbaumaßnahmen zu vermeiden die Forderung nach einer Verantwortung der Unternehmen für Beschäftigungsicherung gar nicht erst entstehen zu lassen. Unter den "defensiven Vereinbarungen" stehen jene im Vordergrund, die Maßnahmen zur Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung des Betriebes und die mit der Beschäftigung abwenden sollen. In der Regel verzichten die Arbeitnehmerinnen auf einen Teil des ihnen zustehenden Einkommens, um damit eine Insolvenz zu verhindern oder Mittel für die Verbesserung der wirtschaftlich Situation und der Wettbewerbsfähigkeit

des

Betriebs

freizumachen.

In

manchen

Fällen

kam

es

zu

einer

Arbeitszeitverkürzung mit proportionalem Lohnverlust, die als Alternative zu betriebsbedingten Kündungen 21

vereinbart wurden. Typisch für diese defensiven Vereinbarungen ist ihr befristeter Charakter: nach einer bestimmten Zeit gelten die früheren Beschäftigungsbedingungen weiter. Wir können davon ausgehen, daß solche Vereinbarungen nicht sehr verbreitet sind. Für jede Branche konnten uns die befragten Expertinnen nur eine Handvoll von Fällen nennen, von denen sie in den letzten Jahren Kenntnis erlangten. Wenn defensive Vereinbarungen keine explizite Befristung aufweisen, so können sie als Ausdruck von "concession bargaining" angesehen werden. Insbesondere in transnationalen Unternehmen wird die Fortführung eines Betriebs vielfach vom Erreichen bestimmter betriebswirtschaftlicher Ziele bzw. vom Abschneiden

im

untemehmens-

oder

branchenweiten

"benchmarking"

abhängig

gemacht.

Die

Zugeständnisse der Arbeitnehmerinnen werden dabei in der Regel nicht nach einer Durststrecke wieder zurückgenommen und ausgeglichen, sondern werden zur neuen Grundlage der Konkurrenz zwischen den Betrieben und damit auf Dauer gestellt. Auch im Zusammenhang mit der Aushandlung von Zugeständnissen vor dem Hintergrund des internationalen Konkurrenzkampfs kommen explizite Beschäftigungsgarantien, ganz im Gegensatz zur Situation in Deutschland, so gut wie nicht vor. In den Verhandlungen wird den Arbeitnehmerinnen umgekehrt klargemacht, daß ohne die Zugeständnisse der Standort und damit die Arbeitsplätze bedroht seien. Eine weitere Art von Vereinbarungen zum Thema Beschäftigung nannten wir "kompensatorisch": Vereinbarungen zur Kostensenkung oder anderweitigen Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs werden durch Maßnahmen ergänzt, die geeignet sind, eine Reduktion des Personalstandes hintanzuhalten. Ein typisches Beispiel dafür sind Vereinbarungen über eine Variabilisierung der Arbeitszeit, die mit einer Verkürzung der Arbeitszeit einhergeht. Letztere kann m einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit oder in Zuschlägen zum Freizeitausgleich bestehen. Auf diese Weise können die (rechnerisch)

beschäftigungsmindernden

Produktivitätssteigerungen

durch

eine

tatsächliche

Arbeitszeitverkürzung kompensiert werden. Eine solche Vereinbarung kann sich auch auf die Art der Beschäftigungsverhältnisse beziehen: Im Kollektivvertrag für die Metallindustrie ist vorgesehen, daß Unternehmen, welche die Möglichkeiten zu einer weitgehenden Variabilisierung der Arbeitszeit durch Betriebsvereinbarung ausschöpfen wollen, auf Leiharbeit verzichten müssen. Eine Einschränkung von Leiharbeit findet sich auch in Unternehmensvereinbarungen. "Offensive Vereinbarungen", also solche, die auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze etwa durch eine Umverteilung von Arbeitszeit abzielen, sind in Österreich äußerst selten. Obwohl für Bildungskarenz und individuelle Arbeitszeitverkürzung die rechtlichen Grundlagen geschaffen bzw. die Bedingungen verbessert wurden, fehlt es bisher an der Umsetzung auf der Ebene der Unternehmen. Expertinnen in den 22

Gewerkschaften, in der Wirtschaftskammer und im Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales nannten folgende mögliche Gründe dafür:

-

die betroffenen Interessengruppen waren (im Gegensatz zum Konzept der Arbeitsstiftungen) in die Entwicklung der Regelungen zu wenig einbezogen;

-

die Transferzahlungen für Personen in Bildungskarenz sind zu gering, so daß sich kaum jemand leisten kann, die Maßnahme in Anspruch zu nehmen;

-

die Unternehmen haben keine ausreichende, vorausschauende Personalplanung, um von sich aus die Möglichkeiten der Bildungskarenz nutzen zu können;

-

das "Solidaritätsprämienmodell" ist (im Gegensatz zu den Arbeitsstiftungen) nicht für Situationen der Unterauslastung eines Unternehmens geeignet, weil ja die Anzahl der Arbeitsstunden gleich bleibt und nur auf mehr Personen aufgeteilt wird.

Weder die Unternehmen noch die Arbeitnehmerinnen haben aufgrund dieser Schwächen ein Interesse daran bzw. die Möglichkeit dazu, die rechtlichen Grundlagen und die angebotene finanzielle Unterstützung zu nutzen. Damit kann das Potential für eine Umverteilung von Arbeitszeit und damit für eine Sicherung von Beschäftigung nicht realisiert werden. Dies steht in Kontrast zur Inanspruchnahme des Modells der Arbeitsstiftung, das es den Unternehmen leichten, Personalabbaupläne umzusetzen. Die dargestellten Vereinbarungen über Beschäftigung fügen sich in eine passendere Tendenz der "organisierten

Dezentralisierung"

(Traxler

1995)

Verhandlungssystems

der

industriellen

Arbeitsbeziehungen ein. So war Thema der Sicherung von Beschäftigung ein wichtiger Grund dafür, den Unternehmen neue Spielräume für die Anpassung kollektivvertraglicher Regelung an die betriebliche Situation zu bieten. Mit der Novellierung des Arbeitszeitgesetzes kam es de facto zu einer Legalisierung bereits vielfach praktizierter Arbeitszeitformen, was als Überwindung der Ansätze "desorganisierter" Dezentralisierung angesehen werden kann. Während der Spielraum der Betriebspartei in der Arbeitszeitgestaltung ausgeweitet wurde, sind Öffnungsklauseln bei kollektivvertraglichen Lohn- und Gehaltserhöhungen bisher selten geblieben. Dennoch besteht aufgrund einer Besonderheit des österreichischen Kollektivvertragssystems auf Unternehmensebene vielfach die Möglichkeit, die Löhne dem Ziel der Sicherung von Beschäftigung zu senken. Der Spielraum ergibt sich aus der Differenz zwischen kollektivvertraglichen Mindestlöhnen und den tatsächlich bezahlten Löhnen bzw. aus der Tatsache, daß meist Erhöhungen sowohl der KV-Löhne als auch der Ist-Löhne durch Gewerkschaften und Arbeitgebervertretung vereinbart werden. 23

Beim Aushandeln von Zugeständnissen der Arbeitnehmerinnen ("concessi bargaining") ist die Bedrohung von Arbeitsplätzen bzw. das Versprechen von Beschäftigungssicherheit ein Trumpf in der Hand der Arbeitgeberinnen. Generell weist der Rückgang der Überzahlungen, der Abbau von freiwilligen Sozialleistungen und auch die Verbreitung sozial nachteiliger Arbeitszeiten darauf hin, daß es in den österreichischen Arbeitsbeziehungen verbreitet zum Aushandel von Zugeständnissen kommt. Wenn auch die Sicherung der Arbeitsplätze als wichtigstes Motiv der Arbeitnehmerinnen gelten kann, so ist doch schwer anzugeben, inwiefern konkrete Beschäftigungsziele – auch nur in einer mikroökonomischen Betrachtungsweise – erreicht werden. Auffallend ist jedenfalls, das Vereinbarungen in Österreich bisher nur in seltenen Ausnahmefällen explizite Beschäftigungsgarantien enthalten.

Literatur Auer, M.; Weite, H. (1994): Öffnungsklauseln in der tariflichen Lohnpolitik Österreichs—Umsetzung in Betriebsvereinbarungen und politische Einschätzung. In: Industrielle Beziehungen, 1. Jg., Heft 3, S. 297-314. Beschäftigungsobservatorium (1998): MISEP Basisinformationsbericht Österreich, Europäische Kommission, Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. BUAK (1999): Mitteilung der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse vom 23. April 1999. Freyssinet, J.; Krieger, H.; O'Kelly, K.; Schnabel, C.; Seifert, H.; Sisson, K. (1999): Investigating employment pacts. Concept paper for a study of collecting agreements dealing with the relationship between employment and competitiveness, Manuskript, (II'A (1999): KV-Abschluß für die Beschäftigten der E-Wirtschaft (http://www.gpa.at/KV/ab-evu.htm). Lechner, Ferdinand; Reiter, Walter (1991), Arbeitsstiftungen, Wissenschaftsverlag, Wien Saurug, M.; Stoppacher, P.; Zingerle, R. (1998): Branchenstiftungen in Österreich, Arbeitsmarktservice, Wien. Seifert, H. (1999): Betriebliche Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung. In: WM-Mitteilungen 3/1999. Traxler, F. (1995a): Farewell to Labour Market Associations? In: Crouch, Cohn; Traxler, F. (eds.), Organized Industrial Relations in Europe: What Future? Aldershot, Ave-bury, S. 3-19. Wirtschaftskammer Österreichs (1998): Rahmenkollektivvertrag fir Angestellte der Industrie, Wien. Zagelmeyer, St. (1999): Collective Bargaining on Employment in the European Union and Norway, Manuskript, Köln.

24

8 Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen Richard Sturn Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

8.1

Vorbemerkung: Zur Konzeptualisierung von Umverteilung

i.

Das inhaltliche Hauptanliegen dieses Aufsatzes ist die kritische Würdig der beiden wichtigsten

"Philosophien" der Sozialstaatsreforrn in der gegenwärtigen politischen Sozialstaatsdebatte: Die Verbesserung der "Treffsicherheit" u der Übergang zu einer "Grundsicherung". Als Basis dafür arbeite ich einig Charakteristika, Motive und Schlüsselfunktionen bestehender Systeme sozial Sicherung heraus. – Im verbleibenden Teil dieser Vorbemerkung kläre ich einige konzeptuelle Grundfragen zur politisch gesteuerten Umverteilung in Marktwirtschaften. Diese sind für das Verstehen der verschiedenen Diskussion-sebenen gerade von politischen Umverteilungsdiskursen nützlich und motiviere auch die im weiteren Verlauf des Aufsatzes gewählte Fokussierung. LeserInnen, die sich das Hineindenken in die unvermeidlich abstrakte Begrifflichkeit dies Vorbemerkung ersparen möchten und dennoch das in den ersten zwei Sätzen skizzierte Programm interessant finden, mögen diese Vorbemerkung (zunächst) überspringen. ii.

Die herrschende ökonomische Konzeptualisierung von Umverteilung beruht auf einer

Dichotomisierung. Und zwar der Dichotomisierung von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz, die institutionell übersetzt wird in die Dichotomie von politisch zu verhandelndem Ziel einerseits

und

dem

Markt

als

spontanem

Koordinationsmechanismus

andererseits.

Unter

Umverteilung versteht man dabei jegliche Korrektur der marktmäßig entstehenden Einkommensverteilung. Die einen werden besteuert, während die anderen Transfers und Sachleistungen empfangen, die aus dem Steueraufkommen gespeist werden. Wer wieviel bekommt und wem wieviel weggenommen werden soll, ist eine Frage, für deren Beantwortung man sich an normativen Konzepten der Verteilungsgerechtigkeit orientiert: Etwa dem Leistungsfähigkeitsprinzip oder dem Prinzip der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsmaximierung (Utilitarismus) oder dem Prinzip der Maximierung der Wohlfahrt der Schlechtestgestellten (Rawlsianismus). Die Realisierung dieser Gerechtigkeitsziele impliziert in der Praxis ein Verletzen der Bedingungen ökonomischer Effizienz. Denn es ist damit zu rechnen, daß die hiefür notwendigen Umverteilungsströme zu Verhaltensänderungen bei den Beteiligten führen werden. Die Steuerzahlerinnen erden weniger Anreiz zu arbeiten haben, wenn vom zusätzlich verdienten Euro so Cents an das Finanzamt abzuführen sind. Potentielle Transferempfänger werden einen Anreiz haben, die Bedingungen für den Empfang dieser Transfers zu erfüllen. Das heißt zum Beispiel, es besteht für potentielle Transferempfängerinnen ein Anreiz,

die

Definitionsmerkmale

einer

bestimmten

Definition

von

"Bedürftigkeit"

künstlich

herbeizuführen, wenn die Gewährung von Transfers an diese "Bedürftigkeit" geknüpft ist. Die 3

realwirtschaftlichen Effekte dieser Anreize der Steuer- und Transferpolitik werden synonym als Verzerrung, als effizienzschädliche Wirkung oder als deadweight loss bezeichnet. Verzerrungsfrei sind nur Pauschaltransfers und Pauschalsteuern, denn ihre Bemessung knüpft nicht an Variablen an, die von den Individuen beeinflußt werden können. Dies ist zumindest das Bild, das in jedem modernen Lehrbuch der Public Economics, auf deutsch etwas irreführend Finanzwissenschaft genannt, vermittelt wird. (Wenn diese Sachlage in manchen dieser Bücher zudem als Trade-off I Abwägungsproblem von Effizienz und Gerechtigkeit umschrieben wird, ist dies genau genommen jedoch unsinnig und leistet einer Ideologisierung von "Effizienz" Vorschub [vgl. auch LeGrand 1990]. Denn gerade der Utilitarismus und der Rawlsianismus ordnen alternative soziale Zustände vollständig in bessere, gleich gute

und

schlechtere,

so

daß

es

nichts

abzuwägen

gibt,

wenn

man

eine

dieser

Gerechtigkeitsmaximen ernst nimmt. Daher darf man nicht von Abwägung sprechen, sondern davon, daß bei Erfüllung eines dieser Kriterien nur mehr die Second-best-Effizienzbedingungen erzielbar sind.) Tritt man mit diesem Bild jenen politisch-bürokratischen Akteuren gegenüber, welche mit der konkreten Gestaltung und Verwaltung der großen Umverteilungsströme befaßt sind, erntet man nicht selten Unverständnis oder Empörung. Diese Empörung richtet sich nicht etwa gegen ein bestimmtes Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit, dessen Interpretation oder die Darstellung der zuletzt skizzierten Anreizprobleme, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu Binsenweisheiten geworden sind. Die Kritik eines Kriteriums, z.B. einer bestimmten Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips, wäre nicht weiter verwunderlich, gilt es doch als Kennzeichen der Moderne, daß keine Einigkeit darüber herrscht, was als "gerecht" angesehen wird. Die Empörung richtet sich aber vielmehr dagegen, daß der jeweilige Bereich überhaupt der Verteilungsoder Sozialpolitik zugeordnet wird. Familienpolitik ist nicht Verteilungspolitik, hat nichts mit Umverteilung zu tun, heißt es etwa, wenn über familienbezogene Änderungen des Steuer- und Transfersystems diskutiert wird. Ein Teil dieser Empörung mag rein ideologisch

sein:

Viele

mögen

sich

wirklich

einbilden,

Familienbeihilfen

seien

keine

Umverteilungszahlungen. Ein anderer Teil ist darauf zurückzuführen, daß die Art der Etikettierung und organisatorischen Überformung von Verteilungsströmen ihre Angreifbarkeit in tagespolitisch Debatten mitbestimmt.

So

sind

die

historischen

Gründe

für

die

österreichisch

Einrichtung

eines

Familienlastenausgleichfonds zum Zweck der Speisung von Familientransfers längst nicht mehr gegeben,

und

es

handelt

sich

dabei

um

eine

besonders

irrationale

(ausschließlich

lohnnebenkostenerhöhende) Form der Mittelaufbringung. Dennoch wird in den tagespolitischen 4

Debatten immer wieder sichtbar, wie wichtig die bloße Existenz dieses Fonds als Quelle für tagespolitisch verwertbare Pseudo-Argumente ist. Jedoch hat diese Skepsis auch einen rationalen Kern. Dieser besteht in folgendem: Das eingangs skizzierte Bild mit seiner Dichotomisierung von Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz ist zwar unentbehrliche Grundlage für das Verstehen von Verteilungspolitik in Marktwirtschaften, aber es ist in mancher Hinsicht zu abstrakt, um dabei stehenbleiben zu können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Relevanz des "Familienstatus" im Steuer- und Transfersystem, dessen Einfügung in dieses Bild nicht trivial ist. Diesbezüglich bestehen in der Praxis zwei Alternativen: Entweder ist das Individuum Anknüpfungspunkt die staatliche Steuer- und Transferpolitik oder der Haushalt. Der Haushalt ist nur dann ein geeigneter Anknüpfungspunkt, wenn es einen repräsentativen, weithin dominierenden Familientyp gibt, beispielsweise die male breadwinner-Familie.1 Ansonsten treten u.a. jene Schwierigkeiten auf, die in vielen Ländern zu eine Übergang von der Haushalts- zur Individualbesteuerung geführt haben. Das Individualprinzip ist insofern ethisch attraktiver, als die wichtigen modernen. Verteilungsethiken klar am Individuum anknüpfen. Daß es aber ebenfalls nicht ohne Probleme ist, läßt sich nicht bloß theoretisch nachweisen (Sturn/Dujmovits 1999), sondern dies wird auch durch das Faktum angezeigt, daß das Individualprinzip in real existierenden Steuer- und Transfersystemen kaum irgendwo konsistent und durchgängig verwirklicht ist. Ausgehend von dieser Problemlage verfolge ich hier einen Zugang, der die systembedingten Funktionen von Verteilungspolitik in den Vordergrund rückt (und die normative Ebene sozialer Gerechtigkeit zunächst in den Hintergrund). Ich verfolge diesen Zugang im Bewußtsein der Vorzüge der eingangs skizzierten Sicht. Der funktionenorientierte Zugang impliziert ein Aufgeben der Dichotomisierung, deren Problematik und Vorzüge ich in dieser Arbeit nicht erörtern kann. Unerläßlich ist allerdings ein kurzer Hinweis zur Verortung meiner Verwendung des Begriffs "Funktion". Denn das hier in Frage kommende Spektrum der Interpretationen reicht von einem sozialtheoretischen Funktionsbegriff (im Sinn einer funktionalistischen Erklärung sozialer Institutionen) bis zum ausdrücklich normativen Begriff der "functionings", welchen Amartya Sen (z.B. 1992) und Martha Nussbaum vorgeschlagen haben. Mein Verständnis von Funktion ist in

1

Auf die Implikationen verschiedener Familienformen geht auch Margareta Kreimer in ihrem Beitrag zu diesem Band ein.

5

diesem Aufsatz sozialtheoretisch2. Ich beschäftige mich mit der "systembedingten' Funktion des politisch organisierten sozialen Ausgleichs in kapitalistischen Marktwirtschaften und deren Beziehung zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

8.2

Übersicht und Abgrenzung der Argumentationsebenen

Die Abschnitte 8.2 bis 8.4 werden sich mit den Grundmotiven und Realisierungsbedingungen von Verteilungspolitik im demokratischen Kapitalismus auseinandersetzen. Hernach werde ich zwei Typen von Reformen des Sozialstaats diskutieren. Zuerst (Abschnitte 8.5 und 8.6) werde ich eine Reform im Sinn der Treffsicherheit bzw. der Maximierung der Umverteilungswirkung bei konstanten Staatsquoten diskutieren. In Abschnitt 8.7 werde ich einen theoretischen Rahmen entwickeln, der zu prüfen erlaubt, inwiefern ein bedingungslos gewährtes Grundeinkommen die systembedingten Funktionen erfüllt. In Abschnitt 8.8 (Schlußbemerkung und Fazit) fasse ich zusammen, was aus den vorgetragenen Argumenten für die praktische Sozialstaatsreform abzuleiten ist. Um naheliegende Mißverständnisse zu vermeiden, sei eingangs zweierlei betont: Erstens folgt aus der Tatsache, daß ein gewisses Muster des politisch herbeigeführten sozialen Ausgleichs in einer kapitalistischen Marktwirtschaft als "systembedingt" begriffen werden kann, noch nicht, daß dieses Muster aus normativer Sicht geboten oder auch nur akzeptabel ist. Allerdings ist die Möglichkeit einzuräumen, daß diesbezügliche Befunde zusammen mit weiteren sozialtheoretisch-ökonomischen Befunden (etwa über die Nicht-Ersetzbarkeit der Marktwirtschaft und/oder deren kapitalistischer Ausprägung) und bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen den Horizont des Gebotenen und Akzeptablen beeinflussen können. Zweitens sei eine mögliche Interpretation des Begriffs "systembedingte Funktion" erwähnt, die hier nicht gemeint ist: Moderne Wohlfahrtsstaaten sind historisch gewachsene Formationen, die ein Konglomerat verschiedener Umverteilungsfunktionen und -institutionen umfassen. Die historischen und aktuellen Motive für wohlfahrtsstaatlich herbeigeführten. 2

Dies setzt einiges voraus, was ich in diesem Aufsatz nicht im einzelnen begründen kann. Ausgehend von der Tatsache, daß funktionalistische Erklärungen immer unvollständig sind, müßte u.a. gezeigt werden, daß die funktionalistischen Erklärungsansätze der hier in Rede stehenden Institutionen auf interessante Weise vervollständigt bzw. "geschlossen" werden können (vgl. Stum 1998, Kap. 7). Eine Frage dabei ist, welches Ausmaß an Geschlossenheit auf der Ebene der positiven Theorie erzielt werden kann bzw. wieviel an immanenter Normativität solchen "Erklärungen" allenfalls eignet. Auf der anderen Seite wirft eine strikt normativ intendierte Verwendung von "functionings" im Sinn von Sen die Frage auf, woher man weiß, welches jene elementaren functionings sind, die den Bewertungsraum bilden. Als Quelle solchen Wissens liegt natürlich einerseits die Sozialtheorie und die Anthropologie nahe, weshalb sich hier die angedeutete Aufhebung der scharfen Dichotomie von Ethik und Wissenschaft ergibt. Was an "elementaren functionings" nicht sozialtheoretisch-anthropologisch erschlossen werden kann, wird wohl in einer Wertontologie bzw. Wertmetaphysik gründen.

6

sozialen Ausgleich – wie auch für die Art und Weise von dessen Herbeiführung – sind vielfältig und in erheblichem Maß von nationalen Spezifika mitbestimmt. Sie reichen von sozialer Stabilität und staatspolitischer Loyalitätssicherung im Sinn der Bismarckschen Sozialgesetzgebung mit ihrer ausgeprägt schichtkonservierenden Tendenz über die Philosophie des Beveridge-Reports bis hin zu den Idealen sozialer Gerechtigkeit, wie sie etwa von kantianischen, christlichen oder fabianischen Sozialisten vertreten wurden. Diese historische Gewachsenheit hat, zu den verschiedenen Ausprägungen moderner Wohlfahrtsstaaten geführt, wie sie in entsprechenden Typologien von Autorinnen wie Ilona Ostner und Marcia Meyers zusammengefaßt werden. Von diesen Unterschieden, auf die etwa Margareta Kreimer in ihrem Beitrag zu diesem Band Bezug nimmt, möchte ich im folgenden abstrahieren und mich jenen systembedingten Funktionen zuwenden, die für alle kapitalistischen Marktwirtschaften typisch sind. Unter "kapitalistischer Marktwirtschaft" verstehe ich im folgenden eine Marktwirtschaft, die nicht durch einen stationären Zustand, sondern durch Kapital-Akkumulatiunsdynamik charakterisiert ist. Andere – für die meisten Zwecke sinnvolle – Definitionsmerkmale, die eine Marktwirtschaft als kapitalistisch auszeichnen (wie etwa die Ausstattung der Kapitalseite mit residualer Autorität im Betrieb und Anspruch auf residuale Ertragsströme), sind hier nicht gemeint. Der hier verwendete Begriff "kapitalistische Marktwirtschaft" könnte auch durch "dynamische Marktwirtschaft" ersetzt werden, wenn dieser nicht als rhetorische Floskel in Verwendung wäre.

8.3

Die systematische Rolle von Verteilungspolitik in Marktwirtschaften

"Conventional moral wisdom has long held that the welfare state is justified principally as a device to benefit the poor." Robert E. Goodin (1990, S. 530)

Die Leistungsfähigkeit moderner Umverteilungsdesigns wurde und wird oft explizit oder implizit an Gerechtigkeitsvorstellungen gemessen, die an der Umverteilung "von arm zu reich" orientiert sind. Dabei wird die systematische Rolle von Verteilungspolitik in einer kapitalistischen Marktgesellschaft in zweifacher Hinsicht nicht ausreichend berücksichtigt. Erstens: Gewisse Aspekte an Verteilungspolitik sind quasi-funktional begründet und daher eventuell durch andere Arten von sozialen Konsensen als rein verteilungsethischen zu stützen. Zweitens: Die Zuordnung von Individuen und Haushalten zu den 7

Kategorien "arm", "reich" usf. ist empirisch nicht trivial, normativ geladen und nicht unabhängig von gewissen Aspekten der quasi-funktionalen Dimension. Diese Probleme sind weniger Probleme der philosophischen Diskurse um Verteilungsgerechtigkeit als der praktisch-politischen Diskurse. Um dieser systematischen Rolle gerecht zu werden, bedarf es einer Analyse der spezifischen Differenzen der Sozialstruktur und der Dynamik von Marktwirtschaften. Die sozialstrukturellen Voraussetzungen, welche den funktionalen Kern der politisch gesteuerten Umverteilung in kapitalistischen Marktgesellschaften bedingen, sind:

a)

Die unterschiedliche Zusammensetzung und die unterschiedliche, aber im historischen Vergleich eher kleine Mitgliederzahl von Haushalten.

b)

Die Dynamik der Marktwirtschaft, welche zu dauernden und in Umbruchphasen dramatischen Umbewertungen der von den Haushalten besessenen Aktiva (inklusive im besonderen des "Humankapitals") führt.

Bedingung (a) führt einerseits dazu, daß Haushalte in sehr ungleichem Maß jene marktlich verwertbaren Leistungen anbieten können, welche für den Zugang zu den von ihnen benötigten oder gewünschten Gütern nötig sind. Ursachen dafür sind die unterschiedliche Leistungsfähigkeit wegen unterschiedlicher Fähigkeiten, Erwerbsunfähigkeit und dergleichen. Die einen Haushalte werden anteilsmäßig weniger Personen im erwerbsfähigen Alter enthalten als andere. Manche werden keine erwerbsfähigen Personen enthalten. Während diese erste Implikation von Bedingung (a) zwar nicht in wünschenswerter Klarheit, aber doch der Tendenz nach in den meisten einschlägigen Diskussionen wahrgenommen wird, hat Bedingung (a) noch eine zweite Implikation, die gerade in Diskussionen um Familienbesteuerung und "Hausfrauengehalt" vollständig ignoriert wird: Sie führt dazu, daß Haushalte auch in ungleichem Maß zur Leistung von Haushaltsoder Familienarbeit in der Lage sind. Die in Bedingung (a) spezifizierte Heterogenität hängt weitgehend mit für Marktwirtschaften typischer räumlicher und sozialer Mobilität sowie mit der ebenfalls typischen Ausdifferenzierung der firmenorganisierten Produktion aus der Haushaltssphäre zusammen. Bedingung (b) führt dazu, daß marktliche Leistungsfähigkeit nicht nur eine Angelegenheit von Leistungswillen

und

Anstrengung

ist,

sondern

auch

Zufallskomponenten

enthält,

die

in

Umbruchphasen sogar dominant werden können: Ein allgemein bekannter empirischer Ausdruck davon ist Massenarbeitslosigkeit. Die Michigan Panel Study an Income Dynamics und das daran anknüpfende, eindrucksvolle Buch Greg Duncans "Years of Poverty, Years of Plenty" (1984, S. 3) 8

dokumentieren, daß auch außerhalb solcher Umbruchsphasen die Einkommensunsicherheit beträchtlich ist: "Fewer than one half of the population remained in the same economic position from the late 1960s to the late 1970 while one third had dramatic improvements in their economic well-being one-fifth had dramatic declines." Bedingung (a) enthält neben dem Versicherungsaspekt (z.B. in der Alterssicherung) einen Reproduktionsaspekt3, da Kinder und Auszubildende ebenfalls als nicht erwerbsfähig gelten müssen. Weder Bedingung 1 noch 2 enthalt direkt so etwas wie die Umverteilung von Reich zu Arm oder von Kapitalis zu den Arbeitern und dergleichen. Beide weisen auf die essentiell intertempo le, periodenübergreifende Dimension von sozialem Ausgleich im marktwirtschaftlichen Kapitalismus hin. Verteilungspolitik in kapitalistischen Marktwirt schaften ist also nicht zuletzt daran zu messen, wie gut sie der Heterogenität d Haushaltszusammensetzung und der periodenübergreifenden Dimension d sozialen Ausgleichs gerecht wird.

8.4

Chancengleichheit und allokativ motivierte Staatsausgaben

Chancengleichheit ist zwar kein vom sozioökonomischen System kapitalistischer Marktwirtschaften diktierter Imperativ. Jedoch ist sie auf das engste einflußreichen progressiv-liberalen Strömungen verbunden. Ihre Akzeptanz geht weit über jene anderer Gleichheitspostulate hinaus, wenn die genaue Definition von Chancengleichheit auch einer erheblichen Breite der Interpretation unterliegt4. Daher scheint ihr in demokratischen Marktwirtschaften ein quasi systemimmanenter Charakter zuzukommen. Eine Politik zur Herstellung gleicher realer Chancen etwa auf Bildungskarrieren fallt ebenfalls nicht notwendigerweise mit einer Verbesserung der Verteilungsergebnisse im Querschnitt ein betrachteten Jahres zusammen. So ist es vorstellbar, daß ein öffentlich finanziertes Bildungswesen, welches zum Nulltarif für alle zugänglich ist, das beste 193

realisierbare Instrument zur Herstellung dieser Art von Chancengleichheit ist. Gleichzeitig kann vermutet werden, daß die Abschaffung der öffentlich Bildungsfinanzierung und die Verwendung der freiwerdenden Mittel zur Finanzierung gezielter Transfers an das untere Einkommensdrittel die Querschnitt Verteilung "gleicher" machen würde. In diesem Szenario besteht folglich ein klares Spannungsverhältnis zwischen einer (eher 3

Zum Reproduktionsaspekt als normativ schwachem Verteilungskriterium vgl. S1992.

4

In Stum/Wohlfahrl 1998 unterscheiden wir drei Typen von Chancengleichheit on schiedlicher Reichweite.

9

langfristig orientierten) Politik der Chancengleichheit und kurzfristigen Postulaten der QuerschnittVerteilung. Im

weiteren

Sinn

systembedingt

sind

sodann

alle

Staatsausgaben,

die

allokativ5

oder

stabilisierungspolitisch motiviert sind. Bei ihnen ist das Fehlen einer direckten a-priori-Verknüpfung zu "günstigen" Verteilungswirkungen unmittelbar einsichtig. Jedoch haben die zuletzt erwähnten Staatsausgaben wie auch jene im sinne einer Politik der Chancengleichheit bzw. die Versicherungsund reproduktionsorientierten Mechanismen des sozialen Ausgleichs, unstrittig QuerschnittsVerteilungsimplikationen. Es macht Sinn, diese Implikationen an normativen Verteilungsidealen zu messen. Kaum akzeptabel wären sie etwa dann, wenn sie insgesamt (in einer Zusammenschau von Finanzierungs- und Ausgabenseite) die marktlich entstehenden Ungleichheiten nicht abbaut, sondern verschärft. Dies deswegen, weil es genug Anhaltspunkte dafür gibt, daß die Marktdynamik Ungleichheiten schafft, daß Wachstumsprozesse nicht mit der Gleichmäßigkeit eines Hefeteigs, sondern eher nach dem Muster des Wachstums von Pilzen verlaufen (Harberger 1998), das durch ungleichmäßige Kumulationen und Unvorhersehbarkeit charakterisiert ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Befund, daß der Staatssektor Ungleichheiten systematisch verschärfe und nicht mildere, geradezu alarmierend. Es wäre der Nukleus einer Krisentheorie Marxschen Zuschnitts. Daß allerdings einzelne allokativ motivierte Posten der Aussgabenseite den Wohlhabenderen überproportional zugute kommen, sollte nicht überraschen und wurde schon vom großen Adam Smith hinsichtlich der Ausgaben für das öffentliche Gut Sicherheit ("die Reichen haben mehr zu verlieren") angeführt. Der empirischen Messung von Ungleichheit werden, wie auch anderen Messungen, theoretische Reflexion und die Entwicklungen zweckmäßiger Meßkonzepte vorangehen müssen. Wenn die Leistungsfähigkeit

von

Verteilungspolitik

bzw.

die

verteilungspolitischen

Implikationen

des

Staatssektors insgesamt gemessen werden sollen, so kann dies nicht unter Abstraktion von den verschiedenen Momenten der systembedingten Funktion von Verteilungspolitik erfolgen. Je nach Fragestellung ist etwa der Umstand zu berücksichtigen, daß Verteilungspolitik durch die ungleiche Zusammensetzung der Haushalte motiviert wird (dies begründet die Verwendung von equivalent scales beim Einkommenskonzept) oder daß Verteilungspolitik periodenübergreifende Aspekte hat66. Werden diese Aspekte vernachlässigt und wird noch dazu vage unterstellt, der Staat solle bei gegebener Staatsquote die vertikale Umverteilung maximieren, dann ergeben sich oft Befunde, die zu 5

6

Allokativ motiviert sind die Staatsausgaben für jene Aktivitäten, die zwar gesamtwirtschaftlich effizient, aber einzelwirtschaftlich nicht rentabel sind. Zu den konzeptuellen Implikationen in Hinblick auf Ungleichheitsmessung vgl. Sturn/Wohlfahrt 1999.

10

Unrecht ein Scheitern des Wohlfahrtsstaats diagnostizieren. Dieser sei gescheitert, weil er perverse Umverteilungsströme von Arm zu Reich erzeuge oder zumindest nicht umverteilungsmaximierend wirke. Im Sinn der impliziten Vorgabe "Umverteilungsmaximierung" wurden in Österreich etwa die einkommensunabhängigen Familienbeihilfen und wird allerorten der Gratis-Bildungszugang kritisiert7. Marxistische Wohlfahrtsstaatskritiker sehen sich in ihrer Überzeugung bestätigt, wonach der Staat im Kapitalismus trotz Regierungsbeteiligung von Arbeiterparteien seinen Charakter als Agentur der herrschenden Klasse(n) nicht verloren hat. Rechte (hobbesianische) Wohlfahrtsstaatskritiker wähnen sich im Hinblick auf die hobbesianische Doktrin von der Unmöglichkeit und Unsinnigkeit einer gerechtigkeitsorientierten Verteilungspolitik unter modernen Verhältnissen bestätigt. Sachgerechte Meßkonzepte zeitigen jedoch ganz andere Ergebnisse. Gerade die kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten maximieren zwar gewiß nicht die Umverteilungswirkung bei gegebener Staatsquote. Aber sie sind weit davon entfernt, pervers umzuverteilen. Dies haben Sturn/Wohlfahrt (1999) anhand eines Bereichs gezeigt, der prima facie der plausibelste Kandidat für eine perverse Umverteilungswirkung ist, nämlich der öffentlichen Finanzierung höherer Bildung. Sie konnten auch in vielen Details nachweisen, welch großes ideologisches Interesse am Nachweis derartiger perverser Umverteilungswirkungen bestehen scheint. Daß kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaaten bei weitem nicht die Umverteilung bei gegebener Staatsquote maximieren, hat gute Grand auf die ich im nächsten Abschnitt zurückkomme.

8.5

Warum nicht die Umverteilung bei gegebener Staatsquote maximieren?

Ich komme nun zu den Vorschlägen für eine Reform des Wohlfahrtsstaats Diesbezüglich sind zwei Bündel zu unterscheiden, die sich in wesentlich Aspekten geradezu diametral unterscheiden. Das eine Bündel ist unter dem Schlachtruf "Weg mit der Gießkanne!" versammelt und zielt auf die Maximierung von Umverteilung bei gegebener Staatsquote. Das andere besteht in den vielfältig variierten Vorschlägen von Grundein- kommen, Negativsteuer oder Bürgergeld. Die Attraktivität eines solchen Modells besteht in der Verzichtbarkeit einer 7

Vor einigen Jahren kam in der österreichischen Diskussion etwa der höchst kuriose Sprachgebrauch auf, die Familientransfermuster seien "ineffizient" (vgl. Guger 1992), Gemeint war damit nichts anderes, als daß ein gegebenes Transfervolumen nicht i vertikaler Richtung umverteilungsmaximierend eingesetzt werde. Interessanterweise h sich sowohl der Sprachgebrauch als auch die damit verbundenen Reformintention einstweilen in nichts aufgelöst, weil dieses Diskursfeld derzeit von ganz anderen Koordinaten beherrscht wird. 11

ausufernden

Sozialbürokratie,

einfachem

Design,

Minimierung

von

Falteneffekten

u.a.m.

Erwähnenswert ist, daß in der politischen Rhetorik nicht selten beide Reformwege in ein politisches Programm verpackt werden, obwohl sie von der Philosophie her grundlegend verschieden sind. So propagiert das österreichische Liberale Forum sowohl das "Ende der Gießkanne" (etwa im Familientransferbereich) als auch ein Grundeinkommen von 8.000 Schilling pro Monat. Zuerst aber zur Gießkannen-Problematik8. Die in der Überschrift formulierte Frage könnte auch andersherum gestellt werden: Warum nicht die Staatsquote/Sozialquote bei konstanter Umverteilung senken? Dies scheint in einer Zeit, in der hohe Staats- und Sozialquoten weithin unrelativiert als Synonyme für Verschwendung und Stagnation gelten, natürlich höchst attraktiv. Die Gründe gegen ein weitgehendes Vorantreiben von Reformen in diese Richtung sind jedoch massiv: Erstens steht eine solche Umverteilungsmaximierung in einem Spannungsverhältnis zu den systembedingten Funktionen sozialer Sicherung und, wie eben argumentiert, zu einer Politik der Chancenegalisierung. Zweitens ist allokativ begründete Staatstätigkeit unabhängig von ihren Verteilungswirkungen zu rechtfertigen. Drittens sind besondere Anreizprobleme und Falleneffekte gerade als Resultat sogenannter treffsicherer, mit steigendem Einkommen abzuschmelzender staatlicher Leistungen zu erwarten. Ein solches Abschmelzen staatlicher Transfers bei steigendem Einkommen hat analoge effizienzschädliche Anreizeffekte wie entsprechende Grenzsteuersätze bei der Einkommensbestreuerung. Diese Falleneffekte sind zumal anhand des US-amerikanischen AFDC-Systems der Familienstützung eingehend studiert worden. Dieses System konzentriert die Mittel extrem stark auf bedürftige Familien, v.a. Alleinerzieherinnen ("welfare mothers"). Die empirischen Effekte hat Moffit (1992) in einem Übersichtsaufsatz differenziert dargestellt. Und das ist die Logik dieser Falleneffekte: Wenn nur den Bedürftigen geholten wird und die Transfers mit steigenden Einkommen rasch abgeschmolzen werden, entsteht ein Anreiz, bedürftig zu sein oder wenigstens bedürftig zu scheinen, damit ein Anspruch auf den Transfer erworben wird. Treten diese Falleneffekte (Armutsfalle, welfare dependency trap) tatsächlich auf, dann gibt es aus diesem Dilemma nur zwei Wege: Entweder man reduziert die vielgenauste Treffsicherheit, indem man die Geschwindigkeit des Abschmelzens verlangsamt. Oder man schafft die Stützungen auch für die Bedürftigen – unter der in den USA im Gefolge der Problematisierung dieser Falleneffekte aufgekommenen Parole "Make them suffer" – ab, wodurch man die Bedürftigkeit entweder, auf welche Weise auch immer, zum Verschwinden bringt und die verbleibenden Bedürftigen gleichsam unsichtbar 8

Vgl zum Folgenden auch die instruktive Diskussion von Barry 1990.

12

macht – durch die Verschiebung der Koordinaten des öffentlichen Diskurses. Dies deutet auf eine prekäre Instabilität treffsicherer Leistungen zumindest in jenen Fällen hin, wo Falleneffekte auftreten. (Die österreichische Variante davon ist unter dem Titel "Sozialschmarotzerdebatte" bekannt. Ihre Doppelbödigkeit besteht in der Misch offizieller Treffsicherheitsrhethorik mit eher subkutan auftretenden "Make them suffer!"-Motiven. Jedoch vermeidet sie bislang die drastische, aber unter manchen Aspekten ehrlichere Brutalität des pur[itanisch]en "Make them suffer!") Aber

diese

Instabilität

hat

noch

weitere

Dimensionen.

Die

Plausibilität

heutiger

kontinentaleuropäischer Verteilungs- und Sicherungsmuster ergibt si nämlich auch auf politischökonomischer

Ebene.

Welche

Chancen

auf

stabile

Akzeptanz

in

demokratischen

Entscheidungsprozeduren ein bestimmtes Umverteilungsdesign besitzt, ist in vielerlei Hinsicht ebenso wichtig wie die kluge und gerechte Gestaltung des Designs. Weale (1990) zeigt, daß der Spind "Services for the poor are poor services" unter der Annahme eigeninteressiert Wählerverhaltens ziemlich schwer zu widerlegen sein dürfte: Denn wenn nur die Armen von einer Leistung profitieren, dann wird die Mehrheit dazu tendieren, das Niveau dieser Leistung auf dürftigem Niveau zu halten. In eine ähnliche Richtung zielt die Arbeit von Roemer (1992), der mögliche Implikationen ein solchen Musters im Bildungsbereich auslotet. Buchanan (1997, S. 177) resümiert im Hinblick auf staatliche Sachleistungen: "As is the case with the mo general programs of retirement or disabled income support, any means-testi an either the taxing or the benefit side of the account, can only offer a source conflict an distributional grounds, thereby creating pressures for politicization, with predicted consequences." Wie in Buchanans Zitat schon impliziert, gilt für den Bereich sozialer Sicherung unter plausiblen Annahmen Analoges. Hier stellt sich die Frage "Lebens standardbezogene Sicherung oder einheitliche Grundsicherung?'.

Weale

(199

zeigt,

daß

ein

System

mit

lebensstandardbezogenen

Sicherungselementen höh Chancen auf Akzeptanz im demokratischen Prozeß hat. Dies scheinen schlechte Neuigkeiten für jene zu sein, die Umverteilung Sinne sozialer Gerechtigkeit mit "erträglichen" Staats-, Steuer- und Sozialquoten vereinbar machen wollen. Ganz gewiß sind es schlechte Neuigkeiten für jene welche das Programm der Staasquotenminimierung bei gegebener Umverteilung verfolgen. Indes gilt es zu differenzieren und auch die guten Neuigkeiten nicht zu unterschlagen,

die

aus

dem

Gesamtbefund

folgen.

Zunächst

zur

Relativierung:

Die

Effizienzproblematik treffsicherer Leistungen ist nur ein Reflex allgemein akzeptierten, von den Treffsicherheits-Fans aber partiell ausgeblendeten Tatsache, daß verzerrungsfreie Umverteilung unter Bedingungen d realen Welt unmöglich ist. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache ergibt si folgendes 13

Abwägungsproblem: Entweder man nimmt größere Verzerrungen an der Einnahmeseite durch höhere Steuern in Kauf. Damit erkauft man sich die Möglichkeit, Leistungen möglichst pauschal und nicht treffsicher ausschütten können. Oder man hält die Verzerrungen auf der Einnahmeseite geringer, indem man der Gesellschaft ein geringeres Steueraufkommen aufbürdet. Dann aber reichen die Mittel nur für treffsichere Sozialleistungen mit all ihren skizzierten Verzerrungs- und Instabilitätsproblemen aus. Aus diesen Problemen ergibt sich als Konsequenz, daß eine durchgängige Umstellung auf treffsichere Leistungen kaum als wünschenswert gelten kann. Nun zum Problem der Lebensstandardsicherung. Die polit-ökonomisch motivierte, zum Teil aber auch von

den

systembedingten

Verteilungsfunktionen

her

erklärbare

Präferenz

für

Lebensstandardsicherung ist nur dann "schlimm", wenn die hiefür erforderlichen Abgaben aufgrund mangelnder Wahrnehmbarkeit des Versicherungscharakters als "steuerähnlich" empfunden werden. Denn nur in diesem Fall sind auch steuerähnliche Verzerrungen zu erwarten. Dadurch werden diese Abgaben Teil jener Steuer- und Abgabenquote, die wegen ihrer Verzerrungswirkungen nach Ansicht vieler eine Obergrenze hat, von der manche Länder heute nicht so weit entfernt sind. Dieses Problem ist allerdings im Prinzip zu sanieren, indem der lebensstandardbezogene Teil der sozialen Absicherung dem Versicherungsprinzip angenähert wird. Das heißt, ein in ein solches System eingezahlter Euro sollte das Vermögen des einzahlenden Individuums weitgehend konstant lassen (weil er Versicherungsansprüche annäherend im Wert dieses Euro begründet). Es gälte also, eine aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierte Grundsicherung und eine weitgehend versicherungsanalog finanzierte Lebensstandardsicherung klar unterscheidbar zu machen. Lebensstandardbezogene Sicherungen wären im Prinzip von den Begünstigten auf die Dauer und im Durchschnitt selbst zu finanzieren, aber staatlich reguliert, garantiert und möglicherweise in manchen Ländern (dies ist weitgehend eine Frage institutioneller Traditionen, politischer Kultur u.ä.) auch administriert.

8.6

Zwischenfazit

Verteilungskorrekturen zwischen Klassen sind nicht die primäre Funktion wohlfahrtsstaatlicher Ausgleichsmechanismen. Dennoch sind die Verteilungswirkungen des Wohlfahrtsstaats unter Berücksichtigung seiner systembedingten Funktionen sorgfältig zu untersuchen. Dabei stellt sich heraus, daß der Wohlfahrtsstaat zwar nicht bei gegebener Staatsquote umverteilungsmaximierend wirkt, aber von der ihm vielfach zugeschriebenen perversen Umverteilungswirkung weit entfernt ist. 14

Ein Umbau des Wohlfahrtsstaats, welcher auf Umverteilungsmaximierung bei gegebener Staatsquote hinausläuft, ist aus verschiedenen Gründen zurückzuweisen. Zurückzuweisen ist folglich auch die populäre Parole der Treffsicherheit als Generalmaxime einer Systemreform. Denn - plakativ formuliert - steht nicht zuletzt zu befürchten, daß in der politischen Rhetorik die Parole der Treffsicherheit die Parole des "Make them suffer!" folgt? Idee der Treffsicherheit hat nur dort ihren guten Platz, wo damit die Effektivität bestimmter Programme zur Beseitigung ganz konkreter sozialer Mißstände gemeint ist. Als Politikimplikation ergibt sich aus all dem jedoch nicht ein wohlfahrtsstaatlicher Konservatismus tout court. Vielmehr zeichnen sich durchaus substantielle Reformmöglichkeiten ab, die etwa an der Betonung Versicherungscharakters wohlfahrtsstaatlicher Lebensstandardsicherung knüpfen.

8.7

Das voraussetzungslose Grundeinkommen als Alternative

Zu prüfen bleiben die Aussichten einer rigorosen Neuorientierung des Wohlfahrtsstaats anhand der Idee eines voraussetzungslosen Grundeinkommens alle. Eine entscheidende Frage in Hinblick auf eine fundamentale Neuorientierung des Wohlfahrtsstaats lautet: "Welche Eigenschaften hätte eine solche egalitären Idealen orientierte Verteilungspolitik im Hinblick auf die marktwirschaftlichsystembedingten Funktionen?". Daran knüpfen sich Fragen wie nach den Chancen der Realisierung im demokratischen Prozeß. Ich werde im folgenden zwei Gruppen von Problemen skizzieren. Die eine Problemgruppe bezieht sich auf die Effekte eines Grundeinkommens-Model für den Bereich "Familie und Reproduktion". Die zweite bezieht sich auf die Quasi-Versicherungsfunktion eines Steuer- und Transfersystems. Um die Erörterung

einigermaßen

übersichtlich

zu

halten,

konzentriere

ich

mich

auf

e

Grundeinkommensmodell, wie es Philippe van Parijs (1991, 1995) vorgeschla- gen hat. Dieses beruht auf dem höchstmöglichen, dauerhaft aufrechterhaltbare periodenweise in Geld ausbezahlten voraussetzungslosen Grundeinkommen für alle erwachsenen Personen. Ich füge zwei Aspekte hinzu, die van Parijs (1995 S. 39) offenläßt. Und zwar fülle ich sie in jener Weise, die zu einem unter den schon getroffenen Prämissen einigermaßen plausiblen und realistischen Model - z.T. allerdings auf Kosten der normativen Kohärenz - führt. Die zwei Aspekte betreffen Kinder und die in Anspruch genommenen Steuerbemessungsgrundla- gen. Haushalte mit minderjährigen Kindern erhalten - so nehme ich an - letztere ein Grundeinkommen in jener Höhe, die zu einem Familieneinkommen führt, das gemäß Aquivalenzeinkommensrechnung dem Grundeinkommen für Alleinstehende entspricht. 15

Zur Finanzierung des Grundeinkommens werden n Steuerbemessungsgrundlagen herangezogen, die entweder Preisgrößen entluden (wie Einkommen und Umsatz) oder aber mit Objekten verbunden sind, für die reale Marktpreise existieren (die also einen Marktwert darstellen). Ich betone ausdrücklich, daß die folgenden Argumente sich nur auf die große Vision eines möglichst hohen Grundeinkommens a la van Parijs beziehen - und nicht „der nur eingeschränkt auf ein Modell eines ungefähr am Existenzminimum orientierten Grundeinkommens, wie ich es als relativ pragmatischen Reformschritt vertreten würde. Und zwar treffen die auf die familiäre Situation bezogenen Argumente eingeschränkt zu, während das Risikoargument nicht zutrifft. Dieses Grundeinkommen ist nicht (oder nicht in erster Linie) wegen der geringeren Umverteilungsmasse geringer als das sich bei van Parijs ergebende. Es ist geringer, weil ein Teil der Mittel zur Stützung von Politiken benötigt wird, die auf Chancengleichheit (etwa im Bildungsbereich), Integration und andere Formen der sozialen Sicherung gerichtet sind. Etwa würden in einem solchen Mischsystem tendenziell mehr Mittel bereitgehalten, um unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenslagen gerecht zu werden, als dies der Logik von van Parijs' Grundeinkommen entspricht. Van Parijs sieht zwar dieses Problem und trifft Vorkehrungen dafür. Die Logik eines möglichst hohen Grundeinkommens swingt ihn aber dazu, diese Unterschiede eher als Sonderfall oder Komplikation zu behandeln und daher im Hinblick auf diese Bedarfsvergleichsweise knausrig zu, sein. Es ist klar, daß ein solches Grundeinkommensmodell durchaus geeignet ist, die Reproduktion von Gesellschaften im Familienkontext sicherzustellen. Die genauen Implikationen eines solchen Modells für den Bereich Familie/Reproduktion hängen indessen unter anderem von den herrschenden Familienstrukturen und der Art und Weise ab, in der Familienarbeit/Hausarbeit und marktlich zukaufbare Güter und Leistungen sich substitutiv oder komplementär zueinander verhalten. Angenommen, die Familienstruktur sei derzeit durch die zwei Modelle male-breadwinner-Familie und Doppelverdiener-Familie dominiert. Außerdem existierten eine nennenswerte Zahl von SingleHaushalten und Alleinerzieherinnen. Das Steuer- und Transfersystem sei auf dem Individualprinzip aufgebaut. Hausarbeit und marktlich zukaufbare Leistungen verhielten sich substitutiv. Dann ergeben sich u.a. (verglichen mit dem österreichischen Status-quo) folgende wahrscheinlichen Effekte:

-

Unter den Mehr-Personenhaushalten sind die male breadwinner-Familien Netto-Gewinner, die Doppelverdiener Netto-Verlierer.

-

Single-Haushalte und "die meisten" (berufstätigen) Alleinerzieherinnen verlieren relativ zu Zweieltem-Haushalten aufgrund des Individualprinzips auf der Steuer- und der Transferseite 16

(mögliche Ausnahme: in der Vergleichssituation herrscht Familienbesteuerung mit Splitting). Ein Grund für die relative Schlechterstellung von Singles und Dopppelverdienem ist die Zweifachbesteuerung marktlich zugekaufter Güter und Leistungen – etwa Kinderbetreuung, auf die diese Personengruppen verstärkt "angewiesen“ sind. -

Unter den Alleinerzieherinnen gewinnen nur jene, die aus nichtökonomischen Gründen nicht oder nur in geringem Umfang und geringer Intensität Berufsarbeit anstreben.

-

Es besteht ein ökonomischer Anreiz zum Übergang auf Zweieltern- Haushalte und speziell das male breadwinner-Modell.

-

In jenen Familien, die aufgrund sozialer Normen (oder sonstigen nichtökonomischen Gründen) jedenfalls auf das male breadwinner-Modell festgelegt sind, bekommen die Frauen eine stärkere Bargaining-Position.

Ergänzt wird dieses Bild durch Interviews, die Bernadette Kerschler (1999) im Rahmen einer Grazer Diplomarbeit durchführte. Diese Interviews – durchgeführt mit Frauen im Alter zwischen 24 und 31 ergeben

als

ziemlich

konsistten-

Befund

die

Absicht,

Kinderwünsche

bei

einem

Grundeinkommensmodell in höherem Maße (im Schnitt ein Kind mehr) als unter herrschenden Rahmenbedingungen des Steuer- und Transfersystems zu realisieren9. Diese Implikationen (ein Teil davon wird von feministischer Seite unter dem Titel "Frauenfalle" thematisiert) ergeben sich nicht in jedem Fall, sondern nur unter den skizzierten Rahmenbedingungen, die allerdings in vielen Aspekten ein stilisiertes Bild der Realität sein dürften. Für eine volle Beurteilung der Gesamtsituation und speziell auch der Frauenfalle-These reichen allerdings diese auf Modellskizzen beruhenden Argumente bei weitem nicht aus. Allerdings zeigen sie, daß kritische Bedenken gegen das Modell aus dieser Sicht weder auf Panikmache noch auf rigidem Konservatismus beruhen müssen. Hervorzuheben ist, daß in Gegenwart bestehender intermediärer Strukturen (etwa Familien) die für ein solches Modell reklamierte "Neutralität zwischen den Lebensformen“ eine Fiktion ist (Sturn/Dujmovits 1999). Auch in anderer Hinsicht bietet ein solches Modell

keine

guten

Ansatzpunkte,

um

den

Effekten

intermediärer

Organisationen

und

Vergemeinschaftungen Rechnung zu tragen. Dies betrifft sowohl Fragen der internen Macht- und Ressourcenverteilung in diesen inter- mediären Gebilden wie auch den Zugang zu ihnen (etwa zu Firmen).

9

Auf die beiden letzten dieser Argumente bezieht sich Kreimer in ihrem Beitrag zu diesem Band.

17

Ich komme zum Versicherungsaspekt des Steuer- und Transfersystems. Und zwar betrachte ich nur jene

Art

Versicherung,

die

in

kapitalistischen

Marktwirtschaften

wegen

der

dauernden

systemimmanenten Umbewertungen des Vermögens (im weitesten Sinn) der Menschen nötig ist. Dazu gehört etwa unfreiwillige Arbeitslosigkeit, die als temporäre oder dauernde Entwertung von Humanvermögen aufzufassen ist. Hingegen betrachte ich nicht jene Art von Versicherung, welche wegen Handicaps, Krankheiten, Unfällen und ähnlichem nötig sind. Denn wie auch Philippe van Parijs zutreffend ausführt, sind für diese Wechselfalle gesonderte Vorkehrungen zu treffen. Auch die normative Begründung dafür ist ganz anders geartet als jene für das Grundeinkommen. Das Wohlbefinden von Menschen hängt, wenn wir mit van Parijs einmal von den genannten Wechselfällen absehen, und wenn wir weiter vom Wert nichtmarktlicher menschlicher Beziehungen absehen, von drei Arten von Vermögen ab. Sach- und Geldkapitalvermögen, Humanproduktivkapitalvermögen und Humangenußkapitalvermögen (z.B. Kochkünste von Hausmännern, die Segelkünste von Freizeitseglern). Die beiden ersten Vermögensarten

sind

über

Marktbeziehungen

zu

verwerten

und

materialisieren

sich

in

Einkommensströmen. Das Genußvermögen ist nötig, um die mit diesem Einkommen erwerbbaren Güter in Genuß umzusetzen. Nun könnte man dieses Genußvermögen einfach im Stil der Mainstream-Ökonomik in die exogen gegebenen Präferenzen "verpacken". Dies ist für viele Zwecke der Markt- und Preistheorie eine zweckmäßige Vereinfachung. Im vorliegenden normativen Argumentationskontext ist dies jedoch nicht der Fall. Hier spricht vieles dafür, Genußvermögen zu endogenisieren und das Faktum nicht auszublenden, daß der Genußfähigkeit typischerweise Lernen und Gewöhnung vorangeht, wenn wir von der Befriedigung elementaren Bedürfnisse physischer Reproduktion absehen. Aber selbst Mr diese argumentierte etwa Friedrich von Wieser mit Gewöhnungseffekten. Wichtiger ist aber, daß das vorgestellte Grundeinkommensmodell klar auf der Prämisse beruht, es gehe um mehr als die bloße physische Reproduktion. Vielmehr geht es, wie van Parijs klar macht, um gleiche Chancen auf die Verwirklichung individuell gewählter Lebenspläne (Real freedom, wie er dies nennt). Folglich ist Genußvermögen keine überflüssige Kategorie. Das

Vertrackte

ist

nun,

daß

nicht

bloß

Sach-

und

Geldkapitalvermögen

und

Humanproduktivkapitalvermögen (= Gegenwartswert der mit dem Einsatz der Arbeitskraft erzielbaren Einkommensströme) in Marktprozessen entwertet werden kann, sondern auch "Humangenußkapital". Eine solche Entwertung tritt dann ein, wenn die materiellen Objekte des Genusses, typischerweise irgendwelche Güter, sich verteuern oder wegen Einkommenseffekten unerschwinglich werden. Wie 18

wirkt sich dies nun in einem Grundeinkommensmodell aus? Das Grundeinkommensmodell impliziert idealerweise

eine

Vollversicherung

gegen

die

Entwertung

von

Sach-,

Geld-

und

Humanproduktivkapitalvermögen. Genauer gesagt handelt es sich sogar um die Neutralisierung diesbezüglicher Vermögensumbewertungen, da das Grundeinkommensmodell die betreffenden Erträge

m

100%

besteuert,

sofern

sich

dies

nicht

wegen

Anreizproblemen

steuerauf-

kommensmindernd auswirkt (ansonsten wird aufkommensmaximierend besteuert) und die Erträge hernach

als

Grundeinkommen

ausgeschüttet.

Wenn

eine

solche

Vollversicherung

bzw.

Neutralisierung aus Anreizgründen nicht eintritt (weil die Leistungsfähigen auf zu hohe Besteuerung mit Leistungsverweigerung reagieren), dann impliziert unser Grundeinkommensmodell immerhin maximal mögliche Versicherungswirkung. Dagegen unterbleibt - im Unterschied zu Modellen mit lebensstandardbezogener Sicherung - jegliche Versicherungswirkung im Hinblick auf die Entwertung von Humangenußkapital. Um dies am Beispiel des Lebensplans Nicoles zu illustrieren: Nicole ist geldund sachvermögenslos, hat aber als Wirtschaftsingenieurin wertvolles Humankapital gebildet. Sie arbeitet viel, verdient gut und hat ihr Leben um ein relativ reich- haltiges Set von teuren Gütern und Dienstleistungen herum eingerichtet, die ihr Genuß verschaffen (schöne Wohnung mit Garten, feines Essen, Theaterbesuche, Segelboot). Die Marktdynamik (eine Konjunkturschwankung oder auch techni- scher Fortschritt) führt nun zu einer Entwertung ihres Humankapitals, sie wird arbeitslos. In Abwesenheit einer lebensstandardbezogenen Sicherung wird nun zudem ein großer Teil ihres Genuakapitals entwertet, da sie sich den Erwerb der dazu nötigen Komplementärgüter nicht mehr leisten kann. Derselbe Effekt kann eintreten, wenn sich diese Komplementärgüter verteuern. Van Parijs argumentiert nun, daß jeder für seine Vorlieben selbst verantwortlich sei und "teure Vorlieben" (deren Befriedigung Champagner und Segeljachten erfordern) keinesfalls öffentlich subventioniert werden sollten. Dies klingt auf den ersten Blick plausibel und ist gewiß ein Vorteil gegenüber Ansätzen dem Utilitarismus, deren subjektivistische Definition von Wohlfahrt in manchen Fällen eine Transferpolitik stützt und fordert, die Menschen mit teuren Vorlieben exzessiv hohe Zuwendungen zukommen läßt. Bedenkt man jedoch, daß Konsummuster nicht immer nur von arbiträren Vorlieben abhängen, sondern von eingeübten Lebensstilen, die wichtiger Teil eines Lebensplans sein können, dann wird diese auf den ersten Blick einleuchtende Argumentation relativiert. Denn diese impliziert, daß Menschen nicht nur für die jederzeitige Änderung in ihren Lebensstilen bei Veränderung der relativen Preise verantwortlich sind, sondern daß sie auch das Risiko der diesbezüglichen Anpassungskosten (oder eben die Kosten der Nichtanpassung, falls irgendein Aspekt des Lebensstils zu tief Teil der persönlichen Identität geworden ist, als daß er in 19

vollem Umfang aufgegeben werden könnte) selbst tragen müssen. Somit wäre es eine auffallen- de Eigenschaft einer Grundeinkommensgesellschaft, daß Sach-, Geld- und Humanproduktivkapitalrisken voll sozialisiert werden, während Humangenußkapitalrisken voll privatisiert bleiben. Freilich: Dies muß nicht unbedingt unattraktiv sein. Allerdings zeigt sich ein Spannungsverhältnis an. Eine unattraktive Spannung ergibt sich beispielsweise daraus, daß Geld- und Sachkapitalrisken durch Diversifikation gut selbst versicherbar sind, wohingegen Human-genuakapital nur eingeschränkt diversifizierbar ist, da es ebenso wie Humanproduktivkapital personengebunden ist. In einer Grundeinkommensgesellschaft würde das Steuer und Transfersystem daher einerseits teilweise Risken versichern, die gut durch Selbstversicherung/Diversifizierung versicherbar sind, teilweise würde es Risken versichern, die typischerweise schlecht eigenversicherbar sind (Humankapitalrisken bei Spezialisierung). Andererseits würde es Risiken nicht versichern, deren schlechte Eigenversicherbarkeit gerade unter dem im Grundeinkommensdiskurs oft postulierten Abschied von der Arbeitsgesellschaft keinesfalls ausgeschlossen werden kann. Denn zu einem solchen Szenario gehört, daß sich Menschen im Hinblick auf die Bildung von Humangenußkapital spezialisieren (können), indem sie nicht ein Portefeuille kleiner Hobbies, sondern eine große lebenserfüllende Passion suchen. Abgesehen davon gibt es noch Grundbedarfe wie Wohnen, wo Gewöhnungseffekte und Transaktionskoten beliebig hoher Mobilität entgegenstehen. Wenn Passionen oder Grundbedarfe auf Marktgüter als Inputs angewiesen sind, sind sie voll dem Umbewertungsrisiko von Preisveränderungen ausgesetzt. Und in einer Grundeinkommensgesellschaft kann ein Individuum auf drastische Preiserhöhungen nicht oder nur sehr beschränkt mit steigendem Arbeitseinsatz reagieren, um jene Einkommenserhöhung zu erzielen, welche zum Kauf oder zum Mieten der Nurer gewordenen Marktgüter nunmehr nötig wäre. (Gerade wenn die Steuerbehorde feststellt, daß eine Gruppe von Individuen dringenden Finanzierungsbedarf und ein entsprechendes Arbeitsangebotsverhalten hat, wird diese Gruppe eine optimalsteuertheoretisch geeignete Quelle für ein Anziehen der Steuerschraube zur wenn immer möglich gebotenen Erhöhung des allgemeinen Grundeinkommens).

8.8

Schlußbemerkung und Fazit

Ich betrachte das eben skizzierte Argument nicht als K.0.-Argument gegen ein Grundeinkommen ä la van Parijs. Allerdings zeigt es an, daß ein solches Grundeinkommensmodell eine Sicherungslücke und eine möglicherweise unplausible Vollversicherung in einem Bereich enthält, wo kapitalistische 20

Marktwirtschaften gute Methoden der Eigenversicherung entwickelt haben. Wie stark sich diese Momente auswirken, ist eine nur empirisch zu klärende Frage. Die vorgetragenen Argumente reichen auch insgesamt keinesfalls aus, um ein möglichst hohes Grundeinkommen als normativ attraktives Verteilungsdesign abzutun. Es wurden aber einige Anhaltspunkte gezeigt, daß ein solches Modell weder im Hinblick auf die Berücksichtigung der Tatsache, daß Menschen in bestimmten Haushaltsbzw. Familienstrukturen zusammenleben, noch im Hinblick auf die Versicherungsfunktion eine Ideallösung darstellt. Ein möglichst hohes Grundeinkommen ist außerdem weniger unter liberalen Wertprämissen eines "optimistischen Individualismus" attraktiv, welcher die Neutralität der Politik und der Privatheit des Guten auf seine Fahnen schreibt. Denn es ist nicht neutral zwischen den Lebensformen. Attraktiv ist es hingegen unter den Prämissen eines "pessimistischen Individualismus", der wie Hobbes nicht an positive Möglichkeiten politischer Gestaltung (etwa in Richtung Chancengleichheit

oder

Intera-gtion)

glaubt.

Hobbes

geht

von

einer

rettungslos

den

Gruppeninteressen ausgelieferten Politik aus, in der eine rationale Verteilungsdiskussion keine Chance hat. Wenn nichtarbiträre Umverteilung unter solchen Prämissen überhaupt möglich sein soll, dann muß sie möglichst einfach, einheitlich und eindimensional funktionieren. Diese Erfordernisse erfüllt ein möglichst hohes Grundeinkommen zweifellos besser als andere Umverteilungsdesigns. Es ist kein Zufall, daß der Hobbesianer James Buchanan die guten Gründe für allgemeine Transfers bzw. Leistungen so prägnant herauszuarbeiten wußte. Sowohl die skizzierte Problematik im Bereich Familie und geschlechtsspezifische Auswirkungen als auch der Finanzierungsbedarf für Politiken der Chancengleichheit und der Integration sprechen dagegen, ein höheres als existenzsichemdes Grundeinkommen als realistische Reformmaßnahme zu befürworten. Dies scheinen sowohl Kreimers als auch die hier präsentierten Argumente nahezulegen. Darüber hinaus habe ich Argumente vorgestellt, die dagegen sprechen, den Staat völlig aus der Aufgabe der Lebensstandardsicherung zu entlassen. Zwar ist diese aus meiner Sicht durch einen Übergang auf versicherungsanaloge Beitragssysteme in ihrer Eigenfinanzierung zu stärken. Ich glaube jedoch, daß die Rolle des Staates aus Gründen des politischen Konsenses, der Art des Marktversagens sowie schließlich aus normativen Gründen sich nicht bloß auf Kapitalmarktregulierung und Versicherungsaufsicht beschränken kann. Das chilenische Pensionsmodell mit seinen durchaus weitgehenden, gezielt auf die Funktion der Alterssicherung bezogenen Regulierungen ist aus meiner Sicht eher das Maximum an Entpolitisierung der lebensstandardbezogenen Alterssicherung, das sachlich noch vertretbar ist, als die anzustrebende Zielvorgabe. Anzustreben wäre eher eine weitergehende

staatliche

Regulierung

und

Garantien,

um

etwa

im

Fall

hochgradiger 21

Finanzmarktinstabilitäten politisch ins System eingreifen zu können. Die Umstellung der Finanzierung auf versicherungsanaloge Beiträge würde u.a. auch die kostenlose Mitversicherung beenden. In Kombination mit der Einführung der Grundsicherung brächte dies (abgesehen von den immer schwierigen Übergangsphasen) allerdings keine großen Probleme. Denn, wie gesehen, bevorteilt das Grundsicherungsmodell tendenziell Familien und besonders Alleinverdienerfamilien, die somit für den Entfall der kostenlosen Mitversicherung kompensiert würden.

Literatur Barry, B. (1990): The Welfare State versus the Relief of Poverty. In: Ethics 100/1990, S. 503-529. Buchanan, J. M. (1997): Can Democracy Promote the General Welfare? In: Social Philosophy & Policy 14/1997, S. 165-179. Duncan, G. J. (1984): Years of Poverty, Years of Plenty. Ann Arbor: University of Michigan, Institute for Social Research, Survey Research Center. Goodin, R. E. (1990): Stabilizing Expectations: The Role of Earnings-related Benefits in Social Welfare Policy. In: Ethics 100/1990, S. 530-553. Guger, Alois (1992): Die Effizienz der österreichischen Familienpolitik. In: WIFo-Monatsherichte 10/92, 519-525. Harberger, A. C.(1998): A Vision of the Growth Process. In: American Economic Review 88/1, S. 1-32. Kerschler, B. (1999): Die Auswirkungen der Grundsicherung des Liberalen Forum auf die Situation von Frauen. Diplomarbeit, Universität Graz. I.eGrand, J. (1990): Equity versus Efficiency: The Elusive Trade-off. In: Ethics 100/1990, S. 554-568. Moffitt, It (1992): Incentive Effects of the U.S. Welfare System: A Review. In: Journal of Economic Literature XXX/1992, S. 1-61. Parijs, Ph. v. (1991): Why Surfers Should Be Fed: The Liberal Case for an Unconditional Basic Income. In: Philosophy & Public Affairs 20/1991, S. 101-131. Parijs, Ph: v. (1995): Real Freedom for All. What (if anything) can justify capitalism? Oxford. Sen, A. K. (1992): Inequality Reconsidered. Oxford. Roemer, J. (1992): Providing Equal Educational Opportunity: Public vs. Voucher Schools. In: Social Philosophy and Policy 9/1, 291-309. Sturn, R. (1992) Zum Spannungsverhältnis von Verfassungsrechtssprechung und Steuergesetzgebung. In: Juristische Blätter 114/12, S. 745-753. Sturn,, R. (1998): Individualismus und Ökonomik. Marburg.

22

Sturn, R. und Dujmovits, R. (1999): Basic Income in More Complex Worlds: Individual Freedom and Social Interdependences. Erscheint in: Analyse und Kritik, Sonderband. Sturn, IR und Wohlfahrt, G. (1998): Chancengleichheit in der Bildung. In: erziehung heute 4, 19-22. Sturn,, IC und Wohlfahrt, G. (1999): Der gebührenfreie Hochschulzugang und seine Alternativen. Wien. Weale, A. (1990): Equality, Social Solidarity, and the Welfare State. In: Ethics 100/1990, S. 473-488.

23

9 Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit Peter Koller Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

9.1

Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat

Der Kapitalismus – oder, wenn man lieber will, die freie Marktwirtschaft – hat durch den Untergang der sozialistischen Gesellschaften wieder enormen Auftrieb bekommen. Das klägliche Scheitern des realsozialistischen Experiments hat die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Systems deutlich bestätigt und dessen Kritiker nahezu zum Verstummen gebracht. Der Triumph des Marktsystems hat aber auch zur Wiederbelebung eines extremen Wirtschaftsliberalismus ermuntert, dessen Anhänger sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, um gleich auch den Wohlfahrtsstaat als das Produkt der sozialistischen Irrlehre in Verruf zu bringen und das freie Spiel des Marktes als Heilmittel gegen alle gesellschaftlichen Übel zu preisen. Diese Botschaft hat mittlerweile offenbar so weite Verbreitung gefunden, dass nicht einmal mehr sozialdemokratische Parteien zögern, sie in ihre politischen Programme zu schreiben. Aber sie ist ebenso unbedacht wie übereilt. Denn erstens ist die Gesellschaftsordnung, die den Wettkampf der Systeme gewonnen hat, gar nicht der Kapitalismus als solcher, sondern eine staatlich gebändigte und regulierte marktwirtschaftliche Ordnung, sozusagen ein Haustierkapitalismus im Gehege des Wohlfahrtsstaates. Und zweitens gäbe es auch dann, wenn die freie Marktordnung jeder möglichen Form des Sozialismus überlegen sein sollte, wenig Grund, sie als ein Allheilmittel zu betrachten, mit dem alle gesellschaftlichen Übel kuriert werden können. Für eine angemessene, nicht von ideologischen Vorurteilen verzerrte Beurteilung des Kapitalismus ist es ratsam, sich seine wechselvolle Geschichte in Erinnerung zu rufen. Seine Entwicklung von den Anfängen im späten Mittelalter bis zur Gegenwart ist zwar im Ganzen genommen sicher eine Erfolgsgeschichte, die die ungeheure Vitalität, die enorme Leistungskraft und Anpassungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems beweist. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass diese Entwicklung zugleich auch eine Geschichte schlimmer ökonomischer Krisen und schwerer sozialer Erschütterungen war, die immer wieder massive Widerstände gegen dieses System hervorgerufen und viele Menschen veranlaßt haben, seine Legitimität in Frage zu stellen oder es überhaupt völlig zu verdammen. Auch wenn es zutreffen mag, dass sich der reale Kapitalismus von der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie nie so weit entfernt hat wie der reale Sozialismus von der sozialistischen Utopie, hat er den schönen Lehrbuchmolellen eines perfekten Wettbewerbsmarktes niemals entsprochen. Statt zum Paradies auf Erden, das die Denker des klassischen Liberalismus versprachen, hat der unregulierte Kapitalismus vielmehr immer wieder zu katastrophalen Wirtschaftskrisen und Hungersnöten, zu Arbeitslosigkeit und Massenelend, zu sozialer Polarisierung und Klassenkonflikten geführt (Dobb 1972). 3

Dieser Befund sollte eigentlich gar nicht weiter überraschen, weil ja seit langem bekannt ist, dass das Marktsystem neben seinen Vorzügen auch eine Reihe von gravierenden Unzulänglichkeiten in sich birgt, deren sich teilweise schon die klassischen Nationalökonomen, wie etwa Ricardo und John Stuart Mill, bewusst waren, von Marx ganz zu schweigen. Zu diesen Unzulänglichkeiten gehören zum einen gewisse Effizienzmängel, die unter gewissen Umständen das effiziente, d.h. allseits vorteilhafte Operieren des Marktes beeinträchtigen, zum anderen aber auch verschiedene moralische Defekte, die schwerer wiegen, weil sie das Marktsystem in Konflikt mit wesentlichen moralischen Anforderungen bringen. Einige Effizienzmängel des Marktsystems, die sogenannten Marktversagen, sind z.B. sein Unvermögen, für ein ausreichendes Angebot an öffentlichen Gütern zu sorgen; seine Tendenz, zu sozial ineffizienten Ergebnissen zu führen, wenn das Bandeln einzelner Wirtschaftssubjekte mit negativen externen Effekte verbunden ist; die diversen Möglichkeiten eines ruinösen oder ungleichen Wettbewerbs, aus dem sich ökonomische Machtballungen ergeben können, welche dann den Markt beherrschen;

und

die

zyklischen

Ungleichgewichte

des

Marktwettbewerbs,

welche

die

Krisenanfälligkeit des Marktes bedingen. Schon diese Effizienzmängel lassen gewisse regulierende Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte als erforderlich erscheinen, um die aus ihnen resultierenden Nutzeneinbußen in Grenzen zu halten (Streissler/Streissler 1984, S. 94 ff, A. Buchanan 1985; Stiglitz/Schönfelder 1989, S. 96 £f). Das Marktsystem hat aber auch eine Reihe von moralischen Defekten, die in den offensichtlichen Ungerechtigkeiten Gestalt annehmen, die das freie Spiel der Marktkräfte zur Folge haben kann. Diese Defekte, denen die Wirtschaftstheoretiker sehr wenig Beachtung schenken, sind vor allem die folgenden: Erstens ist der Markt schon deshalb, weil sein Operieren ja bereits eine gegebene Ausstattung der Peilnehmer mit Rechten und Ressourcen voraussetzt, selber niemals imstande, eine gerechte Anfangsverteilung dieser Rechte und Ressourcen zu garantieren, die aber ihrerseits eine notwendige Voraussetzung eines fairen Marktwettbewerbs ist. Zweitens kann der Marktprozess selbst dann, wenn er unter einer akzeptablen Anfangsverteilung begonnen haben sollte, eine solche Verteilung nicht auf Dauer sicherstellen, weil Zufälligkeiten, Fehlkalkulationen, irrationale Handlungen und ungeahndete Vergehen die Ergebnisse des Marktgeschehens beeinflussen und extrem ungleiche Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs schaffen können; aus diesem Grund bietet der Markt auch keine Gewähr, dass alle Teilnehmer über eine Grundausstattung von Rechten und Ressourcen verfügen, die sie gegen und Ausbeutung schützt. Und da der Markt nicht in einem sozialen Vakuum operiert, sondern mit anderen Formen der sozialen Gruppenbildung und politischen Machtkampfes 4

interagiert, birgt er drittens die ständige Gefahr einer sozialen Marginalisierung und Ausgrenzung jener Menschen mit sich, die im wirtschaftlichen Wettbewerb unterliegen; der Marktmechanismus kann den Schwächeren und weniger Leistungsfähigen ohne entsprechende Vorkehrungen nicht nur keinen Schutz vor Armut und Not bieten, sondern er trägt unter gewissen Umständen sogar dazu bei, diese Übel zu verstärken und zu verewigen (Mydral 1974, Hirsch 1980, A. Buchanan 1985). Aus beiden Gebrechen des Marktsystems, seinen Effzienzmängeln und seinen moralischen Defekten, die sich wechselseitig überlappen und verstärken können entstehen gravierende soziale Probleme, darunter Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, extreme Ungleichheit, Ausbeutung, Armut und Elend, die eine Gesellschaft zerreißen können, jedenfalls aber nach Abhilfe verlangen. Um diesen Probte entgegenwirken zu können, bedarf es geeigneter rechtlicher und faktischer Rahmenbedingungen des Marktwettbewerbs, die freilich der Markt nicht selber hervorbringen kann, sondern ihm durch politische Entscheidungen auferlegt werden müssen. Das politische System der entwickelten Gesellschaften des Westens hat denn auch – wenn auch oft nur unter dem Druck der Straße und gegen den Widerstand der Gewinner des Marktsystems – nach und nach, gleichsam auf evolutionärem Wege, ein Repertoire von rechtlichen und staatlichen Instrumenten entwickelt, die sich bis zu einem gewissen Grade als geeignet erwiesen haben, destruktiven Wirkungen des Marktsystems zu begegnen und dessen Dynamik im Interesse der Mehrheit zu regulieren (Le Grand/Robinson 1984, Zinn 1999). Die wichtigsten dieser Instrumente sind bekanntlich die folgenden: (1) die Instrumente der Sozialpolitik, die den Arbeitenden eine Absicherung gegen die sogenannten Kontingenzen des Lebens, nämlich im Falle von Krankheit, Alter Arbeitslosigkeit bieten, in der Regel durch eine Pflichtversicherung; (2) die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitsmarkt und das Arbeitsleben zahlreichen Einschränkungen unterwerfen, um schlimme Formen der Ausbeutung zu unterbinden und etwas gleichere Machtverhältnisse zwischen Unternehmern und Arbeitern zu schaffen, so etwa durch Arbeitsverbote und -beschränkungen, durch Arbeitszeitregelungen, durch das Streik- und Kollektivvertragsrecht sowie durch Maßnahmen des Arbeiterschutzes; (3) die Instrumente der Bildungspolitik die darauf gerichtet sind, den Gesellschaftsmitgliedern eine den gesellschaftlich und wirtschaftlichen Erfordernissen entsprechende Bildung zu verschaffen und ihnen zugleich einigermaßen faire Ausgangsbedingungen im wirtschaftlichen Wettbewerb zu bieten; und (4) die Instrumente der Wirtschaftspolitik, die darauf zielen, die wichtigsten Anforderungen an eine funktionierende Volkswirtschaft(Vollbeschäftigung, Wachstum, Geldwertstabilität, ausgeglichene Zahlungsbilanz) soweit wie möglich zu realisieren und in eine angemessene Balance zu bringen, vor allem durch Maßnahmen der staatlichen Geld, Steuer- und Haushaltspolitik. Mit Hilfe aller diese 5

Instrumente zusammen ist es nach und nach gelungen, den Kapitalismus gewissermaßen zu domestizieren, also in ein System zu verwandeln, das die Vorzüge des Marktsystems aufweist und dessen sozial unerwünschte und destruktive Auswirkungen in einigermaßen annehmbaren Grenzen hält. Dieses System ist die soziale Marktwirtschaft, ein Kapitalismus plus Wohlfahrtsstaat (Alber 1987, Ritter 1989, Prisching 1996, Zinn 1999). Aber natürlich ist auch der Staat nicht ohne Mängel, die ihn in Konflikt mit den Erfordernissen der ökonomischen Effizienz oder der Gerechtigkeit bringen können. Warum die staatliche Steuerung des Wirtschaftsgeschehens leicht zu ineffizienten Ergebnissen führt, und zwar auch dann, wenn sie demokratischer Kontrolle unterliegt und die staatliche Bürokratie einigermaßen gut funktioniert, ist nicht schwer zu erklären: Da die Staatsgewalt meist weder ausreichende Informationen über die Bedürfnisse

der

Gesellschaftsmitglieder,

noch

gesichertes

Wissen

über

die

komplexen

Wirkungszusammenhänge des sozio-ökonomischen Geschehens hat, wird sie ganz unvermeidlich das Ziel dieser Steuerung häufig verfehlen, also z.B. zu einer Über- oder zu einer Unterregulierung des Marktgeschehens kommen oder bei der Bereitstellung öffentlicher Güter zu einem Über- oder zu einem Unterangebot tendieren (J. M. Buchanan 1975). Diese Unzulänglichkeiten, welche die Effizienz staatlichen Handelns mindern und als Staatsversagen bezeichnet werden, sind sicher nicht zu vernachlässigen, müssen aber bis zu einem gewissen Grade in Kauf genommen werden, wenn es darum

geht,

offensichtlichen

und

gravierenden

Fehlentwicklungen

des

Marktprozesses

entgegenzuwirken (Jänicke 1986). Aber die staatliche Macht kann bekanntlich nicht nur dazu benutzt werden, um Ungerechtigkeiten zu beseitigen, sondern sie birgt auch die Gefahr in sich, dass sie selber zur Ursache von Ungerechtigkeiten wird, sei es, dass sie bestehende verstärkt oder neue erzeugt, wobei das Ausmaß dieser Gefahr von mehreren Faktoren abhängt, so vor allem vom Regierungssystem, von der politischen Kultur Lind den gesellschaftlichen Machtstrukturen. Zwar ist es im Laufe der Neuzeit gelungen, in der Gestalt des liberalen und demokratischen Verfassungsstaates eine Form des Staates zu entwickeln, die unter entgegenkommenden gesellschaftlichen Bedingungen imstande ist, den Missbrauch staatlicher Macht halbwegs in Schranken zu halten. Dennoch ist auch diese Staatsform sicher nicht frei von Ungerechtigkeiten, weil auch sie in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet ist, die auf ihre Entscheidungsmechanismen durchschlagen (Guldiman 1976; Prisching 1986, S. 153 ff). Darüber hinaus kann es aber auch sein, dass die Form des Wohlfahrtsstaates, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in Reaktion auf die sozialen Probleme der Vergangenheit herausgebildet hat, den 6

Anforderungen der Gegenwart nicht mehr zu entsprechen vermag. Eines dieser Probleme war es bekanntlich, die ständig anwachsende Masse der vermögenslosen Lohnarbeiter, die das kapitalistische System hervorbrachte, gegen Armut, Elend und Not im Falle von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zu sichern. Und ein naheliegender Weg, dies zu; erreichen, lag darin, ein Netz der sozialen Sicherung zu schaffen, das – wie z.B. das System der Sozialversicherung – auf die typischen Lebensbedingungen von erwerbstätigen Menschen zugeschnitten ist und an die damals übliche Form der Erwerbsarbeit anknüpft. Ein anderes Problem bestand darin, die Lage der Anbei im Rahmen des Arbeitslebens zu verbessern. Dieses Ziel wurde insbesondere mit den Mitteln des Arbeitsrechts erreicht, dessen Regelungen die Position der, Lohnarbeiter gegenüber den Unternehmern stärkten und das Angebot Arbeitskräften verknappten, wie z.B. Arbeitsverbote, Arbeitszeitbeschränkungen. Arbeiterschutzvorschriften und die Etablierung des Kollektivvertragsrechts. So sich nach und nach im Wege von Versuch und Irrtum ein wohlfahrtsstaatliches System herausgebildet, das die Lebenschancen der Menschen weitgehend an deren Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsleben bindet, weil von diesen Möglichkeiten.) nicht nur abhängt, ob und inwieweit Personen überhaupt an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit teilnehmen und aus ihrer Arbeit Nutzen ziehen können, sondern; zugleich auch, welches Maß an Sicherheit sie im Falle von Arbeitslosigkeit und: Arbeitsunfähigkeit genießen (Prisching 1996). Dieses System hat eine Zeitlang, so vor allem in der Periode wirtschaftlicher; Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht schlecht funktioniert, d.h. nahezu flächendeckend ein einigermaßen ausreichendes Maß an sozialer Sicherheit; garantiert und zugleich die Leistungsbereitschaft der Erwerbstätigen stimuliert. Es, mehren sich jedoch die Anzeichen, dass das System nun an sein Ende kommt, weil es immer weniger auf die gesellschaftlichen Probleme passt, die sich aus den stattfindenden Strukturveränderungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der beruflichen Arbeit

ergeben.

Diese

Strukturveränderungen



vor

allem

die

rasante

Steigerung

der

Arbeitsproduktivität, die der technische Fortschritt zur Folge hat, das Schrumpfen des industriellen Sektors und die Auflösung seiner sozialintegrativen Arbeitswelt und die ökonomische Globalisierung, die den Wettbewerbs- und Leistungsdruck beträchtlich verstärkt – bringen neben manchen Vorteilen auch erhebliche negative Auswirkungen mit sich: nämlich steigende Arbeitslosigkeit mit einem wachsenden Anteil an Dauerarbeitslosigkeit, die immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben drängt; das Vordringen von atypischen, also kurzfristigen, geringfügigen, rasch wechselnden und meist auch schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen, die nicht nur die bestehenden Schutzvorkehrungen des Arbeitsrechts und der sozialen Sicherheit unwirksam machen, sondern zugleich die 7

solidaritätsförderliche Organisationsformen der industriellen Arbeit vernichten; und nicht zuletzt auch ein ständiges Wachsen der beruflichen Eignungs- und Leistungsanforderungen, denen eine wachsende Zahl von Menschen zum Opfer fällt (Vobruba 1990, Zilian/Flecker 1997, Zinn 1999). Diese Entwicklungen bringen in den fortgeschrittenen Gesellschaften schon letzt wieder ein zunehmendes Maß an Ausbeutung, Armut und Not hervor, und sie werden bald zu eminenten sozialen Problemen fuhren, denen das überkommene System des Wohlfahrtsstaates kaum gewachsen ist. Ich erwähne nur das Problem der sozialen Absicherung jener wachsenden Zahl von jungen Menschen, die sogenannte 'Bastelexistenzen" führen, sich also mit kurzfristigen Jobs über Wasser halten, ohne sich viel Gedanken um ihre Zukunft zu machen. Und in dem Maße, in dem die herkömmlichen Instrumente des Wohlfahrtsstaates versagen, gerät er auch selber in Misskredit. Es gibt einen merklichen Abbau der sozialen Solidarität und eine sinkende Bereitschaft, in ein System zu investieren, von dem man sich selber kaum noch Vorteile erhofft. Stattdessen greift die sozialdarwinistische Vorstellung wieder um sich, dass die Welt nur den Tüchtigen gehört (Prisching 1996, S. 65 ff). Und natürlich schlägt dieser Wandel auch auf die Politik des Staates durch, der sich zunehmend darauf verlegt, den nationalen Wirtschaftsstandort durch die Deregulierung des Marktes zu sichern und soziale Leistungen dort zu reduzieren, wo der Widerstand am schwächsten ist. Die Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, die den Umbau des Raubtierkapitalismus in eine wohlfahrtsstaatlich regulierte soziale Marktwirtschaft angeleitet haben, scheinen damit ihrerseits nicht mehr aktuell. Dieser Auffassung möchte ich entgegentreten.

9.2

Soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftsordnung

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit hat die gerechte Gestaltung der sozialen Ordnung ganzer Gesellschaften zum Gegenstand. Es geht dabei also darum, eine Verfassung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu finden, die aus moralischer Sicht, d.h. aus einer übergeordneten und unpersönliche Perspektive, von allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen akzeptiert werden kann (Rawls 1975; Koller 1997, S. 309 ff.). Zur Annäherung an diese Thematik ist es zweckmäßig, mit der Vorfrage zu beginnen, was eine Gesellschaft überhaupt ist und worin ihre Funktionen bestehen. Es gibt bekanntlich vielfältige Formen der sozialen Vergemeinschaftung, zu denen sich Menschen vereinigen. Gesellschaften bilden nur eine dieser Formen. Neben ihnen gibt es z.B. Familien, Verwandtschaftsverbände,

Dorfgemeinschaften,

Unternehmen,

Interessenverbände, 8

Staatenbündnisse, die sehr unterschiedliche, oft nur eng begrenzte Funktionen haben. Gesellschaften unterscheiden sich von diesen anderen Gemeinschaften im Wesentlichen durch zwei Merkmale: erstens dadurch, dass sie unfreiwillige Gemeinschaften sind, denen die Menschen in der Regel von Geburt an angehören, deren Regeln sie ohne ihre Zustimmung unterworfen sind und aus denen sie auch nicht ohne weiteres austreten können; und zwei dadurch, dass sie übergeordnete und umfassende Gemeinschaften sind, die e Vielzahl kleinerer Gemeinschaften zu einer einigermaßen selbständigen selbstgenügsamen sozialen Einheit zusammenfassen, deren Ordnung das Leben Beteiligten umfassend regelt und deren Lebenschancen maßgeblich bestimmt. Infolgedessen hat die soziale Ordnung einer Gesellschaft die Funktion, Zusammenleben ihrer Mitglieder auf eine Weise zu regeln, die es ihnen möglich macht, ihre wichtigsten Daseinsprobleme so gut wie möglich zu meistern (P1975). Davon ausgehend lässt sich dann die Frage der sozialen Gerechtigkeit wie folgt formulieren: Welche Anforderungen muss die soziale Ordnung einer Gesellschaft erfüllen,

damit sie von allen ihren

Mitgliedern bei allgemeiner und unpersönlich Betrachtung eben deswegen akzeptiert werden sollte, weil sie ihr Zusammenleben auf eine Weise regelt, die es ihnen möglich macht, ihre Daseinsprobleme so wie möglich zu bewältigen? Ich kann diese Frage hier nicht hinsichtlich aller ihrer verschiedenen Aspekte diskutieren, sondern werde mich auf den für mein Th relevanten Aspekt beschränken, nämlich auf den Aspekt der wirtschaftlich Gerechtigkeit. Ich setze dabei voraus, dass eine gerechte soziale Ordnung nur d vorliegt, wenn sie allen Mitgliedern gleiche bürgerliche und politische Rech gleiche Grundfreiheiten und darüberhinaus die größtmögliche wirtschaftliche Freiheit gewährt, die mit einer gerechten Verteilung ökonomischer Ressourcen vereinbar ist. Der zentrale Grundgedanke der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, hinsichtlich dessen die meisten Theorien der sozialen Gerechtigkeit im Wesentlich übereinstimmen, auch wenn sie auf verschiedenen Wegen zu ihm gelangen und im Detail in vielen Hinsichten voneinander abweichen, scheint mir in einem! dialektischen Verhältnis zweier Zielsetzungen zu bestehen, die in verschiedenes Richtungen gehen: das ist erstens die Minimierung von Leid und Not, die eine hinreichende Sicherung aller Gesellschaftsmitglieder gegen die natürlichen und sozialen Kontingenzen des Lebens – gegen Hilflosigkeit, Armut und Ausbeutung – verlangt; und zweitens die Optimierung des allgemeinen Wohlergehens, diese fordert, dass die soziale Ordnung allen Mitgliedern der Gesellschaft hinreichende Möglichkeiten bietet, ihr Leben möglichst vorteilhaft zu gestalten. Diese beiden Zielsetzungen, die in einem Spannungsverhältnis stehen und darum in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen, bilden meines Erachtens den gemeinsamen Nenner fast aller maßgeblichen 9

Konzeptionen der ökonomischen Gerechtigkeit, vom klassischen Liberalismus über den Sozialismus bis zu den wichtigsten zeitgenössischen Theorien, wie etwa jenen von Rawls, Walzer, Dworkin und den Utilitaristen, ja vielleicht sogar der von Hayek (Rawls 1975, Walzer 1992, Dworkin 1981, Hayek 1971). Anders gesagt: Wirtschaftliche Gerechtigkeit verlangt, dass die soziale Ordnung die grundlegenden Lebensbedingungen aller Gesellschaftsmitglieder so gut wie möglich sichert, indem sie einerseits geeignete Vorkehrungen trifft, um sie vor Not zu bewahren, und andererseits ein produktives System sozialer Kooperation ermöglicht, das allen zum Vorteil gereicht. Die zwei Teilforderungen der sozialen Gerechtigkeit stehen unter den Bedingungen unserer Welt, in der es Konflikt um die knappen Ressourcen des menschlichen Oberlebens und Wohlergehens gibt, in einem Spannungsverhältnis, das dazu nötigt, zwischen ihnen abzuwägen und sie in eine angemessene Balance zu bringen. Die Sicherung gegen Hilflosigkeit und Not darf sicher nicht so weit gehen, dass die Beteiligten keinen Anreiz mehr haben, entsprechend ihrem Vermögen für sich selber zu sorgen und zur gesellschaftlichen Kooperation beizutragen; und die Steigerung der sozialen Produktivität muss dort ihre Grenze finden, wo sie nur mehr einem Teil der Gesellschaftsmitglieder zum Nachteil anderer Nutzen bringt. Bringt man beide Gesichtspunkte ins richtige Lot, so gelangt man zu einem Prinzip der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, das im Großen und Ganzen dem sog. Differenzprinzip von John Rawls entspricht (Rawls 1975, S. S. 95 ff; Koller 1987, S. 109 ff.): Danach sind soziale Ungleichheiten – also Ungleichheiten in der Verteilung der sozialen Ressourcen des Oberlebens und Wohlergehens – dann und nur dann gerechtfertigt, wenn sie notwendig mit einer wirtschaftlichen Ordnung verbunden sind, die den jeweils schlechtergestellten Gesellschaftsmitgliedern zum größtmöglichen Vorteil gereicht, ihnen also bessere Lebensbedingungen bietet als eine soziale Ordnung mit einer gleichmäßigeren Ressourcenverteilung. Dieses Prinzip, das soziale Ungleichheiten im Interesse der Steigerung der sozialen Wertschöpfung dann

und

insoweit

erlaubt,

wenn

sie

nicht

nur

den

begünstigten,

sondern

auch

den

schlechtergestellten Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen, ist alleine freilich zu schwach, um aus ihm substanzielle Schlussfolgerungen über die Gerechtigkeit wirtschaftlicher Verhältnisse ableiten zu können. Was es konkret verlangt, hängt auch von den sozio-ökonomischen Bedingungen ab, so vor allem vom Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und davon, welche Dinge in einer Gesellschaft als grundlegende Ressourcen des menschlichen Überlebens und Wohlergehens gelten. In einer primitiven Gesellschaft, deren Mitglieder vom Jagen und Sammeln leben, sind andere Ressourcen maßgeblich als in einer vorindustriellen Agrargesellschaft, die sich aus lauter kleinen, 10

mehr oder minder unabhängig voneinander wirtschaftenden Gemeinschaften zusammensetzt. Und wiederum anders ist die Situation in entwickelten, funktional differenzierten modernen Gesellschaften, deren Mitglieder ein dichtgewebtes Netzwerk arbeitsteiliger Kooperation und wechselseitiger Abhängigkeit bilden. Worin bestehen in solchen Gesellschaften die grundlegenden Ressourcen der wirtschaftlichen Existenzbewältigung? Man wird annehmen können, dass diese Ressourcen neben einem Satz gleit bürgerlicher und politischer Rechte die folgenden sind: Vermögen, Einkommen Bildung und berufliche Qualifikationen, aber auch die Möglichkeit zur aktiv Teilnahme am System der ökonomischen Kooperation, also die Aussichten einen den eigenen Qualifikationen möglichst entsprechenden Arbeitsplatz. Gerechtigkeit der Ordnung einer entwickelten Gesellschaft hängt demnach vor allem davon ab, ob und inwieweit es ihr gelingt, eine Verteilung dieser Ressourcen zu bewerkstelligen, weiche die wirtschaftliche Wertschöpfung stimuliert zugleich in eine Richtung lenkt, dass sie allen Gesellschaftsmitgliedern zugute kommt, vor allem auch jenen, die am schlechtesten abschneiden. Damit erhebt si die Frage, welche Wirtschaftsordnung diesem Erfordernis unter den Bedingung der Gegenwart am ehesten zu entsprechen vermag. Diese Frage stellt sich heute wohl nicht mehr dahingehend, ob eine sozialistische Planwirtschaft der kapitalistischen Marktwirtschaft vorzuziehen ist. Die einer solchen Planwirtschaft scheint heute kaum noch attraktiv, nicht nur weg der ernüchternden Erfahrungen mit dem realen Sozialismus, sondern aua deswegen, weil es überdies ziemlich überzeugende theoretische Gründe dafür gibt dass jedes planwirtschaftliche System unbehebbare Effizienzdefekte aufweist deshalb einfach nicht gut funktionieren kann (Hayek 1971, S. 323 ff.). Wenn aber zutrifft, dass es zur Marktwirtschaft gar keine seriöse Alternative gibt, dann stellt sich die Frage nach der gerechten Wirtschaftsordnung nur mehr dahin, wie sich eine Marktwirtschaft mit dem Erfordernis wirtschaftlicher Gerechtigkeit gut wie möglich in Einklang bringen lässt. Meine These lautet nun, dass eine Marktwirtschaft – also eine Wirtschaftsordnung, die auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht und die Allokation wirtschaftlicher Güter auf dezentrale Weise durch individuelle Transaktion bewerkstelligt, was unvermeidlich zu erheblichen sozialen Ungleichheiten fuhrt – nur dann allgemein akzeptabel ist, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind; die ihren gravierendsten moralischen Defekten entgegenwirken: (1) wenn durch ein entsprechendes Schul- und Bildungssystem sichergestellt wird, dass alle Gesellschaftsmitglieder einen Grundstock von Kenntnissen und Qualifikationen erhalten, die ihnen eine faire Chance eröffnen, sich entsprechend ihren Fähigkeiten und Ambitionen eine wirtschaftliche Existenzgrundlage schaffen; (2) wenn durch 11

eine entsprechende Regelung des Arbeitsmarktes Vorsorge dafür getroffen wird, dass alle Gesellschaftsmitglieder eine Erwerbsarbeit bekommen können, die ihren Qualifikationen und Ambitionen möglichst entspricht, damit sie aktiv am System der wirtschaftlichen Kooperation teilnehmen können; und (3) wenn alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht, eine unter den gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen angemessene Grundsicherung erhalten, das ihnen einerseits ein Startkapital für allfällige wirtschaftliche Aktivitäten verschafft und sie andererseits vor Not und Ausbeutung schützt. Mich interessieren hier nur die beiden letzten Bedingungen, die ich im Folgenden etwas genauer erläutern und begründen möchte. Die zweite Bedingung bringt zum Ausdruck, dass jedes Gesellschaftsmitglied einen moralischen Anspruch auf Teilnahme am System der wirtschaftlichen Kooperation und in diesem Sinne ein Recht auf Arbeit hat, und zwar auf eine Arbeit, die seinen Fähigkeiten und Ambitionen soweit wie möglich entspricht. Dafür spricht der folgende Grund: In einer arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft ist die Arbeit – ähnlich wie in einer Agrargesellschaft das Grundeigentum – die wichtigste Ressource nicht nur zur Versorgung mit wirtschaftlichen Gütern, sondern zugleich auch zur Erlangung einer achtbaren sozialen Position. So streben die meisten Menschen nach einer ihren Fähigkeiten einigermaßen entsprechenden Arbeit, um sich erstens die Mittel ihrer Existenz zu verschaffen, um zweitens in den Genuss der vielfältigen sozialen Annehmlichkeiten kollegialer Zusammenarbeit zu kommen, um drittens die persönliche Befriedigung der Ausführung einer sinnstiftenden Tätigkeit zu erfahren und um sich viertens auch als ein nützliches Mitglied der Gesellschaft betätigen und fühlen zu können (Jahoda 1983, Zilian 1999). All dies begründet die Annahme, dass jeder Mensch einen moralischen Anspruch auf Arbeit hat. Dieser Anspruch kann in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung jedoch nur bis zu einem gewissen Grade gewährleistet werden, weil gerade die Dynamik des Wettbewerbs, die ja einen der wesentlichen Vorzüge des Marktsystems darstellt, ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit unvermeidlich mit sich bringt. Denn dieser Wettbewerb treibt die Unternehmer ständig zur Suche nach neuen Produkten und kostengünstigeren Produktionsmethoden, was zu einer fortwährenden Umwälzung der Arbeitsverhältnisse führt, die immer wieder einen Teil der Erwerbstätigen zumindest kurzfristig arbeitslos macht. Ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit – vor allem an friktioneller Arbeitslosigkeit– muss daher jedenfalls in Kauf genommen werden, wenn man die Vorteile des Marktsystems haben will. Und ich denke, dass diese Vorteile den Nachteil der Arbeitslosigkeit unter zwei Voraussetzungen als akzeptabel erscheinen lassen: 1. wenn alle Anstrengungen unternommen werden, um die Arbeitslosigkeit auf ein so geringes Ausmaß zu begrenzen, dass Personen, die arbeitslos werden und 12

arbeitswillig sind, nicht auf Dauer von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen bleiben, und 2. wenn die Arbeitslosen für ihren Nachteil, den sie ja gewissermaßen im allgemeinen Interesse der Gesellschaft hinnehmen müssen, eine angemessene Entschädigung, also ein arbeitsloses Einkommen, erhalten. Das führt mich zur dritten Bedingung, die eine angemessene Grundsicherung verlangt. Das eben angeführte Argument sollte plausibel gemacht haben, dass zumindest diejenigen Personen, die unfreiwillig arbeitslos sind, gegenüber den Nutznießern der Marktwirtschaft einen Anspruch auf eine entsprechende Entschädigung, nämlich auf ein entsprechendes Arbeitslosengeld besitzen. Was ist aber mit jenen Leuten, die gar nicht arbeiten wollen, aus welchen Gründen immer? Es gibt sowohl ein moralisches als auch ein pragmatisches Argument dafür, auch diese Leute einen Anspruch auf gewisse Zahlungen haben. Das moralische Argument lautet, dass jedes Gesellschaftsmitglied — gleichgültig, ob es arbeitet oder nicht — grundsätzlich einen gleichen Anteil an allen jenen Ressourcen besitzt, die der Gesellschaft als ganzer gehören. Und das sind erste alle natürlichen Ressourcen, wie Land und Bodenschätze, einschließlich jener, denen einzelnen Personen ein Privateigentum eingeräumt worden ist, und zwei die Kenntnisse und Fertigkeiten, die das kulturelle Erbe der Gesellschaft bilden. Da es weder möglich noch zweckmäßig ist, diese Ressourcen in lauter einzelne Stücke zu teilen und jeder Person eines dieser Stücke zur wirtschaftlichen Nutzung zuzuteilen, dürfen alle jene, die diese Ressourcen anderen zur wirtschaftlich Nutzung überlassen, einen entsprechenden Anteil am Gewinn dieser Nutzung, also eine Art Überlassungsrente, beanspruchen. Infolgedessen gebührt auch jenen Personen, die — sei es aus Unfähigkeit oder Faulheit — nicht an der sozial Zusammenarbeit teilnehmen wollen bzw. können, eine angemessene Entschädigung gegenüber den Nutznießern dieser Zusammenarbeit, die ja stets von den Ressourcen Gebrauch machen muss, die allen gemeinsam gehören. Diese Entschädigung bildet gewissermaßen das Startkapital, das allen Gesellschaftsmitgliedern aus dem Topf der gesellschaftlichen Wertschöpfung zusteht. Dieses Argument beweist freilich nicht, dass auch die Faulenzer und Taugenichtse eine Entschädigung in gleicher Höhe erhalten sollten wie die unfreiwillig Arbeitslosem Unsere Intuition spricht wohl eher dafür, dass den letzteren eins höhere Entschädigung gebührt. Es gibt aber ein pragmatisches Argument, das meines Erachtens plausibel macht, dass es nicht viel Sinn macht, zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Arbeitslosen zu unterscheiden. Denn selbst wenn dies theoretisch und in manchen einzelnen Fällen auch praktisch möglich sein ma so ist es in der Alltagswelt kaum zweckmäßig, die Leute nach diesen beiden Kategorien zu sortieren. Eine solche Prozedur ist nicht nur extrem fehleranfällig weil die dafür erforderlichen Informationen meist nicht zur 13

Verfügung stehe sondern sie ist auch äußerst aufwendig und überdies gerade für die unfreiwillig Arbeitslosen entwürdigend, weil sie ständig ihren Arbeitswillen unter Beweis stellen müssen. Aus diesem Grunde ist es wohl besser, auf die Unterscheidung; zwischen freiwillig und unfreiwillig Arbeitslosen ganz zu verzichten und allen das, gleiche arbeitslose Einkommen zukommen zu lassen. Doch damit nicht genug. Wenn das erwähnte moralische Argument dafür zutrifft, dass jedes Gesellschaftsmitglied wegen seines Mitbesitzes an den gemeinsamen gesellschaftlichen Ressourcen gegenüber deren Nutznießern einen: Anspruch auf Entschädigung hat, dann kommt dieser Anspruch grundsätzlich auch allen jenen zu, die im Arbeitsleben stehen, weil sie ja aus dem ihnen daraus, erwachsenden Gewinn ohnehin alle jene Personen entschädigen müssen, die diese; Ressourcen nicht in Anspruch nehmen. Somit steht grundsätzlich allen Mitgliedern einer Gesellschaft eine Grundsicherung aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung zu, unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht. Und das ist nichts anderes als ein allgemeines Grundeinkommen. Davon werden allerdings jene nicht viel sehen, die aus ihrer Arbeit oder ihrem Vermögen ein einigermaßen anständiges Einkommen beziehen, weil sie das ihnen grundsätzlich zustehende Grundeinkommen gleich wieder über das Steuersystem abführen müssen, um die Einkommenstransfers für die Verlierer des Systems zu finanzieren. Wie aber soll dieses Grundeinkommen bemessen werden, welchen Umfang soll es haben? Falls angenommen wird, dass soziale Ungleichheiten entsprechend dem früher genannten Prinzip der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, dem Differenzprinzip, nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie auch den schlechtergestellten Mitgliedern zurn größtmöglichen Vorteil gereichen, so ergibt sich der folgende Vorschlag, den ich von dem belgischen Sozialphilosophen Philippe van Parijs übernehme: Das allgemeine Grundeinkommen muss das maximale Ausmaß haben, bis zu dem es unter den jeweils bestehenden wirtschaftlichen Bedingungen nachhaltig möglich ist, d.h. voraussichtlich auf lange Sicht aus dem Sozialprodukt der Gesellschaft finanziert werden kann, ohne die wirtschaftliche Wertschöpfung zu verringern, was wieder eine Veringerung des Grundeinkommens erzwingen würde (van Parijs 1995, S. 30 ff). Soviel über die grundsätzlichen Anforderungen, die meines Erachtens an eine kapitalistische Marktwirtschaft vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit zu stellen sind. Ich möchte nun abschließend noch in aller Kürze versuchen, einige konkretere politische Schlussfolgerungen aus dem bisher Gesagten zu ziehen.

14

9.3

Grundeinkommen und Beschäftigungspolitik

Eine Begrenzung und Regulierung des kapitalistischen Marktsystems durch den Staat ist und bleibt unverzichtbar, um dieses System mit den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit halbwegs in Einklang zu bringen und es moralisch akzeptabel zu machen. Insofern ist der Wohlfahrtsstaat in einer Welt, in der sich das Marktsystem durchgesetzt hat, eine moralische Notwendigkeit. Das ändert aber nichts daran, dass der Wohlfahrtsstaat in der speziellen Erscheinungsform, in der er gegenwärtig in den entwickelten Gesellschaften besteht, an mehr oder minder gravierenden Mängeln leidet, die maßgeblich zu dem schlechten Ruf beitragen, den er heute allerorten hat. Ich hebe nur zwei grundsätzliche Kritikpunkte hervor, die gegen den bestehenden Wohlfahrtsstaat immer wieder mit einem gewissen Recht vorgebracht werden: seine Oberkomplexität und Überbürokratisierung einerseits und seine unzureichende Wirksamkeit und Treffsicherheit andererseits (Prisching 1996, S. 213 ff). Der Wohlfahrtsstaat hat sich zu einer bürokratischen Organisation ausgewachsen, die eine beängstigende Machtfülle mit einer labyrinthischen Unübersichtlickeit verbindet. Sein Handeln wird durch eine selbst für wohlinformierte Personen nicht mehr überschaubare Fülle von Detailregelungen normiert, die ihn nicht nur sehr kostspielig, sondern auch missbrauchsanfällig machen. Damit Hand in Hand geht eine aufgeblähte Bürokratie, deren Teilbereiche sich oft wechselseitig blockieren und in der Nepotismus und Korruption gedeihen können. Da Entscheidungen dieser Bürokratie für die Bürger kaum noch durchschaubar sind werden sie selbst dann, wenn sie in korrekter Weise getroffen werden, vielfach willkürlich und entmündigend erlebt. Und dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Bürger ungleichen Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistung haben, zum einen deshalb, weil schon die Verteilung solcher Leistungen Regeln nach geschieht, die manche Gruppen auf eine nicht zu rechtfertigende Weise begünstigen, zum anderen aber auch deswegen, weil die vielfach ziemlich verschlungenen Wege der Inanspruchnahme solcher Leistungen zu einer Bevorteilung jener fuhren, die über bessere Kenntnisse, größere Durchsetzung macht oder rechtliche Unterstützung verfügen. Trotz seiner Machtfülle und überbordenden Bürokratie leidet der Wohlfahrtsstaat in seiner gegenwärtigen Gestalt aber auch an einer unzureichenden Wirksamkeit und Treffsicherheit seiner Politik. Die wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik versagt nicht nur insofern, als immer mehr Bürger aus dem bestehenden Netz der sozialen Sicherung herausfallen, sondern auch darin, dass sie das Ziel ein Umverteilung von den Gewinnern des Marktwettbewerbs zu dessen Verlierern weitgehend aus dem Auge verloren hat. So kann es geschehen, dass sich trotz wachsenden sozialen Reichtums wieder 15

Armut und Not ausbreiten und die Sch der wirtschaftlichen Ungleichheit immer weiter öffnet. Noch schlimmer steht mit der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die heute allerorten Platz gegriffen hat. Statt einer nachhaltigen Strategie der Beschäftigungssicherung welche die Arbeitslosigkeit an ihren strukturellen Ursachen bekämpft, behilft sich mit Maßnahmen, die nur auf den Gewinn von Wettbewerbsvorteilen für das eigene Land zu Lasten anderer gerichtet sind und die, wenn überhaupt, bloß kurzfristige Wirkungen zeitigen können, wie etwa die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, das Einfrieren der Löhne, die Subventionierung von Unternehmensansiedlungen und Steuervorteile für die Vermögenden. Dazu kommt die Verabschiedung einer ausgewogenen Konjunktur- und Fiskalpolitik zugunsten einer angebotsorientierten Geldpolitik, die durch ihre ausschließliche Fixierung auf Währungsstabilität vorwiegend den Vermögenden nützt. Wenn dieser Befund, der freilich eine Reihe von groben Verallgemeinerungen und Vereinfachungen enthält, im Grundsätzlichen auch nur einigermaßen zutrifft, dann ist es an der Zeit, den bestehenden Wohlfahrtsstaat grundlegend zu reformieren und nach neuen Formen seiner rechtlichen Verfassung und seiner bürokratischen Organisation zu suchen: nach Formen nämlich, die einfacher und transparenter sind und zugleich größere Wirksamkeit und Treffsicherheit haben. Natürlich gibt es kein Patentrezept, das alle Gebrechen des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Systems kurieren könnte, aber ich denke, dass eine Reform des Wohlfahrtsstaates, die mehr soziale Sicherheit und Beschäftigung bringen soll, jedenfalls die zwei folgenden Elemente einschließen muss, die den genannten Anforderungen der Einfachheit und der Zweckmäßigkeit weitgehend entsprechen: ein allgemeines Grundeinkommen und eine nachhaltige Beschäftigungspolitik. Ein allgemeines Grundeinkommen, auf das jeder Bürger unabhängig von seiner sozialen und ökonomischen Lage Anspruch hat, ist nicht nur im Lichte der sozialen Gerechtigkeit begründet, sondern auch vom Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und Praktikabilität das beste Mittel der flächendeckenden Daseinssicherung aller Bürger. Ein solches Grundeinkommen würde den undurchsichtigen Dschungel der wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik erheblich lichten, weil es viele der einzelnen Detailregelungen, mit denen die Sozialpolitik heute operiert, entbehrlich machen würde, und seine Durchführung wäre viel einfacher und transparenter. Darüber hinaus hätte es größere umverteilende Wirkungen, welche die Nachfrage stärken und damit zur Beschäftigungssicherung beitragen würden (Büchele/Wohlgenannt 1985; Opielka/Vobruba 1986; Vobruba 1990; van Parijs 1992). Ein zentrales Problem des allgemeinen Grundeinkommens ist – abgesehen von den politischen Widerständen, auf die es stößt – die Bestimmung seines richtigen Niveaus. Wie hoch muss das 16

Grundeinkommen angesetzt werden, wenn es, wie ich angenommen habe, das größtmögliche Niveau haben soll, bei dem es nachhaltig finanziert werden kann? Die Beantwortung dieser Frage ist sehr schwierig, weil sie empirische Kenntnisse über langfristige ökonomische Entwicklungen voraussetzt, über die es weder verlässliches Wissen noch Einigkeit gibt. Aber vielleicht ist es möglich, den folgenden Weg einzuschlagen, um sein Niveau näherungsweise zu bestimmen. Man könnte die Gesamtsumme der bisher getätigten Sozialtransfers als Ausgangspunkt verwenden und diese Summe um einen bestimmten Prozentsatz erhöhen, um mehr Umverteilung zu erreichen, die ja nach dem angenommenen Kriterium sicher erforderlich ist. Wenn das Niveau des Grundeinkommens für die erste Phase seiner Einführung auf diese Weise festgelegt worden ist, muss in der Folge beobachtet werden, welche Auswirkungen dieses Grundeinkommen auf die wirtschaftliche Wertschöpfung hat: ob es dazu führt, dass die Wertschöpfung und damit auch das Steueraufkommen sinkt, weil es zu viele Leute ermuntert, auf ein Erwerbseinkommen zu verzichten (dann ist es jedenfalls zu hoch), oder ob die Wertschöpfung weiter steigt (dann ist es möglicherweise zu gering). Unter einer nachhaltigen Beschäftigungspolitik verstehe ich eine Politik, die das Übel der Arbeitslosigkeit an seinen Wurzeln bekämpft statt sich mit dem Kurieren seiner Symptome zu begnügen. Es ist dabei zu sehen, dass auch eine solche Politik nicht in der Lage ist, fortdauernde Vollbeschäftigung zu sichern, weil in einem marktwirtschaftlichen System ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit unvemeidlich ist, so insbesondere friktionelle Arbeitslosigkeit, die aus dem ständigen Wandel Beschäftigungsverhältnisse entsteht. Eine nachhaltige Beschäftigungspolitik in daher vor allem

darauf

zielen,

den

strukturellen

und

konjunkturellen

Ursachen

Arbeitslosigkeit

entgegenzuwirken, um sie auf ein möglichst geringes Ausmaß drücken. Denn nur dann können die Nachteile und Kosten, die das Marktsystem den Arbeitslosen im gesamtgesellschaftlichen Interesse auferlegt, moralisch gerechtfertigt werden. Für eine nachhaltige Beschäftigungspolitik gibt es, soweit ich das als ökonomischer Laie sagen kann, zwar kein Wundermittel, aber offenbar doch eine Reihe von möglichen Maßnahmen, die dann, wenn sie in kluger Weise miteinander kombiniert eingesetzt werden, bis zu einem gewissen Grade wirksam sind. diesen Maßnahmen gehören insbesondere die breitere Verteilung der Arbeit durch eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit; die Entlastung der Arbeitskost durch eine Umschichtung der steuerlichen Lasten auf andere, die Beschäftigung weniger beeinträchtigende Quellen, wie z.B. auf den Konsum von Luxusgut oder den Energieverbrauch; eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die Investitionen gegenüber Spekulationen lohnender macht; und die Ergänzung de marktlichen Güternachfrage durch die öffentliche Förderung von "meritorischen Gütern und Leistungen, von 17

solchen also, die zwar weithin als erwünscht und wertvoll betrachtet werden, aber auf dem Markt nicht genügend zahlungskräftig Nachfrage finden, wie etwa soziale Dienste und kulturelle Aktivitäten (Rothschild: 1988; Friedrich/Wiedemeyer 1998). Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zugeständnis beenden, das vor allem an jene Leser gerichtet ist, die meinen politischen Vorschlägen mit Skepsis gegenüberstehen. Ich möchte nämlich soviel einräumen, dass die Möglichkeiten der politischen Umsetzung dieser Vorschläge auf ein ganz erhebliches Hindernis stossen: das ist der Umstand, dass die Sachzwänge des internationalen Wettbewerbs den politischen Handlungsspielraum der einzelnen Staaten möglicherweise schon soweit verengt haben, dass kein Land für sich alleine mehr zu einer Reform seines Wohlfahrtssystems schreiten kann, die den hier vorgetragenen Vorstellungen entspricht. Die Globalisierung, vor allem die wachsende

Mobilität

des

Finanzkapitals,

setzt

die

Staaten

unter

einen

beträchtlichen

Wettbewerbsdruck, der sie um kurzfristiger nationaler Vorteile willen eher veranlasst, das Wohlfahrtssystem zu demontieren als es planmäßig den Erfordernissen der Gegenwart und Zukunft anzupassen. Wir finden hier einen Teufelskreis von der Art des Gefangenen-Dilemmas auf internationaler Ebene vor: indem jedes Land versucht, die anderen um seiner eigenen nationalen Interessen willen zu unterbieten, stehen am Ende alle schlechter da als zuvor. Dieser Teufelskreis kann nur durch eine internationale Koordination der Sozial- und Beschäftigungspolitik durchbrochen werden. Doch dazu bedarf es geeigneter internationaler Institutionen, die auf eine entsprechende Abstimmung des Handelns der Einzelstaaten hinwirken und diesen Abstimmungen dann nötigenfalls auch gegen den Willen einzelner Länder Geltung verschaffen. Das wäre in der Tat eine lohnende Zukunftsaufgabe für die Europäische Union, die sich bisher vor allem darauf verlegt hat, die Dynamik der Marktkräfte zu mobilisieren, ohne sich viel um deren negative Folgewirkungen zu scheren.

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19

10 Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit John J McCall Konferenz 1999 Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit Inhaltsverzeichnis: 0.

Hans Kaiser & Dr. Helfried Faschingbauer: Vorwort: Aktivierung und Flexibilisierung

1.

Hans Georg Zilian: Einleitung: Ein straffes Wirtschaften - Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit

2.

Markus Marterbauer: Europäische Beschäftigungspolitik - erfolglose Symptomkur oder auf dem richtigen Weg zur Erreichung des Vollbeschäftigungsziels?

3.

Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

4.

Luc Sels & Geert Van Hootegem: Kommt es auf die temporäre Arbeitslosigkeit an? Ein Vergleich der Flexibilisierung der Arbeitswelt in Belgien und Holland

5.

Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

6.

Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

7.

Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

8.

Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

9.

Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitslosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

10.1

Europäische Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktflexibilität

Die Arbeitslosigkeit ist in Europa zu einem hartnäckigen und besorgniserregenden Problem geworden. Dies traf vor allem auf die letzten beiden Jahrzehnte zu, als sich zwischen den Arbeitslosenraten auf beiden Seiten des Atlantiks eine gewaltige Schere eröffnete. Die für die USA derzeit veröffentlichte Arbeitslosenrate beträgt 4,2%; in fast ganz Europa liegen diese Raten mit April 1999 in den zweistelligen Zahlen. Obwohl die jeweiligen Definitionen der "Arbeitslosigkeit" den Unterschied zwar leicht überschätzen mögen, ist er dennoch von beträchtlichem Ausmaß. Darüber hinaus verbergen die hohen Raten in Europa die Tatsache, daß Arbeitslosigkeit in identifizierbaren Populationen konzentriert ist. Es ist da nicht sehr verwunderlich, daß die öffentliche Meinung und die Politik in Europa auf ihrer Suche nach Lösungen neidvoll auf die USA blicken. Dieses Paper setzt sich mit einer häufig angeregten Lösung des Problems der europäischen Arbeitslosigkeit auseinander: Mit der Behauptung, daß die europäischen Arbeitsmärkte zu starr sind und daß sie dahingehend reformiert werden sollten, die Flexibilität des US-amerikanischen Markts nachzuahmen. Der Kern meiner Ausführungen bezieht sich tatsächlich auf ein Element der angeblichen europäischen Rigidität: Abfertigungszahlungen (oder Entlassungskosten). Bevor ich mich diesem Thema jedoch detailliert zuwende, möchte ich einige vorbereitende Bemerkungen machen und einige der Merkmale skizzieren, die den amerikanischen Arbeitsmarkt so flexibel erscheinen lassen. Diese Flexibilität ist das Ergebnis einer Anzahl unterschiedlicher politischer Strategien, von denen allesamt behauptet wird, sie würden sich auf den Arbeitsmarkt positiv auswirken. Dazu gehören: Arbeitslosenversicherung, Wohlfahrt/soziale Sicherheit und Abfertigungen. In den USA erhalten lediglich qualifizierte Arbeitskräfte, die ihre Beschäftigung ohne eigenes Verschulden verloren haben und die eine gewisse Mindestbeschäftigung in der jüngeren Vergangenheit aufzuweisen haben, Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Theoretisch gesprochen werden anspruchsberechtigte Arbeitskräfte mit Zahlungen im Ausmaß von 50% ihres früheren Lohnes entschädigt. Da es für diese Zahlungen allerdings eine Obergrenze gibt, werden besser bezahlte Arbeitskräfte keine fünfzigprozentige Ersatzrate vorzuweisen haben. Daher liegt im Schnitt die Ersatzrate unter 50%, und die Anwartschaftsbedingungen schränken die Anzahl der Empfänger ein (Rothstein 1987). Zahlungen werden für ein Maximum von 26 Wochen (dieses wurde vor kurz von 13 Wochen angehoben) geleistet, und während gravierender Rezession können sie um weitere 13 Wochen verlängert werden. Das System basiert gemeinsamen Anstrengungen des Bundes und der Bundesstaaten, weshalb es ein Ausmaß von Variation der Niveaus der Unterstützungen und der 3

225

Finanzierungsmechanismen gibt. Die meisten Staaten finanzieren den Versicherungstopf mit einer Steuer für Arbeitgeber, die nur zum Teil erfahrungsverankert (exp ence rated) ist. (Arbeitgeber, die häufiger entlassen, zahlen mehr, doch nur bis zu einer durch eine Formel festgelegten Höchstgrenze). Einige Staaten (wie z.B mein eigener) verlangen auch einen Beitrag der Beschäftigten durch eine Lohnsummensteuer. Die Sozialpolitik in den Vereinigten Staaten hat sich vor kurzem drastisch gewandelt. Sie war, gemessen an den europäischen Standards, niemals großzügig, doch die jüngsten Reformen haben sie noch weiter eingeschränkt. In vielen Fällen, wobei es wiederum unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Bundesstaaten gibt, stehen arbeitsfähigen Erwachsenen jetzt Arbeitslosenunterstützungen bis zu einer Obergrenze von 2 Jahren zur Verfügung. Nach diesem Zeitraum müssen die Bezieher zumindest 30 Stunden pro Woche beschäftigt sein, wobei die Unterstützungsleistungen in Abhängigkeit vom Einkommensniveau herabgesetzt werden. Für Unterstützungszahlungen besteht heute auch eine Obergrenze für arbeitsfähige Personen von 5 Jahren innerhalb der Gesamtlebensarbeitszeit. Abfertigungen sind in den USA nicht so weit verbreitet wie in Europa. leisten etwa 10-25% der großen und mittleren Unternehmen Abfertigungen ihre Beschäftigten der unteren Ebenen, wenn sie auf Grund von Fusion Personal abbauen. Typischerweise kommt in solchen Fällen ein Monatsgehalt (Zusatzleistungen ausgenommen) für jedes Dienstjahr, bis zu einem Maxim von 2 Jahresgehältern, zur Auszahlung (Paulin 1997). Es scheint auch der Fall zu sein, daß Abfertigungen in den besser bezahlten und gebildeteren Segmen der Belegschaften weiter verbreitet sind als im schlecht bezahlten und gewerkschaftlich nicht organisiertem Sektor (Büchtemann 1993). Theoretisch gesehen bringen diese Strategien, gemeinsam mit anderen Faktoren wie dem niedrigen gewerkschaftlichen Durchdringungsgrad (ca. 10%), ein höhere Arbeitsmarktflexibilität hervor. Das relativ gesehen nicht sonderlich großzügige Arbeitslosenunterstützungssystem dient als ernsthafter Anreiz für die Arbeitslosen, Arbeit zu finden. Im Unterstützungsbezug zu verbleiben, ist entweder keine attraktive Option oder überhaupt keine Option. Zusätzlich erhöht das Fehlen von Abfertigungen die Flexibilität der Arbeitgeber bei Einstellungen und Entlassungen. Je teurer es ist, Arbeitskräfte abzubauen, desto zurückhaltender werden ceteris paribus die Arbeitgeber bei Einstellungen vorgehen. Darüber hinaus wird der fehlende arbeitsrechtliche Schutz in Form von Abfertigungsiahlungen die Macht der Insider (der Arbeitsplatzinhaber), ihr Lohnniveau auf der gewohnten Höhe zu halten, herabsetzen, und dadurch das Niveau der Arbeitslosigkeit senken. (Ein wichtiger Erklärungsansatz, um die unterschiedlichen US-amerikanischen und europäischen Erfahrungen mit dem Arbeitsmarkt 4

herzuleiten, verweist auf eine verfallene Nachfrage nach niedrig qualifizierter Arbeitskraft. Diese Verlagerung wurde in den USA durch flexible Lohngestallung kompensiert. In Europa wird nach allgemeiner Auffassung ein Großteil der höheren Arbeitslosenrate auf die vergleichsweise höhere Lohnstarrheit zurückgeführt.) In maßgeblichen arbeitsmarktpolitisch relevanten und meinungsführenden Kreisen, z.B. in der Jobs Study der OECD aus dem Jahre 1994 und deren Employment Outlook aus dem Jahre 1996 wurde die Flexibilität des US-amerikanischen Arbeitsmarktes auf Grund derartiger theoretischer Spekulationen für anziehend erachtet. Die Reform des Arbeitslosenversicherungssystems, der Sozialhilfe und der Abfertigungsregelungen waren allesamt Teil des zur Lösung des Problems der europäischen Arbeitslosigkeit vorgeschlagenen Bündels von Maßnahmen. Die Europäer sollten allerdings bei ihrer Nachahmung des US-amerikanischen Arbeitsmarktmodells nichts überstürzen. Während nämlich die theoretischen Darstellungen eine ansprechende Einfachheit vorzuweisen haben, lassen neue empirische Resultate Zweifel hinsichtlich des US-amerikanischen Modells entstehen. Ohne hier

als Ökonom zu posieren,

möchte ich doch einige der

Forschungsergebnisse anführen, die jenen, die vom amerikanischen "Erfolg" beeindruckt sind, zu denken geben sollten. Erstens sollte die Erklärung, die auf die Nachfrageverschiebung und die Lohnstarrheit Bezug nimmt, vorhersagen, daß die Arbeitslosenraten der höher Qualifizierten und der niedriger Qualifizierten in den USA näher beieinanderliegen sollten als in Europa (da die niedrigeren Löhne in den USA dafür sorgen sollten, daß am unteren Ende des Arbeitsmarktes in höherem Ausmaß Einstellungen vorgenommen werden). Dies, so die empirischen Forschungsergebnisse, ist nicht der Fall (Schmitt/Mishel 1998, Howell et al. 1998). Zweitens ist die Lohnquote als Prozentsatz des Bruttosozialproduktes seit den 70er Jahren in Europa gesunken; 1997 lag sie bei 68,4%. In den USA blieb sie hei 71% relativ konstant. Dies läßt die Erklärung, die sich auf die größere Lohnstarrheit stützt, fragwürdig erscheinen (Pelagrides 1999). Tatsächlich gibt es Stimmen, die nahelegen, daß der europäische Arbeitsmarkt in den letzten Jahren sowohl hinsichtlich der Löhne als auch der Arbeitsbedingungen wesentlich flexibler geworden ist (Taylor 1996; The Economist, 12. Dezember 1998). Drittens sind die Raten der Arbeitsplatzschaffung in den USA zwar höher als in Europa, jedoch niedriger als in den 70er und den 80er Jahren. Tatsächlich Nordamerika die stärkste Verlangsamung dieser Arbeitsplatzschaffungsraten erlebt (Schmitt/Mishel 1998). 5

Schließlich sehen andere Wirtschaftsindikatoren für die Wirtschaft der USA nicht so gut aus wie die Arbeitslosenraten. In den Jahren 1992 bis 1998 war das Wachstum des Bruttosozialproduktes pro Kopf in Deutschland und den USA ungefähr dasselbe. In den USA stieg allerdings die Ungleichheit der Einkommensverteilung in einem Ausmaß, daß nun die reichsten 20% das neunfache Einkommen der ärmsten 20% haben, was darauf hinausläuft, daß die USA die am stärksten ungleiche Lohnverteilung

aller

industrialisierten

Länder

aufweisen

(The

Economist,

10.

April

1999;

Schmitt/Mishel 1998). Und Daten über Bruttosozialprodukt pro Arbeitsstunde zeigen, daß Deutschland und Frankreich die USA auf der Dimension der Produktivität im Jahr 1995 überholt haben (Schmitt/Mishel 1998). Es hat also den Anschein, als hätte die Rigidität europäischen Arbeitsmärkte die allgemeine Produktivität und das Wachstum Bruttosozialproduktes pro Kopf nicht behindert. Diese neuen empirisch Befunde lassen bezüglich der auf Arbeitsmarktflexibilität bezugnehmenden Erklärungen der europäischen Arbeitslosigkeit Zweifel entstehen. Dennoch bleiben die radikalen Unterschiede bei der Schaffung von Arbeits- plätzen (vor allem im Dienstleistungsbereich) und der Erfahrung der Arbeitslosigkeit zwischen Europa und den USA bestehen. Wir können daher mit weiteren intensiven Versuchen rechnen, den Arbeitsmarkt zu reformieren. Für den Rest dieses Aufsatzes würde ich mich gerne auf eine der in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Reformen beschränken – die Verringerung oder Abschaffung der Abfertigungszahlungen. Mein Argument wird dabei ein moralisches sein und zum Schluß gelangen, daß Beschäftigten, wenn sie einmal über ihre Einschulungszeit hinausgelangt sind, eine Abfertigung als ein Recht zusteht. Zwar handelt es sich hier um ein allgemeines Argument, das sich auf alle Entlassungen bezieht, doch argumentiere ich vor allem, daß strukturelle und dauerhafte Entlassungen der Beschäftigten einer Firma mit beträchtlichen Abfertigung- zahlungen verknüpft sein sollten, nämlich in einem Ausmaß von bis zu ein Jahresgehalt. Was ich dabei betrachten werde, ist die angemessene Verteilung des Nutzens der Kooperation zwischen Arbeit und Kapital. Dies ist im Grunde eine Frage miteinander konkurrierender Rechte – der Eigentümerrechte gegen die Rechte der Arbeitnehmer auf einen Anteil am Unternehmensgewinn. Ich werde eine Methode vorschlagen, um derartige miteinander in Konflikt stehende Ansprüche zu entscheiden. Auf der Grundlage dieser Methode werde ich argumentieren, daß Arbeitskräfte Abfertigungen verdienen und daß politische Bestrebungen, sie zu senken oder abzuschaffen, bekämpft werden sollten. Schließlich werde ich der die empirische Literatur zu den allgemeinen Beschäftigungseffekten von Abfertigungen zurückkommen. 6

10.2

Die Auflösung der Konflikte zwischen verschiedenen Rechten: Methode und Grundlagen

Wenn wir mit einander widersprechenden Ansprüchen konfrontiert sind, wie z.B. im Fall der Abfertigungen, dann brauchen wir ein systematisches Verfahren, um entscheiden zu können, welcher Anspruch den höheren Rang hat. Ich würde vorschlagen, daß eine derartige Bewertung erfordert, die Gründe zu analysieren, warum die miteinander in Konflikt geratenen Rechte überhaupt anerkannt werden sollten. Wir müssen uns daher über die fundamentalen Begründungen dieser Rechte verständigen. Im Konfliktfall können wir dann zu einer vernünftigen Entscheidung darüber gelangen, welcher Anspruch sich durchsetzen soll, indem wir uns fragen, welche Beeinträchtigung dieser fundamentalen Werte erfolgen würde, sollte im vorliegenden Fall eines der Rechte auch nur marginal eingeschränkt oder gänzlich ignoriert werden. Wir müssen also die Rechtfertigungen sowohl der Eigentumsrechte von Eigentümern als auch der Abfertigungsrechte von Beschäftigten betrachten. Private Eigentumsrechte sind Rechte, sein Eigentum zu kontrollieren und daraus Nutzen zu ziehen, und andere davon auszuschließen, daraus Nutzen zu ziehen oder dazu Zugang zu gewinnen. Diese mit dem Eigentum verknüpften Rechte wurden im allgemeinen unter Bezug auf Autonomie, Fairness und Nutzenerwägungen gerechtfertigt. Hier eine kurze Zusammenfassung dieser Argumente: Das Privateigentum wurde verteidigt, weil es Menschen den größtmöglichen Anreiz gibt, zu arbeiten und zu investieren, was das Gesamtniveau der wirtschaftlichen Tätigkeit und der dadurch hervorgebrachten Güter anhebt, und dadurch den kollektiven Lebensstandard erhöht. Es wurde als die einzige Institution beschrieben, bei der Arbeit angemessen belohnt wird, da das Eigentum jemanden, der "seine Arbeit mit der Natur vermengt', in die Lage versetzt, die Früchte dieser Arbeit zu genießen (Regeln des fairen Ertrages). Das Eigentum wurde auch als Quelle der Autonomie charakterisiert, da es Eigentümern zu einer stabilen und sicheren materiellen Basis verhilft, die sie davor schützt, sich allzusehr von der Großzügigkeit anderer abhängig zu machen. (Aus Gründen sowohl des zur Verfügung stehenden Raumes als auch der Relevanz wird sich der Rest der hier vorgelegten Analyse vor allem mit den Rechtfertigungen der Eigentumsrechte befassen, die auf Autonomie und Fairness zurückgreifen. Nutzenerwägungen schlagen sich in den vorher angesprochenen ökonomischen Analysen nieder.) Es ist interessant, daß Abfertigungen ebenfalls auf Grund von Erwägungen die auf Autonomie und Fairness abstellen, gerechtfertigt werden können Abfertigungszahlungen anläßlich von Entlassungen werden in Hinblick auf ihren instrumentellen Beitrag zur Fähigkeit der Arbeitskraft begründet, ein gewisses Ausmaß von Unabhängigkeit und ein gewisses Ausmaß von Kontrolle über wichtige Aspekte ihres eigenen Lebens zu bewahren. Auch können sie fairer Ertrag für den in das kooperative 7

Produktionsunterfangen eingebrachten Beitrag und die dabei eingegangen Risiken verteidigt werden, sowie als fairer Anteil des Nutzens und der Belastungen dieses Unterfangens. Eine Bewertung dieser miteinander in Konflikt geratenen Ansprüche die Frage auf, welcher Anspruch zurücktreten muß und welchem der Vorrang gebührt. Man kann zu einer Antwort auf diese Frage gelangen, indem man darüber befindet, ob eine marginale Einschränkung der Eigentümerrechte auf die Kontrolle und den Nutzen und den Ausschluß anderer vom Untemehmensvermögen die Prinzipien der Autonomie und der Fairness weniger beeinträchtig würde, als die Weigerung, die damit konkurrierenden Ansprüche der Arbeitskräfte anzuerkennen. Das heißt, daß wir uns im Hinblick auf das Prinzip der Autonomie fragen, ob die Fähigkeit der Eigentümer, ihre Unabhängigkeit und die Kontrolle über ihr Leben zu bewahren, von der Einrichtung von Abfertigungszahlen stärker betroffen wären, als die Unabhängigkeit und die Kontrolle über das eigene Leben einer Arbeitnehmerin, die ohne Abfertigungszahlungen abgebaut wird. Im Hinblick auf die Idee der Fairness entsteht die Frage, ob eine Kündigung ohne Abfertigungszahlungen den fairen Ertrag der jeweiligen Beiträge und des eingegangenen Risikos der Arbeitskräfte und der Investoren ergäbe, oder ob die Einrechnung einer Abfertigung eine fairere Aufteilung des Nutzens und der Belastungen wäre. Man könnte vorerst von der Annahme ausgehen, daß Erwägungen der Autonomie und der Fairness uns dazu bringen sollten, zugunsten von Abfertigungszahlungen zu argumentieren. Man muß sich hier vor Augen halten, daß die aus dem Unternehmenseigentum stammende Unabhängigkeit und Sicherheit im Grunde im Geldwert der Investition besteht, während die mit der Beschäftigung verknüpfte Unabhängigkeit und Sicherheit von der Verläßlichkeit des erarbeiteten Lohneinkommens abhängt. Entlassungen und Kündigungen finden unter sehr verschiedenen Bedingungen statt. Manchmal steigt dadurch der Wert der Firmenanteile, wenn die Senkung der Arbeitskosten als Signal einer positiven zukünftigen Entwicklung gedeutet wird. In anderen Fällen verweisen sie auf einen Börsenwert, der weiterhin im Keller liegen wird. Nur selten allerdings bedeutet Personalabbau, daß die Investoren ihre Gesamtinvestition einbüßen werden. Daher wird in den meisten Fällen der Wert der Firmenanteile entweder steigen oder nur marginal sinken, wenn Personalabbau erfolgt. Darüber hinaus verfügen die meisten Investoren über einen Anlagemix, der die Auswirkungen von Verlusten, die mit einer Firma oder einem Sektor verknüpft sind, mildert. Die Investoren verfügen daher weiterhin über Werte, die ein gewisses Ausmaß der Unabhängigkeit und Sicherheit gewährleisten. Arbeitskräfte hingegen, die ohne Kündigungsfrist oder Abfertigungszahlungen entlassen werden, haben allerdings im allgemeinen höhere Verluste hinnehmen müssen, nachdem sie nicht nur ihr Lohneinkommen und firmenspezifisches Humankapital (z.B. Seniorität) eingebüßt haben und sich auch mit der 8

Schwierigkeit konfrontiert sehen, einen anderen Arbeitsplatz zu finden. Für die meisten Menschen bedeutet heute das Lohneinkommen jene Sicherheit und Unabhängigkeit, die früher über das Eigentum von Land vermittelt wurde (und das war die ursprüngliche Idee, die der Behauptung, Eigentum könnte die Autonomie stärken, zugrunde lag). Gekündigte Arbeitskräfte, vor allem wenn sie seit längerem in der betreffenden Firma beschäftigt waren, müssen nachhaltige Beeinträchtigungen ihres wirtschaftlichen Fortkommens und ihrer Unabhängigkeit hinnehmen; dies sind Schocks, von denen sie sich häufig nie mehr gänzlich erholen (Blair 1995). Allerdings müssen wir bei dieser Einschätzung Vorsicht walten lassen. Manchmal, wenn Arbeitskräfte über Geschicklichkeiten von hohem Marktwert verfügen, können ihre Entlassungskosten niedrig sein; und manchmal kann sogar eine marginale Verringerung des Investitionswertes eine gravierende Beeinträchtigung der Unabhängigkeit und der Sicherheit bedeuten, wie z.B. bei älteren Menschen in den USA, die von variablen Zahlungen abhängen, die an die Börsenkurse gekoppelt sind. Des weiteren könnten Abfertigungszahlungen auf kleinere Familienunternehmen größere Auswirkungen haben als auf größere Firmen. Schließlich wird die relative Auswirkung auf die Autonomie von einer großen Zahl ökonomischer Rahmenbedingungen abhängen, wie z.B. dem Vorhandensein oder dem Fehlen von Arbeitslosenunterstützungen und unentgeltlichen Gesundheitsleistungen. Dennoch gibt es Gründe, um vorerst nahezulegen, daß die Auswirkungen auf die persönliche Autonomie typischerweise größer sind, wenn Arbeitskräfte keine Abfertigungen erhalten, als wenn Arbeitgebern die Pflicht auferlegt wird, Abfertigungen zu zahlen. Wenn die vorhergehenden Überlegungen zutreffen, dann verlagert sich die Beweislast auf jene, die argumentieren möchten, daß Abfertigungsregelungen alles in allem die Autonomie beeinträchtigen. Eine Analyse unter dem Blickwinkel der Fairness scheint ähnliche Resultate zu liefern. Die Berufung auf den produktiven Beitrag und das Risiko legt, wie wir gesehen haben, nahe, daß sowohl die Interessen der Investoren als auch jener der Beschäftigten in Betracht gezogen werden müssen, wenn die wirtschaftlichen Umstände Entlassungen erforderlich machen. Ein zusätzliches Argument, das an die Idee der Fairness anknüpft, ließe sich gewinnen, wenn wir Rawls' Begriff des "Schleiers der Unwissenheit" mit seiner Maximin Entscheidungsregel heranziehen und uns fragen, gegen welches Ergebnis wir uns am ehesten absichem wollten, wenn wir unsere eigene Stellung im Wirtschaftssystem nicht kennen: Investitionsverluste oder Einbußen beim Lohnei kommen.

9

10.3

Erwiderungen und Reaktionen

Mit Widerstand gegen diese Schlußfolgerungen ist zu rechnen. Zwei kritische Reaktionen sind von besonderer Bedeutung. Eine räumt ein, daß die Autonomie - abstrakt gesprochen – beeinträchtigt wird,

wenn

Arbeitsplätze

verloren

gehen.

Sie

behauptet

jedoch,

daß

die

sozialen

Hintergrundinstitutionen moderner fortgeschrittener Wirtschaftssysteme in Wirklichkeit dazu dienen, die Auswirkungen von Arbeitsplatzverlusten zu minimieren. In den USA werden die Gegner von Abfertigungsrechten z.B. behaupten, daß die Verfügbarkeit von Arbeitslosenversicherungszahlungen und von Wohlfahrtsleistungen die Auswirkungen des Arbeitsplatzverlustes derart abfedern, daß Untemehmungsleistungen im Falle der Kündigung moralisch nicht verpflichtend seien. Eine theoretische Variante dieser Reaktion würde argumentieren, daß entlassene Arbeitskräfte zwar Unterstützung verdienen, doch daß diese Unterstützung eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft ist und nicht jene des letzten Arbeitgebers. Eine zweite denkbare Reaktion stammt aus dem libertären Lager und argumentiert, daß weder die Pflicht, die Autonomie zu respektieren, noch jene andere Menschen fair zu behandeln, verletzt wird, wenn Arbeitskräfte ohne Abfertigungszahlungen gekündigt werden. Diese Reaktion geht davon aus, daß es den Beschäftigten ja frei stand, anläßlich der Einstellung derartige Zahlung zu vereinbaren. Wenn sie auf derartige Vorteile verzichtet haben, dann können wir annehmen, daß sie ex ante für das Risiko des Arbeitsplatzverlustes durch höhere Löhne entschädigt wurden. Also gewährleisten die frei vereinbaren Vertragsbedingungen, daß sowohl die Prinzipien der Autonomie als auch jene der Fairness respektiert werden (Epstein 1984, Narveson 1992). Daher bestün- den keine Gründe, um die Rechte von Beschäftigten auf Kündigungsfristen und Abfertigung herzuleiten.

Marktautonomie

Wir können uns zuerst der Schlüssigkeit des Argumentes, daß der Markt Autonomie garantiert, zuwenden. Eine Antwort auf dieses Argument verlangt, daß wir sowohl die Bedeutung des Begriffs "Autonomie" als auch die Frage behandeln, in welchem Ausmaß die tatsächlichen Arbeitsmarktabläufe die Merkmale der idealen Märkte der Ökonomen aufweisen, vor allem ein vollständiges Wissen über Alternativen, Mobilität zwischen Alternativen und selbstverständlich die Existenz solcher Alternativen. Klarerweise 10

sollte der wirkliche Markt diese idealen Merkmale entweder aufweisen oder nicht aufweisen. Wenn er sie aufweist, dann würden wir erwarten, daß für Arbeitskräfte, die keine Abfertigungen vereinbart haben, Lohnprämien existieren. Es gibt allerdings keinen Grund zur Annahme, daß es derartige Lohnprämien gibt. Man könnte sogar vermuten, daß Angestellte, die über Abfertigungsrechte verfügen, ganz allgemein bessere Angebote erhalten, als jene, die keine derartigen Rechte haben. Es gibt empirische Hinweise darauf, daß Arbeitsplatzsicherheit häufig mit einem hohen Lohnniveau verbunden ist (Büchtemann 1993). Wenn jedoch, wie der vorhergehende Absatz zum Ausdruck bringt, der Arbeitsmarkt der USA nicht die Merkmale des idealisierten Marktes der Ökonomen besitzt, dann wird das Argument, daß Wettbewerbsmärkte Autonomie und Fairness garantieren, ernsthaft unterminiert. Unter dieser Annahme dürfte die Tatsache, daß der Markt die Unternehmensleitungen nicht dazu zwingt, Abfertigungszahlungen zu garantieren, nicht bedeuten, daß die Arbeitnehmer keine Abfertigung wünschen, sondern eher nahelegen, daß die Arbeitgeber am Verhandlungstisch über mehr Machtressourcen verfügen. Es gibt einige Gründe zur Annahme, daß diese Machtasymmetrie besteht. Im allgemeinen können es sich Unternehmen eher leisten, auf die Beschäftigung einer Einzelperson zu verzichten, als diese Person es sich leisten kann, auf diesen speziellen Job zu verzichten. Das sollte niemanden, außer jene, die völlig im Bann der Ideologie des freien Marktes stehen, überraschen. Diese sehr reale Machtasymmetrie auf dem Arbeitsmarkt spricht gegen die Behauptung, daß Abfertigungsrechte nicht notwendig sind, um Autonomie und Fairness zu schützen. Diese letzte Beobachtung zwingt uns dazu, ein weniger genauer darüber nachzudenken, was wir mit "Autonomie" meinen, und warum wir ihr moralischen Wert beimessen. Autonomie ist die Fähigkeit, begründete Entscheidungen darüber zu treffen, wie man sein Leben leben möchte. Einer ihrer notwendigen Bestandteile ist ein gewisses Ausmaß von Kontrolle über wichtige Aspekte des eigenen Lebens. Wirkliche Autonomie muß auf mehr hinauslaufen als bloß auf die Fähigkeit, die Angebote, die seitens des Marktes, der Regierung oder anderer Personen gemacht werden, anzunehmen oder zurückzuweisen. Wenn "Autonomie" darauf beschränkt wäre und wenn sie der Art von Entscheidungen, die eine Person treffen muß, keine Beschränkungen auferlegte, dann wäre es schwierig, ihren moralischen Stellenwert herzuleiten. Würde Autonomie lediglich bedeuten, daß man Entscheidungen treffen kann, dann wären wir gezwungen zuzugestehen, daß ein autoritäres, totalitäres Regime die Autonomie respektiert, solange es nur die ungehinderte Auswanderung zuläßt; oder wir wären auch gezwungen, dasselbe vom Räuber zu behaupten, der mir die Wahl zwischen 11

"Geld oder Leben" läßt. Wenn Autonomie lediglich die formale Fähigkeit ist, begründete Entscheidungen zu treffen, dann ist Autonomie ein moralisch leeres Ideal. Damit die Autonomie stattdessen ihre moralische Bedeutsamkeit erlangt muß sie fordern, daß die Angebote, zwischen denen wir wählen müssen, keine wichtigen menschlichen Interessen gefährden. Sie muß daher den Individuen ein zentrales Ausmaß von Kontrolle über ihr Leben zugestehen, ohne daß diese für diese Kontrolle bezahlen müssen, indem sie die Bedingungen, die eine lebenswerte menschliche Existenz konstituieren, aufgeben. In der Praxis kann daher eine adäquate Analyse der Autonomie von jenen Vorstellungen nicht abgetrennt werden, die sich auf die Elemente beziehen, die für Menschen das Gute ausmachen. Dieses Bild der Autonomie legt vermutlich nahe, daß Arbeitnehmer angesichts der Zentralität der Arbeit in unserem Leben Anrecht auf eine Garantie haben, daß ihr Überleben nicht durch abrupte Lohneinbußen bedroht wird. Das Argument, daß der individuellen Autonomie vom Markt adäquat Rechnung getragen wird, kann nicht überzeugen. Stattdessen würde ich eher argumentieren, daß der Autonomie besser gedient wäre, indem man den Arbeitskräften Abfertigungsrechte einräumt und dadurch gegenwärtige Konzeptionen der Rechte der Unternehmenseigentümer, andere von der Nutznießung des Unternehmens

auszuschließen,

marginal

reduziert.

Bei

einer

derartigen

Ausweitung

von

Abfertigungsrechten gewinnen Angestellte die Fähigkeit, über wichtige Ereignisse in ihrem Leben ein größeres Ausmaß von Kontrolle zu gewinnen. Individuelle Eigentümer müssen dabei eventuell gewisse Einbußen hinnehmen, doch wird ihre Investition selbst nicht ernsthaften größeren Risiken ausgesetzt. Daher verfügen die einzelnen Eigentümer noch immer über jene Autonomie, die vom gesicherten Besitz einer materiellen Basis des Wohlstandes gewährleistet wird. (Dies trifft selbstverständlich nicht auf jene Fälle zu, wo der Personalabbau aus einer Insolvenz resultiert, die die Investitionen der Eigentü- mer zerstört. Das Argument trifft in diesem Zusammenhang nur zu, wenn die Firma weiter besteht.)

Fairness auf dem Markt

Mag sein, daß eine ähnliche Analyse auf den Zusammenhang zwischen Abfertigungs- und Eigentumsrechten einerseits und den gemeinsamen grundlegenden Wert der Fairness andererseits zutrifft. Man könnte sich ein Argument vorstellen, daß Arbeitskräfte, die über Abfertigungsrechte verfügen, eher die Gewähr haben, daß ihren Interessen in fairer Weise Rechnung getragen wird, und 12

daß die individuellen Eigentümer genügend Rechte über ihr Untemehmensvermögen bewahren, um ihnen einen fairen Ertrag ihrer Investition zu garantieren. Schlimmstenfalls könnten die Eigentümer ein gewisses Ausmaß an Vermögenseinbuße erleiden. Typischerweise wird auf diesen Vorschlag durch den Hinweis reagiert, daß die Investoren die Erträge deshalb verdienen, weil sie das Risiko eingegangen sind, oder weil ihre Investition das Unternehmen erst geschaffen hat. Dies ignoriert allerdings die Tatsache, daß auch die Beschäftigten am Arbeitsplatz große Risiken eingehen und ebenfalls in essentieller Weise zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Weder das eingegangene Risiko noch der Beitrag zum Geschäftserfolg kann, wie wir sehr bald sehen werden, hinreichende Gründe für die Behauptung abgeben, daß die Investoren die einzigen gerechtfertigten Ansprüche auf den wirtschaftlichen Ertrag des Unternehmens hätten. Offensichtlich tragen sowohl die Firmeninhaber als auch die Beschäftigten zum Unternehmenserfolg bei; bei Fortfallen einer der beiden Parteien würde die Firma zu existieren aufhören. Man könnte jedoch zur Auffassung gelangen, daß die Firmeneigentümer, da sie am Beginn des Prozesses standen, durch den die Organisation geschaffen wurde, sich einen Anspruch auf das im Eigentum verankerte Recht, andere vom wirtschaftlichen Nutzen des Unternehmens auszuschließen, erworben hätten. In den meisten heutigen Unternehmungen standen jedoch die Inhaber nicht am zeitlichen Beginn der Existenz der Organisation. Meiner Vermutung nach wurde die Mehrheit der Firmenanteile erworben, nachdem die Firma bereits die Produktion aufgenommen hatte. Jedenfalls ist nicht klar, daß der Tatsache, daß jemand am zeitlichen Beginn der Organisation stand, eine hinreichende moralische Bedeutung zukommen könnte, um den Ausschluß anderer Personen, die zum Firmenerfolg beigetragen haben, von den späteren Erträgen der Firma zu rechtfertigen. Was relevanter erscheint, ist die Tatsache, daß die Beiträge beider Parteien logisch notwendig sind, damit es überhaupt Produktion geben kann. Was das Risiko betrifft, wird sehr häufig darauf hingewiesen, daß die Inhaber von Firmenanteilen als Träger des verbliebenen Risikos den Anspruch hätten, aus der Firma Nutzen zu ziehen. Arbeitnehmer, so die Behauptung, seien für ihre Risiken bereits durch die von ihnen vereinbarten Löhne entschädigt worden. Diese Position läßt sich aus einer Reihe von Gründen nicht halten. Die Angestellten müssen am Arbeitsplatz gesundheitliche Risiken eingehen. Diese Risiken sind zwischen und innerhalb von Berufskategorien verschieden verteilt. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, daß Personen, deren Arbeit riskanter ist, eine Risikoprämie erzielen könnten, wie von der skizzierten Position nahegelegt wird (MacCarthy 1981). 13

Arbeitskräfte nehmen auch das Risiko auf sich, daß die Firma sich nicht durchsetzen kann, und daß sie daher ihre Arbeitsplätze verlieren. Während sich die Shareholder gegen derartige Risiken absichern können, indem sie ein Portfolio von Firmenanteilen erwerben, sind Arbeitskräfte im allgemeinen nicht in der Lage, in verschiedenen Firmen gleichzeitig eine Karriere zu verfolgen (Klare 1989, O'Connor 1991). Daher ist es vernünftig, zum Schluß zu kommen, daß auch die Arbeitskräfte bedeutende wirtschaftliche Risiken auf sich nehmen, wenn sie sich dafür entscheiden, für eine bestimmte Firma zu arbeiten. Bedeutsamer ist allerdings die Tatsache, daß es ziemlich problematisch ist zu behaupten, daß die Beschäftigten durch in der Vergangenheit bezogene Löhne für ihre Risiken und Anstrengungen entschädigt werden. Diese Behauptung übersieht die Bedeutung interner Arbeitsmärkte für ein Verständnis der Ökonomie der Beschäftigung. Arbeitnehmer entwickeln im allgemeinen nach einer jugendlichen Phase des raschen Arbeitsplatzwechsels langfristige Beziehungen zu Firmen (Weiler 1990). Sind Arbeitskräfte einmal für längere Zeit bei einer bestimmten Firma beschäftigt, dann tätigen sie allmählich und in stets zunehmendem Ausmaß "Investitionen" in die Firma. Es ist klar, daß Arbeiter am Arbeitsplatz soziale Beziehungen knüpfen, die nur schwer ersetzt werden können. Sie erwerben firmenspezifische Fertigkeiten, die nicht so ohne weiteres übertragen werden können und auf den externen Arbeitsmärkten auch nicht so wertvoll sind wie innerhalb der Firma. Sie erwerben im allgemeinen auch die Auszahlungen der Senioriät (höhere Löhne, Ansprüche auf frei werdende Positionen, größere Beförderungschancen, größere Arbeitsplatzsicherheit bei einer zyklischen Nachfrageschwankung) sowie Pensionsansprüche. Angesichts dieser firmenspezifischen Investitionen ist es nicht überraschend, daß es Hinweise darauf gibt, daß die Kosten, die der Arbeitskraft aus der Entlassung entstehen, mit der Dauer des Arbeitsverhältnisses ansteigen (Blair 1995). Arbeitskräfte, die all diese Investitionen getätigt haben, werden es nicht leicht finden, an einem neuen Arbeitsplatz Bedingungen vorzufinden, die von der Einkommenshöhe und von anderen Auszahlungen her mit dem alten Job mithalten können, vor allem da die Arbeit am neuen Arbeitsplatz auf dem niedrigsten Niveau der Seniorität beginnen wird. Neuere

ökonomische

und

betriebswirtschaftliche

Analysen

erklären

derartige

interne

Arbeitsplatzmerkmale, indem sie auf den Nutzen verweisen, den Finnen daraus beziehen, daß sie den internen Arbeitsmarkt in dieser Weise strukturieren (Cappelli/Singh 1992, Gerhart et. al. 1992, Osterman 1992, Büchtemann 1993, Lazear 1993, Blair 1995). Viele dieser Praktiken binden den Arbeitnehmer enger an die Firma, indem sie die Kündigung mit höheren Kosten verbinden. Die Firmen reduzieren auf diese Weise die möglichen Verluste, die aus den Einstellungs- und den 14

Einschulungskosten entstanden sind, wenn ein Arbeitnehmer freiwillig geht. Finnen, die die Lohnhöhe oder den Wert einer Firmenpension an die Dienstzeit des Arbeitnehmers koppeln, lösen dadurch auch das Problem, die Leistung der Arbeitskraft zu überwachen. Wenn der Lohn im Laufe der Zeit ansteigt, dann erzeugen Firmen einen Anreizmechanismus, der die Wahrscheinlichkeit senkt, daß der Arbeitnehmer zuwenig Leistung erbringt, wobei gleichzeitig der Bedarf an beständiger und kostspieliger Leistungskontrolle reduziert wird. Da die Arbeitnehmer mehr zu verlieren haben, wenn sie wegen ungenügender Leistungen entlassen werden, kann dann die Intensität der Überwachung gesenkt werden. Im Grunde versprechen Firmen zukünftige aufgeschobene Kompensation als Mittel, eine erhöhte Produktivität bei gesenkten Managementkosten zu erreichen. Je länger die Arbeitskraft also bei einer Firma bleibt, desto höher ist ihre Investition in ihren Arbeitsplatz. Diese arbeitnehmerischen Investitionen sind allerdings der opportunistischen Ausbeutung durch Arbeitgeber ausgesetzt. Der implizite Kontrakt, der höhere zukünftige Löhne und/oder Sozialleistungen im Gegenzug für eine aktuelle Loyalität gegenüber der Firma verspricht, ist in den USA rechtlich nicht durchsetzbar (Weiler 1990). Wenn es z.B. zu Betriebsabsiedelungen oder zu Entlassungen auf Grund von Fusionen oder Rationalisierungen kommt, dann werden den entlassenen Arbeitskräften die implizit versprochenen zukünftigen Vorteile vorenthalten. Wenn wir gemeinsam mit einer stets wachsenden Zahl von Wirtschaftswissenschaftlern und Betriebswirtschaftlern einsehen, daß das Versprechen höherer Löhne und sonstiger zukünftiger Vorteile, Teil eines wirtschaftlichen Abkommens ist, das die Arbeitgeber aus Eigennutz abschließen, wird es überdeutlich, daß auch die Arbeitnehmer innerhalb des Unternehmens einige Risiken auf sich nehmen. Es ist auch klar, daß vergangene Löhne und sonstige Leistungen nicht als hinreichende Entschädigung für die Anstrengung und das Risiko des Angestellten aufgefaßt werden können. Die Behauptung, daß sie hinreichend wären, behandelt Arbeitsmärkte als Warenmärkte. Die Merkmale interner Arbeitsmärkte können jedoch nicht erklärt werden, wenn sie nach dem Muster von einfachen Warenmärkten gedeutet werden. Es hat also nicht den Anschein, daß der Wert der Fairness, ob er nun im Beitrag zum Unternehmenserfolg oder im Risiko gegründet wird, ein brauchbares theoretisches Fundament für die Behauptung abgeben könnte, daß Eigentumsrechte die Abfertigungsansprüche der Arbeitskräfte "stechen". Es scheint vielmehr so zu sein, daß Eigentümer und Angestellte miteinander das Risiko tragen und gemeinsam ihren Beitrag leisten, und daß daher beide aus dem ökonomischen Wert der Firma Nutzen beziehen sollten. Das ist selbstverständlich gleichbedeutend mit der Anerkennung von Abfertigungsrechten für Beschäftigte. 15

Staatliche Garantien der Fairness gegenüber Beschäfftigten und ihrer Autonomie

Als Replik auf den Einwand, der sich auf das Arbeitslosenversicherungssystem bezieht, lassen sich eine Reihe von Beobachtungen anstellen. Erstens hat der Arbeitsplatzverlust Auswirkungen, die über die Einbuße des Lohneinkommens hinausreichen. Es gibt psychologische Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und auf das Gefühl der persönlichen Sicherheit. Hinzu treten die firmenspezifische Investition und die Senioritätsrechte. Zweitens sind die Arbeitslosenunterstützungsleistungen und die Sozialhilfe im Regelfall nicht hoch genug, um in jedem Fall das verlorengegangene Einkommen zu ersetzen, zumindest nicht in den USA. Das Arbeitslosengeld beträgt oft wesentlich weniger als die Hälfte des früheren Lohneinkommens (Rothstein 1986). Schließlich bedeutet die Überwälzung der Verantwortlichkeit für eine Milderung der Auswirkungen von Entlassungen auf öffentliche Versicherungsprogramme die Umverteilung des Nutzens und der Belastungen von Personalabbau. Sie verlangt von der allgemeinen Öffentlichkeit, von anderen Arbeitgebern (die das Versicherungsprogramm mitfinanzieren) und manchen Beschäftigten (bei jenen Systemen,

bei

denen

auch

Arbeitnehmerbeiträge

eingehoben

werden),

die

Kosten

des

Personalabbaus in einer bestimmten Firma zu subventionieren. Man könnte argumentieren, daß diese Kosten sinnvollerweise zuerst jenen aufgebürdet werden sollten, die in der Vergangenheit aus dem Handeln des Unternehmens, das nun seine Belegschaft verkleinert, profitiert haben (und die auch in der Zukunft vom Steigen der Aktienkurse profitieren werden). Aus diesen Gründen scheint es angemessen, an der arbeitgeberischen Verpflichtung festzuhalten, Abfertigungszahlungen zu leisten. Dennoch sollte es – abgesehen von den weiter oben durchgeführten Präzisierungen – keinen prinzipiellen Einwand dagegen geben, daß die Öffentlichkeit einen Anteil der Kosten übernimmt, wenn die Auswirkungen der Entlassung von Arbeitskräften abgefedert werden sollen. Die in Europa übliche Politik, Kurzarbeit während zyklischer Konjunkturabschwünge zu subventionieren, ist ein Beispiel einer öffentlichen Kostenbeteiligung. Es lohnt

sich

allerdings

festzuhalten,

Unterstützungsprogramme

verweisen

daß

der

kann,

konsistente da

solche

Libertäre

nicht

Programme

aus

auf

öffentliche

eben

jener

Zwangsbesteuerung finanziert werden, die den Libertären ein Greuel sind. Man könnte auch anmerken, daß die Rahmenbedingungen die Verpflichtungen, die spezifische Akteure in sozialen und wirtschaftlichen Kontexten haben, beeinflussen können. Das heißt, daß die Verpflichtung, Abfertigung zu zahlen, vom Grad der Unterstützung, die entlassenen Mitarbeitern aus öffentlichen Quellen gewährt wird, abhängt und sozial bedingt ist. Es ist allerdings ironisch, daß das 16

US-amerikanische

Modell,

das

sich

bei

der

Besteuerung

von

Arbeitgebern,

um

das

Arbeitslosenversicherungssystem zu finanzieren, teilweise auf vergangene Erfahrungen stützt, sowohl die Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung als auch die Tendenz zum Personalabbau verstärkt. Dadurch entsteht ein moral hazard, wenn Arbeitgeber in einer Art und Weise handeln, bei der die Kosten ihrer eigenen Entscheidungen auf andere Parteien überwälzt werden, was es um so dringlicher macht, die Verpflichtungen der Unternehmen gegenüber ihren Arbeitskräften beim Personalabbau in Erinnerung zu rufen.

10.4

Empirische Belege zu den Auswirkungen von Abfertigungszahlungen

Auch wenn man die von mir vorgebrachten Argumente akzeptiert, bleibt noch immer eine Frage offen: Könnten nicht Abfertigungen die Arbeitslosenraten in signifikantem Ausmaß nach oben treiben? Könnte dann nicht die Rechtfertigung, die auf Autonomie und Fairness beruht, gegen die Abfertigungen – und zwar wegen ihren Auswirkungen auf die Arbeitslosen – ins Treffen geführt werden? Das ist eine Frage, die ernst genommen werden muß. Obwohl sich hier einige Erwiderungen finden ließen, die auf konzeptuellen Erwägungen basieren, möchte ich im folgenden lediglich die empirische Literatur zu dem Beschäftigungseffekten von Abfertigungen in der gebotenen Kürze kommentieren. In dieser Literatur herrscht zwar keineswegs Einstimmigkeit, doch gibt es weitgehende Übereinstimmung dahingehend, daß Abfertigungen nur vernachlässigenswerte Effekte auf das Niveau der Arbeitslosigkeit haben (Raynauld/Vidal 1998, Leat 1998, Schmitt/Mishel 1998, Palley 1998, Howell et al. 1998, Blank 1994, Blank/Freeman 1994, Büchtemann 1993, Abraham/Houseman 1993, Abraham/Houseman 1994). Angesichts des schieren Ausmaßes von empirischen Belegen, die diese Schlußfolgerung nahezulegen scheinen, könnte es sehr wohl so sein, daß dieser Einwand gegen Abfertigungen irregeleitet ist. Schlimmstenfalls könnte es sich herausstellen, daß längere Phasen der Arbeitslosigkeit durch längere Beschäftigungsepisoden kompensiert werden, weshalb die aggregierten Arbeitslosenraten weitgehend unbeeinflußt bleiben. Da allerdings das gravierendste Problem der Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich besteht, halte ich es für zweifelhaft, daß eine Einschränkung der Abfertigungen

die

Arbeitslosenraten

dieser

Gruppe

erhöhen

könnten.

Vielleicht

wären

Lohnsubventionen und Schulungsinitiativen wirksamere und humanere Alternativen. Freilich bleibt noch immer fraglich, ob das Arbeitslosigkeitsproblem eine Folge der zurückgegangenen Nachfrage 17

und einer steuerlichen und monetären Sparpolitik ist, statt von Abfertigungsregelungen und anderen „Rigiditäten" des Arbeitsmarktes.

10.5

Schlußfolgerung

Dieses Papier hat argumentiert, daß wir Arbeitskräften ein vorläufiges und vermutliches moralisches Recht auf Abfertigungszahlungen im Kündigungsfall zusprechen sollten. Das Argument ist lediglich vorläufig und basiert auf Vermutungen, da die wirtschaftlichen und ökonomischen Nettoeffekte solcher Garantien noch genauer diskutiert werden müßten, ebenso wie eine weitere Analyse zeigen könnte, daß noch zusätzliche Gründe für ein derartiges Beschäftigtenrecht sprechen könnten. Dennoch läuft das Argument darauf hinaus, daß aus Gründen der persönlichen Autonomie und der Fairness die Eigentumsrechte von Eigentümern in geringfügiger Weise eingeschränkt werden sollten. Das heißt, daß das allgemeine in den USA übliche Bild der Eigentumsrechte, die Eigentimer dazu berechtigen, ihre Angestellten davon auszuschließen, auf diese Weise von den Unternehmenserfolgen zu profitieren, im Fall von Entlassungen revidiert werden sollte. Das Argument ist auch dahingehend vorläufig, daß noch sehr viel über die Bedingungen, unter denen dieses Recht bestehen sollte, und die Bedingungen, unter denen Ausnahmen zugestanden werden sollten, gesagt werden müßte. Es wurde nichts über jene Fälle gesagt, wo das Unternehmen gänzlich aufhört zu existieren (obwohl es auch in solchen Fällen meiner Auffassung nach noch Möglichkeiten gäbe, für Abfertigungsrechte zu plädieren). Auch haben wir der Frage, auf welche Arten von Firmen und auf welche Unternehmensgröße dieses vermutliche Recht eingeschränkt werden sollte, noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Sollte z.B. das Recht auf Abfertigungen im Fall von Kleinunternehmen oder im Fall von Firmen im Privatbesitz eingeschränkt werden? Trotz dieser Beschränkungen der Analyse verschiebt das Argument die Beweislast auf jene, die leugnen möchten, daß der Anspruch auf Abfertigungen ein moralisches Recht von Beschäftigten darstellt.

(Aus dem Englischen von H. G. Zilian)

18

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20

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2.

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Bill Jordan & Jørn Loftager: Arbeitsmarktaktivierung in Großbritannien und Dänemark

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Thomas Kieselbach: Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Perspektiven eines zukünftigen Umgangs mit beruflichen Transitionen

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Margareta Kreimer: Flexibilisierung und Sozialstaat: Neue Sicherungsstrategien und deren Konsequenzen für Frauen

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Jörg Flecker, Manuela Blum, Christoph Hermann: Beschäftigung als Thema von Verhandlungen in Unternehmen: Zeichen beschäftigungspolitischer Verantwortung oder Mittel zum Abbau sozialer Besitzstände?

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Richard Sturn: Soziale Sicherung und ihre Reform: Treffsicherheit und Grundeinkommen

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Peter Koller: Beschäftigung und soziale Sicherheit im Lichte sozialer Gerechtigkeit

10.

John J. McCall: Personalabbau und Arbeitgeberverantwortlichkeit

11.

David Fryer: Unsicherheit, Strukturwandel der Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

KONFERENZ 1999 – SOZIALE SICHERHEIT UND STRUKTURWANDEL DER ARBEITSLOSIGKEIT Strukturierung und Erfahrung der Arbeitlosigkeit sind heute einem dramatischen Wandel unterworfen, der von der Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse in den entwickelten Wirtschaftssystemen bestimmt ist. In diesem Zusammenhang treten sowohl empirisch als auch normative Fragen auf, die sich auf die Implikation dieser Veränderungen für die Situation von Arbeitslosen und für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme beziehen: so kann hier etwa sowohl nach der Funktionalität als auch nach der moralphilosophisch fundierten Rechtfertigung des vorraussetzungslosen Grundeinkommens gefragt werden. Im vorliegenden Band finden sich daher philosophische Beiträge Seite an Seite mit sozialwissenschaftlichen Arbeiten aus mehreren Disziplinen. Es ist dies ein differenzierter und vielschichtiger Zugang zu einem der zentralen politischen Probleme unserer Tage, der allerdings sehr selten an die Fragestellung herangebracht wird. Renommierte Fachleute betrachten an Beispielen, die aus der internationalen Praxis und Diskussion gegriffen werden, das komplexe Ineinanderspiel gesetzlicher Regulierungen und wirtschaftlicher Entwicklungstendenzen von normativen und von empirischen Erwägungen. Eine Dokumentation der Internationalen Konferenz 1999 in Graz „Soziale Sicherheit und Strukturwandel der Arbeitslosigkeit" der Denkwerkstätte Graz, im Auftrag des Arbeitsmarktservice Steiermark.

Die Erlaubnis zur elektronischen Veröffentlichung im Rahmen der www.denkwerkstaette.net-Website wurde vom Verlag am 04.11.2005 erteilt. Der vorliegende Text kann sich (geringfügig) vom Text aus dem veröffentlichten Buch unterscheiden.

Original in Buchform erschienen: Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 3-87988-533-8 1. Auflage,2000 © 2000 Rainer Hampp Verlag München und Mering Meringerzeller Str. 10, D – 86415 Mering www.Hampp-Verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

2

11.1

Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

Arbeitslosigkeit gefährdet die psychische Gesundheit; zwar hat man sich seit zumindest 200 Jahren (Burnett 1994, Garraty 1978, Keyssar 1986) über die sozialen, körperlichen und psychischen gesundheitlichen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit den Kopf zerbrochen, doch hat man den Sachverhalt zumindest seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts außer Zweifel gestellt (Bakke 1933; Eisenberg/Lazarsfeld 1938, Jahoda 1938/1987, Lazarsfeld et al. 1933, Pilgrim Trust 1938). Der Befund wurde in den achtziger Jahren durch ein beträchtliches Ausmaß empirischer Forschung bestätigt und wird derzeit in ziemlich komplexen Reviews und Meta-Reviews immer wieder festgehalten. Forschungen, die die Beziehung zwischen der Arbeitslosigkeit und der psychischen Gesundheit analysiert haben, wurden in zahlreichen industrialisierten Ländern der "Ersten Welt" durchgefiihrt: Australien (z.B. Feather 1992, Winefield et al. 1993), Österreich (z.B Kirchler 1985, Moser/Paul 1999), Belgien (z.B. van Heeringen/Nanderplasschen 1999), Kanada (z.B. Goldenberg/Kline 1997), Finnland (z.B. Lahelma/Kangas 1989, Virtanen 1993), Irland (z.B. Whelan 1992), Deutschland (z.B. Kronauer et al. 1993), Italien (z.B. Gatti 1935, Pugliese 1993), Holland (z.B. Engbersen et al. 1993, Verhaar et al. 1996), Neuseeland (z.B. Barnett et al. 1995, Drewery 1998), Norwegen (z.B. Claussen/Bertran 1999, Westin 1990, Ytterdahl 1999), Spanien (z.B. Varela Novo 1999), Schweden (z.B. Brenner et al. 1989, Janlert/Hammerstrom 1992), USA (z.B. Dooley et al. 1992, Hamilton et al. 1993, McLloyd 1989) sowie auch in Großbritannien (siehe Fryer/Ullah 1986, Smith 1987, Warr 1987). Mit ihrer sorgfältigen Einbettung der Details in den jeweiligen Kontext, ihrer kreativen Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden, der Integrität ihrer Feldforschung und ihren kühlen und innovativen Konzeptualisierungen (Jahoda 1938/1987; Lazarsfeld et al. 1933) sind die frühen Gemeindestudien

weiterhin

Musterbeispiele

vorzüglicher

empirischer

Forschung.

Einige

Gemeindestudien aus jüngerer Zeit brauchen den Vergleich mit diesen klassischen Studien nicht zu scheuen (Bostyn/Wight 1987, Pappas 1989, Wight 1993),doch im allgemeinen war die neuere Forschung von dekontextualisierten quantitativen Querschnitt- und Längsschnittsurveys beherrscht, bei denen Skalen mit nachgewiesener Reliabilität und Validität verwendet wurden, um die psychische Gesundheit in verschiedenen Operationalisierungen zu messen. Diese Untersuchungen spielten bei der Entwicklung des Forschungsgebietes eine wichtige Rolle. In gut geplanten Längsschnittuntersuchungen wurden die Karrieren von großen, sorgfältig gematchten Stichproben von Personen verfolgt, wie sie bezahlte Arbeit annahmen und wieder verloren, wie sie 3

aus der Schule in Beschäftigung abgingen und dann wieder in Arbeitslosigkeit, von der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung usw. Studie auf Studie kam zum selben Befund: Gruppen, die während des Verlaufs der Untersuchung arbeitslos wurden, wiesen eine Verschlechterung der durchschnittlichen psychischen Gesundheit auf, verglichen mit Gruppen, die stetig in Beschäftigung standen. Einige der überzeugendsten quantitativen Längsschnittanalysen bezogen sich auf Jugendliche. Typischerweise wurde in diesen Untersuchungen die psychische Gesundheit großer Gruppen von Jugendlichen in der Schule gemessen; darauf wurden die Arbeitsmarktkarrieren dieser Jugendlichen verfolgt, wobei in periodischen Abständen die psychische Gesundheit jener, die Arbeitsplätze fanden, und jener, die dies nicht taten, gemessen wurde und die Gruppendurchschnitte im Querschnitt und im Längsschnitt verglichen wurden. Eine Studie nach der anderen zeigte, daß arbeitslose Jugendliche eine schlechtere psychische Gesundheit aufwiesen als gleichaltrige in Beschäftigung, doch ließen sich zwischen diesen Gruppen nur selten statistisch signifikante Unterschiede nachweisen, während sie noch zur Schule gingen (eine der vergleichsweise seltenen Ausnahmen stellt Hammerstrom 1994 dar), das heißt, in der großen Mehrheit der Fälle wurde festgestellt, daß ein schlechter psychischer Gesundheitszustand die Folge der Veränderung des Arbeitsmarktstatus - und nicht deren Ursache ist. Kurz gesprochen, lieferten solche Untersuchungen schlagende Beweise dafür, daß die Arbeitslosigkeit einen beeinträchtigten psychischen Gesundheitszustand verursacht, statt lediglich aus ihm zu resultieren. Es gab viele derartige Studien, doch drei Forschungsprogramme erwiesen sich als besonders einflußreich. Das erste war das Programm, das in den 80er Jahren an der Social and Applied Psychology Unit in Sheffield, England, durchgeführt wurde (siehe Wan 1987), wo sich eine Überblicksdarstellung findet; detailliertere Auskünfte finden sie bei den folgenden Autoren in verschiedenen Permutationen: Banks/Jackson 1982, Fryer/Ullah 1987, Payne et al. 1984, Stafford et al. 1980. Das zweite Forschungsprogramm wurde an der Flinders University in Süd-Australien durchgeführt (siehe Feather 1992, O'Brien 1986). Das dritte war jenes der University ofAdelaide (siehe Winefield et al. 1993). In jüngster Zeit wurde in ausgeklügelten Meta-Reviews von neuem festgestellt, daß an dem hier erörterten Prozeß soziale Kausalität beteiligt ist (Moser/Paul 1999, Murphy/Athanasou 1999). Um ein Beispiel zu geben: Nach einer Meta-Review von 16 Längsschnittstudien, die sich auf valide und verläßliche Messungen stützten und in den letzten 10 Jahren in einer englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wurden, kamen Murphy Athanasou (1999) zum Schluß, daß "... die Ergebnisse der 16 Längsschnittuntersuchungen nahelegen, daß Arbeitslosigkeit stabile 4

(negative) Auswirkungen den psychischen Gesundheitszustand hat". Sie hielten auch fest, daß "Inform an über das Ausmaß der Effekte darauf verweist, daß der Übertritt von Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung nicht nur eine reliabel nachweisbare Veränderung der psychischen Gesundheit bewirkt, sondern auch eine Veränderung, die 'praktisch signifikant' ist". Es war nie auch nur entfernt plausibel, daß Massenarbeitslosigkeit von Massenepidemien psychischer Krankheit, die manchmal auf bestimmte Organisatio- nen beschränkt war, verursacht sein könnte. Dies hat dennoch einige Politik und Beobachter nicht davon abgehalten, die Vermutung zu formulieren, daß der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und schlechter psychischer Gesundheitsverfassung am besten dadurch zu erklären sei, daß Leute mit einem schlechteren psychischen Gesundheitszustand eine höhere Wahrscheinlichkeit hätten, arbeitslos zu werden und zu bleiben ("individuelles Abdriften" oder "Selektion"). Dies hat aus ihrer Sicht den Vorzug, daß es den Arbeitslosen die Schuld an ihrer mißlichen Lage zuweist und Regierungen und die Wirtschaft von der Verantwortung für die gesundheitlichen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit freispricht. Freilich schaffen in manchen Einzelfallen vorher bestehende psychische Gesundheitsprobleme eine PräDisposition dafür, daß Menschen ihre Arbeit verlieren und/oder unfähig sind, eine solche wiederzufinden. Jedoch sind auch in solchen Fällen soziale Verursachungsprozesse nicht so ohne weiteres auszuschließen. Zum Beispiel schrauben manche Arbeitgeber in der wirtschaftlichen Rezession ihre Auswahlkriterien für Neueinstellungen in die Höhe, mit dem Ergebnis, daß Menschen aus geistigen oder körperlichen gesundheitlichen Gründen in einer Phase des Wirtschaftszyklus von der Beschäftigung ausgeschlossen sind, die unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen Arbeitsplätze gefunden hätten (Catalano/Kennedy 1998). Hinzu kommt, daß manche Menschen, die auf Grund von vorher bestehenden psychischen Gesundheitsproblemen ihre Arbeit verlieren, sich mit einer Situation konfrontiert sehen, wo ihre psychischen Probleme durch soziale Verursachungsprozesse verschärft werden. Schließlich ist es auch so, daß manche Personen, deren schlechte psychische Gesundheitsverfassung es schwierig macht, sie zu beschäftigen, wegen vorhergehender pathogener Arbeitsmarkterfahrungen in schlechter psychischer Gesundheitsverfassung sind: Der Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit, Arbeitslosigkeit und Wiederbeschäftigung muß im Kontext der sich über die Zeit erstreckenden dynamischen Arbeitsmarkterfahrung interpretiert werden. Andere begriffliche und methodologische Tatbestände, die nahelegen, daß die Dichotomie zwischen sozialer Verursachung und individuellem Abdriften falsch sein könnte, werden ausführlicher in Fryer (1997) und Winefield/Fryer (1996) erörtert. 5

Als Zwischenschlußfolgerung können wir festhalten, daß die hier und anderswo beschriebenen Untersuchungen die meisten auf diesem Gebiet tätigen Forscher und Forscherinnen davon überzeugt haben, daß Arbeitslosigkeit psychische Konsequenzen hat, die negativ, weitverbreitet und manchmal sehr einschneidend sind.

11.2

Das Ausmaß des Problems der Arbeitslosigkeit

Die Zahl der Menschen, die dem Risiko der negativen psychologischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, ist gewaltig, wenn sie auch im allgemeinen unterschätzt wird. Bis vor kurzem erfaßte die offizielle Messung der Arbeitslosigkeit im Vereinigten Königreich die Anzahl der Personen, die Arbeitslosengeld bezogen. Auf der Basis dieser Zählmethode gab es im September 1999 1.209.600 Personen, die im Vereinigten Königreich Arbeitslosenunterstützung bezogen. Diese Meßmethode leidet jedoch für den vorliegenden Zweck unter gravierenden Mängeln, da die britischen Regierungen im Verlauf der letzten Jahre aus politischen und administrativen Gründen eine große Anzahl von Veränderungen der Anspruchsbedingungen für den Bezug der Unterstützung (die nun "Arbeitsuchendenunterstützung" heißt) vorgenommen wurde. Immer strengere Kriterien haben immer mehr Leute vom staatlichen Unterstützungssystem ausgeschlossen, was zusätzlich das politisch wünschenswerte Ergebnis zeitigte, die Anzahl der nach offizieller Zählung existierenden Ar-beitslosen, wie sie in den Schlagzeilen verlautbart wurde, herabzusetzen. Eine Veränderung der Anzahl der Menschen, die nicht mehr als arbeitslos gezählt werden, lief nicht immer auf dasselbe hinaus wie eine Veränderung der Anzahl der Menschen, die aufhörten, arbeitslos zu sein. Aus diesen und noch weiteren Gründen wird häufig die Definition der International Labour Organisation (WO) vorgezogen: Ihr zufolge werden Personen als arbeitslos gezählt, wenn sie in der Erhebungswoche keine bezahlte Arbeit geleistet haben, wenn sie innerhalb der vergangenen 4 Wochen Arbeit gesucht haben und bereit sind, binnen zwei Wochen eine neue Arbeit anzunehmen. Unter Verwendung dieser Zählweise gab es im August 1999 im Vereinigten Königreich 1.714.000 Arbeitslose. Da zu den psychologischen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit auch Depressionen und Entmutigung zählen, wäre zu erwarten, daß nach einer gewissen Zeit manche Arbeitslose aufhören, aktiv Arbeit zu suchen — doch könnte es noch immer angemessen sein, sie als arbeitslos zu zählen. Daher erfaßt eine weitere Meßmethode für das Phänomen der Arbeitslosigkeit (jene des Broad Labour Force Survey) all jene, die angeben, sie hätten gerne eine Arbeit, und bereit sind, innerhalb der 6

nächsten beiden Wochen zu arbeiten zu beginnen, jedoch nicht unbedingt aktiv Arbeit gesucht haben (weil sie meinen, daß es keine Arbeitsplätze gibt, nach denen es sich zu suchen lohnte, oder daß, auch wenn sie einen Job fänden, ihnen dieser nicht angeboten würde usw. usf.). Aufgrund dieser Erfassungsmethode gab es im Vereinigten Königreich während der erwähnten Periode 2.396.000 Arbeitslose. Auch dies kann noch immer die Anzahl der Personen, die Arbeit suchen, gravierend unterschätzen. Wenn wir zusätzlich die Vollzeitäquivalente jener in Schulungsmaßnahmen und jener Arbeitskräfte, die unfreiwillig Teilzeitarbeit verrichten, einbeziehen, dann steigt die Arbeitslosenzahl für das Vereinigte Königreich auf 4,6 Millionen Menschen; es ist dies die sogenannte "slack labour force" (Bivand 1999). Bisher haben wir lediglich über die Arbeitslosensituation im Vereinigten Königreich gesprochen. Für 1996 ermittelte die ILO für die Länder der OECD eine Arbeitslosenziffer von 34 Millionen. Für die ganze Welt geht die ILO von einer Arbeitslosenanzahl von ungefähr einer Milliarde aus (Milne/Ryle 1996). Dennoch sind im Vereinigten Königreich die Arbeitslosenziffern gesunken, und zwar bei Verwendung aller Zählmethoden. Sogar die Meßzahl der slack labour force fiel von 16% der ökonomisch aktiven Bevölkerung des Vereinigten Königreichs im Juni bis August 1997 auf 15% im Jahre 1998 und 14,3% heute (Bivand 1999). Weltweit gesehen sagt die OECD für die elf Länder der Euro-Zone der EU ein Sinken der Arbeitslosigkeit von 10,4% im Jahre 1999 auf 8,9% im Jahre 2001 vorher, während die Arbeitslosigkeit in allen OECD-Ländem von einem Durchschnitt von 9,4% im Jahre 1999 auf 8,3% gegen Ende des Jahres 2001 fallen soll (Atkinson 1999). Angesichts der negativen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit für die psychische Verfassung, wie sie oben diskutiert wurden, sollten diese allem Anschein nach sinkenden Arbeitslosenziffern nicht eine Frohbotschaft für jene, die sich über die öffentliche Gesundheit Sorgen machen, bedeuten?

11.3

Der "flexible Arbeitsmarkt"

Zieht man die 60er Jahre als Vergleichsperiode heran, dann wurde der britische Arbeitsmarkt üblicherweise als von männlicher Beschäftigung in dauerhaften, sicheren, gewerkschaftlich organisierten Vollzeitjobs in Großunternehmen in der produzierenden Industrie dominiert aufgefaßt. Dies war selbstverständlich immer eine unvollständige Charakterisierung, doch gibt sie ein nicht gänzlich inadäquates Bild einer männlich dominierten Normalvorstellung. Sicherlich besteht heute 7

weitgehende Übereinstimmung dahingehend, daß bereits seit längerem eine Verschiebung von männlicher zu weiblicher, permanenter zu temporärer, Vollzeit- zu Teilzeit-, gewerkschaftlich organisierter zu deregulierter und produzierender zu dienstleistender Beschäftigung stattfindet (Leadbeater/Martin 1998, RSA 1997). Im Verlauf ungefähr der letzten 20 Jahre gingen Millionen Vollzeitarbeitsplätze verloren und wurden Millionen Teilzeitarbeitsplätze geschaffen (Ford 1995). Jedoch waren fast drei Viertel der seit 1992 geschaffenen Jobs befristete Teilzeitjobs, und kurzfristige Beschäftigung und Beschäftigung auf Werkvertragsbasis nimmt zu (RSA 1997). Während zumindest einiger Perioden bestanden fast 90% der allgemeinen Zunahme der Beschäftigung aus temporären unsicheren Arbeitsverhältnissen (The 7rades Union Council 1995). In

dem

auf

das

Jahr

1975

folgende

Jahrzehnt

fiel

die

Durchschnittsdauer

des

Beschäftigungsverhältnisses von Männern von knapp über 8 Jahren auf 61/2 Jahre, und sie fiel seither auf einen Rekordtiefstand (Leadbeater/Martin 1998). 1992 hatten 9,3% der Arbeitskräfte in der EU befristete Arbeitsverträge, wobei mehr als drei von fünf derartigen Jobs im Bereich der unqualifizierten oder niedrigqualifizierten Tätigkeiten zu finden waren (De Grip et al. 1997). Während des Jahrzehnts seit 1984 hat sich die Anzahl der männlichen Teilzeitkräfte in Großbritannien verdoppelt (Cooper 1998), doch betrug die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen im Vereinigten Königreich noch immer das Fünffache der teilzeitbeschäftigten Männer. 1991 verfügten ungefähr 15% der europäischen Beschäftigten über einen Teilzeitarbeitsplatz, und der Prozentsatz steigt von Jahr zu Jahr. Allerdings gibt es gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Ländern: In den Niederlanden beruht 30% der Beschäftigung auf Teilzeitbasis, verglichen mit 3,4% in z.B. Griechenland. 56% der Teilzeitarbeit in der EU wird von schlecht qualifizierten (und schlecht bezahlten) Arbeitskräften verrichtet, und doppelt soviele Frauen wie Männer sind teilzeitbeschäftigt (De Grip et al. 1997). Im Jahre 1996 erfaßte und analysierte die Scottish Low Pay Unit die 6.142 offenen Stellen, die in 28 Geschäftsstellen der Arbeitsmarktverwaltung auflagen. Knapp über 40% dieser Jobs waren Teilzeitarbeitsplätze, wobei 20% weniger als 16 Stunden Arbeit pro Woche anboten und knapp über 15% waren befristet. Dreiviertel der aufliegenden offenen Stellen waren mit einem Stundenlohn von £4 oder weniger verbunden, wobei fast ein Drittel der offenen Stellen mit einem Lohn verknüpft war, der unter der Geringfigigkeitsgrenze lang. Wie die Autoren des Berichtes anmerkten, würde unter diesen Umständen "bezahlte Arbeit lediglich eine große Anzahl von Personen aus der Armut ohne Arbeitseinkommen in Armut mit Arbeitseinkommen überführen" (Unemployment Unit, 1997/1998). 8

Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Im Mai 1999 anläßlich ihres Jahrestref-fens in Paris empfahl die OECD

ihren

Mitgliedsländem,

die

Arbeitswelt

flexibler

zu

gestalten:

arbeitsrechtliche

Schutzbestimmungen sollten abgeschafft werden; es solle darauf geachtet werden, daß die Mindestlöhne für Jugendliche nicht zu hoch sind; man sollte von Arbeitslosenunterstützung zu Lohnsubventionen übergehen (Coyle 1999). Teilzeitarbeit, Leiharbeit, Werkverträge, Saisonarbeit, agency

work,

Heimarbeit,

Telearbeit,

Scheinselbständigkeit,

Selbständigkeit

und

informelle

Arbeitsverhältnisse sind allesamt im Zunehmen begriffen (Delsen 1991). In Europa wird der Ausdruck "flexible Beschäftigung" allgemein verwendet, um sich auf diesen ungenießbaren Cocktail von Beschäftigungsverhältnissen zu beziehen. Es werden allerdings auch sehr viele andere Ausdrücke verwendet: "Umwälzung des Arbeitskräftepotentials"; "versteckte Arbeitslosigkeit"; "Unterbeschäftigung"; "contingent workforce"; "Karrieren der auf dem Arbeitsmarkt Benachteiligten";

"atypische

Beschäftigung",

"prekäre

Beschäftigung';

"Abweichungen

vom

Normalarbeitsverhältnis" (Beukema/Valkenburg 1999, Cooper 1998, Crompton 1999, Delsen 1991, Dooley/Catalano 1999, Fryer 1995). In Summe "hat die kontinuierliche Neustrukturierung und Globalisierung der Ökonomie die Natur der Arbeit verändert. Arbeitskräfte, die an gutbezahlte sichere Ganztagsarbeitsplätze gewöhnt waren, sind in zunehmendem Ausmaß nicht mehr von Arbeitslosigkeit, sondern von wenig attraktiven Arbeitsformen betroffen" (Dooley/Catalano 1999).

11.4

Konsequenzen

der

"wenig

attraktiven

Arbeitsformen"

für

den

psychischen

Gesundheitszustand

Welche psychologischen Konsequenzen hat die Teilnahme an flexiblen Arbeitsmärkten, und wie stellen sie sich im Vergleich zu jenen von Arbeitslosigkeit dar? In einer neueren Untersuchung der Joseph Rowntree Foundation (Burchell et al. 1999) berichteten die Befragten, daß sich während der letzten fünf Jahre die Anzahl ihrer Arbeitsstunden erhöht hatte und daß sie schneller arbeiten mußten, bei einem weniger adäquaten Beschäftigtenstand. Der in der Arbeit erfahrene Leistungsdruck war mit einer schlechten psychischen Verfassung und mit angespannteren familiären Beziehungen verknüpft. Während in der Europäischen Union die Wochenarbeitszeit allgemein gesunken ist, ist sie in Irland und im Vereinigten Königreich interessanterweise angestiegen, wobei die britischen Beschäftigten nun über die längste Arbeitswoche in ganz Europa verfügen. 9

Der flexible Arbeitsmarkt hat sich im Vereinigten Königreich vermutlich weiter und schneller entwickelt als in allen anderen europäischen Ländern, und nach Cooper (1998) hat deprimierenderweise eine ISR-Untersuchung (1995) von 400 Unternehmen in 17 Ländern, mit über 8 Millionen Beschäftigten in ganz Europa, festgestellt, daß während der letzten 10 Jahre das Zufriedenheitsniveau der britischen Arbeitskräfte von 64% im Jahre 1985 auf 53% im Jahre 1995 gefallen ist; dies ist der stärkste Rückgang, der in irgendeinem europäischen Land zu verzeichnen war. Nach Dooley/Catalano (1999) tritt in den Vereinigten Staaten "Unterbeschäftigung (unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung oder ein Lohnniveau an der Armutsgrenze) immer häufiger auf und scheint gesundheitliche Auswirkungen zu haben, die jenen der Arbeitslosigkeit ähnlicher sind als jenen der adäquaten Beschäftigung". Bereits im Jahre 1938 wurde angemerkt, "lediglich einen Arbeitsplatz zu haben, ist per se nicht so wichtig wie das Gefühl der ökonomischen Sicherheit. Jene, die ökonomisch unsicher sind, egal ob sie beschäftigt

oder

arbeitslos

sind,

weisen

eine

schlechte

psychische

Verfassung

auf'

(Eisenberg/Lazarsfeld 1938, S. 361; siehe auch Cobb/Kasl 1977, wo klassische psychologische Forschungen in diesem Bereich dargestellt sind). Fortschritte bei der Klärung der phänomenologischen und begrifflichen Aspekte der Arbeitsplatzunsicherheit stellten sich mit Hartley et al. (1991) ein, die den Begriff der "Arbeitsplatzunsicherheit" als den "fundamentalen und unfreiwilligen Übergang vom Glauben, daß die eigene Position in der Arbeitgeberorganisation sicher ist, zu einem Glauben, daß sie es nicht ist", erläuterten (Hartley et al. 1991, S. viii). Untersuchungen dieser Autoren in Israel, den Niederlanden und in Großbritannien zeigten, daß Arbeitsplatzunsicherheit mit der Erfahrung

der

Machtlosigkeit

verbunden

ist,

mit

beeinträchtigter

psychischer

Gesundheit

(Depressionen und Berichte psychosomatischer Symptome), mit reduzierter Arbeitsplatzzufriedenheit, mit herabgesetztem Engagement für die Organisation, verringertem Vertrauen in das Management und Widerstand gegen den Wandel und einer Verschlechterung der industriellen Beziehungen. Burchell et al. (1999) liefern ebenfalls eine Darstellung der Ergebnisse einer Sekundäranalyse von Daten aus relevanten Quellen, aus Tiefeninterviews und einer Befragung von Beschäftigten auf allen Hierarchieebenen in 20 Organisationen, die mit einer Fülle von Arbeitsaufgaben betraut waren: Produktion, Transport, Detailverkauf, Bildung, Gesundheitswesen usw. Das Forschungsteam fand, daß während der letzten Jahre die Arbeitsplatzunsicherheit sowohl für Männer und Frauen in Vollzeitoder Teilzeitbeschäftigung stetig zugenommen hat und nun höher ist, als sie jemals seit 1945 war. Während die Arbeitsplatzunsicherheit üblicherweise als Problem des blue-collar-Sektors betrachtet wurde, stellte sich heraus, daß die professionellen Arbeitskräfte (die 1987 das größte Ausmaß von 10

249

Sicherheit aufwiesen) zehn Jahre später am meisten unter Arbeitsplatzunsicherheit litten. Man fand Zusammenhänge zwischen Arbeitsplatzunsicherheit mit einer schlechteren psychischen Verfassung (gemessen durch den GHQ-12), mit verschlechterten familiären Beziehungen und Demotivierung innerhalb der Organisation. Zur Beunruhigung gibt Anlaß, daß sich sowohl das körperliche als auch das mentale Wohlbefinden mit fortgesetzter Arbeitsplatzunsicherheit stetig verschlechterte. Isaksson (persönliche Mitteilung) fand anläßlich einer Untersuchung von wiederholten Rationalisierungen in einer großen Handelsfirma, daß die psychische Gesundheit, wiederum gemessen durch den GHQ-12, jener, die noch immer beschäftigt waren, allerdings unter Bedingungen der Unsicherheit, ebenso schlecht war wie die jener, die entlassen worden waren (siehe auch Burchell 1994, Dekker/Schaufeli 1995). Platt et al. (im Druck) lieferten einen systematischen und umfassenden Überblick über die Forschung zwischen 1993 und 1998. Sie kamen zum Schluß, daß Arbeitsplatzunsicherheit (häufig als Ergebnis der Privatisierung und Neustrukturierung) mit sich verschlechtemder physischer und mentaler Gesundheit verknüpft ist (siehe Armstrong-Stassen 1993, Fenie et al. 1995, 1998, Heaney et al. 1994, Kinnunen/Natti 1994, Nelson et al. 1995, Vahtera et al. 1997). Vorher arbeitslose Personen, die wiederbeschäftigt wurden, haben ein höheres Risiko der Arbeitsplatzunsicherheit, da wiederbeschäftigte Arbeitskräfte der Gefahr ausgesetzt sind, aufgrund von last-in first-out-Praktiken wieder arbeitslos gemacht zu werden (Daniel 1974, 1990). Allerdings wird in der Forschung mit zunehmendem Nachdruck betont, daß Arbeitsplatzunsicherheit sich nicht lediglich oder notwendigerweise auf die Furcht vor dem Arbeitsplatzverlust beschränkt, sondern auch mit dem wahrgenommenen Risiko, die eigene Position innerhalb der Organisation einzubüßen oder innerhalb der Firma einen Statusverlust hinnehmen zu müssen, zu tun hat; mit eingeschränkten Aufstiegsmöglichkeiten usw. (Burchell et al. 1999). Es mag sich dabei sogar um die "tiefsitzende Furcht vor unbekannten Drohungen" handeln, wie Hallier (2000) es nennt, wenn er von "Suspendierung der Sicherheit spricht". Dies ist "ein chronischer Zustand des allgemeinen Grübelns über die Sicherheit des Individuums, der aus spezifischen organisatorischen Veränderungen entspringt, die mehrdeutig und für die Frage der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes relevant sind", jedoch nichts mit dem Arbeitsplatzverlust zu tun haben. Derzeit ist über die Konsequenzen solcher Zustände für die psychische Gesundheit wenig bekannt. Drittens bietet die Evaluierung der Konsequenzen der Teilnahme an Schulungsprogrammen, eines zentralen Bestandteiles des flexiblen Arbeitsmarktes, für die psychische Verfassung ein kompliziertes Bild. In einer Querschnittanalyse fand Stafford (1982), daß die psychische Gesundheit der Geschulten nicht signifikant schlechter war als jene einer beschäftigten Vergleichsgruppe und signifikant besser 11

als die einer arbeitslosen Vergleichsgruppe. Nach Branthwaiteund Garcia (1985) waren andererseits Schulungsteilnehmer

in

signifikantem

Ausmaß

stärker

deprimiert

als

eine

beschäftigte

Vergleichsgruppe und nicht signifikant weniger deprimiert als eine arbeitslose Vergleichsgruppe. Davies (1992) liefert eine Darstellung der Vielfältigkeit der Erfahrung eines "Gemeindeprogrammes", wobei sich die Teilnehmer zu einigen Aspekten positiv und w anderen negativ äußerten. Die Verfassung des Arbeitsmarktes, die Qualität der Schulung und der Überleitung in Beschäftigung und das Ausmaß des erfahrenen Zwanges sind hiebei vermutlich von zentraler Bedeutung. Virtanen (1993) fand, daß Arbeitslose, egal welchen Alters und beiderlei Geschlechts, die durch Programme vom Typus der workfare in Beschäftigung gezwungen worden waren, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung häufiger in Anspruch nahmen, während ihre Inanspruchnahmen solcher Institutionen abnahmen, wenn sie wieder arbeitslos wurden. Die Wiederbeschäftigung in Jobs von niedriger Qualität kann psychisch ebenso zersetzend sein wie die Arbeitslosigkeit, wenn nicht noch mehr. Es wurde gezeigt, daß die Wiederbeschäftigung auf einem niedrigeren Niveau stattfindet (Daniel 1974, 1990); Kaufman (1982) berichtete, daß 20% seiner wiederbeschäftigten Professionals unterbeschäftigt waren (hinsichtlich des Gehalts, der Art von Arbeit und des Einsatzes von Geschicklichkeiten), und weniger als 50% sagten, ihr Leben hätte sich nach der Wiederbeschäftigung wieder normalisiert; Fineman (1987, S. 269) fand hingegen, "daß jene, die Arbeitsplätze gefunden hatten, die sie für inadäquat hielten, mehr Streß ausgesetzt waren und sogar ein geringeres Niveau der Selbstachtung hatten als während ihrer Periode ihrer Arbeitslosigkeit'. In einer neueren Studie zeigte Graetz, daß "die gesundheitlichen Konsequenzen der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit direkt von der Qualität der Arbeit abhängen. Das bedeutet, daß die mit Arbeit verknüpften Vorteile auf jene beschränkt sind, denen es gelingt, einen zufriedenstellenden Arbeitsplatz zu finden, mögen diese auch eine Mehrheit darstellen. Im Gegensatz dazu berichten jene, die keinen zufriedenstellenden lob ergattern können – ungefähr 20% der Beschäftigten –, die höchsten Niveaus von Gesundheitsstörungen. Gleichzeitig sind die negativen Konsequenzen des Arbeitsplatzverlustes auf jene beschränkt, die mit ihren früheren Jobs zufrieden waren" (Graetz 1993, S. 722). Winefield et al. (1993) verfolgten die Karrieren von 3000 jungen Australien während einer achtjährigen Periode und stellten fest, daß jene Jugendlichen, die Jobs angenommen hatten, mit denen sie nicht zufrieden waren, hinsichtlich der durchschnittlichen Werte der psychischen Gesundheit von arbeitslosen Jugendlichen ununterscheidbar waren. Sowohl die unzufriedenen Beschäftigten als auch 12

die arbeitslosen Jugendlichen wiesen eine schlechtere durchschnittliche psychische Verfassung auf als die zufriedenen beschäftigten Jugendlichen. In einer jüngeren Studie berichten Leana und Feldman (1995, S. 1398), daß "Wiederbeschäftigte, die mit ihren neuen Arbeitsplätzen nicht zufrieden waren, signifikant höhere Niveaus der Angst und des psychischen Unbehagens berichteten als jene, die zufriedenstellend beschäftigt waren; sie wiesen auch signifikant niedrigere Niveaus der allgemeinen Zufriedenheit auf als jene, die arbeitslos waren". Schließlich gibt es unzählige Untersuchungen über die Auswirkungen von beruflichen Stressoren auf psychische Belastungen (siehe Fryer/Winefield 1998, Karasek/Theorell 1990).

11.5

Einige Implikationen

Ein Großteil der neueren Forschung über Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit hat die bessere durchschnittliche psychische Gesundheit der Beschäftigten mit der schlechteren durchschnittlichen psychischen

Gesundheit

Längsschnittuntersuchungen

von

Arbeitslosen

verglichen.

In

der

in

sowohl Vergangenheit

Querschnittwar

der

als

auch

psychische

Gesundheitszustand der Beschäftigtengruppen stabil besser als jener der in anderer Hinsicht vergleichbaren Arbeitslosen. Wie Murphy und Athanasou (1999) anmerkten, "ist der allgemeine Effekt der Beschäftigung eine bessere gesundheitliche Verfassung, da die Mehrheit jener, die Arbeit haben, zufrieden ist" (das heißt besser als die der Minderheit, die arbeitslos ist). Sollte sich jedoch die psychische Gesundheitsverfassung der Mehrheit der Beschäftigten auch nur vergleichsweise geringfügig verschlechtern, oder jene einer nicht zu vernachlässigenden Minderheit dramatisch verschlechtern, dann würde die schlechtere durchschnittliche Gesundheit von Stichproben von Beschäftigten den früher weitgehend stabilen Befund zerstören, daß Arbeitslose eine schlechtere durchschnittliche psychische Gesundheitsverfassung haben. Die in diesem Paper dargestellten empirischen Hinweise zum flexiblen Arbeitsmarkt legen nahe, daß es nur mehr eine Zeitfrage ist, bis dies eintritt. Sollte es wirklich dazu kommen, dann wäre folgendes zu beachten: Die Forschungsstrategie, den Nachweis zu erbringen, daß Arbeitslosigkeit eine Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes bewirkt, indem man zeigt, daß sich die durchschnittliche psychische Gesundheit verschlechtert, wenn Gruppen von Menschen aus der Beschäftigung in Arbeitslosigkeit abgehen, wäre in ihrer Glaubwürdigkeit unterminiert, aber nicht, weil die 13

Arbeitslosigkeit psychisch weniger schädlich geworden, sondern weil im Gegensatz dazu Beschäftigung wesentlich schädlicher geworden wäre. Dieser Denkansatz hat viele Implikationen. Wenn erstens Querschnitt- und Längsschnittvergleiche der psychischen Gesundheitsverfassung von gematchten Gruppen von Beschäftigten und Arbeitslosen weiterhin informativ sein sollen, dann wird es notwendig (wenn auch problematisch) werden, benchmarks der psychischen Gesundheit zu verwenden, im Vergleich zu denen, die durchschnittliche psychische Verfassung der beiden Gruppen in unabhängiger Weise bestimmt werden kann. Da jede spezifische Annahme solcher Vergleichswerte als sozio-historisch arbiträr aufgefaßt werden könnte, wird dieser Schrill große Probleme aufwerfen. Zweitens sollte die Einsicht, daß der Vergleich der Ergebnisse von Arbeitsmarktübergängen unter spezifischen ökonomischen Umständen wenig zufriedenstellend ist, Forscher auf die Tatsache verweisen, daß sie immer schon unbefriedigend waren, da sie auf ideologisch fragwürdigen Annahmen über des gesundheitsfördernde Wesen der Beschäftigung basiert haben. Statt sich darauf zu stützen, Unterschiede bei den Ergebnissen herauszuarbeiten, sollte die Forschung in zunehmendem

Ausmaß

versuchen,

die

soziale

Verursachung

von

psychischen

Gesundheitsproblemen durch sowohl Arbeitslosigkeit als auch Beschäftigung nachzuweisen, indem die detaillierten Prozesse herausgearbeitet werden, die auf vielen Ebenen ablaufen und soziale Verursachung mit sich bringen. Dies wird ökologisch kontextualisierte qualitative Untersuchungen notwendig machen. Drittens ist die Annahme, daß die Gefährdung der psychischen Gesundheit von Arbeitslosen ein Ende nimmt, wenn sie in Beschäftigung übergehen, nicht mehr haltbar. Bei vielen Menschen ist die psychische Gesundheit gefährdet, ob sie nun beschäftigt, quasi-beschäftigt, unterbeschäftigt oder arbeitslos sind. Die angebliche Dichotomie zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung muß in grundlegender Weise neu überdacht werden. In diesem Forschungsbereich wurden die Probleme der Arbeitslosigkeit weithin als die Probleme des Fehlens von Beschäftigung entworfen. Die Einsicht in das pathogene Wesen der Teilnahme am flexiblen Arbeitsmarkt könnte den Auslöser für eine Neukonzeptualisierung darstellen. Für viele Arbeitslose ist die Arbeitsuche und die Reifen, durch die sie springen müssen, um zur Überbrückung ein Einkommen zu erzielen, selbst eine Art von Arbeit. Diese Arbeit unter der strengen Aufsicht des Staates und bei herabgesetztem Einkommen ist eine Form der Beschäftigung, die mit niedrigem Status, mit Unsicherheit, schlechter Bezahlung verknüpft ist, häufig Teilzeitarbeit darstellt und unter schlechten Arbeitsbedingungen erbracht wird; dabei verfügt 14

man über praktisch keinerlei Verhandlungsmacht oder Spielraum für kollektives Handeln, und gleichzeitig entsteht ein hohes Streß-Risiko durch diese Art der Beschäftigung. Heute hört man sehr oft, daß Beschäftigung dabei hilft, die "soziale Ausschließung" zu überwinden. Ironischerweise könnte der soziale Einschluß durch die Teilnahme am flexiblen Arbeitsmarkt sich als alles andere als gesundheitsfordernd für viele erweisen, und in der Tat könnte man Arbeitslosigkeit selbst in subtiler Weise nicht so sehr als Ausschluß vom Arbeitsmarkt betrachten, sondern als eine andere Form der unfreiwilligen und unsicheren pathogenen Teilnahme am flexiblen Arbeitsmarkt.

(Aus dem Englischen von H. G. Zilian )

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