Soziale Psychiatrie Nr. 127 Januar Integrierte Versorgung Des Kaisers neue Kleider? Analysen & Meinungen. DGSP intern

Soziale Psychiatrie Nr. 127 Januar 2010 Im nächsten Heft: ■ »Raus aus dem Ghetto – rein ins Leben!« Gemeinsam leben im Stadtteil – Vielfalt gestalten ...
Author: Sylvia Messner
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Soziale Psychiatrie Nr. 127 Januar 2010 Im nächsten Heft: ■ »Raus aus dem Ghetto – rein ins Leben!« Gemeinsam leben im Stadtteil – Vielfalt gestalten Beiträge der DGSP-Jahrestagung 2009 Redaktionsschluss: 8. Februar 2010

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Foto: miho

i n h a lt

Integrierte Versorgung Des Kaisers neue Kleider? Christian Zechert u.a. Integrierte Versorgung in der Gemeindepsychiatrie – jetzt! 4 Peter Kruckenberg Perspektiven der Krankenhausbehandlung 10 Was macht das zukünftige Entgeltsystem aus den Kliniken ...? Ilse Eichenbrenner Es ist nicht alles Gold, was glänzt ... 14 Integrierte Versorgung und Soziotherapie – Berliner Erfahrungen Michael Puls »Ein hohes Maß an Lebensqualität ermöglichen« 15 Soziotherapie am Beispiel von Platane 19 e.V. in Berlin Soziotherapie als Alltagshilfe 17 Erfahrungen aus Klientinnensicht Maria Schubert »Besser als Medizin« 18 Soziotherapie – eine Patientin berichtet Andreas Haase/Thorsten Hejnal »Der therapeutische Alltag hat sich verändert« 19 Erfahrungen mit dem regionalen Psychiatriebudget Dithmarschen Matthias Walle Winfried Reichwaldt »Durch verbesserte Vernetzung zu mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit« 22 Integrierte Versorgung – das niedersächsische Modell Ilse Eichenbrenner Herr Jott – vom S-Bahn-Bogen in Hartz IV 26

Margit Weichold »Kein Mensch muss müssen«? 54 Zwangsbehandlung in der Psychiatrie und die neue Patientenverfügung

Thomas Bock Psychotherapie und psychische Erkrankungen 33 Psychotherapie im Rahmen Integrierter Versorgung Christian Raida Die Integration der Psychiatrie 34 Der niedergelassene Facharzt in der psychiatrischen Versorgung Claudia Zinke »Trotz zahlreicher Hemmnisse positiv« 37 Das persönliche Budget – eine kritische Betrachtung »Es gibt für jeden Menschen etwas, das ihn aus dem Haus lockt ...« 40 Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget – ein Interview mit Ursula Pathe Klaus Jansen Steuerung der Gemeindepsychiatrie 42 Solidarisches Handeln oder Markt und Einzelverpreislichung? Beate Simons/Birgit Weißleder/Dorte Cancel Gleichberechtigte Teilnahme – Vision oder Realität? 44 Integrative Arbeits- und Beschäftigungsmodelle für psychisch erkrankte Menschen

Neuroleptika-Debatte Rosi Haase Bella und der Eigensinn 28 Martin Lambert u.a. Integrierte Versorgung von Patienten mit psychotischen Erkrankungen – das »Hamburger Modell« 30

Analysen & Meinungen

Bettina Scholtz »Richtig eingestellt?« 47 DGSP-Neuroleptikatagung in Berlin – Eindrücke und Ergebnisse

»Offene Ohren sind das Wichtigste« 55 Peer-Counseling in der psychiatrischen Klinik Gerhard Kronenberger »Was ist schlimm daran, Dinge zu ökonomisieren?« 58 Zur Stellungnahme der ›Soltauer Initiative‹ zur UN-Behindertenrechtskonvention

DGSP intern DGSP-Mitgliederversammlung 2009 59 Standpunkte … 60 Zum Treffen der DGSP- und DGPPN-Vorstände Qualifizierung durch DGSPBeschwerdefortbildung 60 DGSP-Landesverband Thüringen gegründet 61 Ausschreibung zum DGSP-Forschungsund -Posterpreis 62/63

Rubriken Im Kino 64 Fachzeitschriften im Überblick 67 Rezensionen 69 Briefe an die Redaktion 73 Impressum 74 Tagungskalender 75 kurz & informativ 76 Ankündigungen 77 Anzeigen 78 Namen & Anschriften 79

DGSP-Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika 50 Kurzfassung Asmus Finzen Neuroleptika für Kinder? 52 Ein Lehrstück

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Integrierte Versorgung in der Gemeindepsychiatrie – jetzt! Vo n C h r i st i a n Z e c h e r t, Wo l f g a n g Fau l bau m - D e c k e , Th o m a s F l o e t h , M a r i u s G r e u è l , Martin Kleinschmidt und Josef Schädle

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ls Niels Pörksen 1974 in dem bei Rowohlt erschienenen Buch »Kommunale Psychiatrie« die organisatorischen Grundlagen der Gemeindepsychiatrie zusammenfasste, gehörte dazu die Forderung nach einer »funktionell integrierten« Versorgung. Er schrieb: »Alle Einrichtungen müssen funktionell integriert sein, um die Kontinuität der Behandlung zu gewährleisten« (Pörksen 1974). Bereits im Vorjahr hatte der Staatssekretär Wolters im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) formuliert: »Die organisatorische Verflechtung intra- und extramuraler Dienste bei der Wahrnehmung von ambulanten, halbstationären und stationären Aufgaben auch in einer Institution hat sich als funktionsgerecht erwiesen und bedarf einer rechtlich unumstrittenen Verankerung« (Wolters 1973). Die Realität der folgenden drei Jahrzehnte psychiatrischer Grundversorgung sah jedoch anders aus. Anstelle einer gesetzlichen Verankerung im Sozialgesetzbuch (SGB) V zum sektorübergreifenden Verhältnis von ambulanter und stationärer Behandlung – wie es das französische Sektorprinzip schon damals realisierte – folgte in den nächsten dreißig Jahren eine Gesundheitspolitik, die die Trennung zwischen ambulant und stationär eher zementierte als aufhob.

Fehlender politischer Wille Krankenhäusern, gesetzlichen Krankenversicherungen, ärztlichen Standesvertretungen sowie der Gesundheitspolitik fehlte trotz allen Geredes über »Kostenexplosion im Gesundheitswesen« und Klagen über das »zergliederte System« der politische Wille, um durch eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen ambulant und stationär qualitative Gewinne für die Patientinnen und Patienten und ökonomische für das Gesundheitssystem zu realisieren. Die Folge: Fortsetzung der kostenträchtigen Dominanz des klinischen Systems über ambulante Behandlung in ökonomischer, fachlicher und wissenschaftlicher Hinsicht. Symptomatisch für die Psychiatrie sei hier benannt, dass mit der Phase der Deinstitutionalisierung von Langzeitbetten für chronisch Kranke der zeitgleiche 1:1-Einzug der klinischen Psychiatrie in Allgemeinkrankenhäuser durch den Aufbau von über 217 (Stand: 2007) psychiatrischen Abteilungen (Salize et al. 2007; GMK 2007) erfolgte.

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Die mit der Deinstitutionalisierung freige- vorbei – eine Reihe von auf der Psychiatriesetzten klinischen Mittel des SGB V flossen Enquete von 1975 basierenden »Steuerungsnicht in den ambulanten Sektor. Belastet gremien« und »Steuerungsinstrumenten« wurde hingegen die Eingliederungshilfe des etabliert, um einer vermeintlichen oder tatsächlichen »wilden Kommunalisierung« SGB XII. Auf der anderen Seite entwickelte die am- (Wienberg 2008) der Gemeindepsychiatrie bulante Gemeindepsychiatrie – traditionell Herr zu werden. Zu nennen sind: weit außerhalb des SGB V finanziert – eine (1) die weit verbreiteten, bereits von der Enhoch fragmentierte Angebotslandschaft. Gün- quete ausgehenden, politisch jedoch schwater Ernst-Basten, langjähriger Geschäftsfüh- chen Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften rer der ›Brücke Schleswig-Holstein‹, schrieb: (PSAG), »Leistungen für einen Klienten verschiede- (2) die – wenn überhaupt vorhandenen – rener Kostenträger stehen häufig unverbun- gional unterschiedlich etablierten Psychiden nebeneinander. Leistungsträger markie- atriebeiräte mit lokalem sozialpolitischem ren klare Grenzen in ihren Zuständigkeiten. Einfluss, Das System gleicht einem Puzzle mit vielen (3) die Psychiatriekoordination, mit sehr diEinzelteilen, die nicht alle zusammenpassen. vergierenden Ausprägungen in den KommuEs ist für alle Beteiligten, insbesondere für nen, Menschen in Lebenskrisen, schwer durch- (4) die in Zielsetzung, Organisationsform schaubar. Die Leistungen sind angebots- und und Wirkung äußerst heterogenen Gemeinnicht personenzentriert. Die Finanzierungen depsychiatrischen Verbünde (GPV), einschließsind an Einrichtungen und Dienste und lich der inzwischen achtzehn Mitglieder der nicht an Menschen gebunden, die Wahlmög- Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) GPV, lichkeiten der Menschen sind stark einge- (5) die Hilfeplankonferenzen, für die ebenschränkt« (Ernst-Basten 2008). Anstelle der falls sehr unterschiedliche Erfahrungen und Entwicklung kommunaler Sicherstellungs- Bewertungen vorliegen und die auftragsgeaufträge und verbindlicher Etablierung von mäß kein politisches Mandat besitzen, sowie »Standardversorgungsgebieten« kam es in (6) der Integrierte Behandlungs- und Rehabiden folgenden Jahren immer weniger zu der litationsplan (IBRP bzw. IHP = Integrierte Hilerhofften Umsetzung einer »rechtlich un- feplanung), der ebenfalls überhaupt nichts am Parallelsystem kassenfiumstrittenen Verankerung« »Der massivste nanzierter Behandlung und von ambulanten, halbstationären und stationären Aufgaben. Vorbehalt ist, dass diese sozialhilferechtlich, von der Dieses Versäumnis in der kon- Steuerungsinstrumente Arbeitsagentur sowie renteneinen Sonderweg rechtlich finanzierter Wiedersequenten Schaffung gesetzlicher Maßnahmen mit dem Psychiatrie einfordern« eingliederung ändert. Betrachtet man summaZwang zur Integration von ambulant und stationär ist die wesentliche Ur- risch die Versuche der letzten dreißig Jahre, sache für eine bis heute nicht wirklich einge- solche mit Finanzierungshilfe des Bundes löste »funktionelle Integration« beteiligter ausschließlich kommunal etablierten SteueBehandler, Helfer und Organisationen bei rungsinstrumente zu lancieren, muss man der Begleitung von Menschen in psy- zu der Erkenntnis kommen, dass keines von ihnen – trotz ihrer nicht in Abrede zu stellenchischen Krisen. den lokalen Erfolge und spezifischen Qualitäten – in der Fläche, in ihrer Evidenz und Von der »wilden Kommunalisierung« ... erst recht nicht in der politischen ZielsetObwohl das Thema einer »funktionell inte- zung die alte Forderung Pörksens nach einer grierten« Versorgung schon sehr früh auch »funktionell integrierten« Versorgung erauf dem Tisch der Aktion Psychisch Kranke füllt. (APK) lag, blieb es um die Forderung einer bundesrechtlichen Durchsetzung der Integration von ambulant und stationär auf Ba- ... zur »wilden Steuerung« sis des SGB V zur Überwindung der Sektoren- Der massivste Vorbehalt ist aber, dass diese grenzen äußerst still. Stattdessen wurde – Steuerungsinstrumente einen Sonderweg nahezu ausschließlich von der APK und re- Psychiatrie einfordern, obwohl die von ihnen gelmäßig an den anderen Fachverbänden problematisierten Defizite durchweg grund-

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matik zum Beispiel in der allgemeinen Psychiatrie für Menschen mit Psychosen an, dann können wir auch hier aus einer ganzen Flut von Problemen aussuchen. Hier ein gewöhnliches Beispiel aus dem Alltag: Eine psychosegefährdete Frau, Mitte dreißig, verlor trotz ambulanter Wohnbetreuung ihre Wohnung. Krankheitsbedingt ist sie nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selber ausreichend zu regeln. Der Kündigung ihrer Wohnung durch den Eigentümer widersprach sie nicht. Die anschließende Wohnungslosigkeit führte zu einem Leben in Wohnungslosenunterkünften oder Verbleiben in Wohnungen männlicher Ad-hoc-Bekanntschaften. Zu ihrer Psychiaterin ging sie nicht, weil sie dort lange warten musste. Die Psychiaterin vermisste ihre Patientin nicht. Nach drei bis vier Wochen eines Lebens zwischen Straße und Zweckgemeinschaft kommt es zum Ausbruch der Psychose und einer mehrwöchigen Unterbringung in der klinischen Psychiatrie, wobei krankheitsund sozialbedingte Gründe für den Aufenthalt kaum noch auseinanderzuhalten waren. Dies wiederholte sich mehrfach in den letzten Jahren. Um das Problem in den Griff zu bekommen, wurde nunmehr eine gesetzliche Betreuung eingerichtet. Zusammengefasst: Eine Abstimmung zwischen den Schnittstellen ambulante Wohnbetreuung, Klinik, niedergelassene Psychiaterin, Wohnungslosenhilfe oder gar Wohnungseigentümer fand nicht statt. Die Klientin wurde jeweils klassisch partiell behandelt bzw. begleitet. Keine Koordination, kein Casemanagement, keine Integrierte Hilfeplanung, aber Chronifizierung des Krankheitszustandes. Die

Behauptung hier ist, dass der Hilfe- und Behandlungsbedarf der Klientin als ambulante Komplexleistung oder Integrierte Versorgung durchaus abdeckbar gewesen wäre, weil hier alle Beteiligten durch ein vertraglich geregeltes Fallmanagement gezwungen sind zu kooperieren.

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sätzlicher Art im gesamten Gesundheitswesen sind. Sie gelten ebenso für die Onkologie, Chirurgie, Neurologie etc. Auch hier wirkt sich die sektorale Trennung in ambulant, stationär und rehabilitativ ausgesprochen ineffizient und nicht behandlungsfreundlich aus. Auch bei diesen Fachrichtungen spielen psychosoziale Faktoren eine ganz erhebliche Rolle. Wie schwach die spezifisch psychiatrischen Steuerungsinstrumente sind, lässt sich hier nur angedeutet am Beispiel der Gemeindepsychiatrischen Verbünde zeigen. Mehr als fünfzehn Jahre nach der Enquete veranstaltete die APK im Juni 1989 die Tagung »Der Gemeindepsychiatrische Verbund als ein Kernstück der Empfehlungen der Expertenkommission« (Band 16 der APK-Schriftenreihe). Vierzehn Jahre später (2003) gründete die APK eine Initiative zur Gründung einer Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde (BAG GPV), und im März 2006 erfolgte dann die Gründung der BAG GPV mit dreizehn Verbünden. Im Jahr 2009 sind es nunmehr achtzehn Mitglieder, eine Steigerung also mit einem Tempo von nur fünf Mitgliedern in drei Jahren! Theoretisch hätte man dann in dreiundachtzig Jahren alle 301 Landkreise und 114 kreisfreien Städte in Deutschland organisiert – wohlgemerkt: nur für die Psychiatrie. Würden wir die Effizienz dieses zwanzigjährigen Implementationsprozesses evaluieren, dann kann man nicht den Eindruck gewinnen, dass es in Deutschland gelingt, so die Schnittstellenprobleme der psychiatrischen Versorgung bedarfsgerecht in den Griff zu bekommen. Diese Instrumente greifen zu kurz, gehen letztlich an Markt und Recht vorbei, sind ferngesteuerte Instrumente mit Finanzierungshilfe des Bundes ohne wirkliche kommunalpolitische Eigeninitiative. Sie wirken nicht ausreichend in der Fläche und sind ohne bundesrechtliche oder gar SGB-V-Auswirkung. Aus dem Vorwurf »wilder Kommunalisierung« wird der einer »wilden Steuerung« angesichts einer APK-Steuerungsdoktrin, die nicht ausreichend auf einer Gesetzgebung des Bundes basiert. Schauen wir uns die Schnittstellenproble-

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Kassen gestalten Versorgungslandschaft Unabhängig von der ambulanten und klinischen Psychiatrie wurden in den letzten zehn Jahren die erheblichen Steuerungsproblematiken, die systemschädigende Wirkung der radikalen Aufteilung in ambulant und stationär auch im BMG Gegenstand gesetzgeberischer Reforminitiativen. Mit zunächst vier Organisationsvorhaben wie der Einführung von Strukturverträgen, der Förderung von Modellvorhaben nach §§ 63 bis 65 SGB V, strukturierter Behandlungsprogramme sowie integrierter Vertragsformen nach § 140a – d SGB V sollte die Vernetzung von Hausärzten, Fachärzten, ambulanter psychiatrischer Pflege, Soziotherapie, Psychotherapeuten, Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen, Pflegeheimen, Pflegekassen etc. realisiert werden. Für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) stehen ökonomische Effekte im Vordergrund sowie das Sammeln von Erfahrungen bei Abschlüssen von Einzelverträgen und bezüglich der Akzeptanz der Versicherten. Integrierte Versorgung setzt unter dem Oberbegriff »Managed Care« darauf, eine »Kunden«-Bindung nicht nur ökonomisch, sondern vielmehr im Sinne der Nutzung eines von der Kasse favorisierten Behandlungsangebotes zu realisieren. Wenn man so will, eine freiwillige Einschränkung der freien Arzt- und Anbieterauswahl zugunsten eines (günstigeren)

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Wahltarifs für einen bestimmten Vertragszeitraum, um von der Kasse favorisierte Leistungen, wie z.B. »Behandlung zu Hause«, in Anspruch nehmen zu können. Nachdem der erste Versuch der Gesundheitsreform 2000 nur sehr geringe Wirkung auf den Abschluss von IV-Verträgen aufgrund des Widerstandes der zustimmungspflichtigen Kassenärztlichen Vereinigung zeigte, konnte die rotgrüne Regierung mit dem GKV-Modernisierungsgesetz von 2004 endlich die rechtlichen Grundlagen für die Überwindung der sektoralen Versorgung schaffen. Zu deutlich war geworden, wie ineffektiv, wie behandlungsineffizient, wie überteuert die konkurrierenden Systeme gegeneinander aufgestellt sind. Mit den Paragrafen 140a–d des SGB V wurde ermöglicht, dass IV-Verträge

Koordination sind eklatant. Den gemeinde- ambulante Gemeindepsychiatrie wird zu psychiatrischen Trägern eröffnet IV die Opti- grundlegend neuen Strukturen und Prozeson, mit ihren bisher stiefmütterlich finan- sen einer integrierten Behandlung und Verzierten SGB-V-Modulen wie Soziotherapie, sorgung führen. So kann grundsätzlich die ambulante psychiatrische Pflege, ambulante Zusammenarbeit von Hausärzten, FachärzErgotherapie etc. in der ambulanten Behand- ten, ambulanter psychiatrischer Pflege, Solung künftig zu einem ernsthaften Mitge- ziotherapie, Psychotherapeuten, Krankenstalter zu werden. Integrierte Versorgung häusern, Rehabilitationseinrichtungen, Phykann, wenn man sie richtig gestaltet, auch siotherapeuten, Pflegeheimen, Pflegekassen die klassische Arztzentrierung – dieser ist etc. anders vernetzt und definiert werden. häufig als Behandler, Letztentscheider, Ma- IV-Verträge müssen als »sektorübergreifennager und Eigentümer in einer Person unter- des« Instrument konzipiert sein. Was aber wegs – überwinden und die versäulten nicht bedeutet, damit die Ausweitung des Strukturen – wie Krankenhaus hier und nie- Krankenhauses in den ambulanten Markt zu dergelassene Ärzteschaft dort – aufbrechen. favorisieren, denn genau diese tradierte VorDer zentrale Unterschied zwischen dem machtposition kann, wenn man die Untervon der Berliner Pinel gGmbH und dem Dach- stützung einer starken gesetzlichen Kranverband Gemeindepsychiatrie e.V. favorisier- kenkasse hat, mit einem ambulanten Netzten IV-Modell der ambulanten werk vermieden werden. Sollte die Prognose Komplexleistung zu den IV-Mo- der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zudellen der Deutschen Gesellschaft treffen, dass bis zum Jahr 2010 nur noch 55 für Psychiatrie, Psychotherapie Prozent aller ambulanten Leistungen über und Nervenheilkunde (DGPPN) den Kollektivvertrag abgerechnet und 45 sowie dem Berufsverband Deut- Prozent aller Verträge Direktverträge zwischer Nervenärzte (BVDN) liegt in schen GKV und Leistungsanbieter sein werder Rolle des Arztes und der Ma- den, dann ahnt man, welches Potenzial wirtnagementfunktion des Trägers. schaftlicher Gestaltung sich dahinter verDer Arzt bleibt zum Beispiel bei birgt. Mit anderen Worten: Wenn alle BeteiPinel in seiner Rolle als verant- ligten ernsthaft wollen, werden die Karten wortlicher Behandler und bean- zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, sprucht – zu Recht – die ärztliche den niedergelassenen Ärzten, PsychotheraBehandlungshoheit; der gemein- peuten, Kliniken und last, not least qualifidepsychiatrische Träger über- zierten ambulanten gemeindepsychiatrinimmt zugleich die wesentlichen schen Trägern mit vielfältigen SGB-V-LeisManagementfunktionen für das tungen neu gemischt. Behandlungsnetzwerk, die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung durch nichtärztliche Behandlungskräfte Halbherzige klinische Weiterentwicklung und die verlässliche Rund-um-die-Uhr-Er- Die halbherzige Antwort der psychiatrischen reichbarkeit des Behandlungsnetzwerkes. Kliniken auf Integrierte Versorgung wird Weiterhin ist der Träger Vertragspartner der derzeit unter der Überschrift »WeiterentGKV, trägt somit auch ein erhebliches ökono- wicklung der Krankenhausbehandlung durch misches Risiko: Wenn, wie der Gesetzgeber ein neues Entgeltsystem« – so der Titel eines es mit der Gesundheitsreform will, Markt- Beitrags von Kruckenberg et al. in der »Psyprinzipien das Steuerungsinstrument sind chosozialen Umschau« (Heft 4, 2009, S. 30 ff.) (Große fressen Kleine, Stärkere den Schwä- – zur Diskussion gestellt. Die Autoren macheren, Preiswertere den Teureren, hoffent- chen in ihren Ausführungen den Versuch, durch eine Fortschreibung lich dann auch qualitativ Bessere die Schlechteren), dann ge- »Keine Koordination, und Modifizierung der Psywinnt der Markt hier künftig in kein Casemanagement, chiatrie-Personalverordnung keine Integrierte (Psych-PV) von 1991 das neue der Tat eine Regelungsfunktion. Hilfeplanung, aber KrankenhausfinanzierungsAllerdings sind die gemeindereformgesetz mit sinnvollen psychiatrischen Anbieter dann Chronifizierung des nicht seine Opfer, sondern mit Krankheitszustandes« Inhalten zu füllen. Zum einen soll sichergestellt werden, ihren Leistungspaketen Mit-Gestalter: Sie entscheiden über die Form ihrer dass die Psych-PV endlich (nach mehr als Angebote, über Qualität und Preis und ob der achtzehn Jahren!) zu 100 Prozent umgesetzt Patient ihre ambulant-integrierten oder Hil- wird. Ob dies durch den jetzt möglichen fen des klinischen Systems bevorzugt. Die Rückgriff auf die »Schiedsstellenfähigkeit« Frage ist also: Wie gestalterisch und eingrei- bei Streitigkeiten zwischen Krankenhaus fend beteiligt sich Gemeindepsychiatrie an und Selbstverwaltung leichter wird, sei dadiesem offenen Markt? Die Rückverlagerung hingestellt. Zum anderen sollen die Leisvon Behandlung und Unterstützung in die tungsangebote und -komplexe ausdifferen-

nunmehr auch ohne Zustimmung der Kassenärztlichen Vereinigungen abgeschlossen werden können. Und als spätere Ergänzung zur IV im SGB V das Ziel, damit die flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Somit wurde es in Deutschland erstmalig möglich, über verschiedene Leistungssektoren hinweg und fächerübergreifend mit den in § 140b Abs. 1 SGB V genannten Vertragspartnern Verträge zu schließen. Integrierte Versorgung war damit keine wohl gemeinte Metapher mehr, sondern ein reales Leistungsangebot, mit dem die GKV unmittelbar gestalterisch in die gesamte SGB-V-Versorgungslandschaft eingreift.

Neue Vernetzung Aus fachlicher Sicht verständlich: Die Quote der klinischen Wiederaufnahmen in der Psychiatrie ist mit bis zu 80 Prozent extrem hoch, der ständige Abstimmungsbedarf zwischen ambulanten Behandlern, psychosozialen Helfern, Kliniken und Abteilungen bei »Problempatienten« unbestreitbar, und die ökonomischen Verluste aufgrund fehlender

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ziert, besser begründet und vor allem besser dokumentiert werden, was aber eine tägliche Dokumentation der Begründung erforderlich macht. Im Übrigen bleibt es bei den aus der Psych-PV bekannten Regularien wie patientenzentrierte Qualitätskontrolle, Personalmobilität etc. Damit ist nichts anderes intendiert, als die Position der Kliniken ausgerechnet in Zeiten zunehmender Privatisierung zu stärken und die Erbringung von ausreichend finanzierten Komplexleistungen weiterhin im stationären Bereich zu belassen. An der von den Autoren selbst und zu Recht bemängelten Gewichtung ›ambulant : teilstationär : stationär = 1 : 50 : 90‹ wird sich durch dieses Konzept nichts Wesentliches ändern. Hätten die Autoren allerdings die Themen Institutsambulanz und Pauschalierung selbst ernst genommen, wären sie zu möglicherweise anderen Ergebnissen gekommen. Oder braucht es immer noch zu viel Mut, die Krankenhausfinanzierung in ein regionales Budget einzubinden und mit der Integrierten Versorgung ernst zu machen? Erprobt ist genug, und Modelle gab es reichlich, es wird Zeit, regionale Budgets und Integrierte Versorgung »alltagstauglich« zu machen.

Innovative Sozialpsychiatrie Die Sozialpsychiatrie der letzten zehn Jahre hat diese »trockene« Versorgungsdiskussion bislang nur peripher wahrgenommen. Sie ist von ganz anderen, inhaltlich und fachlich besser fühlbaren Themen geprägt. »Needadapted Treatment« (bedürfnisangepasste Behandlung), »Hometreatment« (Zu-HauseBehandlung), dritter Sozialraum, medikamentenfreie oder medikamentenarme Behandlung, Recovery, neue Beteiligungskultur, aber auch mehr Eigenständigkeit der Psychiatrie-Erfahrenen, Rückzugsräume, Trialog, Krisenpension, Soteria etc. – so lauten die gut bekannten Leitbegriffe einer neuen, innovativen Sozialpsychiatrie. Einige gemeindepsychiatrische Träger wie die ›Brücke Schleswig-Holstein‹, das ›Kieler Fenster‹ und allen voran die in Bremen aktive ›Gesellschaft für Ambulante Psychiatrische Dienste‹ (GAPSY) sowie die Berliner Pinel-Gesellschaft haben für sich und die gemeindepsychiatrischen Trägerorganisationen bereits seit etwa 2005/2006 das Potenzial der Integrierten Versorgung erkannt. Möglich wurde dies zum einen durch ausgesprochen konstruktive und kooperative Erfahrungen mit der AOK Bremen/Bremerhaven, Handelskrankenkasse (HKK) Bremen im Falle von ›GAPSY‹ sowie der City BKK in Berlin (Pinel). Zum anderen durch einen klugen, sich dem System der ambulanten Gemeindepsychiatrie öffnenden Diskussions- und Verhand-

lungsprozess mit der Bundesgeschäftsstelle der Techniker Krankenkasse (TK) in Hamburg. Insbesondere die TK hat hier mit der keineswegs nur menschen- bzw. Gemeindepsychiatrie-freundlichen, sondern von nüchternem Kalkül geprägten Überzeugung des Sparens bei erwartbarem Qualitätsgewinn erkannt, dass an einer grundlegenden Neuorientierung sowohl bezüglich der Behandlungsinteressen des Patienten als auch der Reduktion der klinischen Kosten kein Weg vorbeiführt. Daher erscheint es nur folgerichtig, dass gerade eine so große Krankenkasse wie die TK sich einem klassischen gemeindepsychiatrischen Träger wie Pinel öffnet.

Integrierte Versorgung praktisch – das Beispiel Pinel Die Vertragsentwicklung Im Februar 2009 wurde nach einer intensiven Vertragsvorbereitung von über einem Jahr zwischen Pinel und der TK der Vertrag zur integrierten Versorgung »NetzWerk für psychische Gesundheit« (NWpG) für Berlin und Brandenburg unterzeichnet. Unmittelbarer Vertragsnehmer ist das Medizinische Versorgungszentrum von Pinel, die MVZ-Pinel gGmbH. Für den Träger Pinel bedeutet dieser Vertragsabschluss den Beginn und die Realisierung eines seit dreißig Jahren angestrebten Paradigmenwechsels bei der Betreuung von Menschen mit seelischen Er-

krankungen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat der ›Dachverband Gemeindepsychiatrie‹ diese Vertragsverhandlungen von Anfang an begleitet und die spezifischen IV-Vertragsformen und ihre Inhalte in den Blick genommen und empfiehlt sie inzwischen seinen Mitgliedern als Muster für eine bundesweite Umsetzung. Der budgetorientierte, auf Flächendeckung zielende und sektorübergreifende Vertrag soll bis Jahresende 2009 in verschiedenen Pilotregionen abgeschlossen werden. Neben Berlin und Brandenburg werden auch Bremen, Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg mit der Umsetzung beginnen. Der TK-Vertrag stellt mit der Übertragung eines Gesamtbudgets an den Vertragsnehmer, wie Pinel, eine Alternative zu den bislang bestehenden IV-Verträgen der Ersatzkassen und Betriebskrankenkassen dar, die primär als Zuschlagsmodelle für den Psychiater oder Nervenarzt zur Refinanzierung von Koordinationsaufgaben ausgelegt sind. Diese Verträge sind der Form nach eher der Gruppe der Strukturverträge zuzuordnen, da ihnen sowohl die Budgetorientierung als auch die Flächendeckung und die sektorenübergreifende Zielsetzung fehlen. Mit dem TK-Vertrag wird bei Pinel nicht nur mit Blick auf das multiprofessionelle Behandlungssetting »Need-adepted Treatment« Neuland beschritten, sondern es wird auch hinsichtlich der Vergütung mit prospektiven, risikoadjustierten »Kopfpauschalen« und einem integrierten Gesamtbudget ein Wechsel innerhalb des Vergütungssystems auf den Weg gebracht. Der Träger Pinel Pinel setzt sich seit ihrer Gründung 1968 als zunächst politische Initiative für psychisch Kranke und für die Rechte von Menschen mit psychischen Leiden und Behinderungen ein. Seit 1979 ist Pinel auch als Versorgungsanbieter tätig und bietet Wohnbegleitung, Kontaktmöglichkeiten sowie Arbeit und Beschäftigung für etwa 700 psychisch erkrankte Menschen in den vier Berliner Bezirken Schöneberg, Lichtenberg, Pankow und Wilmersdorf an. Weitere Versorgungsleistungen werden über die Pinel-Gesellschaften Ambulante Alternative Pinel gGmbH für pflegebedürftige psychisch kranke Menschen, die MVZ-Pinel gGmbH für ärztliche Behandlungsangebote und die Soziotherapie eingebracht. Um die Einbindung der ärztlichen Versorgung in die Integrierte Versorgung sicherzustellen, hat Pinel 2007 das erste Medizinische Versorgungszentrum, MVZ, in Schöneberg gegründet und plant bis 2011 drei weitere für die Bezirke Lichtenberg, Pankow und Wilmersdorf.

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Als neuartige Form der Krisenversorgung wurde das Konzept ›Krisenpension‹ – eine Initiative der PSAG des Bezirks Schöneberg – entwickelt und mit Unterstützung des Bezirksamtes Schöneberg realisiert. Der Trialog zwischen Profis, Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen war in Schöneberg schon lange Normalität und hat die Umsetzung der ersten Krisenpension in Berlin maßgeblich geprägt. Auch andere Bezirke zeigen großes Interesse. Die CITY BKK beteiligte sich als erste Kasse an der Weiterentwicklung dieses Konzepts, indem sie mit dem Träger, der Krisen-

Krankenkassen ausdrücklich vereinbart, um so durch die Erhöhung der Versichertenzahlen das wirtschaftliche Risiko für Pinel hinsichtlich des risikoadjustierten Gesamtbudgets zu minimieren.

pension und Hometreatment gGmbH, in dem Pinel größter Gesellschafter ist, 2007 einen eigenen IV-Vertrag abschloss. Ökonomische Risiken Pinel wird von der TK mit dem Aufbau eines umfassenden Netzwerkes für den ambulanten Sektor beauftragt. Die erforderlichen Ressourcen hierfür werden durch einen Transfer finanzieller Mittel von stationär nach ambulant bereitgestellt. Pinel übernimmt hierbei die Rolle einer Managementgesellschaft und organisiert eigenverantwortlich die Versorgungsinfrastruktur mit den entsprechenden Netzwerkpartnern. Strukturell gesehen handelt es sich um die Bündelung der Gesamtverantwortung für die Steuerung akuter Behandlungen und der kontinuierlichen Betreuung solcher eingeschriebenen Versicherten, die – schriftlich – erklären, das Leistungsangebot der IV der TK nutzen zu wollen. Pinel kann zur Unterstützung dieser Versicherten entsprechende Kooperationsverträge mit anderen Anbietern abschließen. Vergütungstechnisch wird Pinel neben der Gesamtverantwortung für den Sicherstellungsauftrag bezüglich der TK-Versicherten auch das ökonomische Risiko auf der Grundlage vertraglich vereinbarter Bonus- und Malusregelungen übertragen. Zusätzlich wurde im Vertrag die Öffnung für den Beitritt weiterer

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land, mit trialogischer Arbeit deutlich untermauern: Der Einbezug von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrungen, von Angehörigen, auch von Laien erweitert die Perspektiven für Menschen in Krisen, aktiviert ihre Ressourcen und stärkt ihre Selbstbewältigungskräfte.

Umfassende ambulante Krisenversorgung Es geht im Kern um eine nahezu vollständige ambulante Krisenversorgung von psychisch Koordinierungsstelle und Fallmanagement kranken Menschen. Vertragsvoraussetzung Eine bedeutende strukturelle Neuerung stellt sind eine psychiatrische Diagnose, ein ge- die Koordinierungsstelle dar. In der Versorwisser Behandlungsaufwand in den letzten gung psychisch erkrankter Menschen, beMonaten bzw. Jahren sowie die Einschrei- sonders in der Akutversorgung, bildet die bung durch den Klienten in Frage der angemessenen Koordinierung von den Vertrag. Zentral im Kri- Leistungen, ihre kommunikative wie operasenfall oder zur Vorbeu- tive Vernetzung sowie die angebotsübergreigung neuerlicher Krisen ist fende Dokumentation und das Qualitätsmodie Zu-Hause-Versorgung nitoring die vielleicht größte Herausforde(Hometreatment): eine auf- rung. Diese Herausforderung ist, wie einsuchende Behandlung und gangs beschrieben, bislang nur rudimentär Begleitung unter Einbezug durch die verschiedenen Steuerungsinstruder Angehörigen und des mente erfüllbar. Das NWpG verlagert diese Umfeldes des Klienten. Die Steuerungsfrage aus dem Bereich unterArbeit orientiert sich an schiedlichster Akteure in den Wirkungskreis den Erfahrungen in skandi- einer koordinierenden Einrichtung. Die Konavischen Ländern mit der ordinierungsstelle ordnet den Patienten ei»bedürfnisangepassten Be- nem festen Fallmanager zu, der ein Behandhandlung« (Need-adapted lungsteam zusammenstellt, das dem PatienTreatment), besonders in ten für die gesamte Behandlungsdauer zur der Form des »offenen Dia- Verfügung steht. logs« (Open Dialogue): aufDas Team besteht aus dem Fallmanager, suchende therapeutische der als Bindeglied zwischen den verschiedeArbeit multiprofessioneller und mobiler nen am ›Netzwerk‹ teilnehmenden LeisTeams unter fachärztlicher Begleitung mit tungserbringern fungiert. Der Fallmanager bedarfsabhängiger Inanspruchnahme ver- organisiert und koordiniert die einzelnen Beschiedener Angebote wie häusliche psychi- handlungsprozesse und Therapieelemente atrische Krankenpflege, Soziotherapie, Psy- des Teams. Ferner gibt es einen Bezugsbechoedukation, psychotherapeutische Inter- gleiter, der als engste Kontaktperson für die ventionen u.a. Für den Fall, dass das eigene Versicherten (ergänzend zur/zum behandelnWohnumfeld sich als kurzzeitig ungeeignet den und gegebenenfalls an der IV teilnehfür eine Krisenbewältigung erweist, wird menden Ärztin/Arzt) fungiert. Meist gibt es eine Art externes »Zuhause« noch eine zweite Bezugsperson, »Es geht im Kern um vorgehalten: die Krisenpensiwobei diese möglichst ein Psyon oder Krisenbetten, die auch eine nahezu vollständi- chiatrie-Erfahrener, Angehöriim akuten Krisenfall eher eine ge ambulante Krisen- ger oder Laie sein sollte. Der Wohnatmosphäre statt einer Arzt ist ebenfalls Mitglied dieversorgung von Klinikatmosphäre bereithalses Behandlungsteams, sei es psychisch kranken ten (Non-Hospital Setting). der behandelnde niedergelasseMenschen« Dabei werden das ökonomine, der gegebenenfalls durch sche Risiko von intensiv betreuten Kleinst- seinen Klienten in den Vertrag eingebunden einheiten und die Gefahr der Regression in wird, oder einer aus dem trägereigenen MVZ. solchen Settings durchaus gesehen und des- Neben den Leistungen, die durch das Team halb einem strikten Monitoring unterwor- erbracht werden, können weitere Behandfen. lungsangebote wie Ergo-, Sozio- oder PsychoEin weiteres Kennzeichen der Arbeit in therapie hinzugezogen werden. Berlin ist der Trialog: die engmaschige, kontinuierliche Zusammenarbeit und die Hono- Die Vertragsumsetzung rierung der Tätigkeiten Betroffener und An- Pinel hat im September 2009 als erster der gehörigen. Die Arbeit basiert hier auf Erfah- gemeindepsychiatrischen Vertragsnehmer rungen, die die Berliner Krisenpension in mit der stufenweisen Vertragsumsetzung den letzten Jahren in der Krisenversorgung begonnen. Zunächst wird bis 2011 der Vergewinnen konnte. Diese können die Erfah- trag in den vier Berliner Bezirken Schönerungen in anderen Ländern, wie z.B. in Eng- berg, Pankow, Lichtenberg und Wilmersdorf,

in denen Pinel seit Jahren tätig ist, auf den Weg gebracht. Ab 2011 wird der Versorgungsauftrag mit weiteren gemeindepsychiatrischen Kooperationspartnern in ganz Berlin und in Brandenburg umgesetzt. Das Versichertenpotenzial für die vier Startbezirke wurde anhand der Einschlusskriterien von der TK mit rund 8 000 Versicherten beziffert. Für Gesamt-Berlin sind es rund 14 000 Versicherte. Bundesweit wird mit einem Potenzial mit von 230 000 Versicherten kalkuliert. Bezüglich der IV-Einschreibequote geht man auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen von rund 20 bis 30 Prozent aus. Dem Grundsatz der flächendeckenden Vollversorgung folgend, sind alle psychiatrischen Diagnosen eingeschlossen mit Ausnahme von Sucht, hirnorganischen Störungen, Intelligenzminderung und Entwicklungsstörungen. Komplexe Vergütungslogik Der Vertrag ›Netzwerk für psychische Gesundheit‹ basiert auf dem Finanzierungsmodell eines Budgetübertrages der stationären und teilstationären Ausgaben auf den Vertragsnehmer gemäß § 140c SGB V mit dem Ziel der eigenverantwortlichen Umsetzung des Versorgungsauftrags. Die hierbei von der TK an Pinel ausbezahlte Vergütung umfasst die durchschnittlichen, für die eingeschriebenen Versicherten erwarteten Kosten (Kostenprognose) für stationäre und teilstationäre Leistungen sowie die Aufwendungen für die Psychiatrieambulanz, die ambulante Pflege und die Soziotherapie. Die erwarteten Ausgaben der TK für Kliniken, Tagesklinik, Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) etc. werden als Kopfpauschalen der eingeschriebenen Versicherten anteilig im Rahmen eines Budgets an Pinel übertragen. Ambulanter Sicherstellungsauftrag Pinel übernimmt durch den integrierten Versorgungsauftrag auf der Basis eines prospektiv berechneten Budgets die Verantwortung für die gesamte wirtschaftliche und medizinische Versorgung in diesen Bereichen als Sicherstellungsauftrag. Die TK und weitere beitretende Krankenkassen legen für sechs Vergütungsgruppen auf der Basis der bundesweiten Leistungsausgaben eine Kostenprognose pro Versicherten und Jahr für das abzurechnende Kalenderjahr fest. Für das erste Abrechnungsjahr wird die Kostenprognose pro Versicherten anhand einer risikoadjustierten Hochrechnung festgelegt. Es handelt sich hierbei um das statistische Verfahren »Prospective Modelling«, das auch bei der Berechnung des Morbi-RSA (RSA = Risikostrukturausgleich) für den Gesundheitsfonds Verwendung findet. Die Vergütungsgruppen und ihre Kosten-

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prognosen sind somit keine »Fallgruppen«, sondern statistische Gruppen nach dem Homogenitätsprinzip, denen prognostische, keine kalkulatorischen Ausgaben zugeordnet werden. Die Kostenprognosen stellen keine Fallpauschalen, Kostensätze oder Preise dar, sondern sind Kopfpauschalen für die Ermittlung des integrierten Gesamtbudgets des Vertragsnehmers. Wichtig: Die durchschnittlichen Kostenprognosen der »hohen« und der »niedrigen« Vergütungsgruppen sollen sich gegenseitig verrechnen, sodass die Leistungen für den eingeschriebenen Versicherten nicht primär auf die Vergütungsgruppe, sondern auf das Gesamtbudget bezogen werden. Dies bedeutet aber auch, dass der Vertrag je nach Case-Mix, also der Zusammensetzung von leichten und schweren Behandlungsfällen, erst ab einem bestimmten Versichertenpotenzial für den Vertragsnehmer wirtschaftlich ist und entsprechend IV-Teilnehmer der TK beworben werden müssen. Die Auszahlung der Kopfpauschalen erfolgt anteilig als regionale Versorgungspauschale pro Versicherten gemäß der vereinbarten Vergütungslage zwischen Anbieter und Krankenkasse unter Berücksichtigung von Bonus- und Maluszahlungen. Alle anderen Regelleistungen, wie z.B. die Vergütung der Kassenärztlichen Vereinigung, Arzneimittel, sind davon nicht berührt. Der Vorteil dieses Finanzierungsmodells gemäß § 140c SGB V ist die höhere Eigenverantwortung und Flexibilität innerhalb des Versorgungsmanagements. Dies begründet auch einen entsprechenden Bonusund Malusanreiz für die Vertragspartner. Bisherige integrierte Versorgungsverträge mit primär selektivem indikationsbezogenem Zuschnitt oder einfache Vertragsmodelle mit Leistungszuschlägen werden somit zugunsten eines komplexeren, anspruchsvolleren Versorgungsvertrages abgelöst.

klinischer Psychiatrie erheblich verändern. Wenn sie gemeinsam mit innovativen ambulanten gemeindepsychiatrischen Trägern diese ökonomischen und fachlichen Prämissen umsetzt, dürfte in fünfzehn bis zwanzig Jahren das Bild von der Gemeindepsychiatrie als »komplementär«, als die Krankenhausbehandlung ergänzend, endgültig von der Bildfläche verschwunden sein. ■

Integrierte Versorgung – eine Option ohne Alternative Für die GKV ist ein konsequenter Wechsel von der stationären zur ambulanten, integrierten und wohnortnahen Versorgung mit Umlenkung der Geldflüsse vom stationären in den ambulanten Bereich mittelfristig eine Option ohne Alternative. Das Gesundheitsreformgesetz hat die Kassen zu wirtschaftlichen Konkurrenten gemacht, die einen existenziellen ökonomischen Überlebenskampf führen. Dies wird – egal ob man dies gutheißt oder nicht – gemäß Koalitionsvertrag auch bei der schwarz-gelben Regierung so bleiben. Die GKV hat bei der Integrierten Versorgung die entscheidende Gestaltungsmacht und kann das ökonomische und fachliche Verhältnis zwischen ambulanter und

Christian Zechert, Diplom-Soziologe, ist im Vorstand des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie e.V, Bonn; Wolfgang Faulbaum-Decke, vormals Krankenpfleger und Sozialarbeiter, ist Geschäftsführer der Brücke Schleswig-Holstein gGmbH, Kiel, und Vorsitzender des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie e.V., Bonn; Dr. Thomas Floeth, Diplom-Soziologe, ist Geschäftsführer der Krisenpension und Hometreatment gGmbH, Berlin; Marius Greuèl, Diplom-Soziologe, ist Geschäftsführer des MVZ-Pinel gGmbH, Berlin; Dr. Martin Kleinschmidt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Geschäftsführer der Pinel gGmbH, Berlin; Josef Schädle, Diplom-Pädagoge, ist im Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V., Berlin. Literatur: Aktion Psychisch Kranke e.V.: Der Gemeindepsychiatrische Verbund als ein Kernstück der Empfehlungen der Expertenkommission. Band 16 der APK-Schriftenreihe. Bonn 1990. Ernst-Basten, Günter: Wie kann die Integration chronisch psychisch kranker Menschen in die Gemeinde (wirklich) gelingen? In: Kerbe – Forum für Sozialpsychiatrie 1/2008, S. 34 – 36. Faulbaum-Decke, Wolfgang: Kontinuität und Brüche an der Schnittstelle zwischen Klinik und Gemeinde. Vortrag anlässlich der BEB-Psychiatrie-Jahrestagung 2009. Veröffentlicht im Internet unter: www.beb-ev.de Frielingsdorf Consult: Direktverträge: Honorarsteigerungen trotz Ausgabenstopp? In: Newsletter 2/2008. Internet: www.frielingsdorf.de Gesellschaft für Ambulante Psychiatrische Dienste GmbH, Bremen. Internet: www.GAPSY.de Gesundheitsministerkonferenz (GMK) der Länder (Hrsg.) (2007): Psychiatrie in Deutschland – Strukturen, Leistungen, Perspektiven. Internet: www.gmkonline.de Initiative für psychisch Kranke gGmbH, Berlin. Internet: www.pinel-online.de Kruckenberg, Peter et al.: Weiterentwicklung der Krankenhausbehandlung durch ein neues Entgeltsystem. In: Psychosoziale Umschau 4/2009, S. 30 – 33. Pörksen, Niels: Kommunale Psychiatrie. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 19. Salize, Hans-Joachim; Rössler, Wulf; Becker, Thomas: Mental health care in Germany. In: Eur Arch Clin Neurosci 257, 2007, S. 92 – 103. Wienberg, Günther: Gemeindepsychiatrie heute – Erreichtes, aktuelle Herausforderungen und Perspektiven. In: Sozialpsychiatrische Informationen 1/2008, S. 2 – 13. Wolters, Hans-Georg, in: Materialsammlung III zur Enquete über die Lage der Psychiatrie in der BRD. Band 16 der Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Stuttgart u.a. 1974, S. 3. Zechert, Christian; Faulbaum-Decke, Wolfgang: Ambulante Komplexleistung statt klinischer Vollversorgung. Integrierte Versorgung schafft Chancen für die Gemeindepsychiatrie. In: Kerbe – Forum für Sozialpsychiatrie 3/2008, S. 17 – 20.

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Perspektiven der Krankenhausbehandlung Foto: pixelio.de

Was macht das zukünftige Entgeltsystem aus den Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik? Vo n P e t e r K r u c k e n b e r g

M

an darf es ruhig aussprechen: Alles in allem ist die psychiatrisch-psychotherapeutische Krankenhausbehandlung in Deutschland schlecht, vor allem für Patienten mit schweren Beeinträchtigungen und erheblichen sozialen Problemen – konzeptionell rückständig, personell unterbesetzt, gemeindepsychiatrisch kaum integriert. Die Situation auf Akutstationen ist vielerorts im Grunde skandalös. Wir haben uns fast schon daran gewöhnt.

Zur Lage Sämtliche Kriterien für »Prozessqualität« können nicht annähernd erfüllt werden – Beziehungsarbeit, Lebensweltbezogenheit, personale Kontinuität der Begleitung, psychotherapeutische Orientierung, milieutherapeutisches Klima usw. Nicht selten sind psychiatrische Krankenhausbehandlungen nicht nur hilfreich, sondern auch ein zusätzliches Lebenstrauma. Ich zögere, das auszusprechen – der Patienten wegen, denn sie haben meist keine Alternative; der Mitarbeiter wegen, denn viele bemühen sich und würden gern anders arbeiten. Andere sind ausgebrannt, ohne die Erwartung, dass sich etwas bessern könnte. Natürlich gibt es auch gute und lebendige Kliniken – mit einer gewachsenen therapeutischen Kultur und noch erträglicher finanzieller Situation. An denen kann man sehen, wie es anders sein könnte. Damit meine ich nicht die psychotherapeutisch orientierten »Spezialstationen« für »elektive« Patienten, die wenig pflegerische Betreuung brauchen, deshalb mehr Ärzte und Psychologen einstellen können, denen

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auch längere Verweildauern zugestanden werden, die bei Verhaltensproblemen auf die Akutstationen verlegen und für den Träger lukrativ sind – entweder für Gewinnentnahmen oder für die schon sprichwörtliche »Quersubventionierung« anderer Krankenhausbereiche. Wenn ich es richtig sehe, interessieren sich nicht viele Menschen für die Lage im psychiatrischen Krankenhaus – auch in der DGSP so viele nicht. Immer mehr DGSPler hat es in die »komplementären« Bereiche gezogen, in denen die Arbeit auch nicht leicht ist, aber oft selbstständiger zu gestalten. Von dort wird die Klinik oft kritisch gesehen, sachlich durchaus zu Recht, aber nicht selten mit wenig Verständnis für die Situation der Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter.

Zur Vorgeschichte Das psychiatrische Krankenhaus hat eine lange Geschichte als Zufluchtsort, wenn nichts anderes hilft, und zugleich als Ort inhumaner Ausgrenzung – bis hin zu den Patiententötungen in der Nazizeit. Nach dem Weltkrieg wurden »die elenden und menschenunwürdigen« Zustände in den Krankenhäusern erst 1973 von der Enquete-Kommission öffentlich gemacht und in der Enquete dann die Zukunft des Krankenhauses positiv als zentrales Behandlungszentrum im Versorgungsgebiet beschrieben. Immerhin gab es in den Jahren danach einige bauliche Verbesserungen, auch die Einrichtung von Institutsambulanzen. Aber erst 1991 wurde mit der PsychiatriePersonalverordnung (Psych-PV) ein verbindlicher Rahmen für eine angemessene Perso-

nalausstattung geschaffen, der auf der Grundlage eines berufsübergreifenden sozialpsychiatrisch-psychotherapeutischen Konzepts die Aufgaben der Mitarbeiter differenziert beschrieb und mit Minutenwerten für ihre Tätigkeiten absicherte. Durch die so definierte Personalbemessung – mit der Festschreibung, dass das Personal auch einzustellen, sonst das Geld zurückzuzahlen sei – wurde in vier Jahren die Personalsituation bundesweit fast überall verbessert, um durchschnittlich zirka 20 Prozent. Die tief greifenden Auswirkungen auf die Qualität der Behandlung wurden auch von den Krankenkassen und den Fachverbänden anerkannt (Evaluation der Aktion Psychisch Kranke [APK] 1996). Was oft verschwiegen wird: Die Psych-PV war eine Investition mit Einspareffekt. Von 1991 bis 2004 stieg die Fallzahl um 80 Prozent. Dennoch sank die Zahl der Berechnungstage um 33 Prozent (!) (in der Somatik: Fallzahlen plus 14 Prozent, Berechnungstage minus 27 Prozent). Der damit verbundene zusätzliche Leistungsaufwand war auch bei 100 Prozent Psych-PV-Ausstattung kaum zu verkraften – darüber hinaus aber wurde 1996 die Bundespflegesatzverordnung (BPflV) so geändert, dass es streitig war, ob wegen der weiterhin gültigen Psych-PV die dafür erforderlichen Personalkosten auch finanziert werden müssten. Die Krankenkassen weigerten sich, die wenigsten Krankenhausträger wagten den Konflikt. Beide Seiten verhielten sich so, als gelte die Psych-PV nicht mehr, allenfalls eingeschränkt. Es kam zum sprichwörtlichen »Sinkflug der Personalausstattung«. Bei großer Streuung zwischen den Kliniken war die

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Personalbesetzung 2004 (Jahr der zweiten sorgungssituation ermittelt werden. Der EntEvaluation durch die APK) bis auf 89 Prozent wurf enthielt aber keine verbindliche VorgaPsych-PV im Durchschnitt gefallen, bei 13 be, inwieweit vorher die Personalbemessung Prozent der Häuser lag sie unter 80 Prozent – der Psych-PV wiederhergestellt werden sollte. mit weiterhin fallender Tendenz in den Fol- Ein derartiges Vorgehen hätte nur eine »Umgejahren. Hinzu kam in vielen psychiatri- verteilung der Unterversorgung« erzeugt. schen Kliniken ein zusätzlicher PersonalabErst in der letzten Woche vor der Verabbau durch die Quersubventionierung ande- schiedung im Dezember 2008 erreichten enrer Krankenhausbereiche aus den Erlösen gagierte Abgeordnete im Gesundheitsausder Psychiatrie. Insgesamt war die Personal- schuss des Bundestages eine wesentliche situation Ende 2008 trotz der inzwischen er- Verbesserung des inzwischen – im Januar heblichen Leistungsverdichtung vielerorts 2009 – in Kraft getretenen Gesetzes. schlechter als vor der Psych-PV. Das Gesetz beauftragt die SelbstverwalNeben der Evaluation der Psych-PV durch tungspartner – den Spitzenverband der gedie APK haben 2007 vor allem zwei Initiati- setzlichen Krankenkassen (GKV), die private ven den Druck in Richtung einer gesetzli- Krankenversicherung (PKV) und die Deutchen Neuordnung verstärkt: sche Krankenhausgesellschaft (DKG), unter■ In einem Konsenspapier aller Fachverbänstützt durch das Institut für das Entgeltsysde und Bundesarbeitsgemeinschaften wur- tem im Krankenhaus (InEK) – ein neues tade die Notwendigkeit der Weiterentwick- gesbezogenes Entgeltsystem zu entwickeln.1 lung des Entgeltsystems für die Kliniken für Dabei soll von den Behandlungsbereichen Psychiatrie und Psychotherapie mit folgen- der Psych-PV ausgegangen werden. »Ein Fallbezug wie bei beim DRG-System erscheint ... der fachlichen Zielsetzung betont: »Komplexe Krankenhausbehandlung fin- grundsätzlich nicht geeignet«, heißt es in der det im Krankenhaus und vom Krankenhaus Gesetzesbegründung. Vielmehr wird auf fachliche Konzepte zur Einfühaus in der Lebenswelt des Patienten statt. Die Behandlung »Was oft verschwiegen rung von Vergütungssystewird: Die Psych-PV men hingewiesen, »die eine durch das Krankenhaus ist auswar eine Investition flexiblere Behandlung der Pagerichtet auf die Durchführung mit Einspareffekt« tienten ermöglichen, z.B. im zielgruppenorientierter, persoRahmen von Jahresbudgets nenzentrierter Komplexleistungen mit flexiblem Einsatz von individuell für Patientinnen und Patienten und durch angepasster ambulanter, teilstationärer und eine sektorübergreifende Versorgung unter vollstationärer Diagnostik und Therapie. Einbeziehung der psychiatrischen InstitutsDurch den Ausbau mobiler, aufsuchender, ambulanzen der Krankenhäuser nach § 118 kontinuierlich begleitender ambulanter Be- SGB V«. Von diesem Gesetzesauftrag sollen im Folhandlung durch multiprofessionelle Teams soll insbesondere vollstationäre Behandlung genden nur die drei für die spätere Umsetzung vorrangigen Aufgaben erörtert werden: verkürzt oder vermieden werden.« Fallpauschalen wurden als fehlsteuernd – die Wiederherstellung der Umsetzung der Psych-PV, abgelehnt. ■ Ähnlich äußerte sich die Arbeitsgemein– die Ermittlung tagesgleicher Pflegesätze schaft der Obersten Landesgesundheitsbefür unterschiedliche Patientengruppen, hörden (AOLG), mit der ausdrücklichen Ziel- – die Bearbeitung von Prüfaufträgen bezügsetzung der »Flexibilisierung des Ortes der lich der zukünftigen Steuerung des SysLeistungserbringung« in Richtung »Hometems. treatment« und dem Hinweis, dass bei schlechter Behandlungsqualität mit einem 1. Aufgabe: Die Wiederherstellung der höheren Aufwand in der Eingliederungshil- Umsetzung der Psych-PV fe, aber auch in der Forensik zu rechnen sei. Der Gesetzgeber hat offensichtlich erkannt, dass eine für die Versorgungsaufgaben angemessene Ausstattung mit therapeutischem Das neue KrankenhausfinanzierungsPersonal das entscheidende Kriterium für reformgesetz (KHRG) Strukturqualität ist. Aus diesem Grund wurDer vom Bundesministerium für Gesundheit de festgeschrieben, dass – ausgehend von 2007 erarbeitete Gesetzentwurf des KHRG der Besetzung der Stellen am Stichtag 31. Desah vor, anstelle von Fallpauschalen »ein eigen- zember 2008 – die Personalbesetzung geständiges, tagesbezogenes, pauschaliertes mäß Psych-PV allein auf Aufforderung durch Vergütungssystem für psychiatrisch-psycho- das Krankenhaus auf mindestens 90 Prozent therapeutische Krankenhäuser und Fachab- zu vereinbaren ist, »unabhängig davon, ob teilungen zu entwickeln«. Diese sollten, ähn- diese Stellen schon bei einer früheren Pflegelich wie das bei den Fallpauschalen (DRG-G) satzvereinbarung berücksichtigt worden geschah, empirisch aus der gegebenen Ver- sind«. Bei gegebenem Bedarf sind 100 Pro-

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zent festzulegen.2 In der Begründung heißt es: »Ziel ist und bleibt die vollständige Umsetzung der Psychiatrie-Personalverordnung.« Was folgt daraus? Jedes Krankenhaus hat die Aufgabe, die Psych-PV-Ausstattung am 31. Dezember 2009 zu ermitteln und – falls niedriger als 90 Prozent – die Finanzierung der fehlenden Stellen unverzüglich einzufordern. In einem zweiten Schritt ist die Differenz zu 100 Prozent zu verhandeln, hier unter Prüfung der Bedarfslage, insbesondere bezüglich der der Berechnung zugrunde liegenden Belegungserwartungen. Die Sicherstellung der gebotenen Personalausstattung ist für den weiteren Prozess der Erarbeitung entscheidend. Sonst wird die Unterausstattung auf Dauer festgeschrieben. Was geschieht derzeit in den Bundesländern und in den einzelnen Regionen? Es gibt keine umfassende Übersicht: Einige Krankenhäuser waren sehr erfolgreich – nicht wenige haben noch gar nicht verhandelt. Die Gründe dafür können vielfältig sein, etwa sich ein gutes Klima mit den Kassen zu erhalten, zugunsten des Verhandlungsergebnisses in anderen Bereichen, oder auch die Sorge, dass vorbestehende Quersubventionierungen in der Verhandlung offensichtlich werden u.a. Das Ergebnis ist dasselbe: Entgegen den gesetzlichen Vorgaben werden weiterhin psychisch kranke Patienten benachteiligt und die für sie zuständigen Mitarbeiter zusätzlich belastet. Die DGSP Bremen hat der Geschäftsführung der Holding der Kommunalen Krankenhäuser ein kurzes Positionspapier zugeschickt3 und darüber mit dem Geschäftsführer gesprochen. Mit übereinstimmender Haltung bezüglich der langfristigen Planung – Anstreben eines Regionalbudgets (s.u.) –, aber aktuell unbefriedigend, weil die Personalbesetzung gemäß Psych-PV als Betriebsgeheimnis behandelt wird. Dazu werden von der DGSP Kontakte zur Besuchskommission und zur Landesregierung (Rechtsaufsicht) vorbereitet. Wir empfehlen allen DGSP-Landesverbänden, sich bei ihren regionalen Krankenhäusern ebenfalls aktiv einzubringen und die Ergebnisse der DGSP-Bundesgeschäftsstelle mitzuteilen. 2. Aufgabe: Die Ermittlung tagesgleicher Pflegesätze für unterschiedliche Patientengruppen Das neue Vergütungssystem soll gemäß KHRG schrittweise entwickelt und 2013 umgesetzt werden. Dazu sollen – in einem ersten Schritt »bestimmte, medizinisch unterscheidbare Patientengruppen« definiert werden, – in einem zweiten Schritt fachlich begrün-

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dete Leistungskomplexe genau beschrieben Weg gewählt, weil die Relationen »empiwerden, denen man in ausgewählten, so risch« zu ermitteln seien – die Psych-PV sei genannten Kalkulationskrankenhäusern aber »normativ.« Kosten zuordnen kann.4 Ein nennenswerter Unterschied ist natürBeides erscheint sehr kompliziert, ist aber lich nur dann gegeben, wenn sich die Selbstnur eine einfache Rechenaufgabe, wenn die verwaltung nicht an die Psych-PV hält, d.h. Patientengruppen und die Leistungskomple- diese aktuell noch einmal gesetzlich festgexe vernünftig definiert werden. legte Norm ignoriert. Gehen die Akteure bei Glücklicherweise hat man sich über die Patientengruppen schnell und sachgerecht geeinigt: Es bleibt bei den 25 Behandlungsbereichen der Psych-PV.5 Die Aufgabe, die das Leistungsgeschehen im Krankenhaus ausmachenden wesentlichen Leistungskomplexe angemessen zu beschreiben, scheint für die gegenwärtig damit befassten Akteure angesichts unterschiedlicher Fachkompetenzen und Interessen zurzeit noch nicht zu bewältigen zu sein. Hektische Verhandlungsaktivitäten haben zu einem ersten kuriosen Ergebnis geführt, das nicht ungefährlich für die weitere Entwicklung ist. Hier muss ich ins Detail gehen, denn das Ergebnis betrifft alle Patienten und alle Mitarbeiter und kann der DGSP nicht gleichgültig sein. Es geht um Folgendes: Anstelle eines einheitlichen Tagespflegesatzes für alle Patienten sollen Tagessätze für die Patienten der Behandlungsbereiche (A1, A2 ... usw.) erarbeitet werden. Es der Umsetzung eines Gesetzes davon aus, muss also für A1, A2 ... usw. das Verhältnis des dass Teile des Gesetzes sowieso nicht umgeRessourcenverbrauchs und damit der Kosten setzt werden? Von wem nicht und warum ermittelt werden. Das ist eigentlich einfach, nicht? denn in der Psychiatrie gehen über 70 ProDie ersten Vorarbeiten »auf dem empirizent der Kosten auf Ausgaben für das thera- schen Weg« haben zu merkwürdigen Ergebpeutische Personal zurück, und dieses ist nissen geführt. Beraten durch Experten, vor durch die weiterhin gültige Psych-PV festge- allem der Deutschen Gesellschaft für Psyschrieben. (Die übrigen Kosten sind für das chiatrie, Psychotherapie und NervenheilkunKostenverhältnis zwischen den Behand- de (DGPPN), wurde nach den für den Reslungsbereichen kaum relevant.) Unter dieser sourcenverbrauch relevanten LeistungskomVoraussetzung habe ich (unter Einbeziehung plexen gesucht. Als entsprechende »kostender unterschiedlichen Nachtwachenbeset- trennende« Leistungskomplexe wurden Einzung) die Relationen grob bezel- und Gruppentherapien von rechnet und dies auch an »Die Sicherstellung der mindestens 25 Minuten (oder eipraktischen UmsetzungserPersonalausstattung nem Vielfachen) bestimmt, dafahrungen einschätzend valigegen die pflegerisch-milieuist entscheidend« diert. Überschlägiges Ergebtherapeutische Behandlung nis: Der Ressourcenverbrauch und Rund-um-die-Uhr-Betreuvon Regelbehandlung zu Intensivbehand- ung als nicht differenzierende Hintergrundlung zu Psychotherapie verhält sich in etwa saktivität (»weißes Rauschen von Kurzinterwie: A1 : A2 : A5 = 1 : 1,3 : 0,8. ventionen« – so in einer Diskussion) angeseDas ist auch für krankenhausferne Men- hen. schen plausibel, hängen doch die Relationen Das ist natürlich falsch und fehlleitend. Jeim Wesentlichen von der Besetzung mit Pfle- der, der die Stationsrealität im Auge hat, gekräften, der weitaus größten Berufsgrup- sieht sofort, dass es der Leistungskomplex pe, ab. pflegerisch-milieutherapeutische LeistunDie Partner der Selbstverwaltung, unter- gen über 24 Stunden ist, der quantitativ den stützt durch das InEK, haben einen anderen wesentlichsten Kostenunterschied zwischen

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den verschiedenen Behandlungsbereichen ausmacht. Den Leistungskomplex Milieutherapie und Pflege6 muss man natürlich auch als ein konzeptionell wichtiges zentrales Leistungsgeschehen in der stationären Behandlung ernst nehmen. In Abhängigkeit von den besonderen Hilfebedarfen muss für jeden Behandlungsbereich die Mitarbeiter-Patienten-Relation über 24 Stunden als Vorhalteleistung festgelegt werden.7 Wenn allerdings der Ressourcenverbrauch für therapeutische Angebote ausschließlich durch die Zahl von 25-Minuten-Leistungspaketen gemessen wird und der des Leistungskomplexes Milieutherapie und Pflege außer in solchen Angeboten überhaupt nicht, führt das bei überschlägiger Berechnung notwendig zu einer absurden Relation zwischen den Behandlungsbereichen – überschlägig gerechnet: A1 : A2 : A5 = 1 : 1,1 : 1,5. Das hieße, dass die Psychotherapiestation zirka 40 Prozent teurer wäre als die Intensivbehandlung – in der Realität verursacht Letztere etwa 60 Prozent höhere Kosten. Eine Erhebung nach diesem Muster kann also nicht zielführend sein. Die Dokumentation des Leistungsgeschehens ist aber für alle Kliniken, nicht nur für die Kalkulationskrankenhäuser, auf diese Weise ab 1. Januar 2010 zwingend vorgegeben.8 Das bedeutet, dass für eine von vornherein unbrauchbare (jedenfalls für den intendierten Zweck) Erhebung, die Mitarbeiter von seit Jahren unterbesetzten Kliniken einen zusätzlichen erheblichen Dokumentationsaufwand leisten müssen. Dazu noch eine Nebenwirkung: Diese Art der Erhebung erweckt zwangsläufig bei den Mitarbeitern den Eindruck, als sei die milieutherapeutische Arbeit zweitrangig.9 3. Aufgabe: Die Bearbeitung von Prüfaufträgen bezüglich der zukünftigen Steuerung des Systems Dies ist die schwierigste Aufgabe für die Selbstverwaltung, die erst im Laufe des Verfahrens angegangen werden wird. Es soll geprüft werden, »ob für bestimmte Leistungsbereiche andere Abrechnungseinheiten eingeführt« und ob die Leistungen der psychiatrischen Institutsambulanzen nach § 118 SGB V einbezogen werden können. Tagesbezogene Entgelte sind nämlich für die Steuerung der Versorgung nicht ausreichend – sie beinhalten Anreize für die Krankenhausträger, die vollstationäre Behandlung zu zementieren oder auszuweiten, vor

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allem im Bereich Psychotherapie und Psy- für ihr Zustandekommen. Mehreres scheint chosomatik. Deshalb macht die Einbezie- da zusammengekommen zu sein: hung der Institutsambulanzen durchaus (a) der völlig überflüssige Zeitdruck durch Sinn, wenn dadurch Umschichtungen aus Gesetzgeber und BMG, nachdem die Politik dem vollstationären in den ambulanten Be- 1996 das Problem der Psych-PV-Umsetzung reich, z.B. im Sinne von Hometreatment, er- verursacht und dann bis 2008 nichts getan möglicht würden. hat; Bei einzelfallbezogenen, die Tagespau- (b) Kompetenzdefizite bei den Akteuren der schalen übergreifenden Pauschalierungen Selbstverwaltung und ihrer Helfer hinsichtmuss man aufpassen, dass dadurch nicht lich des Leistungsgeschehens in der PsychiaFallpauschalen durch die Hintertür oder pri- trie auf dem internationalen Stand der Entvilegierte Behandlungen für wicklung; »Ich bin überzeugt, ausgesuchte Patientengruppen (c) unzureichende Akzeptanz dass sich auf Dauer das normativer gesetzlicher Voreingeführt werden. Ich bin überzeugt, dass sich Regionalbudget durch- gaben hinsichtlich der Umsetzen wird« auf Dauer das Regionalbudget setzungserfordernisse (Realifür die psychiatrisch-psychothesierung der Psych-PV); rapeutische Krankenhausbehandlung durch- (d) mangelnde Bereitschaft der Akteure, die setzen wird, weil es dem Krankenhaus die finanziellen Interessen ihrer Organisationen optimale Flexibilisierung patientenbezoge- mit den berechtigten Ansprüchen der psyner Leistungen ermöglicht und Krankenhäu- chisch kranken Menschen angemessen absern wie Krankenkassen mehr finanzielle zugleichen; Planungssicherheit gibt. Verlässliche Pla- (e) Organisation der Arbeitsprozesse in der nungssicherheit für die psychisch kranken Abschottung von fachlicher und allgemeiner Menschen und die Mitarbeiter liefert das Re- Öffentlichkeit verbunden mit überfallartigionalbudget allerdings nur dann, wenn es gen nachhaltigen Entscheidungen. mit einem Transparenz schaffenden, die Da gibt es einiges zu ändern, und das ist Nutzerinteressen stärkenden und die Effi- angesichts der Komplexität des Feldes nicht zienz evaluierenden regionalen Qualitätssi- aus dem Stegreif möglich. cherungssystem verbunden wird.10 Es gibt durchaus gute Perspektiven. LetztDie Prüfaufträge wurden von DKG und lich wäre ein Finanzierungssystem, das stärGKV zunächst zurückgestellt – angesichts ker ambulant und gemeindepsychiatrisch der Unstimmigkeiten bei der Entgeltvorbe- orientiert und sorgfältig regional qualitätsreitung sicherlich sinnvoll. gesichert ist, im wohlverstandenen Interesse Ob die Selbstverwaltung mit der Unter- auch der Krankenkassen und der Politik. Für stützung des InEK und der Begleitung des die aktuell prozesssteuernden Akteure ist BMG allerdings zu Lösungen finden wird, die diese Perspektive bisher noch ungewohnt. der komplexen Fachlichkeit gerecht werden, Das kann sich ändern. die schwierigen Steuerungsfragen zielfühDer Prozess ist auf der Kippe. Jetzt und rend lösen und vor allem die berechtigten vielleicht in den nächsten zwei Jahren kann Ansprüche der Patienten erfüllen, muss nach noch Einfluss genommen werden: über die den aktuellen Erfahrungen bezweifelt wer- persönlichen und organisatorischen Netzden. Gerade wegen der notwendig begrenz- werke, in denen Psychiatriereformer – dazu ten Perspektive, aus der die Beteiligten (DKG, gehören auch Psychiatrie-Erfahrene und AnGKV, InEK, BMG) jeweils agieren, nicht zu- gehörige – arbeiten, regional und auf Bunletzt auch wegen der jeweiligen finanziellen desebene. Sonst bleibt die Klinik für PsychiaInteressen, sind maximale Transparenz und trie, Psychotherapie und Psychosomatik für Öffentlichkeit des Diskurses und ausrei- zehn bis fünfzehn Jahre auf die Betten fixiert chend Zeit dafür erforderlich. und gemeindepsychiatrisch ein Fremdkörper. Und teuer. Ich glaube, hier muss die DGSP Flagge zeiEin Thema für die DGSP? gen – das »Memorandum zur Anwendung Ist die Arbeit am zukünftigen Vergütungs- von Antipsychotika« ist schon auf diesem system für die Kliniken für Psychiatrie, Psy- Kurs. ■ chotherapie und Psychosomatik ein Thema Prof. Dr. med. Peter Kruckenberg, Facharzt für Psychiafür die DGSP? trie und Psychotherapie, war bis 2004 Ärztlicher Direktor Ist das nicht alles zu speziell, zu komplex, am Klinikum Bremen-Ost. zu krankenhausbezogen, zu politisch, zu wenig beeinflussbar? Anmerkungen: Die kapitale Panne bei der Erarbeitung der 1 Eine gute, kommentierte Übersicht über den Gesetzestext findet sich bei J. Fritze: Neue Regelungen für EinOperationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) richtungen der Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder9-60 bis 9-69 kam zur rechten Zeit. Sie verund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie langt nach einer Diagnose der Bedingungen

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Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG). In: Der Nervenarzt 2009; 80: 485 – 494. 2 Die Verhandlungen sind gemäß Gesetz schiedsstellenfähig. 3 Tendenz: Psychisch kranke Menschen brauchen Unterstüzung bei der Sicherung ihrer Ansprüche. Dafür ist Transparenz hinsichtlich Struktur- und Prozessqualität erforderlich. Anfordern per E-Mail bei: [email protected] 4 In einem dritten Schritt werden diese dann über die Kalkulationskrankenhäuser gemittelt und daraus die »Relativgewichte« für die unterschiedlichen Tagespauschalen errechnet, die – multipliziert mit einem ebenfalls ermittelten »Basiswert« – die Tagespauschalen ergeben. 5 Wer sich da nicht auskennt, ganz kurz: vollstationäre 1. Regelbehandlung, 2. Intensivbehandlung, 3. Rehabilitative Behandlung, 4. Langdauernde Behandlung Schwerkranker, 5. Psychotherapie, außerdem 6. Tagesklinische Behandlung, und zwar für die drei Diagnosegruppen A = Allgemeine Psychiatrie, S = Abhängigkeitskranke, G = Gerontopsychiatrie. Macht 6 x 3 = 18 »Behandlungsbereiche«. Dazu sieben der Kinder- und Jugendpsychiatrie. 6 Definition z.B.: »Fortwährende Betreuung und ständige Beobachtung von Kranken zur Vermeidung von und zur schnellen Entaktualisierung von Gefährdungssituationen mit der jeweils im Pflegeplan vorgesehenen Intensität, entlastende und Orientierung gebende Kurzkontakte, Gespräche mit besuchenden Angehörigen und anderen außen stehenden Personen, aktivierende Mithilfe bei der Selbstversorgung und der Bewältigung des Tagesablaufs, Pflegeverrichtungen, therapeutische Milieugestaltung für die ganze Station« – vgl. Aufgabenbeschreibung in den Materialien zur Psych-PV. 7 So sind die oben angegebenen Relationen A1 : A2 : A3 berechnet worden. Das ist übrigens nicht grundsätzlich anders als die bei den DRG vielfach übliche Festlegung von Mindestmerkmalen. 8 Vorgabe der OPS 9-60...9-69 vom Dt. Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Stand: 26.10.2009): http://www.dimdi.de/ static/de/klassi/prozeduren/ops301/opshtml2010/ block-9-60...9-64.htm ergänzend für besondere diagnostische Maßnahmen OPS 1-90: http://www. dimdi.de/static/de/klassi/prozeduren/ops301/ opshtml2010/block-1-90...1-99.htm 9 Ich empfehle, die OPS-Definitionen genau zu lesen – sie enthalten in Teilbereichen gute Übersichten und sinnvolle Ergänzungen, etwa hinsichtlich aufwändiger diagnostischer und therapeutischer Zusatzleistungen. Für weitere Diskussionen wird sicherlich die Trennung zwischen den OPS Psychotherapeutische Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-62) und Psychosomatisch-psychotherapeutische Komplexbehandlung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei Erwachsenen (9-63) sorgen, Letztere nur anzuwenden bei Leitung durch einen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 10 Kruckenberg, P.: Psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung durch das Krankenhaus. Rahmenbedingungen zur Entwicklung eines sektorübergreifenden Budgets für die regionale Pflichtversorgung. In: Psychiatrische Praxis 2009; 36: 246 – 251.

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Es ist nicht alles Gold, was glänzt ... Integrierte Versorgung und Soziotherapie – Berliner Erfahrungen Vo n I l s e E i c h e n b r e n n e r

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atrischen Alltag eher Einzelfälle, denn der Klient sollte im Idealfall Mitglied der richtigen Krankenkasse sein, um »eingeschlossen« zu werden, wie es etwas merkwürdig in der Terminologie der IV heißt. Es sind schon Glücksfälle, wenn dann auch noch die behandelnden Ärzte und der Patient selbst mitspielen. Aber Soziotherapie kann ja – wenn auch schlechter bezahlt – auch außerhalb der IV verordnet werden. Im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, wo das Modell besonders lang etabliert ist, sind diese Glücksfälle immer häufiger. So ist neben die Eingliederung als Leistung der Fürsorge die rasche Einleitung hoch qualifizierter Leistungen zur psychosozialen Behandlung getreten, wobei gute Übergänge zwischen den Systemen gelingen, weil einige Träger Leistungen beider Stränge anbieten. Vielleicht ist es an der Zeit, einmal die Soziotherapeuten und Patienten direkt nach ihren Erfahrungen zu fragen? Foto: Wolfgang Schmidt

n Berlin wird zurzeit viel über die Integrierte Versorgung (IV) gemunkelt und gestritten. Es gibt Konkurrenzen, Modelle, Gerüchte und Meinungen. So freuen sich manche, endlich sei mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) der richtige Kostenträger für die psychosoziale Versorgung im Boot. Andere meinen: »In drei Jahren redet kein Mensch mehr über die IV. Das ist alles viel zu kompliziert und zersplittert.« Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Die Verhandlungen mit den Krankenkassen sind von ungewohnter Härte. Dagegen sind die Verteilungskämpfe in der Eingliederungshilfe ein Klacks. Verträge werden geschlossen – und schnurstracks wieder modifiziert, wenn bestimmte Patientengruppen trotz IV zu viel Geld kosten. Es wird nachverhandelt, Leistungen werden kurzerhand wieder gekürzt oder kurzerhand »ausgeschlossen«. 2003 wurde in Berlin der Verein ›Psychiatrie und seelische Gesundheit‹ gegründet. Insbesondere niedergelassene Psychiater haben sich zusammengeschlossen, um die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit affektiven und schizophrenen Psychosen zu verbessern. Im Dezember 2006 konnte der Verein in Berlin den ersten Vertrag zur »Integrierten Versorgung« mit der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) abschließen, weitere folgten. Der Vertrag bezieht sich auf ein breites Spektrum von Diagnosen – Psychose, Depression, Alkoholabhängigkeit, psychosomatische Erkrankungen und Demenz – und entspricht in groben Zügen dem niedersächsischen Modell [siehe den Beitrag von M. Walle und W. Reichwaldt auf Seite 22]. Kernstück ist ein sozialpsychiatrischer Behandlungsverbund, dem vor allem Psychiater, Hausärzte und Träger angehören, die ambulante Soziotherapie, psychiatrische Pflege oder Ergotherapie anbieten. Die bereits angekündigte Einbeziehung der Psychotherapeuten wurde wieder gecancelt. Neben den Kliniken und dem Berliner Krisendienst sind auch die Sozialpsychiatrischen Dienste als Kooperationspartner angesprochen und zur Teilnahme an Konferenzen und Qualitätszirkeln eingeladen. In der alltäglichen Arbeit hat sich aus Sicht des Sozialpsychiatrischen Dienstes besonders die rasche Verordnung von Soziotherapie und ambulanter psychiatrischer Pflege (APP) zur Überbrückung von Krisen und zur Vermeidung von stationären Behandlungen bewährt. Noch sind dies im »harten« sozialpsychi-

Im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten in der SP-Redaktionsgruppe zu diesem Themenschwerpunkt habe ich vorsichtig bei einem Kollegen und einer Kollegin von Platane 19 e.V. angefragt und bei dieser Gelegenheit erfahren, dass es sogar eine Balint-Gruppe der Soziotherapeuten in Berlin gibt. In den folgenden Beiträgen berichten Michael Puls (aus Therapeutensicht) und zwei Klientinnen von ›Platane 19‹ (siehe Seite 15 ff.). Und auch die Soziotherapeutin Christine Schwarzbach (Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Berlin-Lichtenberg) hat eine Patientin um ihre Erfahrungen gebeten (siehe Seite 18). Wir danken natürlich allen, insbesondere aber den Patientinnen für ihre Offenheit und ihren Mut. ■ Mehr Informationen zu dem hier nur angerissenen IV-Konzept sind im Internet zu finden unter http://www. psychiatrie-in-berlin.de/integrierte_versorgung.php

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»Ein hohes Maß an Lebensqualität ermöglichen« Soziotherapie als Angebot im Rahmen integrierter Versorgungsformen am Beispiel von Platane 19 e.V. Annähernd zweihundert Soziotherapien hat der Verein ›Platane 19‹ in Berlin inzwischen durchgeführt. Michael Puls blickt zurück, berichtet über Erfahrungen und Probleme und benennt Forderungen für eine breite und effektive Umsetzung von Soziotherapie. Vo n M i c h a e l P u l s

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eit 2001 gibt es gesetzlich, seit zirka 2005 – jedenfalls in einigen Bundesländern – auch in der Praxis das Angebot der Soziotherapie. In der Regelversorgung richtet sich dieses Angebot an Patienten von Psychiatern/Nervenärzten, die unter wahnhaften Störungen leiden. Maximal können 120 Einheiten innerhalb von drei Jahren verordnet werden, ausschließlich von Psychiatern und Nervenärzten. Zuvor war die Begleitung psychisch Erkrankter außerhalb des klinischen Rahmens überwiegend den Leistungserbringern der Eingliederungshilfe (SGB XII) überlassen. Mit Einführung der Soziotherapie fand also auch ein Paradigmenwechsel statt: weg von der Grundsicherungsleistung hin

zur »normalen« medizinischen Krankenkassenleistung.

Geschichte und erste Probleme In der Soziotherapiepraxis der folgenden Jahre wurde eine ganze Reihe von Problemen deutlich. Hier eine Auswahl: 1. Der mit den Kassen ausgehandelte Vertrag zog eine Fülle von Umsetzungsproblemen nach sich: So sind zum Beispiel einerseits die fachlichen Anforderungen an das Personal sehr hoch, (Vorerfahrung und Berufsausbildung als Zulassungsvoraussetzung), andererseits aber die Vergütungssätze so niedrig, dass das entsprechende Personal davon nicht kostendeckend finanziert werden kann. 2. Jeder interessierte Psychiater/Nervenarzt muss bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einen Antrag auf »Berechtigung zur Verordnung von Soziotherapie« stellen, um dann auch tatsächlich verordnen zu können – eine rein formale Hürde. Uns ist kein Nervenarzt bekannt, der die Voraussetzungen nicht erfüllt, aber eine ganze Reihe von Ärzten, die vor diesem Aufwand zurückschrecken. 3. Überhaupt dürfen nur Psychiater/Nervenärzte verordnen (Hausärzte lediglich drei Stunden, um die Anbindung an einen Nervenarzt zu ermöglichen); und dann auch nur für Patienten mit der Diagnose »wahnhafte Störungen« (ICD-10: F20-25 und F31-33), also ein sehr eingeschränktes Diagnosespektrum. 4. Verordnet werden kann nur bei einem bestimmten GAF-Wert (Schweregrad der Erkrankung), was bedeutet, dass die Klienten relativ schwer krank sein müssen. Andererseits müssen sie, wie in den SoziotherapieRichtlinien gefordert, »absprachefähig« sein. Hohe (nicht finanzierte) Ausfallzeiten sind so unvermeidbar. 5. Es gibt große Informationsdefizite bei vielen Nervenärzten und häufig ein völliges Desinteresse an der Soziotherapie. 6. In einigen Bundesländern findet, blockiert durch die Krankenkassen, Soziotherapie überhaupt nicht statt.

Die Intention des Gesetzgebers In der ambulanten Versorgung psychisch erkrankter Menschen hat sich gezeigt, dass es häufig mit der Umsetzung der Therapiepläne Probleme gibt. Medikamente werden eigenständig abgesetzt, der regelmäßige Arztbesuch findet nicht statt etc. In der Folge verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Patienten, und es häufen sich stationäre psychiatrische Behandlungen. Aber auch hier – an der Schnittstelle zwischen Klinikbehandlung und der Versorgung in der Nervenarztpraxis – hakt es. Es gibt Kommunikationsdefizite, Behandlungspläne sind nicht aufeinander abgestimmt und laufen aneinander vorbei, und es entstehen enorme Kosten und auch Belastungen für den Patienten. Durch die Soziotherapie soll gewährleistet werden: – regelmäßige nervenärztliche Behandlung; – Sicherstellung, dass nervenärztliche Verordnungen umgesetzt werden; – Verringerung bzw. Verkürzung der Klinikzeiten; – stärkere Einbindung des Patienten in die Behandlungsplanung und damit einhergehend Verbesserung der »Compliance«; und in Zusammenhang damit: – die Möglichkeit psychoedukativer Gruppenangebote; – Heranführung des Patienten an weiterführende und stützende Hilfen (z.B. Ergotherapie, aber auch Tagesstrukturierung über regionale Angebote oder Angehörigenarbeit); – Krisenintervention; – Koordination medizinischer Hilfen. Der Umfang der Soziotherapie beträgt in der Regel eine Zeitstunde in der Woche. Der Gesamtumfang beträgt maximal 120 Stunden innerhalb von drei Jahren. Es ist nachvollziehbar, dass mit einer Therapiestunde pro Woche die Interventionsmöglichkeiten begrenzt sind. Andererseits hat es auch Vorteile, mit einem klar definierten und begrenzten Zeitrahmen zu arbeiten. Seitens des Klienten besteht die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen, Ab-

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sprachen eigenständig umzusetzen und sich an festen und begrenzten Zeiten zu orientieren – alles wichtige, die Gesundheit stabilisierende Elemente.

Voraussetzungen für eine gute Praxis Was benötigt man, um der Intention Soziotherapie Rechnung tragen zu können? Zunächst einmal: Man sollte sich auskennen in der regionalen Versorgungsstruktur. Es ist wichtig, zu wissen, was an Hilfen, Beschäftigungsmöglichkeiten, Freizeit- und Beratungsangeboten etc. vorhanden ist bzw. wen man fragen muss, um diese Informationen zu erhalten. Sodann: Man sollte gut mit den Nervenärzten kooperieren. Diese haben grundsätzlich wenig Zeit und viel Stress, d.h., selbstständiges Arbeiten bei gleichzeitigem Verständnis des Behandlungskonzepts ist gefragt. Zuvor aber müssen die Ärzte erst einmal dafür gewonnen werden, Soziotherapie zu verordnen. Dazu sollte diese neben der Verbesserung für den Patienten auch eine Entlastung für die nervenärztliche Praxis sein. In der Zusammenarbeit mit den Klienten ist ein hohes Maß an Beratungskompetenz erforderlich. Man sollte ein Gespür für die Wünsche, Möglichkeiten und Grenzen des Betreffenden haben, empathie-, aber auch konfrontationsfähig sein und so letztlich – unter Einbezug der Betroffenenpersönlichkeit, des Krankheitsbildes, der Angehörigen, des ärztlichen Behandlungskonzepts und der regionalen Versorgungsstruktur – ein »Gesamtkunstwerk« schaffen, das dem Klienten ein hohes Maß an Lebensqualität und Stabilität ermöglicht. Es besteht die Option, Gruppenangebote (Psychoedukation etc.) abzurechnen. Wir haben hier sehr positive Erfahrungen gemacht, indem wir den Klienten ein Forum zum Erfahrungsaustausch unter »Fachleuten in der Erkrankung« und uns selber die Gelegenheit zum fachlichen Input aus Therapeutensicht geben.

Bilanz Mittlerweile können wir vor dem Hintergrund von annähernd zweihundert Soziotherapien substanzielle Aussagen zu den Verläufen machen. Es lässt sich feststellen: – die Klinikzeiten gehen im Durchschnitt signifikant zurück; – die Akzeptanz der Erkrankung und in der Folge der eigenverantwortliche Umgang mit der Erkrankung verbessern sich wesentlich; – die Zufriedenheit mit der Gesamtbehandlung steigt für alle Beteiligten, insbesondere für den Klienten durch die Erfahrung,

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mitgestalten zu können; – häufig können Netzwerke (Freunde, Angehörige) durch Einbeziehung in die Therapie aktiviert werden; – die Rückmeldungen der Nervenärzte sind durchweg positiv; – es gibt auffällig wenige Abbrüche; – es werden auch Klienten erreicht, die bisher keinen Zugang zu den Hilfen nach SGB XII hatten bzw. diese nicht angenommen hätten. Auch seitens einiger Krankenkassen gibt es ein positives Feedback: Sie nahmen Soziotherapie als wesentlichen Baustein in die Integrierte Versorgung psychisch erkrankter Menschen mit auf. Das Diagnosespektrum wurde hier erweitert um eine breite Einschluss-Indikation (Psychose, Depression, Alkoholabhängigkeit, psychosomatische Erkrankungen, Zwangserkrankungen, Verhaltensstörungen, Demenz), und nicht zuletzt drückt sich die Anerkennung hier auch in einer höheren Vergütung aus. Ein wesentlicher Unterschied zur Regelversorgung ist, dass in der Integrierten Versorgung der Vernetzungsgedanke besonders betont wird. Es gibt einen noch intensiveren Austausch mit dem versorgenden und behandelnden Netzwerk, als er in der Regelversorgung eh schon besteht. Überhaupt muss die gute Kooperation und der kollegial zu nennende Austausch mit den Behandlern an dieser Stelle einmal betont werden.

Forderungen Dennoch stehen noch eine Reihe von Veränderungen aus: ■ Es muss eine Vergütung auch in der Regelversorgung Soziotherapie erfolgen, die es den Trägern möglich macht, das Personal angemessen zu bezahlen und auch mit Soziotherapien auszulasten (zurzeit treten noch viele Vereine auf die Bremse in der Fallauslastung, da die Notwendigkeit besteht, auch in anderen Bereichen tätig zu sein, um die Stellenfinanzierung sicherzustellen). ■ Es muss eine Regelung her, die eine Abrechnung von Wege- und Ausfallzeiten ermöglicht. ■ Die Beschränkung auf Diagnosegruppen mit wahnhaften Störungen ist nicht nachvollziehbar. Im Gesetz (§ 37a SGB V) geht es um psychisch Kranke, »die nicht in der Lage sind, Leistungen, auf die sie Anspruch haben, selbstständig in Anspruch zu nehmen«. Das gilt sicher ebenso für den depressiven, suchtkranken oder dementen Klienten. ■ Es gibt Bundesländer, in denen Soziotherapie von den Kassen völlig blockiert wird und nicht stattfindet (z.B. Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein).

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entfernt von mir wohnendes Ehepaar, mit dem ich mich in großen Zeitabständen traf. Ich begann die wöchentlichen Treffen mit Frau B. immer mehr zu schätzen. Mein Fazit: Soziotherapie bedeutet, eine kompetente Begleitung im Alltag zu haben. Wichtig war es, einen Wochenplan zu erarbeiten, eine Tagesstruktur festzulegen, den Tag aufzugliedern: Arbeit in der Wohnung, Einkäufe, die Fahrt zum Sport, den Gang zur Ergotherapie ... Rund um die Uhr beschäftigt zu sein, das war das Ziel. Ich bin sicher: Ohne die wöchentlichen stündlichen Termine bei meiner Soziotherapeutin wäre ein erneuter Krankenhausaufenthalt für mich nötig gewesen. Da die Erkrankung über zweieinhalb Jahre Soziotherapie fortbestand, erschien es sinnvoll, die Betreuung fortzusetzen. Ein halbes Jahr vor Ende der Soziotherapie arbeitete Frau B. einen Rehabilitationsplan aus, der zur Überleitung ins betreute Wohnen führte. ■

an sich heranließ, lag die ganze Last auf mir. Am ersten Advent 2008 ist mein Mann an einem Herzinfarkt verstorben. Da ich durch die Pflege und durch die Betreuung meines Mannes völlig ausgelaugt war, wurde es auch für mich Zeit für eine psychische Behandlung. Da ich mich nur noch um meinen Mann und meinen Sohn gekümmert habe, hatte ich selbst kaum noch soziale Kontakte. Deshalb bin ich nun seit Anfang März in der Soziotherapie bei Herrn P. Und was hat mir diese Soziotherapie bisher gebracht? Nachdem mein Mann gestorben war, hatte ich das Gefühl, völlig versagt zu haben. Zudem hatte ich niemanden, mit dem ich über meine Ängste und Sorgen sprechen konnte. Es ist jetzt ein herrliches Gefühl, über alles, was mich belastet, sprechen zu können, ohne Angst zu haben, dass es meinen Gesprächspartner psychisch fertigmacht. Es hat allerdings einige Zeit gedauert, das zu begreifen. Zudem ist Herr P. nicht nur ein guter Zuhörer, sondern er gibt mir auch Denkanstöße, um meine Probleme von einer anderen Seite zu betrachten. Ich habe mittlerweile erkannt, dass ich einige Ängste von meinem Mann übernommen habe. Schritt für Schritt gelingt es mir nun, diese in den Griff zu bekommen und sie zu verarbeiten. Auch die Hoffnungslosigkeit habe ich durch einige Tipps von meinem Soziotherapeuten im Großen und Ganzen besiegen können. Es gibt noch vieles, was mich blockiert, ja manches Mal nahezu lähmt. Gerade dann hilft es mir, mich an die Tipps zu erinnern, die mir Herr P. gegeben hat. Dadurch wird mir jedes Mal bewusst, dass ich Hilfe habe, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Es tut richtig gut, wenn man den oftmals schwierigen Weg nicht alleine bewältigen muss. Für mich ist die Erkenntnis, dass mir über die schwierigen Passagen geholfen wird, sehr entscheidend. Selbst bei kleinen Stolpersteinen ist jemand da, der mir Mut macht, ohne Angst nach vorne zu schauen und weiterzugehen. ■

Foto: Wolfgang Schmidt

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Abschließend sei noch angemerkt, dass die soziotherapeutische Arbeit auch dem Therapeuten viel Freude bringt. Es ist in hohem Maß befriedigend, gemeinsam in einem überschaubaren Zeitraum wirklich spürbare Erfolge zu erarbeiten und sich dann voneinander zu verabschieden. ■ Michael Puls ist ist Soziotherapeut bei Platane 19 e.V., Verein zur Wiedereingliederung psychisch Kranker. Kontakt: Platane 19, Geschäftsstelle, Knobelsdorffstr. 15, 14059 Berlin; Tel.: (0 30) 3 20 90 40; Fax: (0 30) 32 09 04 33; E-Mail: [email protected]

Soziotherapie als Alltagshilfe – Erfahrungsberichte aus Klientinnensicht »Wir besprachen und trainierten vieles« Ich bin neunundfünfzig Jahre alt. Vor vier Jahren bin ich mit einer paranoid-halluzinatorischen Psychose in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Ein Jahr später erlitt ich einen Rückfall, vermutlich, weil ich das Medikament weggelassen hatte. Ich begab mich in therapeutische Behandlung. Meine Ärztin schlug mir zunächst den Aufenthalt in einer Tagesklinik vor und im Anschluss daran den wöchentlichen Termin bei einer Soziotherapeutin. Ich war skeptisch, willigte aber in beides ein. Nach dem Aufenthalt in der Tagesklinik begab ich mich zu der Soziotherapeutin Frau B. Wir trafen uns einmal wöchentlich in einer Sozialeinrichtung für eine Stunde in ihrem kleinen Büro. Wir besprachen vieles: meine Ängste in meiner Wohnung genauso wie den Brief vom Arbeitsamt. Mein psychisches Befinden genauso wie das Schreiben von der Hausverwaltung. Sie bot mir auch ihre Begleitung in ein Geschäft an, in dem es Öl für mein Türschloss gab, oder zum Gutachter wegen einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie machte mir Angebote: die Teilnahme an einem Yogakurs zum Beispiel oder die Mitwirkung an einem Malkurs. Ich habe an der Hochschule der Künste in Berlin Grafik-Design studiert, und der Malkurs sollte an alte Fähigkeiten anknüpfen. Ich hatte Angst vor dem U-BahnFahren, und sie legte mit mir ein Angst-Training ein. Mit einer Station begann es und führte immer weiter, bis wir zehn Stationen gemeinsam befuhren. Danach schaffte ich es wieder allein. Einmal verabredeten wir den Besuch eines Cafés. Frau B. war der einzige Kontakt für mich innerhalb Berlins außer meiner Therapeutin. Da gab es nur noch ein

»Ein herrliches Gefühl, über alles sprechen zu können« Mein Mann wurde mit fünfundvierzig Jahren wegen starker psychischer Probleme berentet. Um sich nicht so nutzlos zu fühlen, hat er sich ehrenamtliche Tätigkeiten gesucht. So war er meistens viermal die Woche für einige Stunden unterwegs. Mein eigenes Leben ist also erst einmal ganz normal weitergegangen. Da unser Sohn Autist ist, habe ich selbst nicht gearbeitet. 1999 hatte mein Mann eine bakterielle Meningitis. Er kam damals zwar relativ schnell wieder auf die Beine, seine ehrenamtlichen Tätigkeiten konnte er von da an allerdings nicht mehr weiterführen. Zu seiner psychischen Erkrankung kamen nun auch noch weitere körperliche Einschränkungen hinzu, die ihn ebenfalls psychisch sehr stark belastet haben. Von nun an musste ich mich sehr viel um alles kümmern, da er sich von anderen Menschen immer stärker abgeschottet hat. Wenige Jahre später wurde er zudem pflegebedürftig. Da er außer mir niemanden

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»Besser als Medizin« Soziotherapie – eine Patientin berichtet Vo n M a r i a S c h u b e r t *

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ch bin seit September 2008 Patientin in der Soziotherapie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin-Lichtenberg. Anfangs war ich sehr zurückhaltend und skeptisch eingestellt, als mir meine Psychiaterin diese Therapieform verordnete. Was sollte mir das bringen – wieder neue Therapeuten, die mir in mein Leben reinsprechen und mir sagen, wie ich es besser machen soll! Und vor allem, was soll noch Neues kommen, wenn man schon seit neun Jahren psychotherapeutisch behandelt wird? Gibt es da überhaupt noch irgendwelche »neuen« Möglichkeiten? Außerdem war ich es leid, immer und immer wieder meine ganze Krankheitsgeschichte und mein Leben einem weiteren »neuen« Therapeuten zu erzählen. Die Kraft geht einem einfach einmal aus, und es ist sehr deprimierend, immer wieder alles aus der hinterletzten Ecke seiner Gedankenwelt hervorzukramen, besonders wenn man weiß, dass es schmerzt. Aber ich vertraute meiner Psychiaterin, und es gab einen ersten Termin bei meiner Soziotherapeutin in der Tagesklinik – toll, wieder mal eine Tagesklinik, das hatten wir ja auch schon, und was hat es gebracht? Das ich nach sieben Jahren nun wieder hier stehe! Nun gut, es war verordnet und musste irgendwie absolviert werden. Eine wirklich nette und junge Therapeutin stand mir gegenüber und sollte mich begleiten für die nächste Zeit. Nach der ersten Stunde war schon so ein Vertrauen hergestellt, dass ich zwar erschöpft, aber sehr optimistisch in die nächsten Wochen sah. Diese junge Therapeutin hatte es in der ersten Stunde geschafft, mir das Gefühl zu geben: Ich bin wichtig! Man nimmt mich ernst! Und vor allem: Wir haben ganz viel Zeit! Ein ganz wichtiger Aspekt war noch, dass ich bestimmen konnte, wie und wo wir die Therapiestunden gestalten, z.B. ob im Park oder mal im Café, oder sie käme auch zu mir, wenn es mir schlecht ginge. Das war schon sehr ungewöhnlich, aber für mich als Patientin sehr beruhigend, wusste ich nun, dass es für all meine Lebenslagen eine entsprechende Therapiestunde gibt. Geht es mir schlecht, habe ich Schmerzen, würde sie auch zu mir nach Hause kommen – das war ein gutes Gefühl. War ich doch somit rund-

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um abgesichert, für mich als Patientin mit unter anderem psychosomatischen Beschwerden ganz wichtig. Ein weiterer wichtiger Punkt, den ich hier ansprechen möchte, war der Gesprächsinhalt. Diesen konnte auch ich bestimmen. Häufig war er abhängig von aktuellen Problemen, die mich beschäftigten, bzw. von der Frage, wie bewältige ich diese. Diese Bewälti-

Verändert hat sich seitdem, dass ich in negativen Phasen weiß, wo ich hingehen kann, wo mir, neben der Einnahme von Tabletten, geholfen werden kann. Früher landete ich überwiegend in der Notaufnahme eines Krankenhauses, wo dann alle möglichen Untersuchungen mit mir angestellt, aber nichts gefunden wurde. Aber wie ich ja nun weiß, sind die psychosomatischen Beschwerden Ausdruck meines Seelenzustandes, der gerade mal wieder verrückt spielt, und das ist nicht messbar! Zu erwähnen ist unbedingt noch, dass sich das sehr gute Zusammenspiel zwischen Therapeutin und Psychiaterin für mich sehr positiv darstellte. In einer sehr depressiven Phase nahm die Therapeutin sofort mit der Psychiaterin Kontakt auf, schilderte für mich die Lage, und beide kümmerten sich gemeinsam schnell und in einer sehr beruhigenden Art um mich. Das gab mir sehr viel Sicherheit und ein Gefühl, ich werde als Patientin ernst genommen, was besonders für Patienten mit psychosomatischen Anteilen wichtig ist! Als Resümee möchte ich sagen, dass Soziotherapie weitaus besser ist als immer nur und mehr Medikamente. Nur muss man sich darauf einlassen und mitarbeiten. Diese Therapie ist unwahrscheinlich hilfreich und sehr nah am Menschen. Es sollten noch mehr Psychiater diese Verabreichung von »seelischem Beistand« in Form von Soziotherapie verordnen. Danke! ˝˝˝

gung wurde dann gemeinsam ausgewertet. Bei anstehenden Problemen erarbeiteten wir gemeinsam Lösungswege. So erkannte ich aus Handlungen in der Gegenwart alte Verhaltensmuster, die mir schaden, und lernte, neue umzusetzen. Hilfreich war auch das Gespräch mit einer »neutralen« Person; hier für mich etwas anzunehmen war viel einfacher als Gespräche und Ratschläge in der Familie oder im Freundeskreis. Die Soziotherapeutin gab mir Fachbeiträge zu lesen und zeigte mir die Möglichkeiten, wie ich zu den verschiedenen Selbsthilfegruppen finde und wie die Ämter strukturiert sind, was mir half, verschiedene Lebenssituationen und Gedanken schon im Voraus zu bearbeiten, Ängste zu bekämpfen bzw. meine Krankheit besser zu verstehen. Wir erarbeiteten Wochenpläne, die Struktur in mein Leben brachten.

Nachbemerkung: Wenn der Krankheitsverlauf chronisch, Psychotherapie ausgeschöpft ist, ist Soziotherapie oft die einzige noch mögliche ambulante Behandlungsform. In o.a. Bericht wird sehr deutlich, dass Soziotherapie etwas sehr Eigenes ist, die Patientin unterstützt, ihre Krankheit wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu reflektieren, Ressourcen für sich zu entdecken und diese ganz lebenspraktisch umzusetzen. Wir haben durch Soziotherapie zusammen mit dieser Patientin eine Krise bewältigt und einen Krankenhausaufenthalt verhindert. Die Patientin war bereit, ihre Erfahrungen niederzuschreiben, wofür wir ihr danken. ■ Christine Schwarzbach Soziotherapeutin, KEH Berlin-Lichtenberg * Pseudonym.

Margrit Fillies: Baum des Lebens

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»Der therapeutische Alltag hat sich verändert« Erfahrungen mit dem regionalen Psychiatriebudget Dithmarschen Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum in Kooperation mit der DGSP im September 2009 stellten die Autoren die Entwicklung des regionalen Psychiatriebudgets Dithmarschen (Schleswig-Holstein) vor und reflektierten positive Erfahrungen, Kritik und Gefahren des Modells.1 Vo n A n d r e a s H a a s e u n d Th o r st e n H e j n a l

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nformationen über die regionalpsychiatrische Versorgung eines Landkreises zu vermitteln in einer Veranstaltung für ambulante Psychiatrie1 heißt natürlich auch, »Eulen nach Athen zu tragen«, vielleicht banale Informationen wieder neu aufzubereiten oder Alltagsnachrichten ohne wesentlichen Neuheitswert zu verbreiten. Aber: Zumindest in Schleswig-Holstein ergibt sich unseres Erachtens bei Kontakten mit Profis und Betroffenen anderer Landkreise immer wieder eine wechselseitige Überraschung über die Verschiedenartigkeit der lokalen Prozesse und Arbeitsansätze. Aus unserer Sicht besteht insbesondere eine Unkenntnis bei Studenten, vielleicht auch bei den universitär Tätigen, über die Situation der sozialpsychiatrisch ausgerichteten Abteilungen.

Was ist ein Regionalbudget? Das Regionalbudget ist zunächst einmal nur ein anderer Abrechnungsmodus mit den Krankenkassen. Aus diesem anderen Abrechnungsmodus ergeben sich aber (fast zwangsläufig) organisatorische und therapeutische Handlungsoptionen. Vordenker und Wegbereiter des regionalen Psychiatriebudgets ist Professor Dr. Arno Deister, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Klinikums Itzehoe. Im Rahmen eines Modellprojekts vereinbarte das Klinikum Itzehoe für die Jahre 2003 bis 2007 für den Kreis Steinburg mit den Krankenkassenverbänden in Schleswig-Holstein ein jährlich festgeschriebenes regionales Psychiatriebudget für eine ebenfalls jährlich festgelegte Patientenzahl. Der Klinikbetreiber erhält zudem die Möglichkeit, neben der vollstationären auch die teilstationäre, die ambulante und die »aufsuchende« Behandlung (Hometreatment) anzubieten, was die Anpassung an die Patientenbedürfnisse optimiert. Für die Dauer des Modellprojekts entfallen die Prüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen und somit die Befristung von Kostenübernahmen.

Regionale psychiatrische Versorgung – Daten, Fakten, Entwicklungen Heide liegt zirka 100 Kilometer nördlich von Hamburg und ist mit rund 20 000 Einwohnern Sitz der Kreisverwaltung des Landkreises Dithmarschen. Dithmarschen, mit etwa 130 000 Einwohnern, vorwiegend agrarisch geprägt, besitzt zwei industrielle Schwerpunkte in Brunsbüttel und in Hemmingstedt bei Heide und wird westlich von der Elbe und der Nordsee begrenzt, nördlich durch die Eider von Nordfriesland getrennt. Die Heider Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, später in Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik umbenannt, entstand im Rahmen der Dezentralisierung der psychiatrischen Versorgung in SchleswigHolstein im Jahre 1995. Die stationär-psychiatrische Versorgung des Landkreises Dithmarschen war zuvor weitestgehend von dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus Schleswig sowie, zu geringen Teilen, von der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Krankenhauses Itzehoe übernommen worden. Seit 1992 bestand eine psychiatrische Tagesklinik unter Trägerschaft der ›Brücke Schleswig-Holstein‹. Die neue Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie gliederte sich als Abteilung in das damalige Kreiskrankenhaus Heide (jetzt Westküstenklinikum Heide) ein und übernahm die psychiatrische Regionalversorgung für den Landkreis. Konzeptionell und unter Leitung des Chefarztes Dr. Thomas Birker entstand eine Klinik, die sich den Prinzipien des so genannten Herner Modells verbunden fühlte. Die Behandlung und Aufnahme der Menschen erfolgte und erfolgt nach dem Prinzip der Durchmischung. Es wurden keine Spezialstationen eröffnet. Es gab und gibt keine Notfallstation, keine dauerhaft geschlossene Station. Unter dem Ziel der Gewaltfreiheit wurden und werden die Türen der Stationen möglichst offen gehalten. Weiteres Ziel in

der stationären Behandlung war eine größtmögliche Normalität im stationären Umfeld: Pflegerisches und ärztliches Personal arbeiten im Regelfall in »Zivilkleidung«. Es gab und gibt kein Tablettessen. Sowohl im therapeutischen als auch im pflegerischen Kontakt mit den Patienten wurde das Prinzip der Kontinuität installiert – die Patienten wurden bei Wiederaufnahme im Regelfall auf die ihnen vertraute Station aufgenommen und möglichst durch denselben Therapeuten, dieselbe Therapeutin behandelt und

durch dieselbe Bezugspflegekraft begrüßt und begleitet. Die Bezugspflege wurde zum wichtigen Instrument des therapeutischen und pflegerischen Alltags. In Annäherung an Elemente der Soteria wurde auf jeder Station ein so genanntes weiches Zimmer eröffnet. Aufgrund der Durchmischung der Diagnosegruppen auf einer Station mussten sich junge und alte Patienten, Männer und Frauen, Menschen mit Depressionen oder Suchterkrankungen mit psychosekranken Menschen auf einer Station zurechtfinden. Das hieß nicht, dass allen Patienten eine einheitliche Therapie angeboten wurde oder angeboten wird. Es erfolgte die Entwicklung eines differenzierten und störungsspezifischen

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Behandlungsangebots, das an die BehandNatürlich bestand und besteht in Zeiten lungsteams hohe Anforderungen stellte. knapper finanzieller Ressourcen auch ein fiIm weiteren Verlauf wurde in Brunsbüttel nanzieller Druck. Und auch der damals schon (in neu gestalteten Räumlichkeiten der spürbarere deutliche Ärztemangel stellte ein Westküstenklinik Brunsbüttel) die Psychi- Problem dar, auf das mit den organisatoriatrische Tagesklinik eröffnet. 2006 (vor Ver- schen Möglichkeiten des Regionalbudgets abredung des Regionalbudgets) bestand also besser reagiert werden konnte. in Dithmarschen bezüglich der psychiatriDurch die Verabredung eines Regionalschen Versorgung folgende Situation: Es gab budgets ergaben sich also Möglichkeiten der die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie Veränderung. Regionalbudget bedeutet die und Psychosomatik in Heide mit insgesamt Finanzierung der psychiatrischen Versor91 Betten auf fünf Stationen. Auf vier Statio- gung einer definierten Region durch ein nen wurde das Durchmischungsprinzip angewandt. Diese Stationen wurden als offene (nur fakultativ geschlossene) Stationen geführt. Eine weitere Station hatte einen psychosomatischen/psychotherapeutischen Schwerpunkt. In der Heider Klinik wurde und wird eine Institutsambulanz vorgehalten, die 2006 noch eher »zentral« organisiert war. Die Patienten der Institutsambulanz hatten vorrangig Kontakt mit einer organisatorisch eigenständig arbeitenden Fachärztin. Es gab die Psychiatrische Tagesklinik in Brunsbüttel, die Gut durchmischt … ebenfalls im Rahmen der Institutsambulanz ambulant tätig war. Weiterhin gab es, Budget. Das heißt für Dithmarschen die vollunter Trägerschaft der ›Brücke Schleswig- stationäre, die teilstationäre und die ambuHolstein‹, die Tagesklinik in Heide mit acht- lante (soweit sie die Psychiatrische Institutszehn Behandlungsplätzen. ambulanz betrifft) psychiatrische Behandlung. Gezählt und bezahlt werden im Rahmen dieses Regionalbudgets jeweils die ErstDas Regionalbudget – gute Argumente kontakte mit den Patienten. dafür ... Verabredet für Dithmarschen wurde ein Da Dithmarschen (bei Einführung des Regio- Budgetbetrag von zirka 8,1 Millionen Euro. nalbudgets im Landkreis Steinburg) im Rah- Als Erstkontakte wurden rund 1 800 Kontakmen der wissenschaftlichen Begleitforschung te verabredet, d.h., dass pro Erstkontakt eine als Vergleichsregion diente, waren wir früh- Entgeltzahlung von zirka 4 500 Euro erfolgt. zeitig über die inhaltliche Konzeption und Behandlungsdauer oder Liegezeit müssen die möglichen Ergebnisse informiert. Dies nicht mehr begründet werden. Je geringer traf auf eine Situation der Heider Klinik, in der Anteil der vollstationären Behandlung der sich eine zunehmende Differenz zwi- am Gesamtbudget, je weniger Betten vorgeschen dem therapeutischen Alltag und den halten werden, desto größer sind die finanbürokratischen Verpflichtungen entwickelt ziellen und organisatorischen Ressourcen hatte. Das Arbeitskonzept passte letztlich für die anderen, tagesklinischen oder ambunicht mehr zur notwendigen Organisation lanten, Behandlungsbereiche. Es kann eine der Abteilung. Mit dem Ziel der größtmögli- sehr kurzfristige Veränderung im Behandchen Normalität versuchten wir unter ande- lungskonzept geben. Die Entscheidungen rem, eine Vergrößerung des Anteils der am- über eine vollstationäre oder eine teilstatiobulanten Behandlung zu erreichen. Thera- näre oder eine ambulante Behandlung liegt peutische Elemente, wie Beurlaubungen in dabei vor Ort, beim Therapeuten bzw. bei der das häusliche Umfeld, Belastungserprobun- Therapeutin und den behandelten Mengen, Tagesurlaube, waren nur schwer gegen- schen. über den Krankenkassen zu vertreten und erforderten einen nicht unwesentlichen bürokratischen Aufwand. Ebenso war die Um- ... aber auch Befürchtungen: wandlung von vollstationären Aufenthalten die Reaktion der Pflegekräfte in tagesklinische Behandlungen und umge- Die Absicht der Klinikleitung, künftig unter kehrt nicht möglich. Die verschiedenen Ar- einem Regionalbudget arbeiten zu wollen, beitsgruppen der Klinik verspürten ein »Sto- rief bei vielen Pflegekräften Verunsicherung cken« in der konzeptionellen Entwicklung hervor. Aussagen über die Zielsetzung, die vollstationären Behandlungstage zu verrinder Klinik.

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gern und im Gegenzug eine tagesklinische und ambulante Versorgung zu stärken, wurden skeptisch betrachtet. Das Vorhaben, vier Akutstationen zu zwei Stationsebenen mit je einer vollstationären und einer tagesklinischen Einheit umzugestalten, löste Angst vor Personalabbau aus (was nicht der Fall war). Befürchtet wurden Zeitmangel, verstärkter Leistungsdruck und überlastetes Personal. Einige Pflegekräfte fühlten sich den Anforderungen der kotherapeutischen Mitarbeit nicht gewachsen, mutmaßten eine Herabwürdigung ihrer bisherigen Arbeit und sorgten sich, ihre Legitimation für den Arbeitsplatz in der Psychiatrie zu verlieren. Teilzeitkräfte hatten Angst, nicht Schritt halten zu können und zu »Lückenbüßern« degradiert zu werden. Einige sahen die Gefahr der Spaltung des Teams in Verbindung mit Selbstentwertungs- und Selbsterhöhungstendenzen (»Meine Arbeit ist weniger wert, weil ich nicht kotherapeutisch tätig bin – meine Arbeit ist mehr wert, weil ich kotherapeutisch tätig bin«).

Der Weg ist das Ziel Bereits zum 1. Juli 2006 wurde eine tagesklinische Einheit mit zehn Plätzen in räumlicher Nähe zur Station für Psychotherapie und Psychosomatik geschaffen. Vorgesehen waren und sind hier Aufnahmen von Patienten, die noch keine therapeutische Anbindung an eine andere Stationsebene hatten. Für die akutpsychiatrischen Stationen erfolgte die Personalauswahl zur tagesklinischen Versorgung Anfang 2007. Am 1. Juli 2007 integrierten die Akutstationen die tagesklinische Behandlung in ihr Setting. Die Umbaumaßnahmen erfolgten in der zweiten Jahreshälfte 2007. Aus vier Akutstationen wurden zwei Stationsebenen, die jeweils einen tagesklinischen Bereich erhielten. Die Station für Psychotherapie und Psychosomatik integrierte ebenfalls die tagesklinische Behandlung. Die Arbeitsgruppe begann, neue Therapiepläne für den vollstationären und tagesklinischen Bereich zu erstellen. Durch die beständige Veränderung realisierte die Pflege mehr und mehr »die neue Zeit«. Der Phase des Schocks folgten die der Akzeptanz und der aktiven Beteiligung. Begleitet wurden die Phasen durch Supervisionen und Mitarbeiterentwicklungsgespräche, die im Schwerpunkt die Stärkung der Ressourcen jeder Pflegekraft und eine persönliche Orientierungsausrichtung zum Ziel hatten. Zum 1. Januar 2008 erfolgte dann die personelle Stationszusammenlegung zu zwei

Foto: miho

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Stationsebenen. Die Umsetzung des neu erarbeiteten Therapieplans begann. Es erfolgten Schulungsmaßnahmen, die Pflegekräfte zur Übernahme der Gruppenleitung des sozialen Kompetenztrainings und der so genannten Themengruppe2 befähigen sollten. Darüber hinaus begann das Projekt »tiergestütztes Arbeiten«. Eine Krankenschwester startete mit der Ausbildung eines Therapiebegleithundes (ein Therapiebegleithund ist bereits seit 2007 auf der Station für Psychotherapie und Psychosomatik im Einsatz). Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich seit Mitte 2008 mit dem Aufbau eines »Streichelzoos«.

Mit dem Regionalbudget – was hat sich geändert? Die Struktur der Klinik hat sich verändert. Als wichtigste Veränderung stellt sich dar, dass auf allen Stationen – die wir im Weiteren »Behandlungsebenen« nennen – auch tagesklinisch und ambulant behandelt wird. Es gibt derzeit drei Behandlungsebenen, von denen zwei fakultativ geschlossen sind. Auf diesen Behandlungsebenen gibt es einen vollstationären und einen tagesklinischen Bereich. Auch die ambulante Behandlung der Institutsambulanz wird jetzt auf den Ebenen vorgehalten. Unter Fortführung des Prinzips der Kontinuität können prinzipiell alle Mitarbeiter auch aufsuchend tätig sein. Eine Behandlungsebene hat weiterhin einen psychosomatischen Schwerpunkt, ohne Möglichkeit einer fakultativen Schließung. Auch auf dieser Ebene gibt es den vollstationären und den tagesklinischen Bereich sowie das ambulante Behandlungsangebot (inklusive aufsuchender Behandlung). Es gibt eine eigenständige Tagesklinik auf dem Klinikgelände (vorgehalten für Menschen, die primär nicht vorher in vollstationärer Behandlung gewesen waren), die auch eine ambulante Behandlung (einschließlich aufsuchender Behandlung) anbietet. Es gibt weiterhin die Psychiatrische Tagesklinik in Brunsbüttel mit der Möglichkeit einer ambulanten Behandlung im Rahmen der Psychiatrischen Institutsambulanz. Und unverändert besteht auch die organisatorisch eigenständige Psychiatrische Tagesklinik der ›Brücke Schleswig-Holstein‹ in Heide, die ebenfalls eine Psychiatrische Institutsambulanz vorhält. Neue Strukturen im Rahmen dieses Veränderungsprozesses waren nötig. Es erfolgte die »Fusion« von jeweils zwei Stationen zu einer Behandlungsebene. Die Bettenzahl wurde verringert, Patientenzimmern zu Gruppenräumen umgebaut. Tagesklinische Segmente wurden auf jeder Behandlungsebene geschaffen. Ein großer Kommunikationsbe-

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reich (»Klöndeel«) wurde eingerichtet und die Zahl der Eingangstüren verringert. Zwei Pkws wurden angeschafft, um eine aufsuchende Behandlung zu ermöglichen. Zur organisatorischen Erleichterung wurde ein ›Psychiatriekoordinators‹ benannt. Ein ›Ambulanzforum‹ wurde gegründet, in dem sich einmal wöchentlich Vertreter jeder Behandlungsebene sowie die Mitarbeiter des Ambulanzzentrums zur Klärung offener organisatorischer Fragen zur Entwicklung neuer Arbeitskonzepte trafen. Es erfolgte eine erhebliche Weiterbildung von Mitarbeitern des Pflegeteams. Diese übernahmen kotherapeutische Aufgaben in vielen Bereichen. Mehrere therapeutische Gruppen wurden und werden selbstständig oder kotherapeutisch durch Mitarbeiter der Pflegeteams geleitet: das ›Suchtforum‹, die psychotherapeutische Themengruppe, eine Gruppentherapie, eine Psychoedukationsgruppe, das soziale Kompetenztraining, ›Progressive Muskelrelaxation‹ nach Jacobson, das ›Montagskino‹, die Backgruppe, die kreative Beschäftigung auf den Behandlungsebenen, der ›offene Treffpunkt‹, die Gartengruppe, die tiergestützte Therapie. Ebenso werden Hausbesuche und Expositionsübungen im Rahmen verhaltenstherapeutischer Therapiekonzepte durch Mitarbeiter des Pflegedienstes begleitet. Diese Maßnahmen erforderten eine deutliche Bereitschaft der Mitarbeiter des Pflegeteams zur Fortbildung und zur Weiterqualifikation. Direkte Auswirkungen waren die Erweiterung der Kenntnisse des Pflegepersonals, nach eigener Einschätzung oft auch ein interessanteres Berufsbild. Direkte positive Auswirkungen der strukturellen Veränderungen waren im Verlauf dieses relativ kurzen Zeitraumes bereits deutlich: Der Anteil der vollstationär behandelten Patienten ging von 81 Prozent (2007) auf 66 (2008) und zuletzt 61 Prozent (Stand: Mai 2009) zurück. Demgegenüber stieg der Anteil der tagesklinisch behandelten Patienten von 16 (2007) auf 30 Prozent (2008) und beträgt inzwischen 41 Prozent (Stand: Mai 2009). Auch waren unmittelbare finanzielle Auswirkungen in Form von Einsparungen zu verzeichnen: So ließen sich 2008 durch die Reduktion der vollstationären Belegung 90 000 Euro einsparen (30 000 Euro im Bereich der Medikamente, 60 000 Euro im Bereich der so genannten laufenden Kosten für Pflegemittel, Wäsche, Strom und Wasser).

– die Verankerung des Prinzips »Ambulant vor stationär«, – die reduzierte Verweildauer in der Klinik, – eine verbesserte Behandlungskontinuität, – mehr Alltag auf den Behandlungsebenen, – bessere Kenntnisse über die behandelten Patienten. Andere positive Elemente wurden bei der Veränderung der Klinikorganisation deutlich – aufgrund der »Budgethoheit« des Ärztlichen Leiters waren organisatorische Entscheidungen schneller und einfacher zu treffen. Im ärztlichen Alltag wurde der bürokratische Aufwand, unter anderem zur Rechtfertigung von Verweildauern, erheblich vermindert. Entscheidungen über eine vollstationäre oder tagesklinische Behandlung eines Patienten oder einer Patientin konnten vor Ort, in Absprache mit den Betroffenen, getroffen werden. Nicht zuletzt entstand ein erheblicher ökonomischer Anreiz zur Prävention. Der Berufsalltag der Psychiatrieprofis änderte sich und erscheint nach unser aller Einschätzung als befriedigender. Durch die Möglichkeiten der tagesklinischen sowie ambulanten Behandlung wurde eine »erweiterte Sozialisation« der psychiatrisch Tätigen möglich. Menschen mit psychiatrischen Störungen können auch jenseits der unmittelbaren Krise mit ihren Ressourcen besser wahrgenommen werden.

Positive Erfahrungen Als positive Elemente der neuen Organisation der Klinik konnten wir festmachen: – den flexiblen Einsatz vollstationärer, teilstationärer und ambulanter psychiatrischer Versorgungsmaßnahmen,

Kritik und Gefahren Stellen muss sich unsere Klinik – wie jede Klinik, die sich nach den Kriterien eines Regionalbudgets organisiert – aber der der Kritik, den möglichen negativen Auswirkungen und Gefahren. So ist, nicht zuletzt unter den Bedingungen des allgemeinen Ärztemangels, auch zu diskutieren, inwieweit hier eine »Billigpsychiatrie« verankert wird. Durch die Verabredung des Regionalbudgets können natürlich auch die Errungenschaften der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) aufgegeben bzw. der Druck zur Aktualisierung und Anpassung der Psych-PV vermindert werden. Es besteht die Gefahr einer Entsolidarisierung der psychiatrischen Einrichtungen. Der vereinfachten Entscheidungsfindung durch die Budgethoheit des Chefarztes steht die Gefahr einer »Allmacht«, eines Ungleichgewichtes in der Entscheidungsfindung gegenüber. Ein weiteres, erhebliches Problem der neuen Strukturen stellt die Ressourcenbindung durch die Behandlung von Störungen aus dem »Neurose«-Bereich dar. In Zeiten fehlender psychotherapeutischer Versorgungsmöglichkeiten (im ländlichen Umfeld) werden Patienten mit einer Indikation zur primär ambulanten psychotherapeutischen Be-

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handlung von den Hausärzten vermehrt in die psychiatrischen Tageskliniken überwiesen. Die Sorge gilt hier dem Erhalt eines adäquaten Versorgungsangebots für die Menschen mit chronischen schizophrenen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen. Nicht zuletzt ermöglicht das Regionalbudget auch eine Monopolisierung der psychiatrischen Versorgung eines Landkreises: Das System der psychiatrischen Versorgung erscheint aus Sicht der betroffenen Menschen fast »unausweichlich«. Konnten Patienten früher die Station verlassen und eine Behandlung ablehnen, so müssen sie jetzt damit rechnen, dass die Mitarbeiter der Station/der Behandlungsebene ihnen nach Hause folgen und dort ein therapeutisches Angebot machen (den »Fuß in den Haustür stellen«).

Fazit: »Die positiven Aspekte überwiegen« Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir aber der Überzeugung, dass die positiven Aspekte dieses Abrechnungsmodells überwiegen. Der therapeutische Alltag hat sich verändert und kommt unseres Erachtens den Bedürfnissen der behandelten Menschen entgegen. Die therapeutische Kontinuität ist gewachsen, es hat sich eine höhere Verbindlichkeit im Kontakt zwischen Profis und Patienten entwickelt. Im Alltag der Akutpsychiatrie ist es zu einer noch stärkeren Verankerung des »normalen Alltags« gekommen. Und auch für die Profis haben sich spürbare Verbesserungen ergeben. Die Sozialisation der psychiatrisch Tätigen wird nicht mehr auf einen engen, akutpsychiatrischen Bereich begrenzt. ■ Dr. Andreas Haase ist leitender Oberarzt am Westküstenklinikum Heide (WKK). Thorsten Hejnal ist Krankenpfleger und Psychiatriekoordinator am WKK Heide. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete Fassung eines Vortrags auf der Tagung der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema »Ambulante Psychiatrie – gelungen oder gescheitert?« vom 4. bis 6. September 2009. Anmerkungen: 1 Der Vortrag wurde gehalten von Dr. Andreas Haase und Dr. Karsten Kleinert, WKK Heide. In den Vortrag integriert wurde der Erfahrungsbericht unseres Vertreters des Pflegeteams, des Psychiatriekoordinators Herrn Hejnal, der zum Vortragszeitpunkt leider erkrankt war. Verlesen wurde dieser Erfahrungsbericht durch den Oberarzt der Psychiatrischen Klinik Herrn Dr. Karsten Kleinert. 2 In der Themengruppe werden auf Vorschlag von Teilnehmern der Gruppe Symptome von Erkrankungen und/oder die damit in Verbindung stehenden Auswirkungen erörtert. Sie hat psychoedukativen Charakter.

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»Durch verbesserte Vernetzung zu mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit« Integrierte Versorgung im gemeinde psychiatrischen Kontext – das niedersächsische Modell Vo n M at t h i a s Wa l l e u n d Wi n f r i e d R e i c h wa l d t Mit dem Inkrafttreten des § 140a ff. Sozialgesetzbuch (SGB) V hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Etablierung integrierter Versorgungsstrukturen geschaffen. Durch eine verbesserte Vernetzung der im psychiatrischen Bereich sehr vielfältigen Versorgungseinheiten soll der Weg zu mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit geöffnet werden mit dem Ziel einer patientenzentrierten Behandlung insbesondere der schwer psychisch erkrankten Menschen. Damit werden wichtige Neuorientierungen gemeindepsychiatrischer Versorgungsangebote ermöglicht, die einen nunmehr langjährigen Reformprozess voranbringen. Als prädestiniert für die Durchführung integrierter Versorgungsleistungen galten bislang Kliniken. Das Besondere des hier geschilderten Versorgungssystems liegt darin, dass sich ambulante Einrichtungen – vom Nervenarzt über den Pflegedienst hin zum Psychologen – zusammengeschlossen haben, um träger- und berufsgruppenübergreifende regionale wohnortnahe Netzwerke zu schaffen. Damit wird ein Weg eröffnet, der geeignet ist, den im ambulanten Bereich bestehenden Reformstau abzubauen.

Ausgangslage Durch die Umsetzung von Empfehlungen und Hinweisen der Psychiatrie-Enquete (1975) und den »Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung« (1988) haben sich Behandlung und medizinische Rehabilitation psychisch erkrankter Menschen gegenüber früher verbessert. Viele der großen psychiatrischen Krankenhäuser wurden regionalisiert, psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern entstanden, stationäre Verweildauern wurden verkürzt. Es entwickelten sich wohnortnahe Hilfen insbesondere im Bereich der sozialen Wiedereingliederung mit einer vielfältigen Trägerlandschaft und einer dadurch möglichen umfassenden Kompetenzbildung in diesem Sektor. Im Zuge der Regionalisierung und Bettenreduktion der psychiatrischen Kliniken stiegen die Anforderungen an die ambulanten Hilfen auch im fachärztlichen und psychotherapeutischen Bereich deutlich an. Das Spektrum psychiatrischer, psychotherapeu-

tischer und insbesondere psychopharmakologischer Behandlungsmöglichkeiten erweiterte sich rasant. Schon bald konnte die ambulante fachpsychiatrische und spezifische psychotherapeutische Versorgung mit diesen Entwicklungen vor allem strukturell nicht mithalten. Trotz der Vorgabe der Enquete, dass ambulante Behandlung vor stationärer Vorrang haben sollte, blieb die Versorgungsqualität im ambulanten Bereich hinter der im klinischen Bereich erheblich zurück. Angemessene, wenn notwendig aufsuchende und aufwändige, psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung schwer psychisch erkrankter Menschen wird im vertragsärztlichen Bereich im Budgetsystem der Kollektivverträge nicht gestützt, Honoraranreize werden beispielsweise für die Behandlung der im System der Antragspsychotherapie gut zu versorgenden Erkrankten gesetzt. In Konsequenz dessen werden bestehende ambulante Behandlungsressourcen für die Kernaufgaben psychiatrischer Versorgung wenig genutzt, und Kriseninterventionen erfolgen in der Regel stationär. Spezifische psychotherapeutische Leistungen für schwer psychisch Erkrankte werden oft nur stationär oder überhaupt nicht angeboten. Selten arbeiten niedergelassene Psychiater oder Nervenärzte multiprofessionell und in einer Region vernetzt mit den gemeindepsychiatrischen Angeboten. Oft verlagern sie ihren Tätigkeitsschwerpunkt vom psychiatrischen in den psychotherapeutischen oder psychosomatischen Bereich. Darunter leidet zum einen die psychiatrische, zum anderen auch die spezifische und aufwändige psychotherapeutische Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen. Für diese Patienten ist ein Zugang zu Psychotherapeuten, die im Antragsverfahren behandeln, faktisch nicht gegeben. Obwohl gerade schwer psychisch Erkrankte Hilfen im ambulanten System suchen, gibt es dort nur unzureichend entwickelte Versorgungspfade innerhalb eines kaum miteinander vernetzten Systems medizinischer Behandlungs- und Betreuungsstrukturen. Diese Kranken stehen solchen fraktionierten Systemen oft hilflos gegenüber. In der Folge wird ein Großteil psychiatrischer

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Patienten nur suboptimal von Hausärzten ter sowie teilstationärer und stationärer Verbehandelt. In schwierigen Situationen wer- sorgung und eines Ausbaus ambulanter Beden solche Patienten regelhaft in stationäre handlungsmodule zur außerklinischen KriEinrichtungen vermittelt, sodass die vielfach senbehandlung. Voraussetzung für den Angefürchteten Stigmatisierungen als seelisch stoß dieses Prozesses sind finanzielle Investibehinderte Menschen nicht ausbleiben. Chan- tionen in die gemeindenahe Versorgung cen der Progredienzverlangsamung durch schwer und chronisch Kranker. Entwicklung von BewältigungsstrateAbb. 1 gien im ambulanten Bereich werden so vertan. Das Schicksal der Patienten entscheidet sich nicht innerhalb der Akutbehandlung, sondern in der ambulanten Versorgung, wenn diese auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist und langfristig im salutogenetischen Sinne fördernd ist.

Chancen der Integration In Zeiten knapper Mittel liegt es im Interesse aller, die Aktivierung von Wirtschaftlichkeitsreserven mit der Aktivierung von Qualitätsreserven zu verknüpfen, um so eine Nachhaltigkeit der Neuorientierung zu erreichen. Hier bietet sich durch integrierte Versorgung, die träger- und berufsgruppenübergreifend ausgerichtet ist, die Möglichkeit, ein gemeindepsychiatrisches Hilfesystem in einzelne Versorgungsmodule aufzugliedern und diese Versorgungsmodule in wechselseitiger Abstimmung im Rahmen von Behandlungspfaden einzusetzen. Da es um komplexe Hilfeprogramme geht, stehen die Hilfebedürfnisse der schwer psychisch kranken Menschen im Mittelpunkt, weg von einer institutions- hin zu einer patientenzentrierten Versorgung. Die Auswahl der Versorgungsmodule geschieht unter Einbezug des Patienten auf Augenhöhe.

Ökonomische Ressourcen Um für schwer psychisch erkrankte Menschen auf allen Versorgungsebenen Chancengerechtigkeit zu erreichen, müssen in den Programmen Kosten und Leistungen aus verschiedenen Hilfesektoren zusammengefasst werden. Nur durch einen wirtschaftlichen Zusammenschluss der großen Kostensektoren entstehen Verbindungen zwischen den derzeit getrennten Sektoren, sodass im Sinne des Bildes von kommunizierenden Röhren Finanzmittel der Leistung folgen und die Versorgung statt einrichtungs- patientenzentriert ausgerichtet werden kann (siehe Abb. 1). Als Voraussetzung hierfür ist es zwingend geboten, dass das bisherige Finanzierungsgefälle zwischen klinischer und außerklinischer Versorgung sowie innerhalb der ambulanten Versorgung den Bedürfnissen der Patienten entsprechend angeglichen wird. Dies bedarf einer sukzessiven Verlagerung der Schnittstellen zwischen ambulan-

Hierzu bieten sich zwei verschiedene Lösungen an: Entweder werden Mittel als Teil eines regionalen Gesamtbudgets zur Anschubfinanzierung ambulanter Komplexleistungsprogramme zur Verfügung gestellt, oder die Kasse finanziert direkt den Teilbereich ambulante medizinische Versorgung, den es speziell zu stärken gilt. In beiden Fällen geht es darum, Impulse für eine Neuorientierung der Versorgung zu geben. Ziel ist die Optimierung der Versorgungsqualität im ambulanten Bereich durch bessere finanzielle Ausstattung der gemeindenahen Angebote für die Behandlung schwer und chronisch psychisch Kranker.

Organisationsstruktur: Managementgesellschaft Zur Organisation, Durchführung und Verwaltung einer Integrierten Versorgung bietet es sich an, die Ziele gesamtwirtschaftlicher Integration der verschiedenen Leistungserbringungen über eine Managementgesellschaft zu realisieren, wie dies nach § 140b SGB V möglich ist. Eine solche Managementgesellschaft lässt sich funktional als Dach für ein geregeltes Zusammenwir-

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ken der Leistungsanbieter schaffen. Die Managementgesellschaft schließt Leistungsverträge mit den verschiedenen Leistungserbringern, allen voran den gemeindepsychiatrischen Anbietern in der Region, die diese zu einem verstärkten Miteinander bei der Ausgestaltung komplexer Leistungsprogramme verpflichten. Diese Verpflichtung bezieht sich nur auf die in das Programm der Integrierten Versorgung eingeschriebenen schwer psychisch erkrankten Menschen, sodass die organisatorische Selbstständigkeit aller beteiligten Anbieter erhalten bleibt. Es ist ein erwünschter Effekt, dass die Mitwirkung der verschiedenen Leistungsanbieter wie Hausärzte oder psychiatrische Kliniken mit einem Teil ihrer Leistungskapazität im integrierten Programm mittel- bzw. längerfristig Auswirkungen auf die Fortentwicklung im Sinne einer Optimierung des Hilfeprogramms hat. In Niedersachsen hat sich aus diesen Überlegungen die IHC GmbH & Co. KG als trägerund berufsgruppenübergreifende Managementgesellschaft entwickelt. In dieser Gesellschaft sind sämtliche Leistungserbringer unter einem Dach verbunden. Dadurch wird eine einheitliche Versorgungsqualität und Betriebsphilosophie garantiert, die im Wesentlichen die Gedanken der Enquete übernommen hat (siehe Abb. 2). Innerhalb der gegenüber der Regelversorgung veränderten Leistungsstruktur ist es im Sinne einer gemeinsamen Betriebsphilosophie möglich, zahlreiche Elemente einer Neuorientierung der Versorgung für alle Vertragspartner verbindlich umzusetzen. Die Leistungsverträge verpflichten die Teilnehmer zum Einsatz von Maßnahmen, die dem Konsens der Psychiatriereform entsprechen, wie er bislang nur bei sozialpsychiatrisch ausgerichteten Tagungen und Kongressen, aber noch nicht in der Versorgungsrealität Standard wurde. Die Platzierung der Hauptverantwortung bei gemeindepsychiatrischen Hilfeanbietern im Verbund mit den örtlichen Leistungsanbietern sichert ein An-

Abb. 2

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gebot, das dem Grundsatz einer wohnortnahen und patientenzentrierten Behandlung entspricht. Die IHC hat einen Beirat, der sich zum einen aus Vertretern der Leistungsanbieter, zum anderen aber auch aus politischen Entscheidungsträgern sowie Patienten- und Angehörigenvertretern zusammensetzt. Hier wird das Handeln der IHC bewertet und kontrolliert, insbesondere auch die Einhaltung der Umsetzung der Unternehmensziele. Außerdem hat der Beirat durch die dort gebündelte Kompetenz eine beratende Funktion in allen Sachfragen.

ren bestehen. Nach herkömmlicher Praxis ist Krise rechtzeitig zu erkennen und den Beder ambulante Bereich eher das Aktionsfeld troffenen frühzeitig zu einer Behandlung zu der Psychotherapie der »wartezimmerfähi- motivieren. Zudem motiviert er zur Teilnahgen« oder »leichten Störungen«, me an spezifischen psychothera»Jedem Patienten peutischen Behandlungsmaßwährend der klinische Bereich wird ein Bezugsweitgehend das Versorgungsfeld nahmen im Intervall der Erkrantherapeut der Psychiatrie und der speziellen kung. Sein Tun folgt dem gePsychotherapie der »schweren meinsam mit dem Patienten zugeordnet« Störungen« ist. Leicht meint hier festgestellten Behandlungsbenicht, dass es einen Unterschied gäbe im darf und orientiert sich zuallererst an subjektiven Leid, sondern bezieht sich auf Wunsch und Wille der Patienten und, wenn die Krankheitsbeschreibung der ICD (Inter- der Patient zustimmt, seiner Angehörigen. nationale Klassifikation der Krankheiten) Die Fachpflegekraft kann im Bedarfsfall und die Zugänglichkeit zu Behandlungsfor- während der stationären Behandlung an Vimen. Schwer bedeutet in der Regel den Aus- siten teilnehmen, vor allem aber an der Entprägungsgrad einer Psychose. Ein erstarkter lassungsvisite in der Klinik, um einen reiund vernetzter ambulanter Bereich stört zu- bungslosen Übergang zwischen stationärem nächst die Zuständigkeitsroutine. Dies kann und ambulantem Sektor zu ermöglichen. als Provokation für eine Neuorientierung beDer Bezugstherapeut ist für den ihm zugegriffen werden. Angst vor Veränderung ordneten eingeschriebenen Patienten, bei könnte blockieren, wenn Immunmechanis- entsprechendem Wunsch auch für die Angemen von Institutionen virulent werden. Ge- hörigen, 24 Stunden am Tag erreichbar. rade weil die aus einbehaltenen Geldern resultierende Anschubfinanzierung zeitlich Hometreatment/Krisenbett befristet war, muss bei regelhafter Vermei- Ein Hauptziel der integrierten psychiatridung von Klinikeinweisungen dort langfris- schen Versorgung ist es, den Nutzern ein autig ein finanziell wirksamer Kapazitätsab- ßerstationäres Behandlungsangebot zu mabau stattfinden. Denn nur so kann für die chen. Dieses wird im Sinne des HometreatVersicherten beitragsneutral Geld der Leis- ment oder des Krisenbettes vorgehalten. Den tung folgen. Für beide Seiten ist daher eine Patienten und ihren Angehörigen stehen Neuorientierung jenseits der bislang übli- umfassende Behandlungsleistungen in der chen Alltagsroutine notwendig, die einen Krise zur Verfügung, die im Wesentlichen vertrauensbildenden Erfahrungsprozess vo- durch die ambulante psychiatrische Pflege raussetzt. Dies ist mittlerweile in einigen Re- und die fachärztliche Praxis getragen wergionen gelungen. So gelang es zum Beispiel den. Dies ermöglicht eine Bewältigung der für den Landkreis Cuxhaven, das Handeln an Krise in der häuslichen Umgebung. In einiden Schnittstellen zwischen Klinik und ver- gen Regionen stehen zudem Krisenbetten netzter ambulanter Struktur im Patienten- zur Verfügung als Rückzugsmöglichkeit ausinne zu regeln. Die Patienten erleben dies ßerhalb der häuslichen Umgebung, aber als ein Miteinander. eben auch außerhalb der Klinik.

Patientenzentrierte Versorgungsmodule In jedem integrierten Versorgungssystem steht am Anfang die Einschreibung der Patientin/des Patienten. Durch die Einschreibung stehen der/dem Betroffenen die besonderen Versorgungselemente des Systems zur Verfügung. Die wichtigsten dieser Elemente werden im Folgenden genauer dargestellt. Einbindung der Hausärzte Das Verfahren der Integrierten Versorgung ist auf die Bündelung sämtlicher im ambulanten Versorgungsfeld verfügbaren Ressourcen ausgerichtet. Daher hat die Zusammenarbeit mit den Hausärzten einen hohen Stellenwert. Für den niedergelassenen Facharzt sind durch enge Kontakte mit den Hausärzten Fehleinweisungen in die Klinik vermeidbar. Im Zusammenwirken beider lässt sich die Verordnungsqualität für komplexe Hilfsmaßnahmen erheblich verbessern. Für eine gemeinsame medizinische Versorgungskultur mit Weiterentwicklung der regionalen Versorgungspfade und Weiterbildung der Hausärzte sorgen regelmäßige regionale Qualitätszirkelzusammenkünfte der teilnehmenden Leistungsanbieter.

Bezugstherapeutensystem Jedem eingeschriebenen Patienten wird im Rahmen der fachärztlichen Eingangsuntersuchung ein Bezugstherapeut zugeordnet – Schnittstelle zur Versorgungsklinik in der Regel eine Fachpflegekraft für PsychiaVon Anfang an war es Ziel der IHC, mit den trie oder ein Soziotherapeut. Neben der injeweils regional versorgenden tensiven fachpflegerischen Be»Angst vor Kliniken über geregelte Koopehandlung sorgt er wie ein Lotse Veränderung könnte rationen zusammenzuwirken. für die patientenzentrierte blockieren« Dieses Miteinander bei der BeSteuerung der Hilfsangebote im handlung schwer psychisch Gemeindepsychiatrischen Verkranker Menschen stellte für beide Seiten bund. In dieser Funktion stellt er eine Brücke Neuland dar, zumal darüber nicht nur die zwischen der Behandlungsprogrammatik Frage nach der Notwendigkeit einer Klinik- der unterschiedlichen Leistungsanbieter dar. behandlung, sondern ebenso das Erfordernis Im Falle klinischer Behandlungserfordernisder Behandlung durch die sozialpsychiatri- se bleibt der Bezugstherapeut dem Patienten sche Schwerpunktpraxis oder die Instituts- und wenn notwendig seinem Angehörigen ambulanz in Einzelfällen auf den Prüfstand nahe und nimmt insbesondere am Aufnahkommt. Es galt, in einem ambulant gesteuer- me- und Entlassungsmanagement der Klinik ten integrierten Versorgungssystem seine teil. Im Rahmen seiner patientenzentrierten Aufgaben neu zu definieren. Gerade dies ist Versorgungspflichten hat der Bezugstheraunumgänglich, da hier die stärksten Barrie- peut die Funktion, Frühwarnzeichen einer

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Leitstelle/Koordinierungsstelle In jeder Region wird eine Leit- oder Koordinierungsstelle eingerichtet. Diese übernimmt zum einen die Aufnahme der Patienten in das durch integrierte Versorgung mögliche zusätzliche Versorgungsprogramm und führt zum anderen das Clearing-Verfahren im Notfallassessment durch. Sie entscheidet aufgrund der in den Qualitätszirkeln weiterentwickelten Behandlungspfade und durch fachliche Vorgaben über das weitere Vorgehen. In Auswertung sämtlicher Erkenntnisse wird über Art und Ausmaß des individuellen Behandlungsprogramms und der zu nutzenden Behandlungsmodule entschieden. Dabei kommt dem Wunsch und Wille der Patienten die zentrale Steuerungsfunktion zu. Die Leitstelle ist zu den üblichen Geschäftszeiten von 8:00 bis 17:00 Uhr telefonisch über eine für die eingeschriebenen Patientinnen und Patienten und die beteiligten Leistungserbringer gesondert eingerichtete

Notfallnummer erreichbar. Auch außerhalb der üblichen Praxiszeiten besteht für die Patienten die Möglichkeit, einen Bezugstherapeuten mit einem Facharzt im Hintergrund zu kontaktieren.

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tungsanbieter. Dazu wurden zahlreiche Qualitätsindikatoren ermittelt. Die Leistungsanbieter erhalten regelmäßige Schulungen über die Prozessabläufe und neuen Behandlungsmodule, bei Bedarf erfolgen zur Erreichung von Qualitätsstandards Einzelberatungsmaßnahmen. Die Evaluation wird durch die Abteilung Versorgungsforschung der Charité (Frau Dr. Anne Berghöfer) durchgeführt. Sie sichert eine unabhängige wissenschaftliche Aufbereitung der erhobenen Daten.

gungsverbesserung, die objektiv, insbesondere durch intensivierte ärztliche, psychotherapeutische und pflegerische Behandlung, das Bezugstherapeutensystem und den dadurch installierten Krisendienst, gewährleistet wird. Es entfallen die sonst üblichen Wartezeiten, die Transparenz innerhalb des Systems ist hoch. Der Betroffene und gegebenenfalls seine Angehörigen wirken intensiv an der Behandlung mit. Erste Evaluationsergebnisse deuten zudem eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität in allen Bereichen an. ■ Teilnehmende Leistungserbringer: Vonseiten der beteiligten Hausärzte wird das System insgesamt als Entlastung erlebt, weshalb in einigen Regionen eine sehr rege Mitarbeit in den oben genannten Arbeitskreisen (> 75 Prozent der Hausärzte) besteht. Gegenüber den teilnehmenden Kliniken besteht eine Übernahmegarantie, was auch für diese Sicherheit in der Weiterversorgung nach der Entlassung aus der stationären Behandlung bedeutet. Die Effekte der durchgeführten Weiterbildungsmaßnahmen auf die Qualität der hausärztlichen Versorgung sind noch nicht abschätzbar. Mittelfristig müssen sich die zu »ritualisierenden« Kooperationen stabilisieren, bevor nach entsprechender Evaluation eine Prozessoptimierung in diesem Bereich durchgeführt werden kann. Krankenhauseinweisungen der Hausärzte an der Facharztpraxis vorbei fanden statt, jedoch deutlich seltener als zuvor. Die umfassende Integration der ambulanten psychiatrischen Pflege in das System wird von allen Leistungserbringern als erhebliche Bereicherung erlebt, insbesondere die vorgehaltene Nacht- und Wochenendbereitschaft. ■ Kosteneffizienz: Die bisherigen Ergebnisse zur Kosteneffizienz deuten einen Trend Richtung Kostenreduktion an, wobei es teilweise widersprüchliche Resultate gibt. In jedem Fall besteht gerade bei derjenigen Patientengruppe, die einen hohen Nutzungsgrad im System der Regelversorgung hatte, eine deutliche Kostenreduktion, außerdem bei den klassischen psychotischen Erkrankungen. Es bleibt mittelfristig die weitere gesundheitsökonomische Evaluation abzuwarten. ■

Arbeitskreise/Qualitätszirkel Für die Mitwirkenden am integrierten Versorgungssystem wurden Arbeitskreise eingerichtet. Die Teilnahme am zuständigen Arbeitskreis ist bei Abschluss eines Leistungsvertrages mit der Managementgesellschaft verbindlich. Diese sind: ■ Behandlungskonferenzen: In der Leit- bzw. Koordinierungsstelle finden unter fachärztli- Patientenspektrum cher Leitung regelmäßige wöchentliche Be- Für die Aufnahme in ein integriertes Versorhandlungskonferenzen statt, an denen die gungssystem bieten sich Erkrankungen an, Fachpflegekräfte, Psychotherapeuten, die So- bei denen eine Komplexbehandlung mit ziotherapie und die Mitarbeiter des Sozial- Nutzung unterschiedlicher Behandlungsmopsychiatrischen Dienstes patientenbezogen dule notwendig ist, wie sie im bisherigen System nicht mit dem erforderlichen Aufteilnehmen. ■ Fachmedizinischer Arbeitskreis: An dem wand ambulant repräsentiert ist. Dies trifft einmal pro Quartal stattfindenden fachme- für zahlreiche psychische Krankheitsbilder dizinischen Arbeitskreis nehmen alle mit- zu. Um eine ausreichende Wirtschaftlichkeit wirkenden gemeindepsychidarzustellen, bieten sich in einem »Nach kurzer atrischen Hilfeanbieter teil. ersten Schritt zudem KrankheitsHier werden Weiterbildungsin- Projektphase erlebten bilder an, welche vergleichsweise Patienten und halte in Früherkennung, Diaghäufig sind, sodass die vorgehalAngehörige eine nostik und Therapie ausgewähltene Versorgungsstruktur in alter psychischer Störungen ver- deutliche Versorgungs- len Facetten angemessen ausgemittelt und ein Konsens über lastet ist und ein umfassendes verbesserung« die Anwendung der Behandambulantes Hilfeprogramm allungsleitlinien hergestellt. Die Vorgaben der ternativ zur Klinikbehandlung realisiert Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psy- werden kann. chotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Zu berücksichtigen sind in diesem Zusamwerden dabei als gemeinsame Ausgangs- menhang vor allem schizophrene und schwestandards genutzt. Zudem werden im fach- re Affektstörungen, Persönlichkeitsstörunmedizinischen Arbeitskreis die für die ein- gen und bestimmte Demenzformen. Aber zelnen Erkrankungen relevanten Behand- auch jede andere Erkrankung, die entsprelungspfade festgelegt und deren verpflich- chende Komplexleistungen benötigt, kann tende Einhaltung überprüft. Im Sinne einer Eingang in die integrierte Versorgung finIntervision erfolgen Prozess- und Qualitäts- den. Im Vordergrund steht immer der komkontrollen mit den Möglichkeiten der Pro- plexe Hilfebedarf. zesskorrektur. Auch hier bildet der bereits Für diese Erkrankungen erhalten die einausgearbeitete Rahmen der Fachgesellschaft zelnen Leistungserbringer klare Leistungsdie Grundlage. definitionen und Leistungsabgrenzungen ■ Psychosozialer Arbeitskreis: Der psychosogegenüber anderen Leistungssektoren. Daziale Arbeitskreis ist eingebettet in den Sozi- durch entstehen eine Verbindlichkeit in der alpsychiatrischen Verbund. Hier bietet sich Behandlungsstruktur und die Gewissheit, die Möglichkeit, das Hilfeprogramm für die dass die vorgezeichneten Behandlungspfade integriert behandelten Patienten mit dem schnittstellenübergreifend eingehalten werklassischen psychosozialen Sektor (betreutes den. Behandlungspfade schaffen Zugang zu Wohnen, tagesstrukturierende Hilfen, Ar- den notwendigen Therapieformen, ohne die beitshilfen) zu koordinieren. therapeutischen Entscheidungsfreiheiten einzuschränken.

Qualitätssicherung/Qualitätsmanagement/Evaluation Innerhalb der IHC gibt es eine eigene und unabhängige Abteilung zur Qualitätssicherung und zum Qualitätsmanagement. Diese handelt nach bestem Wissen und Gewissen und supervidiert die teilnehmenden Leis-

Bisherige Erfahrungen mit dem integrierten Versorgungssystem ■ Patienten- und Angehörigenzufriedenheit: Bereits nach kurzer Projektphase erlebten die eingeschriebenen Patienten und ihre Angehörigen eine deutliche subjektive Versor-

Dr. Matthias Walle, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist ärztlicher Leiter des Zentrums für Sozialpsychiatrie und Nervenheilkunde am Ostebogen, Hemmor. Seit 2009 ist er Geschäftsführer der IHC GmbH & Co. KG, Hemmor, Managementgesellschaft für Integrierte Versorgung. Winfried Reichwaldt ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Gründer der IHC, verantwortlich für die Bereiche regionales Netzwerkmanagement, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Entwicklung und Implementierung von neuen Projekten. Kontakt: IHC GmbH & Co. KG, Dr. Matthias Walle, Bürgermeister-Grube-Str. 3, 21745 Hemmoor; E-Mail: [email protected]

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Herr Jott – vom S-Bahn-Bogen in Hartz IV

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u den nicht mehr so ganz »neuen Versorgungsstrukturen« gehört die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe – Stichwort: Hartz IV. Seit 1. Januar 2005 kämpfen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit ARGEn, Jobcentern, Eingangszonen und Hotlines. Wo noch vor wenigen Jahren ein kurzer Anruf auf dem kleinen Dienstweg zwischen Gesundheitsamt und Soz-Sachbearbeiterin genügte oder der mittellose Klient schnell mal rübergeschickt wurde, prallen wir heute an der festen Burg »Jobcenter« ab oder verlieren uns in den Warteschleifen seiner Callcenter. Wie – wenn wir Profis schon scheitern – mag es den Klienten ergehen, denen es schon vorab die Sprache verschlagen hat? Greifen wir einen Einzelfall heraus, einen kleinen typischen Skandal, Pars pro Toto oder: Die ganze Kacke ist am Dampfen. Y Februar 2009 Frau Eichenbrenner, Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst CharlottenburgWilmersdorf, erhält einen Anruf ihrer Kollegin aus dem Allgemeinkrankenhaus. Man wolle und müsse den 62-jährigen Herrn Jott, der ohne Wohnsitz sei, nach nur einwöchiger stationärer Behandlung entlassen, denn er sei auch nicht krankenversichert. Er habe wohl einige Jahre »Platte gemacht«, sei von der Feuerwehr gebracht worden, in lebensbedrohlichem Zustand, unterkühlt und mit einer schweren Lungenentzündung. Er habe sich erstaunlich schnell wieder berappelt, könne aber aufgrund eines Hüftschadens nicht richtig gehen und benötige Unterstützung im Alltag. Eine juristische Betreuung werde von ihm abgelehnt. Wie überall gibt es auch in Berlin spezielle Angebote für Menschen in besonderen sozialen Notlagen, insbesondere ohne Wohnung. Es sind sozialpädagogisch betreute Übergangshäuser, Wohngruppen und Wohnungen. Neben einem Zimmer gibt es dort Sozialarbeiter, die auf derartige Notlagen spezialisiert sind. Finanziert werden diese Leistungen nach § 67 Sozialgesetzbuch (SGB) XII. Ich hake also nach und erfahre umgehend, dass eine Leistung nach § 67 SGB XII von unserer dafür zuständigen Stelle (›Soziale Wohnhilfe‹) bereits im Vorfeld definitiv abgelehnt wurde, weil Herr Jott zum Personenkreis der Alkoholabhängigen gehöre. Somit sei der Sozialpsychiatrische Dienst zuständig. Es sei nun unsere Aufgabe, Herrn Jott im Rahmen unserer Möglichkeiten an-

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Foto: pixelio.de

SP-Redakteurin I l s e E i c h e n b r e n n e r lässt ein wenig Dampf ab. Sie belegt an einem konkreten Einzelfall, welche Hürden zu überwinden sind, bis ein wohnungsloser Klient die ihm zustehenden Leistungen nach Arbeitslosengeld (ALG) II erhält.

gemessen und rasch entsprechend zu versorgen. Herr Jott hat keine Papiere, ein Antrag auf ALG II wurde aber von der Kollegin aus dem Krankenhaus bereits gestellt; Herr Jott war im Computer des Jobcenters aufgrund früherer Leistungen problemlos aufzuspüren. Immerhin – die lückenlose Vernetzung und Dokumentation hat manchmal ihr Gutes. Exkurs: Wer sich nun darüber wundert, dass der kranke und offensichtlich auch körperbehinderte Herr Jott überhaupt »Grundsicherung für Erwerbsfähige« beantragen muss, sollte wissen, dass es lediglich dieses eine Nadelöhr gibt, um eine Grundsicherung für den erst 62-Jährigen einzufädeln. Dass Herr Jott mit größter Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr erwerbsfähig ist, das darf allenfalls der Ärztliche Dienst des Jobcenters (und sonst keiner) zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt feststellen. Der kurze Gang zur GruSi (Grundsicherung für Erwerbsunfähige in unserem Bezirksamt) kommt also (noch) nicht infrage. Doch weiter im Text: Ich lasse mir über den »Bettennachweis« der Sozialen Wohnhilfe ein Einzelzimmer in einer Billigpension zuweisen, möglichst in unserem Bezirk. Ich habe Glück. (Nicht auszudenken, das Gerangel, wenn die Pension in einem fremden Bezirk liegen würde: kreuz und quer verlaufende Zuständigkeiten, die auch gestandene Sozis in den Burnout treiben können und mit denen ich den Leser nicht weiter behelligen möchte. Alles schon tausendmal [üb]erlebt.)

Ich beauftrage einen kleinen Pflegedienst, der in dieser Pension bereits andere Klienten versorgt, und verspreche, für die Finanzierung zu sorgen. Ich befürworte beim Sozialamt, das für diese »Hilfe zur Pflege« nach § 61 SGB XII zuständig ist, bereits vorab die Übernahme entsprechender Leistungen. Der Hilfebedarf wird in einem Gespräch mit der Pflegedienstleitung ermittelt und mit dem dafür vorgesehenen Modulbogen befürwortet. Uff. Herr Jott wird von einem Krankentransport in die Pension gebracht. Der Pflegedienst ruft an: Herr Jott habe nichts zu essen und zu trinken und keine müde Mark. Ich besuche ihn, treffe auf einen wachen, freundlichen Mann, der mir in knappen Worten seine Lebensgeschichte erzählt: geboren im jetzigen Polen, Mützliwitz, Kreis Kraczwicz, später berufstätig auf dem Bau in ganz unterschiedlichen Regionen der BRD. Ab und zu wohnungslos. Phasenweise stark getrunken. Noch vor fünf Jahren ALG II bezogen, eine nach § 67 SGB XII betreute Wohnung bezogen, in einer Trinkphase verlassen und unter einem S-Bahn-Bogen zunächst mit Kumpels, dann alleine Platte gemacht – vier Jahre lang. Er habe sich gut durchgeschlagen, sei auch im Winter klargekommen, bis ihn diese Lungenentzündung schachmatt gesetzt habe. Er habe sehr hohes Fieber gehabt und fühle sich noch schwach. »Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen!« Nach wenigen Schritten macht er schlapp, nicht nur wegen seiner schweren Gehbehinderung. Er ist zu allen Qualitäten orientiert, hat sämtliche Tassen im Schrank, eine juristische Betreuung kommt also nicht in die Tüte. Wozu auch, denke ich, läuft doch alles, und der Klient ist so kooperativ, dass ich mich eigentlich gar nicht mehr zuständig fühle. Ich hinterlasse bei dem Pflegedienst hundert Euro aus eigener Tasche, sicherheitshalber nicht bei Herrn Jott, damit das Geld nicht in Alkohol umgesetzt wird. Fein säuberlich wird jeder der sparsamen Einkäufe mit einer Quittung belegt und bei mir eingereicht. Auf Dschungelpfaden und mit der Hilfe einer Kollegin, die mal beim Jobcenter gearbeitet hat, erreiche ich eine ansprechbare Sachbearbeiterin und versuche, Geld lockerzumachen. Aber der Antrag auf ALG II ist nicht aufzufinden, und sowieso muss erst einmal der Personalausweis und die polizeiliche Anmeldung vorgelegt werden.: »Sonst hat er hier gar keinen Anspruch!« Ich nehme beim

Y März 2009 Bei der nächsten telefonischen Nachfrage erfahre ich, Herr Jott müsse nun doch auch persönlich erscheinen – hätte man mir natürlich auch gleich sagen können ... Immerhin findet man einen Termin, mit möglichst wenig Wartezeit für Herrn Jott und den Mitarbeiter der Pflegefirma, der ihn für teures Geld begleiten und mit seinem Pkw transportieren wird. Endlich erfahre ich den Namen des Sachbearbeiters, der nun für das weitere Verfahren zuständig ist: Herr Kütz. Endlich ein Name, den ich laut herausschreien und in der Luft zerreißen kann. Ich erhalte, es ist kaum zu fassen, eine Durchwahlnummer! Es gelingt mir in seltenen Sternstunden, ihn persönlich zu erreichen. Er ist freundlich und akkurat und offensichtlich neu im Geschäft. Er wundert sich, dass ich Herrn Jott Geld aus meiner eigenen Tasche gegeben habe. Das würde er nie machen, meint er professionell, sei doch wohl auch ein wenig fragwürdig. Ich drücke ein wenig auf die Tube und fasele was von Verhungern und »... werde ich öffentlich machen, ist ja skandalös!«. Y April 2009 Inzwischen sind zwei Monate seit der Entlassung aus dem Krankenhaus vergangen. Ich

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erfahre von dem zuständigen Sachbearbeiter Herrn Kütz, dass die Rentenversicherung noch nicht geklärt ist. Vorher geht gar nix. Also lasse ich mir von Herrn Jott eine Vollmacht unterschreiben und wende mich per Fax (!) an die Deutsche Rentenversicherung, übrigens Luftlinie 220 Meter von unserer Dienststelle entfernt. Nichts tut sich, außer dass ich ab und zu meinen Geldbeutel öffne und inzwischen Herrn Jott die Scheine persönlich überbringe, denn von Alkoholkonsum ist bisher nichts zu sehen oder zu riechen – meinen auch die Mitarbeiter des Pflegedienstes. Herr Jott sitzt vor einem ausgemusterten Radio, kauft mithilfe des Pflegedienstes ein und kocht sich astreine Mahlzeiten: Kassler mit Sauerkohl. Ich reduziere die Pflegemodule, die vom Sozialamt anstandslos bezahlt werden. Nachstoß bei der Deutschen Rentenversicherung, weil ich nun langsam doch etwas unwillig werde. Es gibt Unklarheiten. Es gebe einen Herrn Jott, geboren in Mützliwitz, und einen zweiten, geboren in Kraczwicz. Das Ge-

ALG II. Ich schaffe es, die beiden Kontrahenten – AOK und Kütz – direkt miteinander in Verbindung zu bringen, was eine weitere Woche und einen Fünfziger kostet, von meinen Nerven ganz zu schweigen. Aber wir haben ja Nervenärzte, und die haben sich mittlerweile an die Frage nach Socken Größe 46 und Hosen aus mageren Zeiten gewöhnt. Ich werde mit den unbezahlten Rechnungen des Krankenhauses und des Krankentransports, der Herrn Jott in die Pension gefahren hat, bombardiert. Ich mache meine Blabla-Schreiben und schicke sie im Kreis herum: AOK, Sozialamt, Jobcenter, Krankenhaus. Mir doch egal, ich habe wichtigere Baustellen. Herr Kütz ruft mich (!) aktiv (!) an und ist ganz happy: Er hat die Leistung bewilligt! Drei Monate nach Entlassung aus dem Krankenhaus weist das Jobcenter/Bundesagentur den Herrn Jott zustehenden Geldbetrag an. Ich bedanke mich überschwänglich, entschuldige mich für Wutausbrüche und versöhne mich mit Herrn Kütz, der ab nun aber

burtsdatum ist identisch. Das müsse man erst abgleichen. Gebe es Herrn Jott vielleicht zweimal? Herr Jott erinnert sich, dass ein Arbeitgeber ihn einmal fälschlicherweise mit der Kreisstadt (Kraczwicz) und nicht dem kleinen Geburtsort (Mützliwitz) angemeldet hat. Ich rufe wieder an, rege mich auf, was aber wenig bringt. Die Sache müsse erst geprüft werden. Kontenklärung! Quasi zeitgleich ein ähnliches Affentheater mit der AOK: Erst muss ALG II gewährt werden, sagt die Gesundheitskasse, dann kann er Mitglied werden. Erst muss die Krankenversicherung bestätigt sein, sagt Herr Kütz, dann gibt es

gar nicht mehr zuständig ist und die ganze Sache bereits an die anonyme Leistungsstelle weitergegeben hat.

Foto: Hinz & Kunz, Hamburg

nächsten Besuch in der Pension mit Herrn Jott einen neuen Antrag auf ALG II auf. Der Pflegedienst – ausgestattet mit reichlich Modulen namens »psychosoziale Betreuung« – transportiert Herrn Jott in die Meldestelle, um wenigstens einen behelfsmäßigen Personalausweis zu beantragen. Endlich ein Glücksfall: Der Ausweis liegt in der Meldestelle eines anderen Bezirks, wurde schon vor Monaten gefunden und brav abgegeben. Er wird abgeholt. Eine Kopie von Ausweis und Anmeldung wird ans Jobcenter geschickt, ich bringe dem Pflegedienst zweihundert Euro aus privaten Beständen, außerdem etwas Geschirr und Kleidung aus der Dienststelle, denn inzwischen sind zwei weitere Wochen vergangen. Ich schicke Faxe, Faxe, Faxe und lausche den unterschiedlichen Warteschleifen der Hotline, schließlich setze ich mich sogar persönlich in den Wartebereich, bis meine Nummer aufgerufen wird, und schildere den Fall. Reichlich dramatisch, meine ich, Herr Jott wäre längst verhungert, wenn ich seinen Lebensunterhalt nicht finanzieren könnte. Das sei doch unglaublich!! Man blickt in den Computer: Nein, nun liege alles vor und werde bearbeitet, ich hätte mir doch nicht extra die Mühe machen müssen ... Ich beschwichtige die Pensionswirtin und verspreche ihr, dass sie das Geld für ihr Zimmer schon bald vom Jobcenter bekommen werde. Ich schwöre.

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Y Mai 2009 Nach weiteren zehn Tagen hat Herr Jott einen Bewilligungsbescheid des Jobcenters im Briefkasten – und die nackte Panik. Die Mitarbeiter des Pflegedienstes übergeben ihm ihr Handy, damit er mir von der Katastrophe berichten kann. Er hat den Bescheid geprüft und entdeckt, dass er laut Bescheid nicht im Mai, sondern im Juni geboren ist. Alarmanrufe bei Herrn Kütz, der ja nun nicht mehr

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zuständig ist, aber die neuen, mir nicht zu nennenden Kolleginnen informieren wird. Versprochen! Weitere Telefonate enden mit der erfolgreichen Synchronisierung der entscheidenden Lebensdaten von Herrn Jott, auf jeden Fall im PC. Herr Jott kennt ja inzwischen seine Pappenheimer (bzw. Mützliwitzer und Kraczwiczer) und die Sensibilität des bürokratischen Apparats. In zirka einer Woche, so jubiliert Herr Kütz, müsse der Scheck der Postbank mit dem korrekten Geburtsdatum in der Pension eintreffen – sonst einfach die Hotline anrufen. Diese Nummer, logisch, singe ich inzwischen im Schlaf. Was soll ich sagen: Der Scheck ist schließlich eingetroffen, und Herr Jott hat auf Cent und Euro seine Schulden bei mir beglichen. Alles ist gut. Die Seniorenwohnung, die ich in der Zwischenzeit für ihn organisiert hatte, wollte er sich gerne ansehen. Noch vor dem Termin war er spurlos verschwunden, ohne sich seinen neuen Scheck bei der Pensionswirtin abzuholen. Zwei Wochen später hat man ihn, so wird mir berichtet, volltrunken irgendwo am Ku’damm lagern sehen. Ich habe die Übernahme der Kosten für das Pensionszimmer trotzdem für einen weiteren Monat befürwortet und die Pensionswirtin gebeten, das Zimmer nicht zu vergeben. Man wird ja wohl mal spazieren gehen dürfen. Weitere zwei Wochen später wird Herr Jott vom Hausmeister der Pension aufgespürt und in seine Bude zurückverfrachtet. Die in Aussicht stehende eigene Wohnung hat ihn wohl verschreckt, und der Pflegedienst geht ihm total auf den Wecker. Er pegelt sich ein auf einem niedrigen, in seinen Augen hervorragenden Niveau. Die Pension kostet doppelt so viel wie die eigene Wohnung gekostet hätte, aber ich lasse weitere Experimente erst einmal bleiben. Herr Jott findet sein Zimmer ganz wunderbar. Preisbewusst hat er sich bei Humana und ähnlichen Quellen alles besorgt, was sein Herz begehrt, und das ist nicht viel. Es geht ihm gut. Y September 2009 Letzte Woche riefen ein paar nette Nachbarn bei uns an und meinten, da wohne ein so eigenartiger junger Mann, der murmle vor sich hin, und habe keinen Strom und nichts zu essen. Man könne ihn doch nicht durchfüttern! Da müsse man, da müsse man, da müsse man sich doch mal kümmern. Nachtrag: Im Augenblick besteht das Team der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Charlottenburg-Wilmersdorf aus theoretisch zehn, tatsächlich acht Menschen. Unser Bezirk hat 310 000 Einwohner. Jede(r) von uns hat zirka 350 laufende Fälle. ■

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Bella und der Eigensinn Vo n Ro s i H a a s e I. Ich kenne Bella seit mehreren Jahren. Sie war mit Klaus befreundet, hat wohl auch einige Zeit bei ihm gewohnt. Dass es nicht konfliktfrei lief, bekam man am Rande unseres ›Durchblick‹-Küchentisches mit. Später kam sie etwa einmal im Monat in den ›Durchblick‹, trank Kaffee, aß selten Mittag mit. Richtig warm schien sie bei uns nicht zu werden ... Manche mochten sie nicht, sie war und blieb eine Einzelgängerin. Mir gefiel ihr trockener Humor, der uns verband, den vielleicht nur wir verstanden und den andere wahrscheinlich nur doof fanden. Sie hatte eine (im ›Durchblick‹ seltene) Eigenschaft: Sie war rücksichtsvoll, fast scheu. Wenn einer laut, drängend und fordernd war, ging sie einfach weg. Auch wenn wir uns manchmal bei Thomas Seyde, dem Psychiatriekoordinator, zur Betroffenensprechstunde trafen, grüßte sie mich freundlich und räumte das Feld. So war es kein Wunder, dass nach etwa drei Jahren Thomas Seyde zu mir sagte: »Komm doch mal zu der Beratung mit dem Verein XYZ, die wollen sie aus dem ambulant betreuten Wohnen rausschmeißen.« So ging ich denn hin, und mir ist vor allem die klagsame Sozialarbeiterin im Gedächtnis geblieben, die fast weinte, als sie sagte, sie käme nicht zu Bella in die Wohnung, diese würde nie Termine einhalten, die Nachbarn hätten sich beschwert über ihre seltsamen Angewohnheiten, und sie würde die schöne Wohnung in dem ordentlichen Haus versauen. (Zugegeben: Bella hat eine eigenwillige Art, sich zu bekleiden, mit einem tief in die Stirn gezogenen Männerhut, manchmal Zigarre rauchend.) Nach einiger Zeit gab es einen Antrag von Bella, in eines unserer Krisenzimmer einzuziehen. Sie kam mit ihrer Betreuerin und stellte sich in der Hausversammlung vor. Bella sagte: »Ich will in meiner Wohnung bleiben!« Die Betreuerin meinte, das ginge nicht. Bella sagte, sie würde dann mit einem Herrn Soundso zusammenziehen wollen, woraufhin die Betreuerin wiederum meinte, dass dies auch nicht ginge. Da Bella eigentlich gar nicht zu uns wollte, war eine Mehrheit gegen ihren Einzug. Schließlich wurde entschieden, dass Bella in eine sozialtherapeutische Wohnstätte kommt. Ab und an war sie wieder im ›Durchblick‹, ich begegnete ihr auf der Straße, und ich hatte den Eindruck, ihr ginge es ganz gut. Umso erstaunter war ich, als mich Thomas Seyde anrief und mich nach einer Idee fragte. Das Heim hatte Bella gekündigt! Es sollte aber noch ein Gespräch stattfin-

den. Und ich ging hin. Erst einmal war ich entsetzt und verärgert über Zettel an den Eingangstüren, die den Heimbewohnern verboten, bestimmte Bereiche und Eingänge zu benutzen. War etwa eine Seuche im Heim ausgebrochen?, fragte ich mich. Als ich nach einigem Suchen den Beratungsraum fand, kam ich mir vor, als würde ich einen Gerichtssaal betreten. Auf der Anklagebank: Bella. Ein Verteidiger war nicht in Sicht. Staatsanwältin war die Heimleiterin, zwei männliche Sozialarbeiter verhielten sich wie Schöffe und Richter, die Betreuerin wie die Gutachterin. Ich fühlte mich in der Rolle der Zeugin der Verteidigung. Die Sozialarbeiter klärten mich über Untaten der Angeklagten auf. Sie wäre gewalttätig, hätte einen Sozialarbeiter gegen das Schienbein getreten, sie würde sich nicht täglich duschen, den Reinigungsplan nicht einhalten, die Sachen nicht richtig wechseln und so weiter und so fort. Als ich Bella fragte, was sie dazu zu sagen hätte, schlug sie sich mit beiden Händen ins Gesicht. Ich fragte: »Was, du wirst hier verhauen?« Darauf schüttelte sie den Kopf. Die Betreuerin sagte gleich: »Nein, sie schlägt auch andere Heimbewohner!« Und die beiden männlichen, jungdynamischen Sozialarbeiter mussten mir sofort belehrend erläutern, wie oft sie schon versucht hätten, Frau Bella das Waschen beizubringen. Aber gegen ihre Aggression und Gewaltbereitschaft wäre einfach nichts zu machen. (Ich erlaubte mir die Bemerkung, dass der eine junge Mann schon durch seine Art und Weise, mir die Sachlage darzustellen, ungewohnt aggressive Gefühle bei mir auslöste und ich sehr gut nachvollziehen könne, wenn ihm jemand eine reinhauen wollte.) Die bezahlten Wohltäter stellten sich als Opfer dar, waren es vielleicht auch teilweise, und Bella nuschelte dies und jenes dazu. Erst als ich sie fragte, was sie denn eigentlich wolle, sagte sie laut und klar: »Ich will hier raus. Ich wollte hier nie rein.« Worauf die Betreuerin gleich sagte: »Aber ich besorg dir keine Wohnung. Das kommt gar nicht infrage, dann musst du eben in die Obdachlosigkeit! Willst du das?« Bella sagte: »Nein, ich will eine eigene Wohnung.« Ich schlug vor, dass geprüft werden solle, ob im Rahmen des Persönlichen Budgets keine alternative und angemessene Wohnform zu ermöglichen wäre. Ich bestand darauf, dass die Kündigungsfrist um einen Monat verlängert wird. Ich schlug auch vor, erst einmal den Wohnbereich zu wechseln. Das wurde so von den Beteiligten akzeptiert.

Anschließend lud mich Bella ein, ihr Zimmer zu besichtigen. Gleich warnten mich die Sozialarbeiter vor dem Abgrund an Unordnung, Schmutz und Verwahrlosung, der mich dort erwarten würde, und wenn da etwas Gutes wäre, wäre das ihnen (den Sozialarbeitern) zu verdanken. Das Fenster stand offen, die Heizung war auf fünf gestellt. Ich fragte Bella, weshalb das so wäre. Sie meinte, sie wolle es warm haben und Luft kriegen. Daraufhin sagte ich ihr: »Da wäre ich aber auch sauer, wenn du bei mir wohnen würdest und die Heizung ständig liefe und das Fenster offen wäre.« Sie meinte, dann würde sie das nicht tun, wenn ich Wert darauf legen würde. Ansonsten war die Waschbeckenablage voller Tuben mit Reinigungslotion, Bodylotion oder irgendwelcher anderer Lotion beeindruckend dekoriert und das Zimmer für meine Begriffe sehr ordentlich; auf einem Stuhl befand sich Wäsche, unter dem Fenster stand ein Plastebeutel, ansonsten war alles rechteckig und schnurgerade angeordnet. Die Lotioninstallation hatte der nettere Sozialarbeiter gefertigt. Ich überlegte, ob ich ihn mal zu mir nach Hause einlade. Aber erst einmal lud ich Bella in den ›Durchblick‹ ein. Sie sagte mir, dass sie mit ihrer Betreuerin nicht zufrieden sei, weil die lügen würde. Ursprünglich hätte die Betreuerin ihr gesagt, dass sie nur eine kurze Zeit im Wohnheim wäre und dann wieder eine eigene Wohnung bekäme. Sie würde auch mit jemandem zusammenziehen, in eine WG zum Beispiel. II. Bei einer weiteren Runde beim Psychiatriekoordinator wurde recht schnell klar, dass wir gemeinsam beim überörtlichen Sozialhilfeträger vorsprechen wollten. Wie aber sollte die Hilfeplanung aussehen? Trägerinteressen sind nicht immer Nutzerinteressen – und wir haben auch als Nutzerverein unseren blinden Fleck! Also übernahm eine Mitarbeiterin des Psychiatriekoordinators die Aufgabe, gemeinsam mit Bella ihren Unterstützungsbedarf zu erkunden und zu formulieren. Man glaube es kaum, die Verhandlung beim KSV (Kommunaler Sozialverband Sachsen) verlief zur allgemeinen Zufriedenheit zügig und einvernehmlich. Es brauchte dann ein paar Wochen, ehe sich wohltuende Stabi-

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auch zu einem guten Bekannten geworden – so wie die Verkäuferinnen im Konsum-Supermarkt oder die Bekannte aus der Kirchengemeinde. Montag- und Freitagvormittag kann Bella zum Baden bei mir zu Hause vorbeikommen – ihre kleine Wohnung hat nur eine Dusche.

lität in einem Beziehungs- und Zeitgefüge einstellte, das jetzt so aussieht: Tom ist die von Bella erwählte Pflegekraft, die zweimal am Tag (die inzwischen um die Hälfte reduzierten) Medikamente reicht und auf gesundheitliche Probleme achtet. Jean und Pit haben einen Schlüssel und übernehmen das wöchentliche Putzen der Wohnung. Da Bella eine Sammlerin geruchsverströmender Dinge ist und Jean und Pit diese regelmäßig entfernen (wir haben das natürlich mit Bella abgesprochen, und sie hat dieses Verfahren mit ihrer Unterschrift genehmigt), sind sie die Halunken, die sich ihrer Schätze bemächtigen – was ihnen wenig ausmacht. Tina und Renate sorgen im Verein für die finanzielle Ordnung gegenüber dem KSV. Da Bella auf bargeldlose Essensversorgung Wert legt, wird ihr Verzehr aufgeschrieben und Ende des Monats mit dem Betreuer abgerechnet. Sabina ist inzwischen fast eine echte Freundin geworden – sie berät in Kleiderfragen, hat die Möbel für die neue Wohnung ausgesucht und außer den praktischen und nützlichen Erledigungen, die jede Woche anfallen, gehen sie auch mal ins Café oder zum Dönermann um die Ecke. Der ist inzwischen

III. »Nein!«, sagt Bella neulich. »Ich möchte nicht, dass du heute mit hochkommst. Ich bin gekränkt.« Da fällt mir ein, dass sie mich Sonntag hatte besuchen wollen und ich ebenfalls »Nein« gesagt hatte. Ob das eine Retourkutsche ist? Eine Woche später treffe ich Hanni. Sie kennt Bella aus dem Praktikum in der Wohnstätte. Damals ging sie ihr lieber aus dem Weg. Bella hatte das unangenehme Bedürfnis, ihre Helfer regelmäßig mit Tassen zu bewerfen und lautstark zu beschimpfen. »Das habe ich in den vergangenen anderthalb Jahren auch einmal erlebt«, sage ich. »Nur einmal?«, fragt Hanni erstaunt. »Das kam bei uns ein paarmal in der Woche vor!« Hanni kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ich ihr erzähle, wie gut es Bella geht, vor allem, seit wir einen passenden Betreuer und eine passende Wohnung gefunden haben, und dass Bella seit zwei Monaten zuverlässig eine kleine Aufgabe im Verein übernimmt: Maren hat am Wochenende Museumsdienst.* Dann empfängt Bella die Besucher und weist ihnen den Weg. Bella hat sich den »Job« selbst ausgesucht. Maren ist ganz froh – besonders an den Sonnabenden, an denen kein weiteres Angebot im Verein stattfindet. Als ich Bella frage, ob sie diese Arbeit irgendwie entlohnt haben will, sagt sie: »Nee, nee, dann muss ich das ja machen – und dann will ich das vielleicht nicht mehr ...« Na, denke ich, so eine Aussage hätte ihr vor zwei Jahren niemand zugetraut. (Ich glaube, ich auch nicht.) Ende gut, alles gut? Nein! Seit über zwanzig Jahren war Bella nicht mehr im Urlaub. Den plant sie jetzt fürs nächste Jahr ... ■ Rosi Haase ist Künstlerin und Mitarbeiterin des Vereins ›Durchblick‹ in Leipzig. Kontakt: Interessengemeinschaft für psychiatrisch Betroffene Durchblick e.V., Mainzer Str. 7, 04109 Leipzig; Tel.: (03 41) 1 40 61 40; E-Mail: [email protected] * Sächsisches Psychiatriemuseum in Leipzig des Vereins ›Durchblick‹.

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Rosvita Grunwaldt

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Integrierte Versorgung von Patienten mit psychotischen Erkrankungen Das »Hamburger Modell« Vo n M a r t i n L a m b e r t, D i e t e r N a b e r , Th o m a s B o c k , C h r i st i n a M e i g e l -S c h l e i f f u n d G u n da O h m

n Deutschland werden Menschen mit psychotischen Erkrankungen klassischerweise im Krankenhaus (voll- oder teilstationär), in der psychiatrischen Institutsambulanz und/oder von niedergelassenen Psychiatern behandelt. Hierfür stehen im Quartal beim niedergelassenen Psychiater nur wenig finanzielle Mittel zur Verfügung. Das hat zur Folge, so das Ergebnis einer Onlineumfrage unter 581 Psychose-Patienten, dass etwa 70 Prozent der Patienten nur ein bis drei Kontakte pro Quartal erhalten hatten, die durchschnittlich etwa fünf bis zwanzig Minuten dauerten. Hinzu kommt, dass nur wenige Patienten die für sie notwendigen Therapien überhaupt zur Verfügung gestellt bekommen. Beispielsweise gaben in Bezug auf drei der fünf »evidenzbasierten« Therapien psychotischer Erkrankungen nur 25 Prozent der Patienten an, jemals Psychoedukation erhalten zu haben, nur etwa 20 Prozent eine Verhaltenstherapie oder nur etwa 10 Prozent eine Familienintervention. Hierbei ist zudem anzunehmen, dass diese Therapien schwer erkrankten Patienten seltener zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus erhalten Psychose-Betroffene selten Zugang zu Psychotherapie. Aufgrund dieser unzureichenden ambulanten Behandlung müssen die Betroffenen häufig voll- oder teilstationär behandelt werden. Dementsprechend werden für die schwer erkrankten Patienten innerhalb der Gesamtgruppe der Psychose-Betroffenen etwa 80 bis 90 Prozent der direkten Kosten pro Jahr für voll- oder teilstationäre Behandlung ausgegeben. Alle diese Aspekte zusammen machen deutlich, dass die Versorgung der Schwererkrankten innerhalb der Gruppe der Psychose-Betroffenen derzeit unzureichend organisiert ist. Trotz dieser Behandlungsdefizite existieren in Deutschland in der Psychiatrie bis dato wenige Modelle der Integrierten Versorgung (IV; Stand April 2009). Derzeit sind es insgesamt nur 83, wobei lediglich 33 Komplexmodelle sind, in denen die psychiatrische Klinik mit ambulanten Anbietern zusammenarbeitet.

Zukünftige Versorgungsstrukturen Um die Qualität der Behandlung zu verbessern, haben Länder wie Australien, England oder Kanada begonnen, Spezialzentren für Psychose-Betroffene aufzubauen. Dabei han-

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delt es sich um spezialisierte, altersübergreifende und integrierte Psychosezentren. Integriert bedeutet auf struktureller Ebene, dass verschiedene Behandlungsinstitutionen miteinander vernetzt sind und innerhalb dieses Versorgungsnetzes ein Zweierteam bestehend aus Bezugstherapeut und Arzt die Behandlung des einzelnen Patienten und seiner Angehörigen langfristig übernimmt oder gegebenenfalls koordiniert. Inhaltlich wird die Behandlung ebenfalls integriert, d.h., verschiedene Therapieformen werden phasenspezifisch und langfristig für die individuelle Problematik des Patienten und seiner Angehörigen angeboten, vor allem die, bei denen eine Effektivität in der Behandlung von Psychosen nachgewiesen wurde (Lambert/Naber 2009). Um diese Ziele zu erreichen, müssen finanzielle Ressourcen vom stationären in den ambulanten Bereich verschoben werden. Dies gelingt durch eine intensivierte ambulante Behandlung über die Implementierung eines so genannten Assertive-CommunityTreatment- (ACT-) Teams (ACTA 2007). Dabei handelt es sich um ein multiprofessionelles Team von Psychose-Experten, die eine multi-

modale Behandlung (inklusive Pharmakotherapie) im eigenen Umfeld anbieten (ausführlicher im Abschnitt »Assertive Community Treatment am UKE«). ACT gehört in angloamerikanischen Ländern seit 1992 zu den fünf »evidenzbasierten« Therapien (Marshall/Lockwood 1998; ACTA 2007). Der Aufbau eines ACT-Teams wird nach den Richtlinien der Assertive Community Treatment Association (ACTA) durchgeführt. Die Qualität des Teams wird anhand von 28 Kriterien mit der Dartmouth Assertive Community Treatment Scale (DACTS) sichergestellt (Range von 1 = »poor fidelity« bis 5 = »excellent fidelity«; Teague et al. 1998). Zu den Qualitätsrichtlinien eines ACT-Teams gehören nach ACTA (2007) vor allem:

– ein multiprofessionelles Team von Psychose-Experten, möglichst mit Psychotherapieausbildung und ständiger Intervision und Supervision; – niedriges Behandler-Patient-Verhältnis von 1:10 bis maximal 1:20; – »No drop out policy«, d.h., ein Verbleib der Betroffenen in der Behandlung wird angestrebt; – Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit; – Einbindung von ACT in zusätzliche Behandlungsoptionen (PIA [psychiatrische Institutsambulanz], Psychiater, Arbeitstherapie etc.) und damit Zugang zu allen »evidenzbasierten« Gruppentherapien und Therapieprogrammen sowie sozialen Maßnahmen; – settingübergreifende Behandlungskontinuität.

Versorgungsmodell für Psychose-Betroffene im UKE: das »Hamburger Modell« Das »Hamburger Modell« bezeichnet ein bis jetzt in Deutschland einzigartiges Versorgungsmodell für Psychose-Betroffene, das eine integrierte zweijährige und anschließend langfristige Behandlung im ›Arbeitsbereich Psychosen‹ des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) beinhaltet. Das IV-Modell ist so angelegt, dass das UKE in Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Psychiatern und anderen Gesundheitsanbietern die medizinische und finanzielle Hauptverantwortung für die Gesamtbehandlung der Patienten über einen Zeitraum von zwei Jahren und dann langfristig übernimmt. Die Versorgung der Patienten wird über Jahrespauschalen abgerechnet, in denen alle vollund teilstationären Behandlungen, alle Therapien in der Psychosen-Spezialambulanz (SPA) und alle Behandlungen beim niedergelassenen Psychiater enthalten sind. Versorgungsstruktur des Arbeitsbereiches Psychosen des UKE Der Arbeitsbereich Psychosen des UKE umfasst verschiedene Teilbereiche, die alle an der Versorgung psychoseerkrankter Patienten beteiligt sind bzw. den Betroffenen und ihren Familien im Rahmen der Integrierten Versorgung zur Verfügung stehen. Die beteiligten Versorgungseinheiten umfassen: – die Psychosen-Spezialambulanz mit einem langfristigen ambulanten Einzel- und

Foto: Hofschläger, pixelio.de

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Gruppenangebot sowie ein Spezialangebot für Patienten mit einer bipolaren Erkrankung (BiPo-Projekt); – die Krisentagesklinik für Jungerwachsene (altersübergreifend 16 – 27 Jahre, 8 – 10 Plätze); – das Assertive-Community-Treatment-Team; – die Psychosenspezialstation der Erwachsenenpsychiatrie (23 Betten); – die Tagesklinik der Erwachsenenpsychiatrie. Diese Versorgungseinheiten sind eng vernetzt mit derzeit vierzehn niedergelassenen Psychiatern (zumeist aus dem Sektor). Assertive Community Treatment am UKE Assertive Community Treatment (ACT) ist eine bislang in Deutschland nur am UKE implementierte Interventionsform. Wie oben bereits dargestellt, bedeutet ACT, dass eine akute und auch langfristige Behandlung durch ein Team von Psychose-Experten im häuslichen Umfeld erfolgt. Damit wird die voll- und teilstationäre Behandlung auf ein vertretbares Minimum reduziert und finanzielle Ressourcen vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert. Das Team am UKE ist multiprofessionell besetzt und besteht aus Fachärzten, Ärzten, Psychologen und Fachkrankenpflegepersonal. Es ist einerseits integriert in die Psychosen-Spezialambulanz, anderseits ist es vernetzt mit dem stationären Bereich und allen an der Integrierten Versorgung teilnehmenden niedergelassenen Psychiatern. Im Rahmen der IV wird jeder Patient durch ein Zweierteam bestehend aus einem Bezugstherapeuten aus dem ACT-Team und einem Arzt (aus dem ACT-Team oder niedergelassen), kontinuierlich über die gesamte zweijährige Laufzeit und darüber hinaus behandelt. Das Team trägt die Verantwortung für die strukturelle und inhaltliche Koordination der Therapie. Die Therapieplanung erfolgt mit dem Patienten und wenn immer möglich auch zusammen mit den Angehörigen. Der Patient kann alle im Psychosenbereich angebotenen Therapien nutzen. Das sichert den Zugang zu allen »evidenzbasierten« Gruppentherapien und Therapieprogrammen sowie notwendigen sozialen Maßnahmen. Das niedrige 1:15Behandler-Patient-Verhältnis erlaubt darüber hinaus einen möglichst frühzeitigen Zu-

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gang zu Psychotherapie, die durch den jeweiligen ACT-Bezugstherapeuten durchgeführt wird. Die vierzehn beteiligten niedergelassenen Nervenärzte haben sich im Rahmen des Vertrages dazu verpflichtet, in die IV eingeschlossene Patienten ohne Wartezeit, intensiver und in enger Abstimmung mit dem jeweiligen Bezugstherapeuten zu behandeln. Das Zu-Hause-Behandlungsteam hat im Wesentlichen folgende Aufgaben: – hochfrequente, langfristige und settingübergeifende Behandlung im eigenen Umfeld der Patienten inklusive Akut- und Langzeitbehandlung und inklusive einer hochqualitativen Pharmakotherapie; – Verhinderung von Rückfällen durch Krisenintervention sieben Tage die Woche und 24 Stunden täglich, sofortige Rückfallbehandlung, sofortige Compliance-fördernde Maßnahmen im Falle von Non-Compliance und sofortiges »Re-Engagement« bei Gesamtbehandlungsabbruch; – poststationäre intensive Nachsorge und damit Reduktion der Krankenhausverweildauer; – Planung und Koordination aller Interventionen und damit Zugang zu allen »evidenzbasierten« Gruppentherapien und Therapieprogrammen sowie notwendigen sozialen Maßnahmen; – möglichst frühzeitiger Zugang zu Psychotherapie, die durch den ACT-Mitarbeiter durchgeführt wird.

sektoralen Fallkonferenzen inklusive der Vorbereitung der Kasuistiken.

Einbindung der niedergelassenen Psychiater Für Patienten der Integrierten Versorgung haben sich die vierzehn beteiligten niedergelassenen Nervenärzte dazu verpflichtet, möglichst keine oder nur sehr kurze Wartezeiten vorzuhalten und diese Patienten intensiver als bisher zu betreuen. Zusätzlich zu einer leitliniengerechten Behandlung der psychotischen Störung inklusive der Pharmakotherapie werden weitere Leistungen zur Erfüllung der Vertragsziele erbracht. Dazu gehören unter anderem: – Information und Aufklärung des Patienten über die neue Versorgungsform; – kurzfristige Terminvergabe für Patienten der Integrierten Versorgung; – zusätzliche Dokumentation im Rahmen der Integrierten Versorgung zur begleitenden Qualitätssicherung; – Koordination des individuellen Behandlungssettings mit den anderen Leistungserbringern der Integrierten Versorgung. Weiterhin erfolgen eine gemeinsame Dokumentation des Behandlungsverlaufes und die regelmäßige Teilnahme an den inter-

Vergütung Erstmals wird in Deutschland die Behandlung von Menschen mit psychotischen Erkrankungen über eine Jahresfallpauschale abgerechnet. Der Anreiz dieser neuen Vergütungsform mit Übernahme der medizinischen und finanziellen Hauptverantwortung liegt in der besseren sektorenübergreifenden Gesamtbehandlung: Denn je früher drohende Rückfälle erkannt und behandelt werden, desto besser kann der Patient in seinem häuslichen Umfeld versorgt und längerfristige stationäre Krankenhausbehandlungen vermieden werden. Das bedeutet, dass eine bessere ambulante Behandlung nun erstmalig auch finanziell »belohnt« wird. Teil des Vertrages ist auch, unnötiges »Krankenhaushopping« zu vermeiden. Dementsprechend wurde vertraglich vereinbart, dass Patienten der IV innerhalb von drei Tagen aus einem anderen Krankenhaus zurück nach Hause entlassen oder in das IV-Krankenhaus verlegt werden. Das UKE erhält für die Behandlung des psychotischen Patienten eine Jahrespauschale von den Kostenträgern. Grundlage sind die IST-Kosten der jeweiligen Krankenkasse für die bisherige Krankenhausbehandlung ihrer Versicherten. Durch die individuelle Berechnung der Pauschale wird die Morbidität entsprechend der Versichertenstruktur des jeweiligen Kostenträgers abgebildet. Auf diese Weise wird das finanzielle Risiko für das UKE überschaubar. Die erhöhte Vergütung der niedergelassenen Psychiater für die zusätzlichen Leistungen im Rahmen der Integrierten Versorgung erfolgt innerhalb der Gesamtpauschale vom UKE. Die medizinische und finanzielle Hauptverantwortung für die Gesamtbehandlung des psychotischen Patienten wird damit auf das UKE übertragen. Indikationen Y Allgemeine Indikationen – Der Patient ist an einer Psychose erkrankt und erfüllt eine der ICD-10-Diagnosen. – Der Patient wohnt in räumlicher Nähe zu den Versorgungsangeboten der Integrierten Versorgung.

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Y Diagnostische Indikation (nach ICD-10) (1) F1-Störungen – Substanzinduzierte psychotische Störung (F1x.5) (2) F2-Störungen – Schizophrenie (F20) – Anhaltende wahnhafte Störung (F22) – Akute vorübergehende psychotische Störung (F23) – Induzierte wahnhafte Störung (F24) – Schizoaffektive Störung (F25) – Sonstige nichtorganische psychotische Störung (F28) – Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose (F29) (3) F3-Störungen – Manische Episode mit psychotischen Symptomen (F30) – Bipolar affektive Störung (F31) – Schwere depressive Episode mit psychoti-

tes psychopathologisches Interview durchgeführt (Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS). Eingeschlossen werden können: (1) allgemeiner Schweregrad nach BPRS: – ein Wert von ≥ 40 Punkten im BPRS (24-item-Version, 0-6) (2) spezieller Schweregrad nach BPRS: – Halluzinationen (item 10) ≥ 6 Punkte – Wahn (item 11) ≥ 6 Punkte – Desorganisation (item 15) ≥ 6 Punkte – depressiv-suizidales Syndrom ≥ 10 Punkte – suizidales Syndrom ≥ 6 Punkte – manisches Syndrom ≥ 15 Punkte – Verhaltensstörungssyndrom im Rahmen einer Psychose ≥ 15 Punkte – Syndrom vorherrschender Negativsymptomatik ≥ 15 Punkte

schen Symptomen (F32.3) – Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F33.3)

Evaluationsergebnisse Vom 1.5.2007 bis zum 30.4.2009 wurden insgesamt 95 Patienten in das neue Hamburger IV-Modell eingeschlossen. Diese Patienten waren am 30.4.2009 (Zwischenauswertungsdatum) im Durchschnitt 14,2 Monate in der IV. Primäres Erfolgskriterium war die Rate von Patienten, die die Gesamtbehandlung trotz Indikation abbrachen. Sekundäre Zielkriterien umfassten die Veränderung der Psychopathologie, des Schweregrades der Erkrankung, des Funktionsniveaus, der Lebensqualität und der Behandlungszufriedenheit vonseiten des Patienten und der Angehörigen. Darüber hinaus wurde die Behandlungsdichte evaluiert.

Y Indikationen nach Akuität oder Chronizität (1) Akuter Patient – Einweisung durch einen niedergelassenen Psychiater oder bei Notfallaufnahme vom Krankenhausarzt. – Die Schwere der Erkrankung macht normalerweise eine stationäre Behandlung notwendig. – Der Patient erfüllt eines der Akutkriterien nach BPRS (Brief Psychiatric Rating Scale). (2) Chronischer Patient Patienten, die an einer Psychose erkrankt sind und die im Verlauf der letzten zwei Jahre übermäßig häufig voll- oder teilstationäre Behandlungen in Anspruch genommen haben (»Drehtürpatienten«).

Y Patientencharakteristika Hier war der hohe Anteil von schwer erkrankten Patienten auffällig: 52 Prozent der Patienten hatten ein nahes Familienmitglied mit einer psychiatrischen Störung, 29 Prozent mit einer psychotischen Störung. 70 Prozent der Patienten hatten mindestens ein traumatisches Ereignis in der Vorgeschichte. 34 Prozent der Patienten hatten schon mindestens einen Suizidversuch in der Vorgeschichte; die meisten davon (68 Prozent) aber schon mindestens zwei. Die Patienten waren vor ihrer ersten psychiatrischen Behandlung lange unbehandelt: Die Dauer unbehandelter psychotischer Symptome lag bei 49,2 Wochen; die Gesamtdauer unbehandelter Symptome bei 241,0 Wochen. Die Skalenwerte bei Aufnahme deuten auf einen hohen Schweregrad zu Beginn hin.

Y Indikationen nach akutem Schweregrad Bei jedem Patienten wird ein standardisier-

Y Ergebnisse zu dem primären Zielkriterium Zwei von 95 Patienten (2,1 Prozent) brachen

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die gesamte Behandlung gegen ärztlichen Rat ab. Y Ergebnisse zu den sekundären Zielkriterien Im Verlauf kam es zu einer hochsignifikanten Verbesserung der Psychopathologie, des Schweregrades der Erkrankung. Die Lebensqualität verbesserte sich ebenfalls hochsignifikant und damit deutlich mehr im Vergleich zu Patienten, die im Rahmen der Vorstudie in einem Sektor ohne ACT behandelt wurden. In Bezug auf die Zufriedenheit mit der Behandlung zeigte sich ebenfalls eine hochsignifikante Verbesserung über die Zeit und ebenfalls ein deutlicher Unterschied zu der Behandlung ohne ACT in der Vorstudie. Y Behandlungsintensität innerhalb der IV Die 95 Patienten in der IV hatten in den durchschnittlich 14,2 Monaten nahezu 11 300 Behandlungskontakte; davon 8 435 vom ACTTeam, 2 335 in der PIA und 516 durch die beteiligten Psychiater. Pro Patient ergibt dies eine durchschnittliche Kontaktdichte in den 14,2 Monaten von 118,8 Behandlungen, 88,7 durch das ACTTeam, 24,6 in der PIA und 5,4 durch die Netzwerkpsychiater. Da nicht alle Patienten alle Behandlungsangebote genutzt haben, muss man die durchschnittlichen Behandlungen noch weiter berechnen: 74 der 95 Patienten haben die PIA-Behandlung genutzt und dort 31,6 Behandlungen erhalten. 23 Patienten waren gleichzeitig in Behandlung bei einem niedergelassenen Psychiater und hatten dort 22,2 Behandlungen in 14,2 Monaten. Auf die Woche pro Patient heruntergebrochen, waren es 2,1 Behandlungen pro Woche. Im Vergleich zur Regelversorgung ergibt dies eine 11-fache Intensität in der IV. Zudem konnte der Anteil von Patienten mit Psychotherapie von 5 auf 52 Prozent gesteigert werden. ■ Priv.-Doz. Dr. med. Martin Lambert*, Arbeitsbereich Psychosen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UKE; Prof. Dr. med. Dieter Naber, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UKE; Prof. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Bock, Arbeitsbereich Psychosen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UKE; Dr. Christina Meigel-Schleiff, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UKE; Dr. med. Gunda Ohm, Strategische Unternehmensentwicklung, UKE. * Korrespondenz: PD Dr. Martin Lambert, Arbeitsbereich Psychosen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistr. 52, 20246 Hamburg; Tel.: +49 40 7410-57677; Fax: +49 40 7410-55455; E-Mail: [email protected] Anmerkung: Bei dem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Originals. Dieses enthält zusätzlich zahlreiche Abbildungen und eine Tabelle. Der vollständige Artikel kann unter o.a. Korrespondenzadresse angefordert werden.

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Psychotherapie und psychische Erkrankungen Zehn Thesen zum Stellenwert von Psychotherapie im Rahmen einer Integrierten (psychiatrischen) Versorgung Jutta Jentges

Vo n Th o m a s B o c k

1. Es gibt keine psychischen Erkrankungen, deren Entstehung/Verlauf allein somatisch zu erklären und bei deren Behandlung eine Psychotherapie auszuschließen wäre. 2. Die Wechselwirkungen somatischer und psychischer Prozesse sind hochkomplex; sie beeinflussen Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen auf mehreren Ebenen: Genanteile können »geweckt« werden; Abweichungen im Hirnstoffwechsel folgen auf psychische Belastungen und erhöhen zugleich die Sensibilität 3. Konstitution und aktuelle Belastungen ergänzen sich. Insofern sind zum Beispiel kognitive/schizophrene und affektive Psychosen auch zu verstehen als existenzielle Lebenskrisen besonders dünnhäutiger Menschen – mit entsprechend komplexer psychischer, sozialer und somatischer Eigendynamik 4. Psychotherapie kann helfen, zugrunde liegende Konflikte zu lösen oder Widersprüche/Spannungen zwischen innerer und äußerer Welt zu mindern, individuelle Bewältigungskräfte zu stärken oder mit verbleibender Krankheit gesund zu leben. Darüber hinaus kann sie die Wirksamkeit von Medikamenten (u.a. über den Respekt für subjektive Krankheitskonzepte) unterstützen und/oder Vertrauen und Kooperationsbereitschaft stärken. 5. Aktuell gilt noch: Je gesünder, desto eher und je kränker, desto seltener erhalten psychisch erkrankte Menschen und ihre Familien psychotherapeutische Unterstützung. 6. Dieser Mangel entspricht nicht dem Potenzial der Psychotherapie, erst recht nicht den Bedürfnissen und Möglichkeiten von Patienten und Angehörigen. Er reflektiert ungünstige Organisations- und Finanzierungs-

strukturen sowie unzureichende Ausbildungs- und Forschungsbedingungen. 7. Modelle der Integrierten Versorgung können und müssen nicht nur formal Versorgungsstrukturen und Finanzierungstöpfe integrieren, sondern auch inhaltlich psychopathologische und anthropologische Verstehensansätze, medizinische und psychologische Erklärungsmodelle sowie die entsprechenden psychiatrischen und psychotherapeutischen Handlungsstrategien. 8. Eine entsprechend reflektierte, methodisch gesicherte Qualität der therapeutischen Beziehung kann maßgeblich zur Grundidee der Integrierten Versorgung beitragen: Krankheitserfahrung zu integrieren, individuelle, familiäre und soziale Ressourcen zu stärken, stationäre Behandlung zu reduzieren und ein Leben außerhalb von Institutionen zu ermöglichen. 9. Psychotherapie kann unmittelbarer Bestandteil der Institutionen Integrierter Versorgung oder als verbindliches Netzwerk assoziiert sein. Entscheidend ist die Förderung einer gemeinsamen, auf Verstehen und tragende Beziehungen ausgerichteten Behandlungskultur. 10. Die Belange ernsthaft psychisch erkrankter Menschen müssen in der Ausbildung stärker berücksichtigt werden – vom Psychologiestudium bis hin zur praktischen Weiterbildung: – im Studium: mehr Wissen über Diagnostik und Therapie, Begegnungsprojekte (Experienced Involvement), verschiedene Verstehens- und Behandlungsansätze; – in theoretischer Weiterbildung: Neuroseund Psychosetheorien; – in praktischer Weiterbildung (PiPler-Zeit*): Kennenlernen von integrierter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung, auch im ambulanten Kontext; – in Therapie/Supervision: Verpflichtung, bei entsprechender Supervision auch ein bis drei Menschen mit Psychose-Erfahrung zu behandeln. ■ Prof. Dr. Thomas Bock ist Diplom-Psychologe und Leiter der Sozialpsychiatrischen Ambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. * PiP = Psychologen im Praktikum.

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Die Integration der Psychiatrie Mögliche und verunmöglichte Beteiligungen des niedergelassenen Facharztes an der psychiatrischen Versorgung, deren Optimierung und Stärkung als Antwort auf die Zunahme der psychiatrischen Erkrankungen dringend notwendig ist.

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eit der Wende zur gemeindenahen Psychiatrie ist die Versorgungslandschaft seelisch erkrankter Menschen weit und bunt. Sie ist in einem lebendigen Prozess, der bundesweite und regionale Gestaltungen hervorbrachte. Nun besteht aufgrund eines Strukturwandels von Gesellschaft, Lebens- und Arbeitswelt ein vermehrter Versorgungsbedarf, vor allem bei Abhängigkeitserkrankungen, affektiven Störungen, Demenzen. Der Anstieg der Inanspruchnahme in den letzten zehn Jahren lag über alle Sektoren bei 30 Prozent. Diese Tendenz wird anhalten.1 Der Kostenzuwachs liegt in diesem Bereich aber deutlich darunter.2

Die Versorgungsaufgabe Die quantitative Leistungsausweitung wird bislang primär erkauft durch Veränderungen der Leistungsintensität (Sprechzeit pro Quartal pro Patient; stationäre Verweildauer, »Drehtür«). Daher ist zu wünschen und zu fordern, dass vorhandene gute Versorgungsansätze und Modelle durch gezielte strukturelle Maßnahmen und finanzielle Förderung zeitnah möglich werden – im Sinne der Betroffenen und einer mittelfristigen Kostenersparnis. Allem voran gilt es, die derzeitigen integrierten Versorgungsansätze zu fördern, um später auch den komplementären Bereich in diesen Versorgungsansatz zu integrieren. Ist die psychiatrische Versorgungslandschaft für die anstehenden Aufgaben vorbereitet? Wo muss sie optimiert werden? Wo ist sie ineffizient? Wie hängt die Versorgungsproblematik mit Struktur- und Finanzproblemen des Gesundheitssystems zusammen? Reichen einige Ausbesserungen, oder steht eine Kernsanierung an? Bedarf es einer Enquete reloaded? Einer fundamentalen Umstrukturierung des Entgeltsystems? Kann die viel versprechende Integrierte Versorgung (IV) gelingen, ohne Überwindung der finanziellen Sektorisierung? Und schließlich: Welche Rolle kommt dem niedergelassenen Psychiater zu? Die folgenden Ausführungen thematisieren die begrenzenden Rahmenbedingungen seiner Tätigkeit, aber auch seine integrative Identität, seine generellen Kom-

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Marginalisierung der Niedergelassenen. Die Bedeutungsverringerung ist ferner mitbedingt durch begrenzte Kapazitäten aufgrund des umfassenden Versorgungsauftrages psychiatrischer Praxen und – vor allem im letzten Dezennium – durch die starke Reglementierung seiner Leistungsmöglichkeiten (Budgetierungen). So ist etwa eine obligate Teilnahme an Hilfeplankonferenzen seiner ihm gut bekannten Patienten nicht vorgesehen und wird im Rahmen der Kollektivversorgung auch nicht honoriert. Ebenso ist eine Teilhabe an den sozialpsychiatrischen Leistungen erschwert durch eine überbürokratisierte und abgehobene Umsetzung des Enquete-Gedankens einer praxisnahen Soziotherapie.3 Ursächlich ist letztlich die ungenügende Vergütung des Psychiaters im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die nicht – wie von der Politik gerne gesehen – auf die auch bestehende innerärztliche VerteilungsproIntegrierte Versorgung ... blematik reduziert werden kann. Daher werden so genannte »extrapetenzen und seine alternativlose Bedeu- budgetäre Honorierungen«, wie sie etwa die tung für die heutige und zukünftige fach- Integrierte Versorgung nach §§ 140 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) V darstellt, für den Bestand ärztliche psychiatrische Versorgung. nervenärztlicher Praxen überlebenswichtig. Die aktuellen Ansätze einer IV begrenzen Der Arbeitsrahmen sich derzeit noch auf die obligate KooperatiMit der Psychiatrie-Enquete 1975 kam es zur on von Praxis und Klinik. Erfreulich ist dabei, Aufwertung des niedergelassenen Nerven- dass hier häufig auch andere Leistungsanarztes und Psychiaters: bieter eingebunden werden. Durch die IV (1) die Anzahl der niedergelassenen Fachärz- kann auch eine verstärkte sozialpsychiatrite sollte sich verdoppeln; sche Aktivität der Niedergelassenen möglich (2) eine Kooperation mit den anderen Leis- gemacht werden. tungserbringern sollte erfolgen; (3) die Mitarbeit von Sozialarbeitern in der Die Versorgungsleistung Praxis sollte möglich gemacht werden; (4) die Kooperation in Praxisgemeinschaften Knapp 6 000 angestellte und über 4 000 freioder mit Psychotherapeuten sollte möglich berufliche fachärztliche Psychiater und psychiatrische Nervenärzte führen 77 Prozent werden. Der zweite und dritte Aspekt stellt quasi der fachärztlichen Behandlungen durch noch immer ein Desiderat dar, dies nicht zu- (2 Millionen Fälle/Quartal durch die Praxen, letzt auch aufgrund der »Empfehlungen der 200 000 Fälle/Quartal durch die über 400 Expertenkommission« 1988 die für den Nie- psychiatrischen Institutsambulanzen). Im dergelassenen strukturell wenig Stärkung GKV-Entgeltsystem bekommen sie dafür 25 brachte. Hingegen wurde die Positionierung Prozent der in den Psych-Sektor fließenden der Institutsambulanzen, vieler komplemen- Gelder. 75 Prozent fließen in die Richtlinientärer Bereiche und deren erfreuliche Konzer- psychotherapie, die von 15 000 ambulanten tierung in Gemeindepsychiatrischen Ver- psychologischen und 3 800 ärztlichen Psybünden (GPV) vorangetrieben. In eins damit chotherapeuten durchgeführt sind.4 Eine Diskam es jedoch zur sozialpsychiatrischen kussion, ob hier schweren Fällen durch leich-

Foto: DAK

Vo n C h r i st i a n R a i da

tere Fälle notwendige Ressourcen vorenthalten werden, ist an dieser Stelle müßig. Sie wird im Rahmen der begonnenen allgemeinen Priorisierungsdiskussion zu führen sein. Während die Psychotherapie in den letzten zehn Jahren zur festen Größe werden konnte, die – trotz Ausbildungsumfang – seitens der Politik immer mehr als primäre Ansprechpartnerin der gesamten Psych-Versorgung betrachtet wurde, konnten die Psychiater ihre gute Kompetenz als Generalisten über alle Bereiche der psychischen Störungen strukturell weniger abbilden. Dabei ist gerade das Zusammenspiel der diagnostischen und therapeutischen Perspektiven konkurrenzlos. Eine Psychologisierung der Psychiatrie kann es und darf es daher – bei allen Bestrebungen der Psychologen – gar nicht geben.5 Viele Versorgerpraxen sind aus finanziellen Gründen gezwungen, auf die besser bezahlte Richtlinienpsychotherapie umzustellen oder aber vermehrt gutachterlich tätig zu werden. Diese fehlen in der Versorgung vor Ort. Die resultierende Versorgungslücke wird von den Institutsambulanzen der psychiatrischen Kliniken (PIA) als Legitimation betrachtet, Diagnose umfassend und flächendeckend in die Versorgung zu gehen, statt sich auf ihren Versorgungsauftrag zu begrenzen. Dass diese Expansion ein schleichender Strukturwandel der ambulanten Versorgung darstellt, wurde mehrfach dargelegt.6 Obwohl die rein ärztlichen Honorarkosten der PIA mehr als dreifach höher liegen als die der Praxis, ist die Motivation der Kassen, hier ein gerechtes Maß zu finden, anscheinend gering – vielleicht da die Kosten der PIA von der Gesamtvergütung abgezogen werden und daher keinen Einfluss auf deren zu zahlende Gesamtsumme haben. Ferner hat die politisch intendierte Mär einer ineffizienten, kostentreibenden »doppelten Facharztschiene« dazu beigetragen, die Position der Versorgerpraxen zu schwächen. Durch ein Expertengutachten konnte diese endlich widerlegt werden, sodass auch an dieser Stelle vernünftige Gründe für eine Zentralisierung der ambulanten psychiatrischen Versorgung an die PIAs nicht existieren.7 Im Gegenteil sollte es im Sinne der Enquete weiterhin Ziel sein, alle psychiatrischen Patienten heimatnah, in kontinuierlichen Personenbezügen und patientenorientiert zu versorgen und die vorhandenen Kompetenzen der Niedergelassenen durch strukturelle Maßnahmen zu stärken. Letztlich besteht in der Integrierten Versorgung auch die Möglichkeit, die Arbeit und Zusammenarbeit von psychiatrischer Praxis, Psychotherapie und PIA inhaltsbezogen und ausgewogener zur definieren.8

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Die Identität

lichen Fortschritt« (Müller-Spahn 2006). Ähnlich, aber an entscheidender Stelle pointierter, die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001): »The psychiatrist is a medical specialist qualified to diagnose und treat mental disorders in a multidimensional approach considering its biological, psychological und social aspects. Due to the biological origin and expression of mental disorders, the psychiatrist is an integrator in a multidisciplinary and multiprofessional approach to diagnosis und treatment. ... The psychiatrist works together with the healthcare providers, the families and carers of patients and the community in general.« Gerade weil das Gehirn nicht nur Ursprung psychischer Störungen ist, sondern auch selbige im Gehirn ihre Expression finden, kann das biopsychosoziale Denken holistisch verstanden werden: das plastisch-dynamisch-historische Gehirn selbst ist eben auch Ausdruck von psychischen Erlebnissen und sozialen Strukturen. Diese Bereiche werden hier nicht als bloße Addition von Teilbereichen betrachtet, sondern als Implikate eines Ganzen: Die Psychotherapie und Sozialpsychiatrie ist der Biologie des Gehirns gewissermaßen inhärent. Die Effekte durch Behandlung des Erlebens und Verhaltens bilden sich im Gehirn ab und vice versa. Psychotherapie und Sozialpsychiatrie bleiben somit gleichberechtigt und essenziell, dies bei allem Stolz über die aktuellen Forschungsfortschritte im biologischen Bereich. Nicht unterschlagen werden sollen weitere Identifikationspunkte für Fach und Facharzt: das Vulnerabilitätsmodell, die Methodik der »evidence based medicine« (EBM), deren Ergebnisse (Leitlinien, Standards) sowie deren systematische Umsetzung in die Versorgungswirklichkeit durch Patientenorientiertheit und Qualitätsmanagement (QM). Die anerkannten Standards und Leitlinien selbst fordern oftmals eine integrative Versorgung, andererseits sollte sich die IV den qualitativen Anforderungen der Leitlinien oder des Qualitätsmanagements stellen, auch wenn der entscheidende Schritt die individuelle und patientenorientierte Umsetzung dieser Standards ist.

Den modernen Psychiater auf den »Medikamentenrezeptor« reduzieren zu wollen, also auf den, der Medikamente gibt (rezeptiert), um Rezeptoren anzusprechen, wäre unlauter und falsch. Gleichwohl ist er von der potenziell hilfreichen Wirkung von Medikamenten überzeugt, aber nicht in der Vorstellung, damit jedwede Störung als monokausale Hirnstörung aufzufassen, sondern aus der Erfahrung heraus, dass damit eine gewisse Besserung kortikaler Funktionsstabilität erreicht werden kann, die wieder in das Erleben, die Beziehung, die Lebenswelt eingebracht werden kann und muss. Der Psychiater arbeitet heute nach einer insgesamt elfjährigen Aus- und Weiterbildung biopsychosozial: Er ist sozialpsychiatrisch sozialisiert, pharmakologisch ambitioniert, psychotherapeutisch qualifiziert, denkt interaktionell und vernetzt. Er weiß um die Komplexität der Lebenswelt seines Patienten und versucht, diese ressourcenbezogen zu reaktivieren, auch unter Initialisierung der komplementären und rehabilitativen Angebote. All dies spiegelt sich in seiner Sprechstundentätigkeit wider. Aber nicht nur der einzelne Arzt, auch das ärztliche Fach Psychiatrie stellt sich in seiner Selbstidentifikation als Integral der Bereiche des Organischen, Psychologischen und Gesellschaftlichen dar und spricht von einem biopsychosozialen Paradigma. 1998 sah Gaebel die Perspektive der Psychiatrie im Spannungsfeld von Integration und Spezialisierung. Nach der Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS) besteht der wesentliche »skill« im Profil des Psychiaters in der Integration der biopsychosozialen Therapieebenen. In den Beiträgen im »Nervenarzt« (2002) sieht auch Häfner das Wesen der Psychiatrie in der praktischen wie theoretischen Integration der biopsychosozialen Bereiche. Maier als Vertreter der genetisch-neurofunktionellen Forschung betrachtet die Psychiatrie als Anwendungswissenschaft der klinischen Neurowissenschaft, zu deren Veränderungsinstrumenten auch die Psycho- und Soziotherapie gehören, da diese die Entwicklung der Phänotypik wesentlich mitbestimmen.9 »Auch wenn sich die Psychiatrie zunehmend mehr als angewandte Neurowissenschaft versteht, würde eine ausschließliche Fokusssierung auf eine Organogenese der hohen Komplexität der Ursachenbedingungen psychischer Störungen nicht gerecht werden. Jede psychische Störung hat eine biologische, soziale und psychologische Dimension, insofern bedeutet die heute gängige integrative Sichtweise, die im biopsychosozialen Konzept ihren Ausdruck findet, einen erheb-

Praktische Perspektiven Die Hoffnung für die Praxen liegt vor allem in den IV-Verträgen. Aber auch andere, nicht an den Kollektivvertrag gebundene Sonderversorgungsbereiche sind sinnvoll, da auch hier qualitätsorientiert Versorgung optimiert und gezielt erfüllt werden kann (u.a. Disease-Management-Programm [DMP] und Facharztverträge nach § 73c SGB V). Leider stagnieren diese sinnvollen Vertragserweiterungen derzeit, da seit dem Gesundheits-

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fonds die Kassen an dem leiden, worunter die Ärzteschaft schon viel länger stöhnt: fehlende Planungssicherheit. So werden selbst fertige, bewährte und höchst sinnvolle IVVerträge derzeit von Kassen vielfach nicht unterschrieben.10 Beim Blick in die Zukunft kann die Integration der Psychiatrie und der Versorgung aber nicht halbherzig stehen bleiben, denn ganze Bereiche verblieben außen vor. »Die Behandlung psychisch kranker Men-

fahren: Marktwirtschaft und Halbherzigkeit. Salize und Roth-Sackenheim haben sich jüngst in der »Psychiatrischen Praxis« zum marktwirtschaftlichen Wettbewerb in der ambulanten psychiatrischen Versorgung pro und kontra positioniert.11 Beide sind Fürsprecher einer umfassenden IV. Die Zementierung aktueller Versorgungsprobleme durch »falsche Anreize« besteht nach Salize »darin, dass eine zeitgemäße Psychiatrie die personenbezogene Sicht- und Vorgehensweise in der Behandlung der Betroffenen notwendig macht, sie aber gezwungen ist, dies in einem nach wie vor einrichtungsbezogenen strukturierten Versorgungs- und Finanzierungssystem umzusetzen. Alle praktischen Probleme wie separierte Versorgungssektoren, gedoppelte Versorgungsstrukturen, unterbrochene Behandlungsketten, mangelnde Fallsteuerung usw. sind auf diesen grundsätzlichen Widerspruch zurückzuführen« (Salize, S. 106 f.). Da die Politik keine Chance habe, die verschiedenen Kostenträger zu einen, verbleibt eine noch so wünschenswerte ›GIV‹ unrealistisch. Mehr Markt, mehr Wettbewerb – aber gesteuert, nicht neoliberal, so Salize –, damit bestehe zumindest die Chance kleiner Schritte besserer Anreize und patientenorientierter Versorgungsstrukturen. Roth-Sackenheim, wohl auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre skeptisch, betont die Gefahr in dieser Chance: Stigmatisierte, durch chronische Leiden auch wirtschaftlich geschwächte Patienten werden es schwer haben, durch ihre Nachfrage ein für sich selbst und dem Leistungserbringer lukratives Angebot entstehen zu lassen. Die Angebote gerade im psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich sollten sich daher nicht an Nachfragen orientieren: »Fazit: Es ist zu befürchten, dass marktwirtschaftlicher Wettbewerb die ambulante psychiatrische Versorgung eher noch weiter verschlechtern wird« (ebd., S. 109). Die Aufgabe ist also, zwischen beiden Gefahren so zu manövrieren, dass zwar durchaus wettbewerbsorientiert neue Anreize sozial und steuernd gesetzt werden, sie aber nicht zu sehr den »Zahlungskräften« des Marktes zu überlassen. Konkret bedeutet es für den niedergelassenen Psychiater, sich für Integration der Versorgung und Soziotherapie, für Vernetzungen und Kooperationen einzusetzen. Dabei sollte er sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel stellen und der Stigmatisierung von Patient und Fach selbstbewusst entgegentreten. Die bekannte Datenlage sollte es der Politik und den verschiedenen Kostenträgern möglich machen, bestehende Fehl-

Heinz Unger, Münster

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schen bedarf unabdingbar einer engen und umfangreichen Kooperation aller Behandlungs- und Betreuungsangebote. Diese Notwendigkeit geht weit über den Regelungsbereich des SGB V hinaus. Um Kooperationen aller an der Versorgung beteiligten Institutionen und Einrichtungen auf dem erforderlichen hohen qualitativen und verbindlichen Niveau zu ermöglichen, haben sich regionale Verbundstrukturen als besonders geeignet erwiesen. Die bestehenden Möglichkeiten zur integrierten Versorgung nach dem SGB V im Zusammenwirken mit weiteren Sozialleistungsträgern bieten hierfür eine gute Grundlage und alle am Leistungsgeschehen beteiligten Partner sind aufgerufen, sich an regionalen Modellen zu beteiligen« (AOLG 2007, S. 97). Wenn der komplementäre und der rehabilitative Bereich mittelfristig eingeschlossen werden könnte, so könnte eine Psych-Versorgung aus »einem Guss« entstehen, die auf hohem standardisierten Qualitätsniveau individuell und am Patienten orientiert die Behandlungspfade durch alle Sektoren (ambulant – stationär – rehabilitativ – komplementär) ausgestaltet. Zwar sind der GPV und das Persönliche Budget Schritte in diese Richtung, doch stellt eine solche ganzheitlich integrierte Versorgung (sagen wir ›GIV‹) weiterhin eine Utopie dar.

Skylla und Charybdis Bei der Umsetzung des Potenzials der Möglichkeiten einer IV oder ›GIV‹ gibt es – jenseits beschriebener Hindernisse – zwei Ge-

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steuerungen und Unterfinanzierungen zu korrigieren. Erst dann kann eine befriedigende Antwort auf das Problem des weiter wachsenden Versorgungsbedarfs und deren Seitenproblemen Alterung, Migration, Stigmatisierung, Arbeitswelt, Wissens- und Machbarkeitszuwachs gefunden werden. Weder die bekannte ambulante noch eine hoffentlich kommende ganzheitlich integrierte Versorgung wird ohne den biopsychosozial denkenden und handelnden Generalisten möglich sein, der mit seiner Praxis fachkompetent und kooperativ, wohnortnah und konstant zur Verfügung steht. ■ Dr. Christian Raida, M.A., ist niedergelassener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Köln. Der Beitrag musste aus Platzgründen um mehrere Anmerkungen und das Literaturverzeichnis gekürzt werden. Der komplette Text kann beim Autor per E-Mail angefordert werden: [email protected] Anmerkungen: 1 Die Zahlen: Berger 2004; IGES 2007b, S. 46 ff., Entwicklungsprognosen: WHO 2001. Zu den Gründen: Bühren et al. 2008. 2 Das Statistische Bundesamt weist in seinem Bericht »Gesundheit. Krankheitskosten« (2008) einzig im Bereich von bösartigen Neubildungen und psychischen Störungen einen Kostenzuwachs aus. Für psychische Störungen liegt der Kostenanteil im Jahre 2002 bei 10,7%, 2004 bei 11,0% und 2006 bei 11,3%. Dieser Zuwachs ging bislang weniger in die psychiatrische Versorgung, sondern vor allem in den Bereich der Richtlinienpsychotherapie und der Institutsambulanzen (PIA). Real kam es zu einer Minderung des Geldflusses in die nervenärztliche Facharztgruppe sowie auch zu einer Abnahme der individuellen Honorare (siehe IGES 2007b, S. 51 ff.). 3 APK 2005, S. 9. Zwar wurde die Soziotherapie schon 2000 formal möglich, aber durch die überhöhten Anforderungen und die niedrige Vergütung, die unterhalb der Betreuungshonorare der ambulanten psychiatrischen Pflege (APP) oder des betreuten Wohnens (BeWo) liegt, zu einer Totgeburt. Ein Casemanagement in enger Kooperation mit dem behandelnden Psychiater wird dadurch auch an dieser Stelle kaum möglich. Vgl. auch AOLG 2007, S. 106. 4 Bundesärztekammer 2006; Positionspapier 2008; Tab.-Anhang des Berichts der AOLG 2007. 5 Zum Selbstverständnis der Psychologischen Psychotherapeuten siehe z.B. Strauß 2009 sowie die ärztliche Stellungnahme der DGGPN 2009. 6 Vor allem Melchinger 2008. 7 IGES 2007a (»Rürup-Gutachten«). 8 Die inneren Schieflagen der Psych-Versorgung wurde richtungsweisend von der DGPPN, Berlin 2003, vorgetragen (Berger 2003), später ausgefaltet (Berger et al. 2005). Substanziell für die derzeitige ambulante Versorgungsanalyse sind das IGES-Gutachten (2007b) und das »Melchinger-Gutachten« (2008). 9 Gaebel/Falkai 1998; UEMS 2002, 2; Häfner 2002; Maier 2002. 10 So gilt noch immer die Äußerung der AOLG: »Obwohl von der Komplexität der Versorgung geboten, gibt es bisher nur ganz wenige Ansätze einer integrierten psychiatrischen Versorgung. ... Faktisch sind sie jedoch von der Häufigkeit und von der Bedeutung her weit entfernt davon, ein festes Element der psychiatrischen Versorgung darzustellen« (AOLG 2007, S. 39). 11 »Psychiatrische Praxis« 2009 (36), S. 106 – 109.

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»Trotz zahlreicher Hemmnisse positiv« Das Persönliche Budget – eine kritische Betrachtung Vo n C l au d i a Z i n k e Menschen mit Behinderungen haben seit dem 1. Januar 2008 einen Rechtsanspruch auf ein Persönliches Budget. Nach den Regelungen im Sozialgesetzbuch IX – »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« – können sie mit gesetzlichen Hilfeansprüchen statt pauschalierter Sachleistungen ein individuell berechnetes Persönliches Budget bekommen. Mit diesem Geld sollen sie in der Lage sein, die erforderlichen Hilfen selbst auszuwählen, deren Gestaltung mitzubestimmen und diese selbst zu bezahlen. Doch viele Fragen zur konkreten Umsetzung, Ausgestaltung und Verbesserung des Persönlichen Budgets stellen sich weiterhin für Menschen mit Behinderungen, Leistungsanbieter und Leistungsträger. Das ›Kompetenzzentrum Persönliches Budget‹ des PARITÄTISCHEN ist bei der Suche nach fachlich angemessenen und wirtschaftlich tragfähigen Antworten behilflich.

M

it Einführung des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX – »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« – sollte neben der Stärkung der Selbstbestimmungsrechte für Menschen mit Behinderungen die immer wieder bemängelte Situation der differenzierten Leistungserbringung durch unterschiedliche Leistungsträger und die damit verbundenen Zuständigkeitsstreitigkeiten beendet werden. Dazu wurden Regelungen und Verfahrensweisen zur Leistungsgewährung und Zusammenarbeit zwischen den Rehabilitationsträgern im SGB IX getroffen. Ein wesentliches Kernelement dieser Zielstellungen war unter anderem die Einführung des Persönlichen Budgets für Menschen mit Behinderung in § 17 SGB IX.

Voraussetzungen und Ziele Voraussetzung für die Leistungsgewährung der Rehabilitations- und Teilhabeleistungen in Form des Persönlichen Budgets ist, dass der Leistungsberechtigte zum Personenkreis der Menschen mit Behinderungen nach § 2 SGB IX gehört. Grundsätzlich gilt, dass diese Form der Leistung unabhängig von Alter, Art und Umfang der Behinderung zu gewähren ist. Der Gesetzgeber hat also keine Einschränkungen für bestimmte Personengruppen vorgenommen. Grundsätzlich gilt auch, dass alle Leistungen der Rehabilitationsträger für die individuelle Rehabilitation oder Teilhabe budgetfähig sind. Der Gesetzgeber hat weder im SGB IX noch in den Sozialleistungsgesetzen der Rehabilitationsträger Ausnahmen formuliert, nach denen bestimmte Leistungen von der Bewilligung des Persönlichen

Budgets ausgeschlossen werden können. Nur in begründeten Ausnahmen ist die Leistung als Gutschein zu gewähren. Mit der neuen Leistungsform, dem Persönlichen Budget, verfolgt der Gesetzgeber unterschiedliche Ziele. So sollen beispielsweise die Hilfen künftig individueller ausgestaltet und Teilhabe- und Rehabilitationsbedarfe konkreter formuliert werden. Darüber hinaus geht es um die Stärkung der Selbstbestimmung und die Förderung der Eigenverantwortung von Menschen mit Behinderungen. Wesentliches Ziel vor allem der Sozialhilfeträger ist es, mit der Bewilligung von Persönlichen Budgets ambulante Hilfen auszubauen und teilstationäre und stationäre Hilfen abzubauen. In diesem Zusammenhang geht es den Rehabilitationsträgern auch um die Erschließung »neuer allgemeiner Dienstleistungen und Angebote«, die sich im bisherigen Angebotsspektrum für Menschen mit Behinderungen nicht etablieren konnten. Diese Zielstellungen sind seit 2001 bekannt. Es stellt sich die Frage: Wo stehen wir heute – acht Jahre nach der Einführung des Persönlichen Budgets als Kannleistung? Und fast zwei Jahre nach dessen Inkrafttreten als Pflichtleistung? Verlässliche Zahlen gibt es nicht.

Persönliches Budget – nachgefragt? Zur Anzahl Persönlicher Budgets in Deutschland liegen nach Kenntnis des ›Kompetenzzentrums Persönliches Budget‹ des PARITÄTISCHEN keine empirisch gesicherten Zahlen vor. Nach Abschluss der Modellphase im Jahre 2007 konnten zirka 845 evaluierte Budgets festgestellt werden. Bereits im Dezember 2008 hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Rahmen der Beantwortung einer kleinen Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen ausgeführt, dass es bundesweit zirka 10 000 Persönliche Budgets gibt. Diese Zahl lässt sich sicherlich kritisch hinterfragen. Allerdings können wir beobachten, dass die Beratungs-Nachfrage im ›Kompetenzzentrum‹ des PARITÄTISCHEN stetig steigt. Wir haben in 2008 ungefähr 2 000 telefonische und rund 500 schriftliche Anfragen gehabt. Hinzu kommen zirka 170 000 Zugriffe auf unsere Internetseiten. Dies ist natürlich kein »Beweis« für einen zahlenmäßigen Anstieg Persönlicher Budgets, aber die starke Nachfrage lässt ein deutliches Anwachsen gegenüber den seinerzeit evaluierten Budgets im Modellprojekt vermuten. Im Rahmen der Regionalkonferenzen des

Das Persönliche Budget – Umsetzung und Perspektiven

›Kompetentzentrums‹ zum Persönlichen Budget haben wir unterschiedliche Zahlen von den Ländern erhalten. Auch diese lassen keine absoluten Aussagen zu. Sie lassen jedoch Trends bezüglich unterschiedlicher regionaler Entwicklungen erkennen. Während man in Bayern im Februar 2009 von 425, in Baden-Württemberg von 382 und im Saarland von zirka 50 bewilligten Persönlichen Budgets sowie 32 weiteren Anträgen ausging, wurde in Bremen im Frühjahr 2009 immerhin ein Persönliches Budget bekannt. Einrichtungsvertreterinnen und -vertreter betonen auf Veranstaltungen immer wieder, dass sie kaum Persönliche Budgets kennen, und meinen, dass es deshalb offensichtlich nicht sehr viele davon in ihrer Region gibt. Richtig ist, dass konkrete Zahlen nicht vorliegen. Allerdings erlaubt das »Nichtkennen« von konkreten Budgets nicht den oben genannten Schluss. Eher ist zu vermuten, dass eine Vielzahl Persönlicher Budgets bewilligt wurde und bei deren Umsetzung die Leistungsberechtigten auf eigene Ressourcen setzen oder die Hilfen bei anderen als bisher gewohnten Anbietern »einkaufen«, z.B. bei Einzelpersonen. Wir sind uns auch bewusst, dass die mögliche Anzahl der Persönlichen Budgets im Verhältnis zu den Rehabilitations- und Teilhabeleistungen wohl nur einen verschwindend geringen Anteil ausmacht. Dennoch gibt es Menschen, die hier eine individuelle Lösung für sich gefunden haben.

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Empfehlungen zur Ausführung Empfehlungen zum Persönlichen Budget werden auf unterschiedlichen Ebenen gegeben. Diese können die Anzahl Persönlicher Budgets und deren Umsetzung unterstützen. Beispielsweise wurde 2004 erstmalig die Handlungsempfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zu »Trägerübergreifenden Aspekten bei der Ausführung von Leistungen durch ein Persönliches Budget« veröffentlicht. Die aktualisierte Fassung der Empfehlung der BAR stammt vom 1. April 2009. Kein Aprilscherz, sondern das Ergebnis eines intensiven Beratungsprozesses, an dem auch die Interessenverbände der Menschen mit Behinderungen beteiligt waren. Erstmals dargestellt in den Handlungsempfehlungen sind Leistungen der Jugendhilfe und der privaten Krankenversicherung. Zusätzlich zu den Handlungsempfehlungen der BAR veröffentlichen einige Bundesländer und Rehabilitationsträger eigene Handlungs- und Umsetzungsempfehlungen.* Dem Grunde nach sind landeseigene Empfehlungen zum Persönlichen Budget zu begrüßen. Die meisten der bekannt gewordenen Landesempfehlungen beziehen sich auf die Handlungsempfehlung der BAR und greifen Aspekte wie beispielsweise Verfahrensweisen zu den Leistungsabsprachen positiv auf. Allerdings kann auch festgestellt werden, dass in einigen Landesempfehlungen Verfahrensweisen vorgeschlagen werden, die kritisch zu hinterfragen sind. Beispielsweise werden in Bremen und in Niedersachsen Empfehlungen für Stundensätze gegeben, die sich ausschließlich am bisher bekannten Sachleistungsprinzip orientieren oder zu gering sind, als dass die über das Budget beschäftigten Assistenten davon leben könnten.

Die Rolle der Rehabilitationsträger Leider ist der Trend, dass die überwiegende Anzahl Persönlicher Budgets in die Zuständigkeit der Sozialhilfe fällt und keine Komplexleistung, sondern eine Teilleistung ist, immer noch nicht durchbrochen. Nach Abschluss der Evaluierung in den Modellregionen 2007 waren es 95 Prozent der Persönlichen Budgets, die im Rahmen der Eingliederungshilfe nach SGB XII umgesetzt wurden. Vonseiten des ›Kompetenzzentrums‹ des PARITÄTISCHEN wird beobachtet, dass zunehmend die Bundesagentur für Arbeit (BA) Persönliche Budgets auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewilligt. Mit der neuen Leis-

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tung der »Unterstützten Beschäftigung«, die seit dem 1. Januar 2009 gilt, ist auch hier mit einem Anstieg zu rechnen. Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und der BA betonen immer wieder, dass die Leistungen der »Unterstützten Beschäftigung« auch als Persönliches Budget gewährt werden können, unabhängig davon, dass diese vonseiten der BA ausgeschrieben werden. Dieser Hinweis ist besonders für die Leistungsanbieter der »Unterstützten Beschäftigung« von Bedeutung, die im Rahmen der Ausschreibungsverfahren nicht den Zuschlag erhalten haben. Zu begrüßen ist, dass in der Handlungsempfehlung/Geschäftsanweisung (HEGA) 09/2009-09 der BA ausgeführt wird, dass auch die Sozialversicherungsleistungen, wie sie bei der »Unterstützten Beschäftigung« gewährt werden, beim Persönlichen Budget zu übernehmen sind. Dies klingt erst einmal positiv. Allerdings ist die Übernahme von Leistungen der Arbeitslosenversicherung eine »Kannleistung« und bei der Sachleistung der »Unterstützten Beschäftigung« ausgeschlossen. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen, die eine »Unterstützte Beschäftigung« nach der Schule aufnehmen, nicht mit denen gleichgestellt sind, die eine Berufsausbildung in einem Berufsbildungswerk erhalten. Für Auszubildende in Berufsbildungswerken werden für die Zeit der Ausbildung Arbeitslosenversicherungsbeiträge vonseiten der BA übernommen.

Umfang und Angebote Der Umfang der bisher bekannten bewilligten Persönlichen Budgets ist, da er sich am individuellen Bedarf orientiert, logischerweise sehr unterschiedlich. Aber auch hier lässt sich trotz vieler positiver Beispiele ein negativer Trend feststellen. Aufgrund der Vorschrift in § 17 Abs. 3 SGB IX – »Dabei soll die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten

aller bisher individuell festgestellten, ohne das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten« – beobachten wir, dass einige Sozialhilfeträger mit den angebotenen Stundenumfängen und Stundensätzen sich ausschließlich an dieser Regel orientieren. Besonders ärgerlich ist, dass mit den von einigen Sozialhilfeträgern angebotenen Stundensätzen in Höhe von 7,50 Euro (im Einzelfall lagen die Angebote noch darunter) es den Budgetnehmerinnen und -nehmern kaum möglich ist, sich kontinuierliche Leistungen auf dem Markt einzukaufen. Bei diesen Entgelten werden Assistenten, sobald sich eine bessere Verdienstmöglichkeit ergibt, die Betreuungs- und Assistenzleistungen aufgeben. Für die Menschen mit Behinderungen bedeutet dies, dass sie einen permanenten Wechsel in einem sehr persönlichen, in der Regel langfristigen und intimen Kontext der Betreuung haben werden. Für bisherige Anbieter liegt gerade in diesem Feld der Arbeit jedoch eine Chance. Dabei geht es nicht nur darum, Leistungen neu zu beschreiben und kleinteilig zu portionieren, sondern es geht um Unterstützungsleistungen, die wie bisher auch auf Fachlichkeit, Kontinuität und Vertrauen setzen. Vorstellbar sind beispielsweise Vermittlungsstellen für Assistenzkräfte, aber auch Angebote der Beratung und Unterstützung bei der Umsetzung Persönlicher Budgets.

Pflegebudget – Persönliches Budget § 35a SGB XI Bedauerlicherweise ist es nicht möglich, das Persönliche Budget als Geldleistung im Rahmen der Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen. Mit Blick auf die Beitragsstabilität ist auch kaum mit einer Änderung zu rechnen, denn die Einführung der Sachleistung als Geldleistung beim Persönlichen Budget könnte dazu führen, das letztlich der Personenkreis, der heute ausschließlich Pflegegeldleistung bezieht, sich für das Pflegebudget entscheiden würde. Das sind zurzeit zirka 980 000 von 2,13 Millionen Pflegebedürftigen – fast die Hälfte aller pflegebedürftigen Menschen. Dennoch, die bisherigen Formulierungen konterkarieren die Bestrebungen der Bundesregierung, das Persönliche Budget als eine akzeptierte Leistungsform für Menschen mit Behinderung zu entwickeln. Pflegeleistungen gemäß SGB XI sollten zumindest im Rahmen der Assistenz im Arbeitgebermodell in Höhe der Sachleistung als Geldleistung in das Persönliche Budget integriert werden können. Somit war die letzte Änderung des SGB XI für Menschen

mit Behinderungen in Bezug auf das Persönliche Budget eine Enttäuschung. Der Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages zum Persönlichen Budget in der Pflegeversicherung bezüglich einer weiteren Modellphase ist aus Sicht des PARITÄTISCHEN halbherzig. Er verzögert eine längst überfällige politische Entscheidung und die Umsetzung des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets nach SGB IX. Im Modellprojekt wurden tragfähige Ergebnisse zum Persönlichen Budget nach SGB IX vorgelegt, in denen auch so genannnte integrierte Budgets bereits einbezogen waren. Die erweiterten Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI bedeuten eine erhebliche Verbesserung für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen. Allerdings ist der Abruf dieser Leistungen nur über so genannte Pflegedienste möglich. Dies widerspricht den Intentionen des SGB IX und dem Persönlichen Budget, selbst zu bestimmen, bei welchem Dienst oder bei welcher Person die Leistungen eingesetzt bzw. abgerufen werden können.

Beratung und Unterstützung Das Angebot der Beratung und Unterstützung ist laut § 17 Abs. 3 SGB IX entsprechend dem individuellen Bedarf Bestandteil der Leistungen zum Persönlichen Budget. Im Einzelfall ist also der Bedarf an Beratung und Unterstützung bei der Feststellung des komplexen Bedarfes des Budgetnehmers zu berücksichtigen. Allerdings gibt es zum Thema Beratung und Unterstützung sehr unterschiedliche Auffassungen zwischen den Rehabilitationsträgern und den Interessenverbänden von Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Grund wurde die Position der Verbände in einer Anlage in der bereits erwähnten Empfehlung der BAR aufgenommen. Unabhängig von diesen unterschiedlichen Auffassungen sind die Leistungen der Beratung und Unterstützung neben den bisher gewohnten Rehabilitations- und Teilhabeleistungen durch die Leistungsanbieter zu beschreiben und zu kalkulieren. Die Beschreibung ist auch vorzunehmen, wenn diese Leistungen im Rahmen von Zuwendungen sichergestellt werden. Beratung und Unterstützung sind Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung Persönlicher Budgets, und deshalb sind wir in der Verantwortung, diese nicht nur zu fordern, sondern auch zu quantifizieren. Zu den Leistungen gehören beispielsweise: – Beratung im Vorfeld (Entscheidungshilfen, Möglichkeiten, Risiken); – Hilfe bei der Ermittlung und Zusammenstellung des individuellen Hilfebedarfs (Bedarfsfeststellung);

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– Hilfe bei der Antragsformulierung; – Begleitung des Antragsverfahrens (bei Gesprächen mit Reha-Trägern, Abschluss der Zielvereinbarung etc.); – rechtliche Beratung; – Information und Beratung über Angebote und Preise in der Region; – Beratung zur Organisation der Hilfen, Unterstützung im Umgang mit Lohn- und Kostenabrechnung; – Förderung der Organisations- und Anleitungskompetenz; – Unterstützung bei der Inanspruchnahme professioneller Dienste (Assistenz bei der »Kunden«rolle); – Unterstützung bei der Eigenorganisation von Assistenz (Nachbarn, Familie oder andere Privatpersonen); – Beratung zum Einsatz des bewilligten Geldbetrages; – Beratung und Unterstützung beim Abschließen und Kündigen von Verträgen; – Coaching und Konfliktmanagement bei Problemen mit Assistentinnen und Assistenten. Bei der Betrachtung diese Palette an möglichen Unterstützungsleistungen wird schnell deutlich, dass die Beratungsstellen der Rehabilitationsträger, z.B. die Gemeinsamen Servicestellen nach SGB IX, diese Aufgaben nur bedingt, etwa die Erstberatung, übernehmen können. Es wird allerdings auch deutlich, dass die bereits oben erwähnte Sollvorschrift bezüglich des Leistungsumfanges in § 17 Abs. 3 SGB IX zum Problem wird. Sehr viele Praxisbeispiele haben gezeigt, dass mit den Unterstützungsleistungen das Persönliche Budget im Einzelfall teurer werden kann. Leistungen sind eben nicht nur über den Preis vergleichbar. Menschen mit Behinderungen, die zuvor in stationären Einrichtungen gelebt haben, werden in der eigenen Häuslichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit einen anderen Teilhabebedarf haben. Dieser ist nicht nur umfangreicher oder geringer, sondern eben mit Blick auf die Einbeziehung der Faktoren in dem jeweiligen Umfeld und auf die veränderten Bedarfe eben anders und nur in Ausnahmesituationen gleich.

Aus Sicht des PARITÄTISCHEN muss sich der Gesetzgeber überlegen, wie die Beratungs- und Unterstützungsarbeit, die bisher in großen Teilen über ein vom BMAS gefördertes Programm finanziert wurde, rechtlich gestärkt werden kann, sodass diese Arbeit nicht mit dem Auslaufen der Förderung beendet wird. Vorstellbar wären Beratungskontingente für Budgetnehmer. Darüber hinaus ist insbesondere die Peer-Beratung auszubauen. Eine weitere Problematik sind die vonseiten der Krankenkassen und Rentenversicherung betonten Bindungen und Verpflichtungen an die Vorgaben in den Sozialgesetzbüchern V (»Gesetzliche Krankenversicherung«) und VI (»Gesetzliche Rentenversicherung«). Dazu gehört, dass beispielsweise Rehabilitationsleistungen nur in zertifizierten Einrichtungen erbracht werden dürfen oder Hilfsmittel nur im Rahmen der Ausschreibungen und der Rahmenverträge abgegeben werden können. Ausschreibungen und Festlegungen zu Einrichtungen passen nicht zur Philosophie der Selbstbestimmung des Persönlichen Budgets und verhindern die Umsetzung. Gleiches gilt für differenzierte Auffassungen beim Persönlichen Budget für Arbeit. Werkstattleistungen sind nach Auffassung des BMAS an die Institution gebunden und können somit nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt transferiert werden. Im Grunde steht hinter all diesen Beispielen die Sorge, dass die bisherige Steuerung der Maßnahmen mittels Zuweisung in Einrichtungen durch die Rehabilitationsträger nicht mehr möglich ist. Ein Warten auf Reha-Maßnahmen und so genannte »Wartelisten« dürfte es beim Einsatz von Persönlichen Budgets nicht mehr geben.

Ausblick Was bewegt Menschen mit Behinderungen, Verbände, Dienstleister und den PARITÄTISCHEN dennoch, die Umsetzung Persönlicher Budgets weiter zu befördern? Das ist vor allem die veränderte Rechtsstellung des

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Menschen mit Behinderung – aber auch die in diesem Jahr vom Bundestag ratifizierte Konvention für die Rechte behinderter Menschen, die beispielsweise für einen »neuen Behinderungsbegriff«, Empowerment, Selbstbestimmung, Inklusion und Barrierefreiheit steht. Der PARITÄTISCHE ist der Auffassung, dass differenzierte bedarfsgerechte Lösungen möglich sind, wenn alle Beteiligten aufeinander zugehen. Für Einrichtungen und Dienste bieten sich Perspektiven für die Weiterführung bewährter Leistungen und für eine Erweiterung der bestehenden Palette. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird sich in der Struktur der Leistungserbringung sicherlich einiges verändern. Ändern wird sich jedoch nicht die Nachfrage nach Qualität, Kontinuität, Verlässlichkeit und Vertrauen in der Unterstützungs- und Betreuungsarbeit. Es sind vor allem die Aussagen von befragten Budgetnehmerinnen und -nehmer, die mit der neuen Leistungsform Selbstbestimmung und Wahlfreiheit praktizieren und »er«leben. Der überwiegende Teil von ihnen bewertet die eigenen Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget positiv und würde es wieder in Anspruch nehmen – und dies trotz zahlreicher Hemmnisse, insbesondere während der Beantragung. Beispielhaft sei hier abschließend eine sich uns einprägende Schilderung einer Mutter genannt. Ihr Sohn ist fünfundzwanzig Jahre alt und geistig behindert. Sie sagt: »Früher musste ich anrufen und bitten, dass Freunde, Bekannte und vor allem Familienangehörige mal auf meinen Sohn aufpassen oder mit ihm etwas unternehmen, damit auch ich mal Freiräume habe. Heute ist das anders, ich bekomme Anrufe und werde gefragt, wann die Assistenten wieder einen Dienst übernehmen können. Robert hat viele schöne Erlebnisse und Erfahrungen machen können, die ich ihm in meiner Rolle als Mutter so nicht geben kann. Durch das Geld, was Robert zur Verfügung steht, bin ich nicht mehr länger in der Rolle der Bittstellerin.« ■ Claudia Zinke ist Referentin für Gesundheitshilfe, chronische Erkrankungen, Behindertenhilfe, Psychiatrie beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. Kontakt: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V., Oranienburger Str. 13 – 14, 10178 Berlin; Tel.:(0 30) 2 46 36-0; E-Mail: [email protected] Internet: www.paritaet.org www.budget.paritaet.org/ * Eine Übersicht hierzu kann auf den Internetseiten des ›Kompetenzzentrums‹ eingesehen werden: http://www.budget.paritaet.org

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»Es gibt eigentlich für jeden Menschen etwas, das ihn aus dem Haus lockt ...« Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget U r s u l a Pat h e hat sich für das Persönliche Budget entschieden.

SP-Redakteurin M i c h a e l a H o f f m a n n befragte sie nach Veränderungen im Alltag, Problemen und Chancen. SP: Frau Pathe, seit wann beziehen Sie das Persönliche Budget? Ursula Pathe: Seit 2005, also seit vier Jahren inzwischen! SP: Was waren die Voraussetzungen, das Budget zu bekommen? Ursula Pathe: Das Persönliche Budget ist eine Leistung, die es nur im Zusammenhang mit dem betreuten Wohnen, also der Betreuung durch einen ambulanten Dienst für psychisch Kranke gibt. Viele scheuen sich davor, einen solchen in Anspruch zu nehmen. Ich persönlich empfinde ihn als sehr bereichernd. Ich habe schon Menschen beraten, wegen des Persönlichen Budgets Betreuung anzunehmen und gebe immer zu bedenken: Stellen Sie sich vor, es käme jede Woche jemand vorbei, der mal einen Kasten Wasser mit hochträgt! Letztlich ist es viel mehr als das! Es geht oftmals um stabilisierende Gespräche, aber auch der Alltag will bewältigt werden. Diese Idee hilft vielen, Betreuung im Rahmen des betreuten Wohnens (BeWo), anzunehmen und sich nicht als Pflegefall anzusehen, sondern als jemanden, der von Unterstützung profitieren würde. Jeder Mensch auf dieser Welt könnte in irgendeinem Bereich Unterstützung gebrauchen. Darum geht es in der Betreuung, aber vor allem beim Persönlichen Budget. SP: War es schwierig, den Antrag zu stellen und bewilligt zu bekommen? Hatten Sie Unterstützung? Ursula Pathe: Ich wurde erstmals so richtig in der Klinik Pniel in Bielefeld-Bethel, einer Klinik für junge Erwachsene unterstützt, in der ich aufgrund meiner Schizophrenie nachbehandelt wurde. Ein Sozialarbeiter kam auf die Idee, dass ich das Modellprojekt mitmachen könnte, meine Bezugspflegerin hat mit mir den Antrag geschrieben. Heute ist das Modellprojekt ein Rechtsanspruch geworden, und ich schreibe meinen Antrag selber und unterstütze auch andere dabei. SP: Wofür haben Sie das Persönliche Budget in der Vergangenheit benutzt? Ursula Pathe: Ich habe es vor allem für Freizeitaktivitäten genutzt, also für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Bei mir

Foto: Lizzy Tewordt, pixelio.de

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Ein paar Mäuse zum Verbraten …

waren das Tanzkurse, ein Kurs in Reiki, Malkurse, Bahnfahrkarten, um meine Familienangelegenheiten zu klären, Massagen, Kurse zur Befreiung von Besetzungen durch Energieheilung, Sauna zur Steigerung der Belastbarkeit und des Kreislaufs, Schwimmen, ein Probemonat im Fitnesscenter und einige Musikstunden. SP: ... und heute? Ursula Pathe: Das meiste habe ich kultiviert und in meinen Alltag eingebaut, neu war ein Seminar in Hamburg: »Das Ende der Angst!«. Ich hatte es mehrmals beantragt – und mich jetzt endlich getraut! SP: Stichwort betreutes Wohnen: Nehmen Sie darüber hinaus noch Hilfe in Anspruch, und »kaufen« Sie sich diese ein? Usula Pathe: Das Persönliche Budget basiert ja auf dem betreuten Wohnen und ergänzt dieses. Ich könnte mir noch weitere Hilfe »einkaufen«, beispielsweise eine Studentin zur Unterstützung, tue dies aber nicht. Ich komme mit der BeWo-Hilfe aus. Stattdessen gestalte ich meine Freizeit lieber selber mit einem Budget, das mir mehr Aktivitäten ermöglicht; das macht mir Spaß und war für mich ein Riesengewinn, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Ich kann einfach das tun, was mir guttut, obwohl ich Sozialhilfeempfängerin bin. SP: Das hört sich gut an, ungewöhnlich ... Ursula Pathe: Manchmal sind selbst gesunde Menschen neidisch auf einzelne Leistungen meines Budgets. Ich habe zum ersten Mal gemerkt, dass das System mich aufbauen will und mich nicht kaputtsparen und unterdrücken will. Ich fühle, dass jemand in mich investiert. Da kann ich dem Landschafts-

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verband Westfalen-Lippe danken. Er ist mit mir im Pilotprojekt auch ungewöhnliche Wege gegangen, im Bereich der Energieheilung etwa. SP: War es schwierig, diese ungewöhnlichen Wege durchzusetzen? Ursula Pathe: Ich habe die Verteilfunktion des Landschaftsverbandes als sehr offen erlebt, wenn es auch manchmal etwas anstrengend ist, zu einer großen Fachkonferenz zu müssen und vor acht bis zehn Leuten meine Vorhaben zu diskutieren und absegnen lassen zu müssen ... SP: Gibt es Konkurrenzen? Ursula Pathe: In Konkurrenz steht das Budget natürlich direkt zum betreuten Wohnen, damit auch zu den Betreuern und den Betreuungsvereinen. Eine Betreuungsstunde wird bei ihrer Umwandlung in Geld als Persönliches Budget ja direkt an mich gezahlt. Ich kaufe meine Leistungen also nicht mehr bei einem Verein ein, sondern gehe damit selber los und gebe es zum Beispiel für Malstunden aus. Eine Stunde verbleibt aber immer. Dies ist die Mindestdauer der professionellen Betreuung und wie gesagt auch die Voraussetzung. Das Budget wird immer von dem insgesamt festgestellten Betreuungsbedarf abgezogen. Beantrage ich zum Beispiel ein höheres Budget, geht das zulasten des Betreuungsvereins. Dies könnten einige Betreuer als Grund empfinden, das Budget nicht oder nur eingeschränkt zu empfehlen. Ich denke auch, dass es nicht für jeden geeignet ist, auch wenn jeder davon profitieren könnte. Menschen, die Probleme haben, Geld zu verwalten, könnten eher mehr Probleme bekommen. Das Geld, das ich bekomme, wird übrigens nicht eins zu eins umgerechnet. Es wird kalkuliert, dass ich eine Mal- oder Tanzstunde günstiger einkaufe als eine Betreuungsstunde durch einen Sozialarbeiter. So wird beim Landschaftsverband durch das Budget auch gespart. SP: Ist es schwierig, das Persönliche Budget zu verwalten? Wie aufwändig ist die Abrechnung? Ursula Pathe: Ich habe einfach ein Extrasparbuch und finde es nicht schwierig, Quittungen zu sammeln und einmal im Jahr alles aufzulisten, was ich gemacht habe. SP: Was finden Sie an diesem Konzept verbesserungswürdig? Ursula Pathe: Die Konferenz ist auf jeden Fall ein Nachteil. Dort muss man seinen Antrag inhaltlich noch einmal diskutieren – mit seinen Schwachstellen. Das ist für viele Depressive gar nicht möglich, manche Kranke sind auch durch Tabletten in ihrer Ausdrucksstärke geschwächt. Manchmal kom-

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men unangenehme Nachfragen, die sehr persönlich sind. Der Tag ist danach im Eimer. Besonders die Leitung ist aber meist freundlich und gleicht vieles aus ... Um die Konkurrenzprobleme zu lösen, ist natürlich eine neutrale Beratung notwendig. Ich biete diese für psychisch Kranke privat an.* Es gibt sie aber auch öffentlich, in Bielefeld zum Beispiel im Café 3b, einer Beratungsstelle für Behinderte, die auch psychisch Kranken behilflich ist. Falls ein Betreuer sich aber absolut weigern würde, ein Persönliches Budget zu unterstützen, zieht der Kranke, wenn er sich nicht so gut durchsetzen kann, den Kürzeren. Beratung kann da schon weiterhelfen. Ein Rechtsanspruch darauf ist inzwischen durchgesetzt. Dennoch wissen zu wenig Psychiatriepatienten davon. Gerne helfe ich Menschen vor allem dabei, erst mal Ideen zu entwickeln, die Sie wieder Freude am Leben finden lassen. Es gibt eigentlich für jeden Menschen etwas, das ihn aus dem Haus lockt, neugierig machen könnte oder ihm einfach guttut. Diese Dinge gilt es für Schwerstkranke wieder zu suchen. Es können auch ganz neue Fähigkeiten erprobt oder erlernt werden. Man kann die Zeit des Krankseins gut für die Persönlichkeitsbildung nutzen. Erst durch die Teilhabe am Leben kann die Seele wieder genesen! SP: Hat das Persönliche Budget – zusätzlich zu den materiellen Vorteilen – auch positive Auswirkungen auf Ihre Gesundheit gehabt? Ursula Pathe: Ja, doch, auf jeden Fall! Es hat meinen Selbstwert gestärkt – durch viele positive Erlebnisse in meiner schönen, von mir selbst gestalteten Freizeit. Die Tanzschule zum Beispiel hat mich dazu ermuntert, mir wieder einen Partner zuzutrauen, der gesund ist. Ich habe mich in den Zeiten nach den Psychosen nicht verkrochen, sondern bin wieder in die Öffentlichkeit gegangen. Auch wenn da häufig die Frage nach meinem beruflichen Status kam, die ich kaum ohne Nachfragen beantworten konnte. Über meinen Schatten zu springen hat mir ermöglicht, mich hauptsächlich wieder mit gesunden Menschen zu umgeben. Das verdanke ich auch dem Persönlichen Budget. Ich konnte mich darüber hinaus auch künstlerisch und spirituell weiterentwickeln. Ich konnte mich aus dem Bereich der Ergotherapie, den ich lange besucht habe, einfach herausentwickeln. Darüber hinaus konnte ich mich mit Energieheilung bei einer Geistheilerin beschäftigen, die Erfahrung als Professionelle in einer Tagesklinik für Psychiatrie hat – eine solche Konstellation ist bestimmt eine Seltenheit. Die Seminare haben mir viel Kraft für einen besonderen Weg gegeben. ■ * Im Internet unter [email protected]

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Steuerung der Gemeindepsychiatrie Solidarisches Handeln oder Markt und Einzelverpreislichung? Vo n K l au s Ja n s e n

D

ie Steuerung der Gemeindepsychiatrie gleicht in ihren Strukturen immer mehr den Entwicklungen im gesamten deutschen Gesundheitssystem und den übrigen sozialen Sicherungssystemen: ein Auto mit einer überschaubaren Anzahl von Rädern – aber mit unzähligen Lenkrädern. Die Lenkräder werden bedient durch:

1. Leistungsträger Die Leistungsträger, in deren Zuständigkeit die Hilfen für psychisch erkrankte Bürger fallen, sind wie alle Leistungsträger erheblichem Kostendruck ausgesetzt. Sie bemühen sich im Interesse der Versicherten und der Steuerzahler kostensenkende Steuerungsmechanismen zu kreieren. Bedauerlicherweise geschieht dies nicht in abgestimmter Form. Bei allen Kostenträgern und ihren regionalen Untergliederungen entstehen gleichzeitig Stabsstellen, die den Auftrag der Zuständigkeitsabgrenzung und Kostensenkung haben. Irritierenderweise ist wahrzunehmen, dass dieser Umstand von allen Akteuren beklagt wird – gleichzeitig aber Abschottungsstrategien umgesetzt werden, die mitunter bereits als feindselig bezeichnet werden könnten. Parallel und nicht koordiniert erfassen die Protagonisten jeweils Hilfebedarfe und entwickeln Steuerungssysteme und Versorgungsstrukturen, die ihrem Verständnis gemäß ihrem Kernauftrag entsprechen. Paradoxerweise kommt es so zu Versorgungslücken – gleichzeitig aber auch zu Versorgungsüberschneidungen. (Wie viele psychiatrische Einrichtungen in Deutschland wohl über EDV-Schulungsräume mit Software für Konzentrationstraining verfügen?) 2. Leistungserbringer Die Träger der psychiatrischen und gemeindepsychiatrischen Versorgung sitzen an etwas kleineren Lenkrädern. Der verstärkte Einzug wirtschaftsliberalen Gedankenguts und die EU-Richtlinien lassen so genannte Anbietermärkte entstehen. Der Markt und der Wettbewerb stehen im Ruf, die Kosten für die öffentlichen Kassen zu senken. Das Ganze hat einen wichtigen Schönheitsfehler: Es entstehen keine richtigen Märkte, da die Leistungsvergütung nicht in der Zweierbeziehung Anbieter – Kunde stattfindet, sondern in einem Dreiecksverhältnis – der »Kunde« erhält von einem Träger eine Leistung, die ein Dritter, der Leistungsträger, dann vergütet. Aktuelle Presseberichte, beispielsweise zum Thema Hüftendoprothese in der Orthopädie, legen nahe, dass Anbieter gerne 42

Klienten akquirieren, die ihrer Behandlung irgendwann zustimmen und die dann von dritter Seite bezahlt wird. Aus Gründen der Versorgungsverantwortung und der Fachlichkeit, aber wahrscheinlich in zunehmendem Umfang orientiert an zu erwartender Wirtschaftlichkeit, werden bestehende Angebotsstrukturen weiterentwickelt oder neue Elemente psychiatrischer Hilfen aufgebaut. Bestehen für Einzelleistungen einträgliche Preisvereinbarungen, werden diese fortgeführt und möglichst ausgebaut. Sind die wirtschaftlichen Bedingungen schlecht, erfolgt kein Einstieg in – oder der Ausstieg aus – Teilleistungen (siehe Soziotherapie, Zuverdienst, Krisendienst). Auf der Metaebene der Refinanzierungsbedingungen, die von den Leistungserbringern wenig zu beeinflussen ist, werden Hilfestrukturen entwickelt. Hoffentlich ist diese Gestaltungskraft nicht zu weit entfernt von dem realen Hilfebedarf! Die der Wohlfahrtspflege angehörigen Träger werden immer mehr durch private Anbieter ergänzt, deren Gewinnstreben natürlich wesentliche Antriebsfeder ihrer Steuerung ist. Wobei die Gemeinnützigen mittlerweile auch mehr aufs Geld zu schauen scheinen – Inhalt und Sprachgebrauch von Jahresberichten der Konzerne der Wohlfahrtspflege sind zunehmend mehr von dem Thema Controlling als dem Thema Gemeinwohl geprägt. Finanzanalysen veranlassen die Anbieter in einträglichen Segmenten der Versorgung Kundenakquise zu betreiben und dann zu expandieren, nicht zuletzt weil ihnen die Bereiche stationärer Versorgung wegbrechen. Welche Dimension die Stimulierung von Bedarfen erreicht, ist schwerlich zu ermitteln. Einzelbeispiele sind aber sehr eindrücklich: die Steigerung der Verordnung von Methylphenidat (Markennamen: Ritalin, Medikinet, Concerta, Equasym) legt nahe, dass hier für eine Medikamentengruppe eine Diagnose ausgebaut wird (Verordnungen in Deutschland – 1994: 42 kg; 2007: 1423 kg; Steigerung: 3388 Prozent; Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM).

3. Politik Grundidee unserer Demokratie ist ja die Wahl von Volksvertretern, die im Amt anschließend den Wählerwillen umsetzen. Die sehr deutsche Version des Neokorporatismus mit seinen Sozialversicherungsträgern, öffentlichen Diensten, Verbänden und Lobbyisten weist aber ein derart starkes Beharrungsvermögen auf, dass reformwillige Politiker immer wieder scheitern müssen. Zwar

sind auf vielen in diesem Zusammenhang relevanten Ebenen Sozialpolitiker vertreten. Unterhalb der Bundesebene führen diese häufig als wesentliches Hindernis einmal die festgezurrte Gestaltung des Sozialgesetzbuches (SGB) an; oder alternativ beklagen sie die mangelnde Umsetzung der Sozialgesetzbücher. Politiker auf Bundesebene verspüren sehr heftigen Gegenwind, der sich aus der Macht der Sozialleistungsträger, der Administration und einflussreicher Lobbyverbände rekrutiert, sodass gut gemeinte Reformvorhaben leider scheitern müssen – die zurückliegende Reform des SGB hat die Versäulung der sozialen Sicherungssysteme nicht aufbrechen können. Salopp gesagt wäre es eigentlich sehr verlockend für das ganze System auf die »Reset«-Taste zu drücken und anschließend das System wieder geordnet hochzufahren. Noch salopper: mit dem baumelnden Damoklesschwert der Kostenexplosion den gordischen Knoten durchschlagen!

Welche Konzepte gibt es für Veränderungen? Einzelverpreislichung Ein aktueller Reformansatz ist der Gedanke der Einzelverpreislichung von Leistungen. Die berechtigte Kritik an der jahrzehntelangen Institutionalisierung, der Chronifizierung und der Behördenmentalität der Psychiatrie, in großem Umfang auch in Verantwortung der Wohlfahrtspflege, veranlasste Verwaltungen und Politik andere Vergütungssysteme zu forcieren. Das Rezept: Bisherige pauschale Vergütungen werden abgelöst – stationäre Behandlung und Betreuung sind zu ambulantisieren. Der Klient wird in seinen Funktionsbereichen erfasst, und Einzelleistungen werden definiert, die dann zu verpreislichen sind. Sympathisch ist natürlich die Auflösung der Großeinrichtungen der Behindertenhilfe, der »Tanker« der Psychiatrie. Das Instrument Einzelverpreislichung scheint mir aber aus vielen Gründen als kontraproduktiv: – ganzheitliche Hilfebedarfe sind methodisch kaum in Einzelverpreislichung zu übersetzen, da Milieu-Leistungen nur schwerlich kleinteilig erfassbar sind; – der Verwaltungsaufwand auf beiden Seiten, bei Leistungsträger und Leistungsanbieter, steigt schlagartig, da die Erfassung von Daten und deren Auswertung sehr zeitraubend wird; – die Einzelverpreislichung setzt für die Leistungserbringer falsche Reize, da nicht der Rehabilitationserfolg finanziell belohnt

Foto: Wolfgang Schmidt

integrierte versorgung

wird, sondern die geschickt gesteuerte Aufblähung von quantitativem Umsatz; – schlussendlich beschränkt sich die notwendige Kontrolle der Kostenträger auf kleinstteiliger Datenauswertung, statt sich der erforderlichen Qualitätskontrolle zu widmen. Ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Hilfen für schwer psychisch erkrankte Menschen ist lang anhaltende Geduld, Zeit und Ausdauer. Die Entwicklung im Bereich EDV wird aber immer mehr Trägern gestatten, auf Knopfdruck die betriebswirtschaftliche Auswertung einzelner Klienten abzurufen. Es ist beispielsweise bei einer zunehmenden Konkurrenz zu erwarten, dass die betriebswirtschaftlichen Auswertungen Klientenkreise erfassen, deren Betreuung aus wirtschaftlicher Sicht Sinn macht, während andere Klienten weniger lukrativ sind. Klienten, die schwer erreichbar sind; Klienten, die notorisch die Tür nicht öffnen, notorisch zu spät zum Termin erscheinen; Klienten mit geringem Hilfebedarf, aber langer Anfahrtsstrecke etc. Wenn es enger wird, könnte man dann auf die Betreuung dieser Menschen verzichten. Das müssen nicht zwangsläufig die Menschen mit hohen Hilfebedarfen sein. Integrierte regionale Versorgung Die vorangegangene kritische Betrachtung gilt es natürlich immer wieder zu relativieren. Wir jammern bezüglich unseres Gesundheitssystems hier in Deutschland auf recht hohem Niveau, denn in diesem reichen Land gibt es im internationalen Vergleich eine recht gute Versorgung. Aber das sollte uns von Verbesserungsvorschlägen nicht abhalten. Relativ skeptisch bin ich mittlerweile hinsichtlich der absehbaren Erfolgsaussichten für umfassende Reformen auf Bundesebene. Wir dürfen diesbezüglich zwar nicht nachlassen, aber Umsetzungen sind zeitlich eigentlich nicht kalkulierbar. Zurzeit sehe ich keine realistische politische Chance für die Überwindung der desolaten Konkurrenz sozialer Sicherungssyste-

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me auf Bundesebene und der Bekämpfung von so genanntem »Marktgeschehen«. Die Verhandlungen zum Koalitionsvertrag der neuen Regierung weisen sogar in die entgegengesetzte Richtung. Aber überall im Land gibt es Einzelprojekte, die Anlass zur Hoffnung bieten. Die Befürchtungen der Leistungsträger sind bei regionalen Projekten auch nicht so groß wie bei umfassenden Reformen, da sie ein Experimentierfeld sein können und das ganze System ja nicht unmittelbar gefährden. Für unsere Region Köln würde ich mir ein Experiment der integrierten regionalen Versorgung wünschen. Gemäß § 140 SGB V sind sozialrechtlich zwar ausschließlich von Krankenkassen finanzierte Leistungen Inhalt von integrierter Versorgung – für ein regionales Modellprojekt wäre aber die Einbeziehung anderer Leistungsträger sehr innovativ. In aller Kürze dazu einige Stichworte: In einer definierten Region werden die Hilfebedarfe psychisch kranker Menschen in Hilfeplankonferenzen festgestellt und ausgewertet. Ambulante und stationäre Anbieter schließen einen Vertrag für eine integrierte regionale Versorgung. Diesem treten unter anderem die Krankenkassen, die Rentenversicherung und der überörtliche Sozialhilfeträger bei. Vertragsinhalte sind die erfassten Hilfebedarfe, die angestrebten Hilfeleistungen und jahresaktuelle pauschale Vergütungen. Die Leistungsträger entwickeln ein Kontrollorgan, das sich der qualitativen und quantitativen Auswertung widmet. Dieser Dienst sucht stichprobenartig, analog Heimaufsicht und Medizinischem Dienst der Krankenkassen, die Klienten und Anbieter auf und kommuniziert mit beiden Seiten. Er nimmt Einsicht in die Fachdokumentation des Betreuungsverlaufes. Mannigfaltige Vorteile könnten sich einstellen: Psychisch erkrankte Menschen erhalten unbürokratisch ihre gewünschten Hilfen; die Planung der Versorgungsstruktur geschieht auf der Basis des erfassten regionalen Hilfebedarfs; jährlich aktualisierte pauschale Kostenvereinbarungen geben Leistungsträger und Leistungsanbieter kalkulierbare Planungsgrundlagen; erhebliche Einsparungen administrativer Kapazitäten sind möglich, da keine detaillierte Einzelabrechnung erfolgt; die Leistungsträger können gewissermaßen im Auftrag aller Versicherten die Qualität und den Umfang von Leistungen kontrollieren. ■ Klaus Jansen ist Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Kölner Vereins für Rehabilitation e.V. Kontakt: Kölner Verein für Rehabilitation e.V., Philippstr. 72 – 74, 50823 Köln; Tel.: (02 21) 81 38 88-0; E-Mail: [email protected]

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integrierte versorgung

Gleichberechtigte Teilhabe – Vision oder Realität? Integrative Arbeits- und Beschäftigungsmodelle für psychisch erkrankte Menschen Vo n B e at e S i m o n s , B i r g i t We i ß l e d e r u n d D o r t e C a n c e l

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n letzter Zeit wird zunehmend gefordert, psychisch erkrankte Menschen mit Unterstützungsbedarf an der Grenze zwischen Werkstatt und allgemeinem Arbeitsmarkt forciert ins Blickfeld zu nehmen. So sprechen sich beispielsweise die Bund-Länder-Arbeitsgruppe und die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder für eine Schaffung von Beschäftigungsalternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen aus.

Psychische Erkrankungen nehmen zu Zum Hintergrund ist zu bemerken, dass psychische Erkrankungen gehäuft festgestellt werden. Psychische Beeinträchtigungen und psychosoziale Probleme stellen für Langzeitarbeitssuchende ein erhebliches Hemmnis für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dar. Aus dem Gesundheitsreport 2009 der Deutschen Angestellten-Krankenkasse geht hervor, dass Erwerbspersonen mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung merklich häufiger krankgeschrieben werden als Personen ohne eine psychische Diagnose. Durchschnittlich wurden für Personen mit einer psychischen Diagnose 2008 27,6 Fehltage erkrankungsbedingt am Arbeitsplatz ermittelt. Personen ohne entsprechenden Befund fehlten demgegenüber durchschnittlich lediglich 9,9 Tage. Zudem sind die Anforderungen der Arbeitswelt deutlich gestiegen. Dies macht es psychisch erkrankten Menschen besonders schwer, beruflich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert zu bleiben oder integriert zu werden. Erschwerend kommen nicht regelhaft gelöste Hindernisse zur Teilhabe am Arbeitsleben hinzu. Eine Änderung der Werkstättenordnung ist beispielsweise unverzichtbar, damit auch so genannte virtuelle Werkstätten als Teil eines Werkstattverbundes anerkannt werden.

Wachsender Anteil von psychisch erkrankten Menschen in Werkstätten Der Anteil psychisch erkrankter oder beeinträchtigter Menschen steigt in den Maßnahmen der beruflichen und medizinischen Rehabilitation, der Arbeitsförderung und in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Insgesamt rund 16 Prozent betrug laut Studie der Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik (ISB)

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die bundesweite Zunahme an Werkstattplätzen von 2001 bis 2006. Als eine Ursache wird der wachsende Anteil der so genannten Quereinsteiger benannt. Diese weisen ganz überwiegend eine seelische Behinderung auf. Auf die damit verbundenen steigenden Ausgaben haben die Sozialversicherungsträger reagiert. So strebt im Rheinland der Landschaftsverband an, drei Prozent aller beschäftigten Mitarbeitenden der WfbM innerhalb von zwei Jahren auf Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes zu integrieren. Dies gilt sowohl für Beschäftigte, die im Berufsbildungsbereich als auch im Arbeitsbereich tätig sind. Denn bislang liegt die Zahl der Übergänge von einer Werkstatt für behinderten Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nur bei zirka 0,17 Prozent, wobei erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern bestehen. Umgekehrt erfolgen mehr als zwei Prozent der Zugänge in Werkstätten aus Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes. Deshalb befinden sich nicht zuletzt viele Werkstätten und andere Dienste und Einrichtungen auf dem Weg, diesen Grenzbereich zu schließen. Es entstanden in letzter Zeit eine Reihe von personenzentriert weiterentwickelten Hilfen zur Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben. Zum einen für psychisch erkrankte Menschen, die in einer Werkstatt tätig sind. Zum anderen Maßnahmen für Langzeitarbeitslose mit erheblichen Vermittlungshemmnissen nach Sozialgesetzbuch (SGB) II. Beispielhaft wird dies am Standort Bonn verdeutlicht.

chendes Beschäftigungsverhältnis zu schaffen, mit der Orientierung, eine dauerhafte Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen. Im Fokus stehen daher nicht ausschließlich die leistungsstärksten Werkstattbeschäftigten. Es geht vielmehr um die generelle Vermittlung von beeinträchtigten Menschen auf passgenaue Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes. Dabei kann es sich auch um so genannte Nischenarbeitsplätze handeln. Mit der Maßnahme wird dem psychisch beeinträchtigten Menschen ermöglicht, in den normalen Arbeitsalltag von Unternehmen hineinzuwachsen. Damit eine möglichst hohe Vermittlungsrate in Arbeitserprobungen erzielt wird, findet zunächst eine intensive Vorbereitungsphase statt. Auf der Grundlage eines individuellen Förderplans, der unter Einbeziehung der Teilnehmer erarbeitet wird, wird der Maßnahmeablauf kleinschrittig geplant und im weiteren Verlauf angepasst. Im Anschluss daran erfolgt ein externes Praktikum auf dem vorgesehenen Arbeitsplatz. Die Akquise der passgenauen Arbeitsplätze wird durch die Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung in enger Absprache mit dem Integrationsfachdienst koordiniert. Mit erfolgreichem Abschluss wird das Beschäftigungsverhältnis als betriebsintegrierter Arbeitsplatz fortgeführt. Es findet eine sehr enge und regelmäßige Betreuung am Arbeitsplatz statt. Der arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Status sowie die Vergütung der Beschäftigten lehnen sich an den Bestimmungen der WfbM an.

Betriebsintegrierte Arbeitsplätze

Von der Werkstatt in den Betrieb – das Beispiel Frau B.

Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat in seinen Empfehlungen vom März 2009 konstatiert, dass betriebsintegrierte Arbeitsplätze einen sinnvollen Beitrag zur dauerhaften Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, aber auch zum Übergang von der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt leisten. Seit Herbst 2008 bieten die Gemeinnützigen Werkstätten Bonn (GVP) ihren Beschäftigten externe Einzelarbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt an. Ziel des Angebots ist es, ein den Neigungen, Fähigkeiten und der Ausbildung des Einzelnen entspre-

Frau B. nimmt seit dem 25. Mai 2009 an der Maßnahme teil. Davor war sie mehr als fünfzehn Jahre im Rahmen der Eingliederungshilfe in der GVP im Bereich Elektrorecycling und Versand tätig. Sie ist stark beeinträchtigt durch eine psychomotorische Verlangsamung, eine deutlich herabgesetzte Leistungsfähigkeit sowie durch Konzentrationsund Auffassungsschwierigkeiten. Bereits im Herbst 2008, als das neue Angebot erstmals allen Werkstattbeschäftigten vorgestellt wurde, äußerte sie Interesse mit sehr konkreten Vorstellungen an ihren gewünschten Tätigkeitsbereich. Sie strebte an,

integrierte versorgung

Hauswirtschaftsbereich

in einer Bäckerei in Teilzeit Hilfstätigkeiten auszuführen. Ihr Wunsch war: kein direkter Kundenkontakt und kein Einsatz im Kassenbereich. Daran anknüpfend begann die individuelle Vorbereitung, die gemeinsame Fortschreibung des individuellen Förderplans, Praktikumsakquise und Bewerbungstraining beinhaltete. Trotz ihrer Ausschlusskriterien gelang es, als Einsatzort für Frau B. eine Bäckereifiliale im Zentrum von Bonn zu finden, wo sie Ende September nach einem Vorstellungsgespräch einstieg. Seit dieser Zusage blüht Frau B. auf. Die Bäckerei stellt Frau B. eine Praktikumsanleiterin zur Seite, zudem erhält sie Unterstützung durch die Integrationsbegleiterin der GVP. Folgende Hilfetätigkeiten sind zu erledigen: Brötchen schmieren und belegen; Salat waschen; Tomaten, Gurken sowie Eier schneiden; Spülmaschine ein- und ausräumen; Geschirr im Cafébereich abräumen; Tische abwischen und diverse Reinigungsarbeiten. Es zeigt sich, dass Frau B. eine enge personelle Anbindung und tägliche Rückmeldungen benötigt. Obwohl Frau B. hoch motiviert ist, kommt es aufgrund ihrer verminderten Auffassungsgabe immer wieder zu Missverständnissen. Auch bei hohem Arbeitsaufkommen in der Bäckerei kann sie ihre Bedürfnisse nicht zurückstellen. Sie kann Situationen nicht adäquat einschätzen. Hinzu kommen Beschwerden von Kunden, weil Frau B. bei der Belegung der Brötchen die hygienischen Vorschriften nicht stets einhält. Als weniger problematisch erweisen sich dagegen fehlende Fähigkeiten, wie z.B. herabgesetztes Durchhaltevermögen und geringe Konzentrationsspanne. In nächster Zeit steht ein Auswertungsgespräch mit Frau B.s Anleiterin und Fachkraft an. Es geht darum, zu erörtern, ob das Prakti-

kum als Vorbereitung für eine Beschäftigung auf einem betriebsintegrierten Arbeitsplatz fortgesetzt werden soll. Obwohl aus den obigen Gründen das Praktikum möglicherweise nicht verlängert werden kann, hat Frau B. bisher vielschichtige Erfahrungen sammeln können. Letztendlich müsste so lange gesucht werden, bis für Frau B. ein passgenauer Arbeitsplatz gefunden wäre. Dies könnte zum Beispiel in der Küche eines Restaurants sein, wo sie ohne Kundenkontakt ist. Bis dahin könnte die Zeit für ein intensives Kompetenztraining genutzt werden. Wie die Geschichte von Frau B. exemplarisch zeigt, kann es gelingen, auch langjährige Werkstattbeschäftigte mit entsprechenden Voraussetzungen zu motivieren, auf einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz zu wechseln und wertvolle Erfahrungen zu machen. Aber der bisherige Verlauf zeigt auch, dass die vorgesehene dreimonatige Vorbereitungsphase in der Regel zu kurz ist. Insbesondere soziale Kompetenzen spielen eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration auf einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz. Gemeint sind damit vor allem Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Frustrationstolerenz sowie die angemessene Äußerung von Bedürfnissen. Deshalb bleibt abzuwarten – auch wenn bei zirka 20 Prozent der Werkstattbeschäftigten das Angebot auf einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz auf Interesse gestoßen ist – , wie viele davon am Ende auf einen ausgelagerten Arbeitsplatz vermittelt werden.

Berufliches Profiling plus Im Mittelpunkt des im November 2009 gestarteten Projekts stehen Menschen mit erheblichen Vermittlungshemmnissen (SGB II), die vermutlich ihre Ursache in einer psy-

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chischen Beeinträchtigung haben. Hierbei handelt es sich insbesondere um Personen, bei denen noch unklar ist, ob sie für mindestens drei Stunden am Tag auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbsfähig sind. Die herkömmlichen Instrumente der Arbeitsförderung wirken häufig nicht, weil sie nicht den besonderen Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnissen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen entgegenkommen. Dies führt dazu, dass sie entweder nacheinander mehrere Maßnahmen ohne erkennbaren Erfolg durchlaufen oder gänzlich frustriert untätig sind. Es findet mit jedem Teilnehmer ein Profiling statt, durchgeführt durch den ›Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie‹. Die Personen werden durch das Reha-Team der ARGE Bonn zugewiesen. Das zielgruppenspezifische Assessment erfolgt zur Abklärung der Erwerbsfähigkeit und der Notwendigkeit von weiteren Hilfen durch psychiatrische Fachkräfte. Bei seelischen Erkrankungen besteht in der Regel ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen dem Krankheitsbild und der Lebenssituation. Die berufliche Situation kann also Auslöser einer psychischen Problematik oder Ausdruck einer in anderen Bereichen begründeten Belastung sein – oder beides. Daher wird die gesamte Lebenssituation der Teilnehmer in den Blick genommen. Hierfür stehen vielfältige Diagnostikmethoden zur Verfügung, z.B. Anamnese, IDA und Cogpack. Anknüpfend an diese Erkenntnisse wird das relevante Umfeld der Teilnehmer mit einbezogen. In diesem Rahmen können auch aufsuchende Gespräche mit Ärzten, Angehörigen, Freunden etc. stattfinden. Zum Ende der maximal dreimonatigen Clearingphase wird ein individueller Hilfeplan mit Vorschlägen zu weiteren Perspektivplanungen und Zielvereinbarungen erstellt. Dieser bildet das zentrale Steuerungsinstrument, mit dem alle Beteiligten weiterarbeiten können.

Arbeitsgelegenheiten Seit Inkrafttreten des SGB II im Jahr 2005 können Arbeitsgelegenheiten (AGH) mit Mehraufwandsentschädigung durchgeführt werden. Der ›Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie‹ bietet zwanzig solcher Arbeitsgelegenheiten für Kunden der ARGE an. Das spezifische Angebot wurde vor dem Hintergrund entwickelt, dass es sich für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen außerordentlich schwierig gestaltet, einen Wiedereinstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Standardisierte Förderinstrumente greifen bei ihnen oft nicht. Dieser Erkenntnis wird Rechnung getra-

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gen, indem – ausgehend von dem persönlichen Leistungsvermögen, der Erwerbsbiografie und den Fähigkeiten – für jeden der berufliche Wiedereinstieg individuell geplant, vorbereitet und begleitet wird. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass – die Arbeitszeit mit dem Teilnehmer persönlich vereinbart wird; sie umfasst 15 bis 30 Stunden pro Woche; – die Teilnehmer entsprechend ihrem individuellen Hilfebedarf personelle BeBetriebsintegrierter Arbeitsplatz gleitung durch ein so genanntes JobCoaching erhalten; Die Vorbereitung auf die Vermittlung in den – die Arbeitsmarktfähigkeit der Teilnehmer Ausbildungsplatz erfolgte durch den Integradurch entsprechende Diagnostikverfahren tionsfachdienst, der auch die Begleitung am getestet wird; Arbeitsplatz übernimmt. Im Rheinland han– ein Kontingent flexibel auf den individuel- delt es sich bei den Mitarbeitern des Integralen Bedarf gerichteter Arbeitsgelegenhei- tionsfachdienstes um spezielle Fachkräfte, ten vorgehalten wird. Hierfür greift der die für den Umgang mit psychischer Beein›Bonner Verein‹ auch auf seine Tochterge- trächtigung qualifiziert sind. Die Erfahrunsellschaften zurück. In der Praxis zeigt sich, gen sind bislang sehr positiv auf allen Seiten. inwieweit die Teilnehmer den Anforderun- Vor diesem Hintergrund sollen perspektigen der Tätigkeit gewachsen sind. Leis- visch die Ausbildungsmöglichkeiten für psytungsvermögen, Belastungsgrenzen und chisch erkrankte Menschen erhöht werden. Anforderungen an das Arbeitsumfeld wer- So ist angedacht, in der Verwaltung Ausbilden im Verlauf der Maßnahme deutlich; dungsplätze zum Bürogehilfen zu schaffen. – speziell an dem Bedarf der Teilnehmer ausSelbstverständlich gibt es neben den dargerichtete qualifizierungsbegleitende Grup- gestellten teilhabeorientierten Hilfen noch penkurse erfolgen, z.B. Kommunikations-, weitere Regionen in Deutschland, in denen Konzentrations- und Bewerbungstraining. neue flexible Angebotsformen geschaffen Die Arbeitsgelegenheiten dienen somit nicht wurden. Stellvertretend seien hier das Pronur als Förder-, sondern auch als Diagnosein- jekt ›Safari‹ in Saalfeld (Thüringen)* und das strument. Nach Ablauf des zwölfmonatigen Projekt ›Kopernikus‹ in Greifswald (MecklenFörderzeitraums ist es in der Regel möglich, burg-Vorpommern)** genannt. fundierte Aussagen hinsichtlich der ArbeitsMit diesen guten Praxisbeispielen können und Beschäftigungsfähigkeit der einzelnen für eine Vielzahl von Menschen mit psyTeilnehmer zu treffen und geeignete An- chischen Beeinträchtigungen neue Wege ins schlussperspektiven zu empfehlen. Arbeitsleben eröffnet werden. Somit können wichtige »Etappenziele« in Richtung der von der UN-Konvention postulierten Inklusion Berufsausbildung der Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben erDie Vermittlungschancen für psychisch er- reicht werden. krankte Menschen ohne Ausbildung sind Trotz der erfolgreichen Schaffung neuartiverschwindend gering. Daher bildet die GVP ger Hilfeformen ist die Arbeits- und Beschäfvier Menschen mit psychischen Erkrankun- tigungssituation von Menschen mit psygen zu Fachlageristen aus. Es handelt sich chischen Erkrankungen nach wie vor unbeum eine zweijährige Ausbildung mit der Op- friedigend. Gleichzeitig ist die Bedeutung tion, nach dem Berufsabschluss vor der In- von Arbeit und Beschäftigung für psychisch dustrie- und Handelskammer die Ausbil- erkrankte Menschen unbestritten. Weit über dung um ein weiteres Jahr zur Fachkraft für den Einkommenserwerb hinaus stellt jedes Lagerlogistik fortzusetzen. Die Auszubilden- Beschäftigungsverhältnis einen höchst den sind im Bereich der Lagerwirtschaft tä- wirksamen Integrationsfaktor dar. Dies ist tig, der über Hochregallager mit insgesamt deshalb so bedeutsam, da darüber Kontakte, über 8 000 Palettenstellplätzen verfügt. Da- Zugehörigkeit, Tages- und Wochenstruktur neben besuchen sie die für den Ausbildungs- sowie Aktivierung erreicht werden. Auch beruf zuständige Berufsschule in Köln. Er- psychisch erkrankte Menschen selbst geben gänzend bietet der Arbeitgeber auf das Be- Arbeit sehr häufig als vorrangiges Ziel an. rufsfeld abgestimmten Unterricht an. ZurDas bestehende Instrumentarium der Hilzeit befinden sich drei Männer und eine Frau fe und Förderung Arbeitssuchender berückin der Berufsausbildung. Zuvor waren alle sichtigt die besonderen Bedürfnisse psymännlichen Azubis in der Werkstatt be- chisch erkrankter Menschen oft nicht ausreischäftigt; die Frau war als AGH-Kraft tätig. chend. Vielfach wird auf spezifische Förder-

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konzeptionen verzichtet. Deshalb macht es Sinn, ein Element wie die Werkstatt für die Teilhabe von Personen mit Unterstützungsbedarf im Arbeitsleben zu nutzen. Diese sind mit ihrem kompakten Knowhow geradezu prädestiniert für die maßgebliche Mitwirkung an der weiteren Flexibilisierung und dem bedarfsgerechten Aus- und Aufbau der Hilfen. Letztendlich ist aber auch klar, dass neben der Werkstatt als zentraler Baustein weitere Alternativen zur Teilhabe am Arbeitsleben in diesen Prozess einzubeziehen sind.

Was bringt die neue Regierung? Mit Spannung wird deshalb verfolgt, wie die neue Bundesregierung die in der alten Legislaturperiode begonnenen Überlegungen zur Reform der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen fortführen will. Im Koalitionsvertrag ist eine Reform des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) vorgesehen. Dabei sollen Schnittstellenprobleme zwischen Jugendhilfe und anderen Hilfesystemen abgebaut werden, insbesondere für junge Menschen mit Behinderungen. Auch eine Effizienzsteigerung der Arbeitsmarktinstrumente ist angedacht, damit Arbeitssuchende mit spezifischen Schwierigkeiten erfolgreich in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden. Zudem plant die neue Koalition die Erstellung eines Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Unabhängig von diesen Vorhaben wird die Regierung sich daran messen lassen müssen, wie sie tatsächlich die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben sicherstellt. Fakt ist: Wir brauchen ein dichtes Netz an Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, damit niemand verloren geht. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, gleichberechtigte Teilhabe für alle Menschen in Deutschland zu schaffen, damit Übergänge in den allgemeinen Arbeitmarkt keine Seltenheit bleiben. ■ Beate Simons ist Vorstandsmitglied des Bonner Vereins für gemeindenahe Psychiatrie e.V.; Birgit Weißleder ist Leiterin des Bereichs Organisationsentwicklung des ›Bonner Vereins‹; Dorte Cancel ist im Bereich Integrationsbegleitung der Gemeinnützigen Werkstätten Bonn GmbH (GVP) tätig. Kontakt: Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie e.V., Maarstraße 98, 53227 Bonn; Tel.: (02 28) 97 53-1 32; Fax: (02 28) 97 53-1 99; E-Mail: [email protected] Internet: www.bonner-verein.de * www.bildungszentrum-Saalfeld.de/web/cms/front_ content.php?idcat=136&idart=166 ** www.diakoniezuessow.de/160.0.html

Fotos: Bonner Verein e.V.

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»Richtig eingestellt?« DGSP-Neuroleptikatagung in Berlin – Eindrücke und Ergebnisse Vo n B e t t i n a S c h o lt z

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a, sie ist sehr wohl eine Gratwanderung, die Neuroleptika-Behandlung. Das ist den etwa 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der DGSP-Tagung »Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika« am 24. September 2009 in Berlin von hochkarätigen Experten eindrucksvoll verdeutlicht worden. Wenn überhaupt, dann niedrig dosieren, niedrig, niedrig ...! Sonst grenzt die übliche Praxis an Körperverletzung. Das habe ich gelernt, auch wenn auch ich verfangen bin in der Vorstellung, viel hilft manchmal viel.

Eine Kampagne entsteht ... Aber zum Anfang: Der Saal im wunderschönen Schöneberger Rathaus war nicht so brechend voll, wie ich mir das gewünscht hätte. Ist das Thema schon ausgelutscht, oder wissen alle schon alles? Waren unter den Teilnehmenden auch die im Vorfeld der Veranstaltung besonders angesprochenen »Vermittler«, die Profis in Führungspositionen, die die Standards vorgeben? Ich weiß es nicht. Getroffen habe ich die üblichen kritischen Vertreterinnen und Vertreter der sozialen Psychiatrie, die schon in den Achtzigern versuchten, Neuroleptika zu reduzieren, mit Bedacht anzuwenden. Der DGSP-Vorsitzende Friedrich Walburg führt in das Thema ein, das die DGSP seit zwei Jahren beschäftigt, genauer gesagt, seit Volkmar Aderhold in der »Sozialen Psychiatrie« (4/2007) seine Studienergebnisse zu »Mortalität durch Neuroleptika« veröffentlichte. Inzwischen ist viel passiert: Die Diskussion wurde von anderen (Fach-) Verbänden, auch der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), aufgegriffen, die DGSP und ihre Landesverbände veranstalteten Fachtage, die »Soziale Psychiatrie« berichtete regelmäßig (»Neuroleptika-Debatte«) und gab ein Themenheft heraus (SP 3/2009). Auch andere Zeitschriften, Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, Betroffenenverbände setzten sich mit dem Thema auseinander. Nach einem »Expertendialog« im März 2009 in Köln, zu dem die DGSP eingeladen hatte, wurde diese bundesweite Berliner Tagung unter Mitwirkung von namhaften Fachleuten geplant. Friedrich Walburg dankt der Vorbereitungsgruppe, die auch federführend das »Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika« erarbeitet hat, das der geschäftsführende Vorstand der DGSP als Herausgeber anlässlich der Tagung zur Diskussion stellte.

Neuroleptika-Nebenwirkungen auf der Grundlage von »Venus und Amor« von Lucas Cranach dem Älteren (1472 – 1553) Copyright: Tom Bschor

Die Moderation des ersten Teils übernimmt Maria Rave-Schwank, erste und einzige Klinikdirektorin eines psychiatrischen Landeskrankenhauses, heute im Ruhestand. Sie erzählt von einer Psychotikerin, die sie nun schon über dreißig Jahre begleitet und die sagt: »Ich will nie mehr eine Psychose bekommen; man braucht Medikamente, aber auch Gespräche.« Und sie verweist auf die Erkenntnisse der Sozialpsychiatrie, wie sehr die Lebensverhältnisse den Verlauf einer Psychose beeinflussen.

Der Mythos der Antipsychotika Der erste Redner wird vorgestellt: Dr. Dr. Stefan Weinmann, Psychiater, Psychotherapeut, Gesundheitswissenschaftler, bekannt durch sein Buch »Erfolgsmythos Psychopharmaka« (Psychiatrie-Verlag, 2008). Nach der einleitenden Feststellung, dass Psychopharmaka wichtige Instrumente sind, schildert er die Entwicklung der Antipsychotika als vermeintliche Heilsbringer für Positiv- und Negativsymptome und deren zunehmende Verordnung auch bei Diagnosen wie Demenz, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Angst, Autismus, Persönlichkeitsstörungen ... Was heißt: Neuroleptika sind inzwischen Polypillen für alles und jedes. Diese Praxis stehe in engem Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Medikamentenforschung zu über 70 Prozent von der Pharmaindustrie finanziert und durch diese manipuliert wird, indem negative Ergebnisse

nicht und positive doppelt so häufig publiziert werden. Bei solchen Studien ist Vorsicht geboten; die von der Pharmaforschung vorgegebene Wirksamkeit und Unbedenklichkeit trifft oft nicht zu. So gibt es zum Beispiel bei öffentlich finanzierten Studien keinen kaum Unterschiede zwischen Haloperidol (Typika) und Olanzapin (Atypika) bezüglich Symptomreduktion und Rückfallrate. Das Problem bei Rückfällen ist die hohe Abbrecherquote (siehe CATIE-Studie): Je höher zu Behandlungsbeginn dosiert wird, desto höher ist die Rückfallgefahr bei plötzlichem Abbruch. Weinmann geht weiter auf das Mortalitätsrisiko von schizophrenen Patienten gegenüber der Normalbevölkerung ein: Dieses ist vom 1,84-Fachen (1970) bis auf das 3,2-Fache (1990) angestiegen. Eine neue Studie aus Finnland zeigt auf, dass die Mortalität bei Nichtbehandlung zwar auch steigt. Aber Behandlung ist nicht nur Verabreichung von Antipsychotika! Stefan Weinmann ist ein akribisch arbeitender Fachmann, er fordert zu Recht unabhängige, nicht von der Pharmaindustrie »gekaufte« Psychiater, die die Parameter der Patienten in ihrer Behandlung berücksichtigen.

»Wir wissen nicht, was wir tun« Auch der nächste Redner, Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, ist ein herausragender Fachmann, ehemals Lehrstuhlinhaber

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für Pharmakologie. Er war zwölf Jahre lang Leiter der Arzneimittelkommission, der er vierundzwanzig Jahre lang angehörte. Außerdem ist er Gründungsmitglied von MEZIS (»Mein Essen zahl ich selbst«), einem Verband von Ärzten, die sich gegen die vielfachen kleinen und großen Bestechungsversuche der Pharmaindustrie abgrenzen, indem sie Einladungen zu kulinarischen Köstlichkeiten u. Ä. ausschlagen, und er hat die antisuizidale Wirkung von Lithium entdeckt. Er gibt einen Rückblick in die Geschichte der Neuroleptika und würdigt deren Einführung für die Entwicklung der Sozialpsychiatrie. Aber er beschreibt auch, wie unqualifiziert Neuroleptika angewendet wurden und werden und wie lange es gedauert hat, bis irreversible Schädigungen durch die Neuroleptikagabe, wie die Spätdyskinesien, ins Bewusstsein drangen. Die Nebenwirkungen der neu entdeckten Atypika wurden trotz kritischer Bewertung der Arzneimittelkommission (mithilfe von Anwälten) als unbedeutend verharmlost. Der Werbefeldzug, Atypika seien Mittel der ersten Wahl, habe Erfolg gezeigt, aber diese Aussage sei in keiner Weise bewiesen, geschweige denn gerechtfertigt. Müller-Oerlinghausen geht dann auf die Verordnungspraxis ein: Die meisten Psychopharmaka werden durch Hausärzte verschrieben. Seit 2005 gibt es einen Anstieg der verordneten Atypika; seit 2008 vor allem von Quetiapin (Handelsname: Seroquel, beworben mit dem Slogan: »Now I can«). Dies suggeriert, das Medikament für alles und jedes zu sein, aber ohne Evidenz. Aber auch im stationären Bereich gibt es einen enormen Anstieg in der Verordnung der Atypika und eine drastische Zunahme der unerwünschten Nebenwirkungen, in erster Linie beim Gewicht (laut Mitteilung der ASMP-Kliniken). Weiter ist ein Anstieg der Polypharmazie (Kombination mehrerer Medikamente) zu verzeichnen, eingesetzt vorwiegend bei Heimbewohnern, wohl als Kompensation pflegerischer Defizite. Erschreckend ist auch der Anstieg der Verordnungen von Atypika bei Kindern und Jugendlichen: von 2000 bis 2006 auf das Vierfache. Vielfach handelt es sich um einen »Off-Label-Use«, d.h., diese Verordnungen sind eigentlich nicht erlaubt. Dabei kann es geschehen, dass Kinder unter Olanzapin (Handelsname: Zyprexa) in sechs Wochen fünf Kilogramm, in sechs Monaten fünfzehn Kilogramm zunehmen! Müller-Oerlinghausen prangert an, dass es keine Leitlinien (wie z.B. von NICE – s.u.) gibt, die den Off-Label-Use, die Polymedikation, die ungerechtfertigte Präferenz von Atypika einschränken sowie einen Kosten-NutzenRisiko-Quotienten berücksichtigen.

In der anschließenden Diskussion wird der »Druck« problematisiert, der vor allem in Heimen herrscht. Mehr als Medikamente, so eine Meinung, helfe »ein Erlebnis, das unter die Haut geht«, Helligkeit, Anregung. Hier einige Stimmen: »Der Wille nach Änderung muss von uns Ärzten ausgehen« – »Wir wissen nicht, was wir tun« – »Es kann nicht angehen, dass Medikamente ohne jegliche wissenschaftliche Basis verordnet werden« – »Die Medizin verliert ihre Professionalität« – »In 50 Jahren wird so eine Medikamentenvergabe sicher äußerst kritisch gesehen«. Als sehr bedenklich wird auch die Entwicklung des zunehmenden Off-Label-Use bei Kindern und Jugendlichen angesehen (s.o.). Die Prämisse »Viel psychosoziale Unterstützung, wenig Medikamente« gelte nicht mehr. Als mögliche Lösungen werden in der Diskussion genannt: Abbau, von Zeit- und Leistungsdruck durch Qualitätssysteme, Qualitätsindikatoren für die Krankenkassen, Integrierte Versorgung, Hometreatment.

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Die Plastizität des Gehirns oder Psychosen sind heilbar Die Universitätsbiologin Frau Professorin Dr. Gertraud Teuchert-Noodt unterstützt mit ihrem temperamentvollen Vortrag die Vorredner. Man brauche nicht fünfzig Jahre für eine kritische Betrachtung der Antipsychotika. Schon jetzt wisse man genau, wie viel an Neuroleptika-Behandlung nötig sei und welche dauerhaften Schäden angerichtet werden. Und man wisse: »Psychosen sind heilbar.« Die Grundprinzipien im Gehirn kenne man gut. Von ihren Forschungsergebnissen in der Neuroanatomie habe aber die Pharmaindustrie nichts wissen wollen. Sie sei in der glücklichen Lage, durch das Land Nordrhein-Westfalen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft ausreichend gut finanziert zu sein. Auftragsforschung lehne sie ab. Freudig und engagiert weckt sie Lust und Interesse an den komplexen Vorgängen im Gehirn und stellt die Ergebnisse der jahrelangen neurobiologischen Forschungstätigkeit ihrer Arbeitsgruppe vor. Sie betont, dass das Gehirn ein offenes System ist, das zum Lernen, zur »reaktiven Plastizität« immer wieder Reize aus der Außenwelt braucht. Die Gene bilden nur ein grobes Raster für die Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Gehirns. Gerade auch traumatische Lebensereignisse führen zu einer kurzen und lebhaften Reorganisationsphase, die nach außen psychotische Ausdrucksformen annehmen kann. Das Dilemma der heutigen Psychiatrie sei, dass vorrangig auf Rezeptorebene gedacht

und gehandelt werde. Durch langfristige Blockierung der Dopaminrezeptoren mit hoch dosierten Antipsychotika (Neuroleptika) wird die plastische Anpassung an die Erfordernisse der Lebenssituation, die Lernfähigkeit des Gehirns, eher behindert. Schon das breite Spektrum der Nebenwirkungen belegt, dass Psychopharmaka gleichermaßen auf verschiedene Gehirnregionen wirken und eben keinesfalls nur »psychotisch entgleiste Rezeptoren« positiv beeinflussen. Uns bleibt nach diesem hochinteressanten Vortrag die Erkenntnis, dass die Praxis der psychiatrischen Polypharmazie womöglich einer Chronifizierung Vorschub leistet, da die Möglichkeit, das Erlebte während einer Psychose in die eigene Erfahrungswelt zu integrieren und aus dieser persönlichen Erfahrung zu lernen, durch Dauermedikation eher gehemmt wird. Ein rasches Absetzen der Medikation führt dann ganz logisch zur erneuten psychotischen Dekompensation, da das Gehirn inzwischen durch plastische Anpassung gelernt hat, mit dem medikamentösen »Dämmstoff« halbwegs zu funktionieren, im Zweifelsfall ohne Emotionen wie »Lebensfreude« »Mut« oder »Selbstvertrauen«. Im Vortrag von Frau Teuchert-Noodt wurde auch deutlich, dass die moderne Neurobiologie durchaus eine Verbündete der sozialen Psychiatrie ist und nicht auf einseitige Lehrmeinungen der biologischen Psychiatrie reduziert werden kann.

Schäden durch Antipsychotika Privatdozent Dr. Tom Bschor, Chefarzt der Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie des Jüdischen Krankenhauses Berlin, spricht anschließend über die unerwünschten Nebenwirkungen von Neuroleptika. Anhand des Bildes »Venus und Amor« von Lucas Cranach (s. S. 47) zeigt er, wie es Venus ergangen wäre, wenn sie Neuroleptika bekommen hätte. Sicher hätte sie sich nicht verliebt, bei den »Klassikern« (Typika) extrapyramidale Störungen (EPS) entwickelt und bei den Atypika unter Gewichtszunahme und Milchfluss gelitten. Sexuell wäre so oder so nichts mehr drin gewesen. Bei der Abwägung zwischen erwünschten und unerwünschten Nebenwirkungen sollte man sich orientieren an Häufigkeit, Unannehmlichkeit, Gefährlichkeit und Reversibilität. Er zeigt uns Bilder von Patienten, die gezeichnet sind von EPS, Spätdyskinesien, die nicht reversibel sind. Ich denke an die vielen Langzeitpatienten, von denen die meisten inzwischen enthospitalisiert sind, aber stigmatisiert für ihr ganzes Leben. Entgegen den Versprechen der Pharmaindustrie treten EPS auch bei den Atypika auf. Dazu kommt es dann noch zur

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sie auch noch kostengünstiger (1 000 Pfund Ersparnis pro Patient). Die Familienintervention (länger als sechs Monate und mehr als sechzehn Sitzungen) reduziert die Rückfallrate um 50 Prozent nach einem Jahr, nach zwei Jahren um 40 Prozent und immer noch

Sichtweise und der systemischen Familientherapie. Heute versteht man darunter eine individuelle Behandlung in der Familie oder im Bezugsfeld, in der unter Einbeziehung unterschiedlicher, sich ergänzender psychotherapeutischer Ansätze die Psychose im LeFoto: miho

Erhöhung des Prolaktinspiegels, auch die Entwicklung einer Osteoporose wird als unerwünschte Arzneimittelwirkung der Neuroleptika diskutiert. Die Gewichtszunahme und das sattsam bekannte metabolische Syndrom wird von Bschor ebenso umrissen wie der plötzliche Herztod. Auch Bschor kommt zu dem Ergebnis: So niedrig dosieren wie möglich und keine Polypharmazie! In der Diskussion werden neue Leitlinien, in denen Obergrenzen festgelegt werden, gefordert, außerdem Besuchskommissionen, die Einrichtung von Beschwerde- und Kontrollstellen ...

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Neue Leitlinien in England Dr. Tim Kendall, Psychiater und Psychotherapeut, spricht von einer konkreten Umsetzung, den Leitlinien des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE), die er als Leiter dieses Instituts maßgeblich mit entwickelt hat. Stefan Weinmann übersetzt prägnant und pointiert seine Ausführungen. NICE ist eine Organisation, die für sämtliche Bereiche des staatlichen Gesundheitssystems in England Leitlinien entwickelt, so auch 2002 die Schizophrenie-Leitlinie. Eine Expertengruppe aus Forschern, Klinikern, Erfahrenen (Nutzer und Angehörige) sowie weitere Fachleute untersuchten Kosten und Nutzen von Neuroleptika und anderen, nicht medikamentösen Interventionen wie Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Kunsttherapie, Frühinterventionsdienste in Hinblick auf Behandlung und Rückfallprophylaxe bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis. Dabei zeigte sich die Rückfallprävention als die Schlüsselfrage zur Kosteneffektivität. Dabei haben atypische Neuroleptika eine ungünstige Kosten-Nutzen-Relation; gegenüber der älteren Generation unterscheiden sie sich bei hohen Preisen nur im Nebenwirkungsprofil. Laut Kendall soll der Patient bei der Wahl des Medikaments aktiv beteiligt sein; Aufgabe des Arztes ist es, das Nebenwirkungsprofil zu erläutern. Stets solle eine medikamentöse Behandlung als ein Versuch angesehen werden und bei niedriger Dosierung regelmäßig auf unerwünschte Wirkungen untersucht werden. Auch sei der oralen Medikation der Vorzug zu geben. In der Akut- und Langzeitbehandlung zeigen sich kognitve Verhaltenstherapie (VT), Kunsttherapie und Familieninterventionen als wirksam, jedoch nicht Psychoanalyse, Psychoedukation und Skills-Training. Gegenüber einer Standardbehandlung verringert kognitive VT die stationäre Aufnahmehäufigkeit und Behandlungsdauer, reduziert Symptome und Depression und verbessert das soziale Funktionsniveau. Außerdem ist

Maria Rave-Schwank, Bettina Scholtz, Karin Morisse

um 20 Prozent nach fünf Jahren. Vor allem aber verbessert sie das soziale Funktionsniveau in der Familie. Auch diese Form der Behandlung ist wirtschaftlich vorteilhafter (um 3 000 Pfund geringere Behandlungskosten pro Patient). Alle Formen von Kunsttherapie, darunter auch Musiktherapie, zeigen einen positiven Effekt auf die Negativsymptomatik, Neuroleptika dagegen nicht. Frühinterventionsdienste führen zu erheblich weniger Klinikaufnahmen, weniger Behandlungsabbrüchen und zu einer hohen Zufriedenheit. Das heißt, Dienste, die Frühintervention, kognitive VT, Familienintervention und niedrig dosierte Medikation anbieten, verringern das Rückfallrisiko und erhöhen die Behandlungsakzeptanz bei den Patienten. Die NICE-Leitlinie empfiehlt diese Art der Schizophrenie-Behandlung. Sie ist Standard im englischen Gesundheitswesen, zumal durch sie (auch) Kosten eingespart werden. Wer ihr nicht folgt, muss das gut begründen können.

Alternative Versorgungssysteme – das Beispiel Finnland Nach der Kaffeepause berichtet Professor Klaus Lehtinen vom Tampere Universitätshospital, Finnland, über alternative Versorgungsformen, d.h. über die auch schon bei uns bekannte und unter anderem in der »Sozialen Psychiatrie« (Heft 1, 2004) beschriebene Need-adapted-Treatment-Therapie. Diese »bedürfnisangepasste Behandlung« hat ihren Ursprung in der psychodynamischen

benskontext gesehen wird. Kleine Teams gehen in die Familie oder das Bezugsfeld. Der Patient ist bei allen Sitzungen dabei. Es wird versucht, den Sinn der Psychose zu verstehen. Wichtig sind eine psychotherapeutische Grundhaltung aller Teammitglieder, Kontinuität, auch über Jahre, und ständige Verlaufsuntersuchungen. Oft braucht es keine Antipsychotika (akute Krisen können oft mit Benzodiazepinen beherrscht werden), und wenn doch (in längeren Krisen), dann in geringen Dosen. Die Forschungsergebnisse, in denen alle Behandlungen erfasst sind, sind beeindruckend. Zum Erfolg trägt sicherlich auch bei, dass es in Finnland, wie auch in England, keine getrennte Finanzierung von ambulantem und stationärem Bereich gibt. Ein lehrreicher Tag. Einig waren sich alle Teilnehmer, dass die Diskussion weitergehen muss. Eine richtungweisende Grundlage kann und soll dabei auch das »Memorandum für die Behandlung mit Antipsychotika« der DGSP sein. Dringend erforderlich ist, dass die neuen Erkenntnisse der Neurobiologie und der psychosozialen Behandlung in den Weiterbildungen und Prüfungen der Ärzteschaft und aller anderen Psychiatriemitarbeiterinnen und -mitarbeiter verankert werden. ■ Bettina Scholtz ist Diplom-Psychologin am VITOS Philippshospital in Riedstadt und Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der DGSP. Der mit »Plastizität des Gehirns oder Psychosen sind heilbar« übertitelte Abschnitt des Beitrags entstand in Zusammenarbeit mit der Psychiaterin Margret Osterfeld, Mitautorin von »Umgang mit Psychopharmaka« (BALANCE buch + medien verlag, Bonn).

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DGSP-Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika Im Zusammenhang mit der DGSP-Tagung »Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika« am 24. September 2009 in Berlin hat der geschäftsführende Vorstand der DGSP das »Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika« herausgegeben, das auf er Tagung auslag und auch den Pressevertretern vorgestellt wurde. Es umfasst zweiundzwanzig Seiten und ist mit einem ausführlichen Literaturanhang versehen. Im Folgenden eine Kurzfassung des Memorandums. Den vollständigen Memorandum-Text finden Sie im Internet unter www.psychiatrie.de/dgsp

welt interagiert und in dem sich soziale und emotionale Erfahrungen auch strukturell niederschlagen. Viele Hoffnungen einer biologistisch reduzierten psychiatrischen Wissenschaft haben sich daher bisher nicht erfüllt. Dennoch bestimmen Konzepte, die die Komplexität neurobiologischer Vorgänge in ihrer Interaktion mit der Umwelt nicht adäquat abbilden, nach wie vor die Behandlungspraxis und haben zu einer Verengung psychiatrischen Handelns auf Pharmakotherapie und an Medikamenten-Compliance ori-

Warum dieses Memorandum? Antipsychotika sind Psychopharmaka und werden seit fünfzig Jahren in der Behandlung der Schizophrenie und zunehmend auch anderer psychischer Erkrankungen eingesetzt. Trotz breiter Anwendung sind sie jedoch keineswegs ideale Medikamente. Das Nutzen-Risiko-Profil ist ungünstiger als bisher angenommen. Ihr Gebrauch stellt quasi eine Gratwanderung zwischen begrenzter Wirksamkeit und Patientenschädigung dar, sodass auch im Lichte neuerer Studien ihre gegenwärtige Anwendungspraxis hinterfragt werden muss. Ein internationaler wissenschaftlicher Diskurs ist hierzu in Gang gekommen, den die DGSP mit der Vorlage dieses Memorandums fördern will, da die Fachöffentlichkeit bislang nur unzureichend auf die vielfältigen Signale aus internationalen Studien reagiert hat. Antipsychotika werden weiterhin einen wichtigen Stellenwert in der Behandlung von Menschen mit psychotischen Störungen behalten. Es geht hier um die Neubewertung ihrer Wirkungen und Risiken, um ihren Stellenwert in einem mehrdimensionalen Behandlungssetting und um Alternativen zu einem einseitig auf Psychopharmaka reduzierten Umgang mit Psychosen.1

Problematische Entwicklungen der gegenwärtigen Psychiatrie ■ In der Psychiatrie dominiert derzeit eine einseitige biologische Orientierung, der ein verkürztes Verständnis psychischer Erkrankungen zugrunde liegt und die nicht dem Stand neuerer biologischer Forschung entspricht. Menschen haben ein Gehirn, das in vielfältiger, komplexer Weise mit der Um-

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entierter Psychoedukation geführt. Diese eindimensionalen Konzepte werden aus naheliegenden Gründen von der pharmazeutischen Industrie gestützt. ■ Die Verschreibung von Psychopharmaka hat in den letzten Jahren auch infolge gezielter Marketingstrategien der Industrie stark zugenommen und zu einer unkritischen Ausweitung der Indikation für die Anwendung von Antipsychotika generell geführt, also ihre Anwendung bei anderen psychischen Störungen und Altersgruppen, wie zum Beispiel bei affektiven Störungen, bei Kindern und Jugendlichen und alten Menschen (Demenz), ohne dass diese Indikationen hinreichend evidenzbasiert sind bzw. diese Medikamente für diese Altersgruppen oder Störungsbilder (z.B. Demenzbehandlung) überhaupt zugelassen sind (»off-label«-Verschreibung). ■ Der zunehmende Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf Forschung, ärztliche Fortbildung und Verschreibungsverhalten, die Form ihres Marketings wie die zum Teil massiven Interessenkonflikte führender Vertreter des Fachgebietes führen dazu, dass die Unabhängigkeit der Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis sowie die Integrität des ärztlichen Berufsstandes gefährdet sind. Die pharmazeutische Industrie finanziert und

kontrolliert inzwischen über 80 Prozent der klinischen Studien. Eine unabhängige Bewertung von Medikamenten ist daher kaum mehr möglich. Einseitige Interpretation, selektives Publizieren, Unterdrückung negativer Studienergebnisse, Manipulation von Studiendesigns sind inzwischen vielfach belegt, sodass renommierte Wissenschaftler eine grundlegende Skepsis bezüglich der Vertrauenswürdigkeit vieler von der Industrie gesponserter Studien öffentlich formulieren.2

Zur Anwendung psychotherapeutischer Methoden in der Schizophreniebehandlung In anderen europäischen Ländern schlagen sich neuere Erkenntnisse aus Neurobiologie und der Evaluation psychotherapeutischer Interventionen in einer stärkeren Gewichtung der Psychotherapie in der Psychiatrie nieder. So zum Beispiel in Finnland in dem Recht auf Psychotherapie auch und gerade für psychotische Patienten sowie in den Behandlungsleitlinien für Schizophrenie des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE). In Deutschland hingegen finden diese Erkenntnisse bislang noch kaum Widerhall in der Praxis. Psychotherapeutische Behandlungsformen, die seit vielen Jahren auch durch systematische Literaturauswertungen (Metaanalysen) als wirksam anerkannt sind (z.B. Familientherapie, kognitive Verhaltenstherapie), werden nicht implementiert, da keine Anreize bestehen, sie anzuwenden, und viele Ressourcen in der Psychiatrie durch die Behandlung leichter psychischer Störungen gebunden sind.

Grundforderungen für die Behandlung psychotisch erkrankter Menschen als Konsequenz der aufgeführten Fehlentwicklungen Die Psychiatrie muss sich als Wissenschaft und Praxis aus ihrer verkürzt biologischen Orientierung befreien und als interdisziplinäre Humanwissenschaft begreifen, in der biologische, psychische und soziale Erklärungsansätze und ihre Forschungsmethoden auch wirklich gleichwertig integriert werden. Eine richtig verstandene, zeitgemäße biologische Psychiatrie ist daher kein Gegensatz, sondern eine wichtige Brücke zu den verschiedenen Disziplinen, die der Psychiatrie zugrunde liegen. Das Fundament einer guten Psychosenbehandlung ist ein komplexes psychosoziales

Foto: TK

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Behandlungsmodell. Antipsychotika sollten in einem solchen Behandlungsansatz selektiv und in der Regel in niedrigen Dosierungen gegeben werden. Sie können die psychosoziale Behandlung ergänzen. Das Memorandum empfiehlt weiterhin Veränderungen in zehn Bereichen wie psychotherapeutische und psychosoziale Hilfen im Rahmen der Gemeindepsychiatrie, Anforderungen an die Kompetenz von Therapeuten und Krankenhäusern, Fortbildung/Qualifizierung/Information, Forschung, Versorgungsstrukturen und ihre Finanzierung, Einbeziehung von Patienten und Angehörigen. An dieser Stelle werden aber nur wesentliche Forderungen aus den Bereichen »Indikationsstellung Pharmakotherapie und -monitoring« und zu einigen weiteren Aspekten aufgeführt: ■ umfassende Behandlungsaufklärung und so weit wie möglich Beteiligung des Patienten an der Entscheidung über die Behandlung; ■ selektiver und behutsamer Einsatz von Antipsychotika in geeigneten therapeutischen Settings; ■ möglichst niedrige Akutbehandlungsdosis mit Dosisobergrenzen; ■ langsame Aufdosierung über Wochen, um eine minimale Dosis zu finden; ■ Hochdosierungen nur mit strengster und begründeter Indikation; ■ Vermeidung von Polypharmazie/Kombinationsbehandlungen so weit wie möglich und gegebenenfalls nur unter strenger Kontrolle der kardialen und metabolischen Nebenwirkungen; ■ Angebot langsamer Reduktions- und gegebenenfalls Absetzversuche im Rahmen therapeutischer und psychotherapeutischer Behandlung; ■ Angebot von Behandlungsformen, die bei einem Teil der neu erkrankten Menschen mit Psychosen (ca. 40 Prozent) ohne Antipsychotika auskommen können: so genannte bedürfnisangepasste Behandlung unter Einbeziehung der Familien und psychosebegleitende Soteria-Behandlung; ■ regelmäßige Kontrolluntersuchungen der somatischen Parameter entsprechend den S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und den jüngst veröffentlichten Leitlinien zum Monitoring der Psychopharmakabehandlung bei Patienten mit bipolaren Störungen; ■ Möglichkeit der Reduktion und gegebenenfalls des vollständigen Absetzens von Medikamenten unter psychosozialer Begleitung, spätestens nach einem Behandlungsversuch mit Clozapin; ■ verpflichtende pharmaindustrieunabhängige ärztliche Fort- und Weiterbildung für

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Therapeutinnen und Therapeuten in der Anwendung von Antipsychotika und Psychopharmaka; ■ umfassende Transparenzregeln bei der Offenlegung von potenziellen Konflikten zwischen dem primären ärztlichen Auftrag und der Bindung an die Pharmaindustrie im Interesse eines wie immer gearteten privaten Nutzens; ■ kein kommerzielles Sponsoring für wissenschaftliche Fortbildungen in psychiatrischen Institutionen und angemessene Finanzierung von industrieunabhängigen Fortbildungen; ■ eine unabhängige Psychopharmakaforschung auch unter Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen sowie eine stärkere Gewichtung und Förderung der Forschung nicht medikamentöser Therapieverfahren; ■ verpflichtende Meldung aller klinischen Studien in einem öffentlich zugänglichen Studienregister und die zeitnahe Veröffentlichung der Ergebnisse nach Beendigung der Studien, um Manipulation sowie einseitige Interpretation bzw. Zurückhaltung negativer Studienergebnisse kontrollieren zu können; ■ Einbeziehung von Patienten und Angehörigen auf allen relevanten Ebenen bei der Gestaltung der psychiatrischen Versorgung sowie Einsatz von Psychiatrie-Erfahrenen (»Experten aus eigener Erfahrung«) in verschiedenen psychiatrischen Berufsfeldern; ■ die Beachtung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; ■ regionale Steuerung der Ressourcen auf der Grundlage gemeindepsychiatrischer Verbünde und regionaler Psychiatriebudgets; ■ neue Entgeltsysteme, die eine Akutbehandlung am Lebensort (Hometreatment) besser ermöglichen.3 ■ Anmerkungen: 1 Das Memorandum konzentriert auf die pharmakotherapeutischen Fragestellungen. Weitere Aspekte gegenwärtiger Versorgung wie Ökonomisierung, Qualitätseinbußen, Fehlallokation finanzieller Ressourcen u.Ä., die für die Kontextbedingungen der Anwendung von Antipsychotika und ihrer Alternativen von erheblicher Bedeutung sind, werden nur am Rande angesprochen. In den Forderungen werden sie zum Teil aufgegriffen, ohne sie jedoch näher zu begründen. 2 Auf die speziellen Probleme und Risiken der Anwendung von Antipsychotika bei einzelnen Störungsbildern bzw. speziellen Altersgruppen wird im Memorandum in eigenen Abschnitten eingegangen (siehe Langfassung: www.psychiatrie.de/dgsp), so bei Kindern und Jugendlichen, bei Menschen mit geistiger Behinderung, in der Geriatrie, in der Behandlung von Menschen mit Psychosen sowie in der Prävention und Frühintervention. 3 Im Anhang des Momorandums wird auf die Themen Manipulation von Studienergebnissen und Marketing, Überbewertung des Nutzens der Antipsychotika, Neurodegeneration, Folgen der Dopaminrezeptorblockade und Behandlungsalltag eingegangen, und es werden die Aussagen des Memorandums unter Bezug auf aktuelle Literatur begründet.

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Neuroleptika für Kinder? Foto: Wolfgang Schmidt

Ein Lehrstück Vo n A s m u s F i n z e n

I

m »Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika« der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie vom September 2009 heißt es im Abschnitt »Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen«: »Die Verordnung von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen steigt in Deutschland und in anderen westlichen Ländern kontinuierlich an. Laut AOK stieg vor allem die Verordnung von Risperidon von 2001 bis 2006 für 10- bis 15-Jährige um das 36-Fache und für 15bis 20-Jährige um das 2,7-Fache an. Der Verbrauch von Typika blieb in diesem Zeitraum unverändert.«* Eine solche explosionsartige Steigerung der Abgabe von Medikamenten, die bei Kindern und Jugendlichen nur mit allergrößter Zurückhaltung gegeben werden sollen und einer strengen Indikationsstellung unterliegen, ist – man kann es drehen und wenden, wie man will – ein Skandal. Die einzige wirkliche Indikation für Neuroleptika bei Kindern besteht bei einer Psychose. Aber kindliche Psychosen sind selten; und niemand kann uns weismachen, dass die Häufigkeit kindlicher Psychosen in nur fünf Jahren um das Sechsunddreißigfache (!) zugenommen haben soll. Außerdem gibt es kein Neuroleptikum, das in dieser Zeit eine Zulassung für deren Behandlung erhalten hat. Was ist zwischen 2001 und 2006 also geschehen? Die Antwort ist einfach: Bis 2003 gab es kein

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Neuroleptikum, das für die Behandlung von Kindern speziell zugelassen war; und das hatte gute Gründe: Kindliche Psychosen sind so selten, dass sich kein Pharmahersteller bereitfand, die Mühen eines Zulassungsverfahrens einschließlich der notwendigen klinischen Studien für die Behandlung von Kindern auf sich zu nehmen.

Risperidon ab fünf?! Das wurde allgemein als Mangel empfunden. Denn es hatte notgedrungen dazu geführt, dass psychosekranke Kinder auf dem Wege des so genannten Off-Label-Gebrauchs mit Neuroleptika behandelt werden mussten. Das wurde lange Zeit toleriert. Aber die Off-Label-Verwendung von Medikamenten geriet zunehmend in Verruf. Der Off-LabelGebrauch ist zwar nach wie vor nicht verboten. Der Arzt darf die Medikamente nach gründlicher Risiko-Nutzen-Abwägung im Rahmen seiner so genannten Kurierfreiheit zwar einsetzen. Aber er wird mit dem Haftungsrisiko alleingelassen. Und die Kosten werden nicht mehr von den Krankenkassen erstattet. Gerade von pharmakritischer Seite wurde und wird deshalb immer wieder gefordert, dass die Arzneimittelhersteller verpflichtet werden müssen, die Voraussetzungen für eine möglichst risikoarme Medikamentenbehandlung bei Kindern zu schaffen.

Deshalb wurde es von vielen Seiten begrüßt, als sich einzelne Hersteller von Psychopharmaka dazu bereitfanden. Bei den Neuroleptika war das die Firma Janssen-Cilag, die Mitte der Neunzigerjahre mit dem Risperidon (Risperdal) das erste Neuroleptikum der zweiten Generation, ein so genanntes Atypikum, auf den Markt gebracht hatte. Im Januar 2004 teilte die Firma zahlreichen Ärzten in einem persönlichen Schreiben mit: »Es freut uns, Sie über folgende Indikationserweiterung von Risperdal (Risperidon) aufmerksam zu machen: Risperdal ist indiziert zur symptomatischen Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens, oppositionellem Trotzverhalten oder anderem sozial störenden Verhalten bei Kindern (ab fünf Jahren), Jugendlichen ...« Zwei Jahre später erreichte uns eine weitere – zumindest aus Sicht des Herstellers – freudige Botschaft: »Risperdal ist seit April 2006 als einziges atypisches Antipsychotikum zur symptomatischen Behandlung bei autistischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen ab fünf Jahren zugelassen und wurde umfassend in dieser Indikation untersucht. In klinischen Studien bei Kindern und Jugendlichen mit autistischer Störung zeigte Risperdal nach acht Wochen im Vergleich zu Placebo eine signifikante Verbesserung auf – Reizbarkeit/Aggressionen, – Stereotypenverhalten und – Hyperaktivität. Eine Langzeituntersuchung zeigte über sechs Monate anhaltende Effekte auf Verhaltensstörungen bei optimistischen Kindern und Jugendlichen.«

Risperidon bei »oppositionellem Trotzverhalten«?! Ganz offensichtlich hat sich Janssen-Cilag vorbildlich verhalten – zumindest auf den ersten Blick. Die Firma ist einer lange gehegten Forderung der Ärzte nachgekommen. Was will man mehr? Aber Vorsicht, wir sollten nicht zu früh jubeln. Wir sollten genauer hinschauen, wofür die Substanz zugelassen ist. Liest man die beiden Schreiben etwas genauer, fällt auf, dass die Indikation »kindliche Psychosen« nicht auftaucht. Gewiss, ein Medikament, das generell für Störungen bei Kindern ab fünf zugelassen ist, kann man mutmaßlich ohne erhöhtes Risiko auch bei der Indikation einsetzen, für die diese einzig sinnvoll ist. Aber die Zulassung dafür fehlt offenbar. Zugelassen ist es zur »symptomatischen Behandlung bei autistischen Störungen«. Aber Autismus ist keine Psychose, auch wenn er mit psychotischen Symptomen einhergehen kann. Dann mag eine Neuroleptika-Behandlung sinnvoll sein. Aber nur dann.

Foto: Ciba-Geigy

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Wenn es heißt, eine Langzeituntersuchung habe über sechs Monate anhaltende Effekte auf »Verhaltensstörungen« gezeigt, müssen die Alarmglocken schrillen. Sind Neuroleptika mit ihren bekannten unerwünschten Wirkungen, insbesondere bei Langzeitbehandlungen, wirklich die richtigen Medikamente bei Verhaltensstörungen? Gibt es keine vernünftigen Alternativen? Noch problematischer ist der Neuroleptika-Einsatz bei der Behandlung von so genannten Störungen des Sozialverhaltens, von oppositionellem Trotzverhalten oder »anderem sozial störendem Verhalten bei Kindern (ab fünf Jahren)«. Dabei kann man nicht einmal ins Feld führen, dass solche Störungen gelegentlich mit psychotischen Symptomen einhergehen. Man soll »sozial störendes« Verhalten bei Kindern ab fünf Jahren tatsächlich mit Neuroleptika behandeln – und das vermutlich über lange Zeit, weil »störendes Verhalten« in der Regel nun einmal eine Weile andauert? Darf man das? Was verbirgt sich überhaupt hinter diesen scheinbar diagnostischen Begriffen?

Wie eine Krankheit Diagnose wird Überprüfen wir das einmal am Beispiel der Diagnosekriterien für die »Störung mit oppositionellem Trotzverhalten« (313.81) im DSM-IV, dem diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (F91.3 ICD-10). Danach handelt es sich um »ein mindestens sechs Monate anhaltendes Muster von negativistischem, feindseligem und trotzigem Verhalten, wobei vier oder mehr der folgenden Symptome auftreten: 1. wird schnell ärgerlich, 2. streitet sich häufig mit Erwachsenen, 3. widersetzt sich häufig aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen oder weigert sich, sie zu befolgen, 4. verärgert andere häufig absichtlich, 5. schiebt häufig die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere, 6. ist häufig empfindlich oder lässt sich von anderen leicht verärgern, 7. ist häufig wütend und beleidigt, 8. ist häufig boshaft und nachtragend. Beachte: Ein Kriterium gilt nur dann als erfüllt, wenn das Verhalten häufiger auftritt, als typischerweise bei Personen vergleichbaren Alters und Entwicklungsniveaus beobachtet wird.« Das soll man also mit Neuroleptika behandeln. Viel vager kann man eine psychiatri-

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pression, das andere als Sonderform des posttraumatischen Belastungssyndroms.

Indikationsausweitung als Milliarden-Dollar-Geschäft

sche Diagnose wohl nicht umreißen. Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht einige der hier recht ungenau beschriebenen Verhaltensweisen im Alter zwischen drei und zwölf Jahren aufweist. Aber liegt dann eine psychische Störung vor, die der Medikamentenbehandlung bedarf? Sind das nicht Verhaltensformen, die genauso gut in eine gesunde Entwicklung passen, die ja nie krisen- und störungsfrei verläuft? Liegt nicht allenfalls ein Erziehungsproblem vor? Nach der Einführung von DSM-IV (und ICD-10) wurde diskutiert, ob die Klassifikatoren überhaupt eine Krankheitsdiagnose im Sinn hatten, als sie diese Diagnoseziffer einführten. Es gibt ernst zu nehmende Kritiker, die davon überzeugt sind, dass es sich dabei nicht um eine Diagnose, sondern um eine Abrechnungsziffer für Kinder- und Jugendpsychiater handelt, die besorgten Eltern die erfreuliche Mitteilung machen können, ihr Kind sei nicht krank, die dann aber vor dem Dilemma stehen, eine Rechnung stellen zu müssen; und dafür bedarf es heutzutage eben einer Ziffer. Die Diagnose »gesund« sei dafür nicht besonders geeignet. Das Muster ist bekannt: Man kreiert eine Krankheit beziehungsweise eine Diagnose und entwickelt das geeignete Medikament dagegen (oder umgekehrt). Gelungen ist das bei der sozialen Phobie. Gescheitert ist es beim so genannten »Sisi-Syndrom« und dem posttraumatischen Verbitterungssyndrom – das eine als angebliche Sonderform der De-

Es ist nichts gut als der gute Wille, schreibt Kant. Aber der gute Wille allein ist nicht alltagstauglich. Es ist gut und richtig, zu fordern, dass Medikamente, die Kindern verabreicht werden, auch für sie zugelassen sein sollten – allerdings nicht als Generalabsolution! Es gibt aber auch gute Gründe, solche Medikamente nicht Zulassungsverfahren zu unterwerfen, für die kontrollierte klinische Studien an mehr Kindern durchgeführt werden müssten als daran erkranken. Das aber wäre bei kindlichen Psychosen der Fall. Und das ist meines Erachtens der Grund dafür, dass Risperidon zwar für den Einsatz bei Kindern zugelassen worden ist, nicht aber für die einzige Indikation, für die es benötigt wird. In der Produktinformation im Schweizer Arzneimittelkompendium (Stand: 2007) heißt es immerhin, für Kinder unter fünfzehn Jahren liegen dafür keine Erfahrungen vor. Insofern ist die Risperidon-Geschichte ein Lehrstück. Dass der Umsatz dieses Medikaments sich seit der Zulassung für meines Erachtens überflüssige Indikationen in den Jahren 2003 bis 2006 exponentiell vermehrt hat, hat vermutlich nicht einmal der Hersteller vorausgesehen. Aber das ist wirtschaftlich gesehen Kleinkram. Warum wohl hat der Hersteller den immensen Aufwand einer Indikationsausweitung auf Kinder und Jugendliche kurz vor Ablauf des Patentschutzes auf sich genommen? Die Antwort ist naheliegend: Solche Indikationsausweitungen führen in den USA zur Verlängerung des Patentschutzes um jeweils sechs Monate. Bei mehreren Milliarden Umsatz im Jahr ist das nicht nichts. Vielleicht ist das des Rätsels Lösung. Und vielleicht sollten wir darüber nachdenken, ob es nicht nebenwirkungsärmere Wege gibt, die Arzneimittelsicherheit bei Kindern zu sichern. ■ Prof. Dr. med. Asmus Finzen war bis zu seiner Pensionierung stellv. Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u.a. zum Thema Medikamentenbehandlung. Mehr unter www.verlag.psychiatrie.de E-Mail-Kontakt: [email protected] Weitere Informationen im Internet unter: Psychiatrie-Nussknacker.de/Themen/RisperidonInfo.html * Zitiert aus der Langfassung des »Memorandums«; im Internet über www.psychiatrie.de/dgsp abrufbar.

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a n a lys e n & m e i n u n g e n

»Kein Mensch muss müssen«? Zwangsbehandlung in der Psychiatrie und die neue Patientenverfügung Foto: Michael Volke

Vo n M a r g i t We i c h o l d

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eit dem 1. September 2009 ist das »Gesetz zur Patientenverfügung« in Kraft. Der Gesetzgeber bietet damit die Möglichkeit, die eigenen Angelegenheiten im Falle der Nichteinwilligungsfähigkeit zu regeln, und hatte den Sterbefall sowie die medizinische Versorgung am Lebensende im Sinn. Übersehen hatte man scheinbar andere Anwendungssituationen. Denn das Regelwerk mit den Mitteln der Vorausbestimmung müsste eigentlich überall dort zum Tragen kommen, wo man »den Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann«, wie es im Gesetz zur Patientenverfügung heißt. Sprich: Es müsste in der Psychiatrie zum Tragen kommen, wo ja die »Nichteinsichtsfähigkeit« immer dann angeführt wird, wenn es um Zwangsmaßnahmen gegen den Willen des Patienten geht. Entsprechend hat denn auch Die BPE e.V. (Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener), ein sich als radikal antipsychiatrisch verstehender Berliner Zusammenschluss von PsychiatrieErfahrenen und eine Abspaltung des BPE e.V. (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener), bereits eine Vorsorgevollmacht ins Netz gestellt1, mit der angeblich Zwangsmaßnahmen jeglicher Art ein Ende haben sollten. So würde »jede medizinische« Behandlung gegen den schriftlich erklärten und aktuellen Willen eines »Patienten ... zur Körperverletzung und jede erzwungene Unterbringung zur Freiheitsberaubung«. Peter Lehmann allerdings, Herausgeber des Buches »Psychopharmaka absetzen«, hat in einer Übersicht über verschiedene Vorausverfügungen vor

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dieser Vollmacht gewarnt: Sie sei lediglich ein vollmundiges Versprechen und würde Sicherheit nur vorgaukeln.2 Welche Formen der (Zwangs-) Behandlung lassen sich also juristisch wirksam ausschließen? Infrage kommen: Zwangseinweisung und -unterbringung, Fixierung, Isolierung und Zwangsbehandlung, d.h. Zwangsmedikation und andere Eingriffe wie Elektroschock und gehirnchirurgische Eingriffe (wie die tiefe Hirnstimulation). Grundsätzlich ist zu beachten: Die Inhalte der Patientenverfügung dürfen nicht gegen geltendes Recht verstoßen, die jeweiligen Situationen müssen so genau wie möglich beschrieben werden, und es sollte dringend – gerade im Fall einer psychischen Erkrankung – ein ärztliches Attest vorliegen, wonach man zum Zeitpunkt der Verfügung bei (geistiger) Gesundheit war; möglichst auch eine notarielle Beurkundung. Der Sachverhalt ist in sich unklar und wird vermutlich erst noch juristisch geklärt werden müssen: Nimmt man zum Beispiel die Zwangseinweisung, so regelt das geltende Recht, also PsychKG oder die Unterbringungsgesetze der Länder, die Unterbringung »von ... Betroffenen, die psychisch erkrankt sind und dadurch sich selbst oder bedeutende Rechtsgüter anderer erheblich gefährden«. Demnach bestünde keine Möglichkeit, eine Zwangseinweisung auszuschließen. Legt man allerdings den Grundgedanken der Verfügung zugrunde (Würde und Selbstbestimmung im Falle einer Nichteinwilligungsfähigkeit) sowie den Umstand, »dass Behandlungsverbote eben gerade dann gelten, wenn ihre Befolgung zum Tod führt« (so Volker Lindemann, Vorstand des Vormundschaftsgerichtstags, auf meine An-

frage), stellt sich die Frage, ob eine Zwangseinweisung bei alleiniger Gefahr für den Betreffenden selbst wirklich weiter zulässig ist, z.B. im Fall einer seit etlichen Jahren phasenhaft auftretenden Depression, bei der praktisch alle Formen der Behandlung vollkommen erfolglos ausprobiert wurden. Zum selben Schluss kommt Asmus Finzen in der »Psychosozialen Umschau«: »Wahrscheinlich kann man sogar eine Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung wegen Selbstgefährdung rechtswirksam verweigern. ... Bei vorhandener oder amtlich bestätigter ›Fremdgefährdung‹ greifen diese Bestimmungen [die Unterbringungsgesetze] ... nach wie vor.«3 Auf die Erklärung bzw. die MusterVerfügung von ›Die BPE‹, wonach grundsätzlich die Existenz psychischer Erkrankungen bestritten wird und damit deren Behandlung obsolet wäre, wird sich die Justiz aller Voraussicht nach nicht einlassen. Zwangsmaßnahmen in der Klinik selbst (Isolierung, Fixierung, Zwangsbehandlung) dürften ebenfalls nur bei Vorliegen einer Fremdgefährdung zum Einsatz kommen; alle diese Maßnahmen dürften mit einer Patientenverfügung erschwert sein und müssten von der Klinik sehr sorgfältig dokumentiert werden. (Eine »Zwangsknebelung«, wie ich sie einmal beobachtet habe, kann es demgemäß nicht mehr geben; andererseits hätte es sie auch vorher gar nicht geben dürfen.) Es dürfte ganz sicher möglich sein, bestimmte Medikamente oder nichtmedikamentöse Methoden wie Elektroschock und gehirnchirurgische Eingriffe auszuschließen, und hier wäre die Patientenverfügung, die beachtet werden muss, rechtlich verbindlicher als eine schwammige Behandlungsvereinba-

rung. Insofern werden mit der Patientenverfügung die Rechte psychiatrisch erkrankter Menschen gestärkt. Ob man allerdings Psychopharmaka generell ablehnen kann bzw. ob man in diesem Fall nicht bis zum St. Nimmerleinstag in der Klinik verbleibt, weil man aus der Sicht der Klinik unter diesen Umständen gar nicht »gesund« werden kann bzw. der »Einweisungsgrund« weiter besteht – das bleibt eine spannende Frage. Informationen zur Patientenverfügung findet man in einer Broschüre des Bundesministeriums der Justiz. Sie enthält Beispiele und Textbausteine, die bei der Formulierung

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helfen, ist allerdings auf den Sterbefall gerichtet und bezieht sich nicht auf psychiatrische Sachverhalte. Wichtig beim Abfassen der eigenen Patientenverfügung mit Blick auf die Psychiatrie ist daher, so präzise wie möglich die Situationen zu beschreiben, für die man eigene Behandlungswünsche oder -verbote hat. Und neben dem Ausschluss bestimmter Methoden oder Mittel ist es sicher auch sinnvoll, sich bestimmte Behandlungen ausdrücklich zu wünschen, bzw. falls das so war, auf die Praktiken und Mittel hinzuweisen, mit denen man in der Vergangenheit gute Erfahrungen gemacht hat. ■

Margit Weichold ist Übersetzerin und lebt in Köln. Der Titel des Beitrags ist ein Zitat von Gotthold Ephraim Lessing. Anmerkungen: 1 www.patverfue.de/ 2 Abzurufen ist Lehmanns umfassende Übersicht über alle bereits vorhandenen Vorauserklärungen im Internet unter: www.antipsychiatrieverlag.de/info/ voraus.htm 3 Asmus Finzen: Ende der Zwangspsychiatrie? Das neue Gesetz zur Patientenverfügung erweitert den Vorsorgespielraum psychisch Kranker. In: Psychosoziale Umschau 4/2009, S. 26.

»Offene Ohren sind das Wichtigste« Peer-Counseling in der psychiatrischen Klinik Friedbert Bachmann, Bernhard Balsliemke, Vera Bierwirth, Klaus Kiene und Anita Sporleder sind Mitglieder der Bielefelder Peer-Counseling-Gruppe und bieten seit zwei Jahren Gespräche für Patientinnen und Patienten in der Psychiatrischen Klinik des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld an. Die Gruppe wird von Renate Schernus supervidiert. SP-Redakteurin Michaela Hoffmann hat nachgefragt. SP: Was bedeutet »Peer-Counseling«? Vera Bierwirth: Der Begriff »Peer-Counseling« stammt aus der ›Independent-LivingBewegung‹ behinderter Menschen, die für Selbsthilfe, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung eintritt. »Peer« bedeutet »Gleiche«, »Counseling« heißt beraten. Wir Beraterinnen und Berater sind also Menschen, die ähnliche Erfahrungen wie unsere Gesprächspartner gemacht haben. Wir kennen die Mühen und Ängste bei der Suche nach einem Weg, mit der Erkrankung umzugehen. Gleichzeitig haben wir aber auch Selbstvertrauen und Mut wiedergewonnen. All das können wir in die Beratung einbringen. Dadurch werden Gespräche auf gleicher Augenhöhe möglich. SP: Warum habt ihr mit dieser Arbeit begonnen, und wer macht mit? Vera Bierwirth: Richtig los ging es Dezember 2007. Zurzeit beteiligen sich vier Männer und drei Frauen. Anita Sporleder: Im Frühjahr 2007 hatten vier Frauen an einer Kurzfortbildung zum Peer-Counseling teilgenommen. Da entstand die Idee, so etwas auch in Bielefeld zu machen. Vera Bierwirth: Wir suchten uns eine Supervisorin, und gemeinsam mit ihr sowie in Rücksprache mit Sibylle Prins vom Vorstand des Vereins Psychiatrie-Erfahrene Bielefeld (VPE) e.V. wurden in den Monaten September bis Dezember ein Konzept sowie Flyer und Plakate entwickelt. Der VPE ist der

V.l.n.r.: Bernhard Balsliemke, Renate Schernus, Friedbert Bachmann, Vera Bierwirth, Klaus Kiene, Anita Sporleder (zu der Peer-Counseling-Gruppe gehören außerdem Antje Brunschön und Daniel Süße, die leider zum Zeitpunkt des Interviews verhindert waren)

eigentliche Träger des Projekts. Einem Mitglied der Gruppe gelang es, eine befristete Finanzierung über ›Aktion Mensch‹ zu organisieren. Die Klinik zeigte sich aufgeschlossen und bot uns einen Raum an. Dort stehen wir alle vierzehn Tage von 16:00 bis 18:00 Uhr zu Gesprächen zur Verfügung. SP: Warum ist euer Angebot notwendig? Was könnt ihr, was Profis nicht können? Vera Bierwirth: Wir wollen die eigene Betroffenheit nutzbar machen in der Beratung mit anderen Betroffenen. Wir sehen unsere Arbeit als sinnvolle Ergänzung zum professionellen Angebot. Klaus Kiene: Es geht darum, eigene Erlebnisse einzubringen und nicht nur Kenntnis-

se; fachliche Kenntnisse zum Beispiel habe ich nur begrenzt. Friedbert Bachmann: Notwendig ist unser Angebot, weil wir durch eigene Betroffenheit anders wahrnehmen und so vielleicht Hilfe vermitteln können, an die die Profis nicht denken. Ich möchte dem anderen als Menschen begegnen. Ich glaube, ich kann auf andere Weise Anteil nehmen als ein Profi. Anita Sporleder: Manches von dem, was uns erzählt wird, haben wir selbst erlebt und können es deshalb besser nachvollziehen. Außerdem haben viele von uns während früherer eigener Klinikaufenthalte erlebt, dass professionelle Mitarbeiter für Gespräche oft sehr wenig Zeit haben. Deshalb nen-

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nen wir unser Angebot bewusst: »Zeit für Gespräche«. SP: Gab es Anfangsschwierigkeiten? Vera Bierwirth: Es war vor allem schwierig, das Angebot bekannt zu machen. Anita Sporleder: Zu den Anfangsschwierigkeiten gehörte auch, dass viele der Psychiatrie-Erfahrenen, die mit uns zusammen angefangen haben, nicht mehr dabei sind. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Für manche war die Belastung zu groß, andere hatten nebenbei noch eine berufliche Tätigkeit und konnten es zeitlich nicht hinbekommen, andere hatten Rollenkonflikte, manchen ging die Motivation aus. Letzteres war dann auch etwas demotivierend für die Gruppe. Zum Glück sind dann wieder andere dazugestoßen, sodass die Arbeit jetzt wieder Spaß macht. Renate Schernus: Wir haben daraus gelernt und gehen jetzt mit Interessenten sorgfältiger um. Mitglieder der Gruppe und ich machen jetzt vorab ein ausführliches Gespräch, um gemeinsam herauszufinden, ob die PeerArbeit etwas für den Betroffenen sein könnte. Anita Sporleder: Anfangs hatte ich auch Angst, dass ich nichts zu sagen hätte. Dann habe ich gemerkt, dass Zuhören das Wichtigste ist. Oft kommt man mit eigenen Einfällen gar nicht dazwischen. Von Vera habe ich gelernt, ab und zu zu unterbrechen und kurze Zusammenfassungen zu machen. Dadurch fühlen sich die Leute meist gut verstanden. SP: Welches sind eure wichtigsten Ziele? Anita Sporleder: Wir möchten Patienten in einer schwierigen Zeit unterstützen ... Vera Bierwirth: ... und wir wollen die Anliegen der Menschen, die zu uns kommen, ernst nehmen, ihnen zuhören. Wir glauben, dass es für Klinikpatienten hilfreich sein kann, mit Menschen zu sprechen, die selbst psychische Krisen und Psychiatrieaufenthalte erfahren, diese aber bereits mehr oder weniger verarbeitet haben. Wir möchten unsere häufig ja sehr leidvollen Erfahrungen umwandeln in etwas Sinnstiftendes. Wir möchten Hoffnung machen: »Es bleibt nicht so, wie es jetzt ist.« Friedbert Bachmann: Persönlich habe ich auch das Ziel, mehr Kompetenzen in der Reflexion über mein eigenes Verhalten zu entwickeln. Klaus Kiene: Ein Ziel ist natürlich auch die Weiterentwicklung dieses relativ jungen Pflänzchens. Bernhard Balsliemke: Die jüngste Weiterentwicklung besteht darin, dass ich gemeinsam mit Antje Brunschön aus unserer Gruppe, die schon viel Beratungserfahrung hat, seit kurzem das Peer-Counseling auch bei einem Verein für betreutes Wohnen anbiete. SP: Wie macht ihr euer Angebot in der Klinik bekannt?

Vera Bierwirth: Wir gehen auf die Stationen, hängen Plakate auf, verteilen unseren Flyer. Schicken auch schon mal ErinnerungsE-Mails an die Stationsleitungen. Anita Sporleder: Meiner Meinung nach nützt die mündliche Ansprache durch Mitarbeiter oder durch uns selbst mehr als Plakate und Flyer. SP: Und wie ist die Reaktion der Patientinnen und Patienten? Anita Sporleder: Ich erlebe viele als offen. Manche sagen, dass sie sich über unser Angebot freuen. Die meisten wurden von Klinikmitarbeitern informiert und nehmen die Gesprächsmöglichkeit gerne wahr. Vera Bierwirth: Oft äußern sie Dankbarkeit, manchmal auch Erleichterung – manche kommen mehrmals zum Gespräch, manchmal auch mit Angehörigen. SP: Bei welchen Fragen und Problemen konntet ihr schon helfen und unterstützen? Könnt ihr ein Beispiel erzählen? Vera Bierwirth: Wir hören von den unterschiedlichsten persönlichen Lebenskrisen ... Anita Sporleder: ... zum Beispiel von Beziehungsproblemen, Vergangenheitsbewältigung, Medikamentenkonsum. Renate Schernus: Ich kann mich an Themen erinnern wie Suizidgedanken, Umgang mit Neuroleptika, sexuelle Missbrauchserfahrungen, Angst vor Elektrokrampftherapie, Umgang mit psychisch erkrankter Freundin, Schuld und Vergebung, Verlust der Wohnung, berufliche Rehabilitation, Freizeitgestaltung. Quasi alle Lebensthemen und alle Psychiatriethemen kommen vor. Anita Sporleder: Ich erinnere mich zum Beispiel an eine engagierte Mutter, die mit einer sehr depressiv wirkenden Tochter zum Gespräch kam. Sie sagte, dass ihr das Gespräch sehr geholfen habe und dass sie sich angenommen gefühlt habe. Wegen Urlaub und Unterbesetzung hätte sie keine Gelegenheit gehabt, ihre Sorgen bei den Klinikmitarbeitern loszuwerden. SP: Wie kommt euer Beratungsangebot bei den Klinikmitarbeitern an? Gibt es da nicht manchmal Konflikte? Vera Bierwirth: Beschwerden oder Ablehnung erleben wir nicht, aber manche Mitarbeiter stehen unserem Angebot eher passiv gegenüber. Andere wiederum unterstützen uns konkret, indem sie zum Beispiel Patienten auf unser Angebot aufmerksam machen und es ausdrücklich empfehlen. Anita Sporleder: Die meisten Mitarbeiter erlebe ich als offen. Von der Klinikleitung wird es gern gesehen, dass wir dieses Angebot machen. Klaus Kiene: Für mich ist noch ziemlich unklar, was die Mitarbeiter über uns denken. Ich hätte gern mehr Rückmeldungen. SP: Habt ihr eigentlich eine Ausbildung

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oder Fortbildung gemacht? Vera Bierwirth: Vier Frauen, die außerdem schon lange beim Verein Psychiatrie-Erfahrener Bielefeld mitmachen, haben an der bereits erwähnten Fortbildung Peer-Counseling teilgenommen. Da ging es um die Grundlagen des Peer-Counseling-Ansatzes, um verschiedene Methoden der Beratung, um persönliche Zukunftsplanung, auch um die Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung. Anita Sporleder: Ich habe früher als Erzieherin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet und habe da auch schon begleitende Supervision gehabt. Während dieser Zeit habe ich auch eine Fortbildung in Konfliktbewältigung gemacht. Drei von uns sind außerdem schon sehr lange, manche schon etliche Jahre, in der so genannten Stabilisierungsgruppe, die von zwei Mitarbeiterinnen der Klinik angeboten wird. Dort lernen wir sehr viel über Gesprächsführung und Umgang mit Problemen. Das können wir dann wiederum in der Peer-Beratung anwenden. Klaus Kiene: Ich kenne den Ansatz der Peer-Beratung aus einer früheren beruflichen Tätigkeit in einem Behindertenverband. Jetzt kann ich Erfahrungen aus dem Köperbehindertenbereich auf den psychiatrischen Bereich übertragen. Bernhard Balsliemke: Ich bin ein Neuling in dieser Gruppe. Manchmal fühle ich mich wie eine kleine Wurst. Die anderen scheinen mir schon sehr souverän. Im Gespräch fallen mir oft gar keine Lösungen ein, die fallen mir dann erst zu Hause ein. Ich habe aber trotzdem Spaß an der Sache. Ich setze auf Learning by Doing. Vera Bierwirth: Ich habe inzwischen gelernt, dass offene Ohren das Wichtigste sind und dass es nicht so sehr auf Lösungen ankommt. Ich finde, man sollte sich auch nicht zu sehr auf Fortbildung fixieren. Wir haben Lebenserfahrung, Krisenerfahrung und viele von uns auch eigene Berufserfahrung, z.B. in sozialen Berufen. Friedbert Bachmann: In der Stabilisierungsgruppe habe ich zwar auch viel gelernt. Ich habe aber an einer Fortbildung wie EX-IN großes Interesse. SP: Was bedeutet euer Engagement für euch persönlich, für eure eigene Entwicklung? Vera Bierwirth: Das, was ich in den Beratungsgesprächen höre, bringt mich auch immer wieder dazu, eigene persönliche Themen zu reflektieren. Ich denke, im besten Fall trägt diese Arbeit auch zu meinem persönlichen Wachstum bei. Anita Sporleder: Ich hatte vor Gesprächen, besonders anfangs, Bedenken, ob es was bringt, ob ich überhaupt was zu sagen habe. Und dann war ich immer wieder erstaunt, dass es so gut gelaufen ist. Ich bin gleichsam

über mich hinausgewachsen. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man etwas getan hat, jemandem geholfen und nicht nur so dahingelebt hat. Ich habe davon auch für private Begegnungen profitiert. Ich gehe jetzt anders mit Problemen von Bekannten und Freunden um. Früher fühlte ich mich oft sehr hilflos. Jetzt weiß ich eher, was ich sagen kann. Zum Beispiel habe ich mich früher nie getraut, über meine eigene Erfahrung zu reden. Durch das Peer-Counseling habe ich gelernt, dass die eigene Erfahrung auch einen großen Schatz darstellt. Friedbert Bachmann: Ich bin auch noch nicht lange dabei und hoffe, dadurch, dass ich mich an die Beratungssituation heranwage, auch die eigene Sicherheit zu stärken. Klaus Kiene: Ich musste aus dem Erwerbsleben ausscheiden und bekomme eine Rente. Die möchte ich nicht nur fürs Nichtstun beziehen. Dass ich hier ein eigenes Angebot machen kann, ist für mich wichtig, dabei gewinne ich eine »Dosis Bedeutung« für andere. Je nach Umfang meines Engagements hat meine Bereitwilligkeit für ehrenamtliche Arbeit aber auch Grenzen. Grundsätzlich denke ich, Arbeit sollte bezahlt werden. Bernhard Balsliemke: Für mich ist die Bezahlung nicht so wichtig. SP: Stärkt die Beratungsarbeit eure »Stabilität«, oder ist die Belastung sehr groß? Vera Bierwirth: Ich sage mal so: Die Belastung ist gegeben. Je nach Inhalt der Gespräche und dem Verhalten der Gesprächspartner ist sie mal größer und mal kleiner. Auch wenn jemand während des Gesprächs sagt: »Ich flippe gleich aus«, kann es einem mulmig werden. Dass wir die Regel haben, die Beratungen immer zu zweit zu machen, erlebe ich als Rückenstärkung. Auch die Supervision erlebe ich als Rückenstärkung. Klaus Kiene: Durch unser Engagement gewinnen wir einerseits Stabilität, und manchmal gefährden wir sie auch dadurch. Wir versuchen, diese beiden Seiten im Gleichgewicht zu halten. Anita Sporleder: Ich erlebe die Arbeit eigentlich nicht als zu anstrengend, schon deshalb nicht, weil man ja nicht alle vierzehn Tage dran ist. Ich würde gerne noch öfter dabei sein. Allerdings geht es nur so lange gut, solange man nicht selbst zu sehr in eigenen Problemen steckt. Dass meine Stabilität dadurch gestärkt wird, kann ich nicht sagen. SP: Ihr macht Supervision bei Renate Schernus ...

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Vera Bierwirth: Ja, in der Supervision haben wir die Chance, die eigene Rolle und Position zu reflektieren und zu klären. Klaus Kiene: Die Supervision unterstützt den persönlichen Lernprozess und gleichzeitig den Entwicklungsprozess des Projekts, sie ist nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Friedbert Bachmann: Für mich ist die Supervision wichtig, um Sicherheit zu gewinnen, wie ich dem anderen begegnen kann. In der Gruppensupervison lernt man auch, zu beobachten und mithilfe der anderen die eigenen Defizite zu klären. Anita Sporleder: Wir sind ja Laien und haben auch blinde Flecke. Wenn es zu heftig wird, brauchen wir Unterstützung von Profis, um nicht überfordert zu werden und womöglich das Ganze hinzuschmeißen. SP: Was meinst du, Renate, als Supervisorin dazu? Renate Schernus: Für mich ist es sehr befriedigend, zu erleben, dass und wie es den Beraterinnen und Beratern gelingt, eigene leidvolle Erfahrungen in etwas, was Sinn macht und anderen hilft, umzuwandeln. In jeder Supervision wird von den Gesprächen berichtet, die zwischenzeitlich stattfanden. Oft geben sich die beiden, die dran waren, gegenseitiges Feedback. Natürlich wird darüber gesprochen, was schwierig war, wo jemand emotional besonders berührt war, wo er nicht weiterwusste oder nicht wusste, wie er ein Gespräch vertiefen oder wie er es beenden kann. Ich habe so oder so reagiert, war damit nicht ganz zufrieden – welche Möglichkeiten zu reagieren könnte es noch geben? Oder: Wie kann ich Verständnis äußern, ohne die Meinung des Gegenübers komplett zu teilen? Am Anfang war es meines Erachtens entlastend, daran zu erinnern, dass die Peers nicht die einzigen Helfer auf weiter Flur sind, dass es erlaubt ist, dazu zu ermutigen, zuständige Mitarbeiter und Dienste in Anspruch zu nehmen. Noch etwas: In der Supervision sagte mal jemand, es sei für ihn wichtig, die Klinik in einer anderen Rolle zu betreten als in der des Patienten. Ich glaube, die Übung in diesem Rollenwechsel trägt auch zur eigenen Stabilität bei. SP: Womit habt ihr Schwierigkeiten? Wo sind die Grenzen eurer Arbeit? Vera Bierwirth: Das Thema Nähe und Dis-

tanz taucht immer wieder auf. Ganz am Anfang waren einige von uns zum Beispiel drauf und dran, gleich die private Telefonnummer weiterzugeben, oder hatten den Impuls, mit Geld auszuhelfen. Wir haben dann sehr schnell gelernt, dass es sinnvoller ist, zu besprechen, was derjenige selbst tun könnte, um seine Lage zu verbessern, oder an wen er sich wenden könnte. Das sind Übungen in Abgrenzung; wir sind auf die Möglichkeiten des Gesprächs begrenzt. Klaus Kiene: Der Zeiteinsatz ist im Verhältnis zur produktiven Beratungszeit relativ hoch. Ich frage mich manchmal, ob der Einsatz von Zeit im richtigen Verhältnis zum Effekt steht. Schwierig ist auch immer wieder der Umgang mit der eigenen Unsicherheit sowie mit besonders originellen Personen. Anita Sporleder: Ich finde es manchmal schwierig, dass man nur redet und keine praktischen Hilfen anbieten kann. Ich weiß aber, dass ich damit überfordert wäre, z.B. konkret beim Umzug zu helfen oder so etwas. SP: Was sind eure Forderungen oder Wünsche für die Zukunft? Vera Bierwirth: ›Aktion Mensch‹ hat das Projekt ein Jahr lang gefördert. Es wäre gut, wenn wir eine weitere Förderung finden würden. Eine Bezahlung in angemessener Höhe ist mir wichtig, und Fortbildung finde ich wünschenswert. Friedbert Bachmann: Ich mache es nicht wegen der Bezahlung, aber gegen eine Anerkennung in finanzieller Form habe ich natürlich nichts. Anita Sporleder: Die Finanzierung durch ›Aktion Mensch‹ fand ich auch gut. Aber mir ist es sehr wichtig, dass wir mit unserem ehrenamtlichen Engagement unabhängig bleiben, uns nicht von einer psychiatrischen Institution oder gar von der Pharmaindustrie abhängig machen. Meine Motivation ist nicht vom Geld abhängig. Ich möchte helfen, weil ich Christin bin. Renate Schernus: Was Fortbildung betrifft, könnte für einige das EX-IN-Projekt, das Anfang nächsten Jahres für Nordrhein-Westfalen in Münster starten soll, sehr interessant sein. Für die Bielefelder Psychiatrie-Erfahrenen, die ausschließlich die Peer-Arbeit machen wollen, haben ein Kollege und ich vor, Anfang nächsten Jahres einige Einheiten in Gesprächsführung anzubieten. Anita Sporleder: Fortbildung würde das Ganze für mich reizvoller machen, aber sie müsste gut erreichbar sein und auch zu meinen finanziellen Möglichkeiten passen. Ich hörte, dass die EX-IN-Ausbildung ziemlich teuer ist. Außerdem wäre Münster für mich zu weit. ■

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»Was ist schlimm daran, Dinge zu ökonomisieren?« Zur Stellungnahme der ›Soltauer Initiative‹ zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Die o.g. Stellungnahme* war der SP 4/2009 beigelegt; sie wird vom DGSP-Vorstand unterstützt. Eine kritische Replik von G e r h a r d K r o n e n b e r g e r .

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ie ›Soltauer Initiative‹ hat sich die UN- stunde« im Kontext der damit verfolgten AbKonvention über die Rechte von Men- sichten und Konzepte zu betrachten und zu schen mit Behinderungen und deren öffent- analysieren. Resultat ist die pauschale, unliche Besprechung in unserem Lande zur differenzierte Behauptung, diese FinanzieBrust genommen. Die Konvention wird dem rungsformen widersprächen der Idee der Grunde nach für gut befunden, die gesell- Teilhabe. Ob »Ziel- und Wirkungsorientieschaftlichen Rahmenbedingungen jedoch rung, Effektivität, Effizienz, Fallmanagement nicht. Der »religiöse Enthusiasmus«, den die ...« bewusstseinsbildend im Sinne der UNInitiatoren in Bezug auf die Konvention aus- BRK wirken, bezweifeln die Autoren der Stelzumachen glauben, kommt ihnen mehr als lungnahme stark. Ein Beweis wird nicht geverdächtig vor. Denn die UN-Konvention führt. Scheinbar reicht die gefühlte Aversion könne zwar dazu beitragen, Rechte und An- gegen »Ökonomisierung«, die sie schon imsprüche behinderter Menschen angemesse- mer haben? Einen Unterschied zu machen ner zu wahren; Neoliberalismus, Ökonomi- zwischen einem vernünftigen Wirtschaften sierung und Bürokratisierung und blanker Kommerzialisie»Einmal mehr wird stünden dem jedoch beinhart rung ist offenbar zu viel erdie Platte aufgelegt, im Wege. Und jetzt? wartet. Was ist eigentlich mehr Qualität gehe Es ist sicher richtig, auf proschlimm daran, Dinge zu ökonur mit mehr Geld« blematische Aspekte der UNnomisieren? Für den gleichen Behindertenrechtskonvention Nutzeffekt weniger Kraft, Zeit (UN-BRK) hinzuweisen und wichtige Bedin- und andere Mittel aufzuwenden? Die Polegungen der Realisierung der hehren Ziele mik aus Soltau ist billig. Ihr fehlen die Argudes Übereinkommens zu thematisieren. Was mente. allerdings bei der Soltauer Initiative auffällt »Der Zielkonflikt zwischen einer am Wett– und ärgerlich ist – sind folgende Punkte: bewerb orientierten Ökonomie und den Die Autoren übersehen, welche Bedeu- ethisch idealen Forderungen der Konvention tung die Konvention für eine fachlich sub- [wird] unzureichend thematisiert« – wie stanzielle Weiterentwicklung der Eingliede- aber sieht die Thematisierung der Initiative rungshilfe in Deutschland haben kann. Hier aus? Worin werden Lösungen gesehen? Keiwerden nämlich Rechte und Ansprüche ver- ne Auskunft! Vor allem: Es wird so getan, als bindlich niedergeschrieben, an denen sich sei jede Veränderung im Sinne der Konventidiese Gesellschaft, die politisch Verantwort- on eine Frage der Ökonomie. »Bei Mitarbeitelichen, aber auch die Wohlfahrtsverbände rinnen des Sozial- und Gesundheitswesens und Sozialleistungsträger messen lassen [entsteht] ein enormer betriebswirtschaftlimüssen. Zu Recht hat der Hamburger Sozial- cher Effizienzdruck, der sie an der Umsetrechtler Professor Schütte die UN-BRK als zung ... hindert.« Es wird einmal mehr die Magna Charta der Behindertenhilfe bezeich- Platte aufgelegt, mehr Qualität gehe nur mit net. Freilich ist eine rechtliche Regelung das mehr Geld. Das ist theoretisch falsch und eine und ihre soziale Wirklichkeit das ande- praktisch längst widerlegt. re. Aber soll eine gute Regelung deshalb verWer sich an den kritisierten Reformbestreworfen werden, weil es an ihrer Verwirkli- bungen beteiligt, geht Ökonomisierung und chung hapert? Bürokratisierung auf den Leim, ist bestenZur Begründung ihrer Kritik bemühen die falls ein sympathischer weltfremder Idealist, Initiatoren die alten Geister des Bösen: die der es gut meint – so wie die zitierten OrgaEinführung von »Modulen, Fachleistungs- nisatoren der vielen Tafeln. Angesichts der stunden und Minutenzählerei«, mit denen Wucht der aus Soltau geschwungenen der Sinn gemeindepsychiatrischer Arbeit ethisch-moralischen Keule stellt sich das Gekonterkariert werde. Ökonomisierung lautet fühl für den Praktiker ein, selbst ein Täter das Verdikt. Ärgerlich ist, dass diese Kritiker oder Wegbereiter »menschenrechtsverletsich weder hier noch an anderer Stelle er- zenden Pfuscharbeit« zu sein. kennbar die Mühe gemacht haben, die FiWelchen Weg weist uns die Soltauer Initiananzierungsinstrumente »Fachleistungs- tive raus aus Bürokratismus und Ökonomi-

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sierung? Vorwärts in die Vergangenheit! Denn das Konzept sozialer Arbeit, das hinter der Kritik steht, ist offenbar eines, das ganz traditionell darauf setzt, dass die Profis in den sozialen Einrichtungen und Diensten es schon am besten wissen, was für ihre Klienten gut ist, und dieses selbstverständlich auch tun. Schon immer. Wie anders ist es zu erklären, dass Antworten einer »kleinen Internetumfrage« so einseitig, affirmativ und unkommentiert in die Stellungnahme geschrieben werden? Kein einziger Hinweis auf Mängel, Defizite heutiger sozialer Arbeit. Finanzierungsnöte in der Behindertenhilfe angesichts eines zunehmenden Bedarfs? Kein Problem, also weiter so. Jegliche Einmischung anderer – insbesondere für die Kostenträger gilt die systematische Schäbigkeitsvermutung – gehört sich nicht, denn diese ist per se Bürokratisierung und Ökonomisierung. Wie kann es ein Sozialleistungsträger wagen, nach Reha-Zielen zu fragen? Wo doch seine Aufgabe einzig darin besteht, zu bezahlen! Steht da etwa etwas anderes in den Gesetzen? Die »Beteiligung der Betroffenen« – ein klarer Fall der »Überbetonung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung« – wir schreiben das Jahr 1962 und stehen mitten in der Welt der Fürsorge. »Ethisch unzumutbar« der Versuch, eine Hilfe-Vereinbarung zu schließen, die beinhaltet, sich nach einer bestimmten Zeit gemeinsam zusammenzusetzen und dann zu beraten, was aus dem zwischen Klienten, Profis und Leistungsträger Geplanten geworden ist! Wie kann man nur nach »Wirkung« fragen? Dass es zum kleinen Einmaleins der Pädagogik gehört, mit Zielen zu arbeiten, methodisch vorzugehen und eine Zielkontrolle vorzunehmen, daran sollte man sich vielleicht auch einmal (wieder) erinnern. Was also hier als »politisch gemeinte Kritik« mit »revolutionärem Schub« vorgetragen wird, enthält eine fachlich nach hinten gerichtete Orientierung und ist ihrem verbalen Habitus zum Trotz politisch devot. Oder wie soll man den Kulminationspunkt der Klageführung verstehen, der da lautet: »Wir sagen nein, weil auch wir gerne ja sagen möchten«? ■ Gerhard Kronenberger ist Leiter des Fachbereichs ›Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen‹ beim Landeswohlfahrtsverband Hessen. E-Mail-Kontakt: [email protected] * Moralisch aufwärts im Abschwung? UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Kontext von Sozial- und Wirtschaftspolitik. Eine Stellungnahme der Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik. Bezug: DGSP-Geschäftsstelle; E-Mail: [email protected]

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dgsp intern

DGSP-Mitgliederversammlung 2009 Am 5. November 2009 fand im Rahmen der DGSP-Jahrestagung in Hamburg die Mitgliederversammlung statt. Hier ein Kurzbericht von R i c h a r d S u h r e . Das ausführliche Protokoll ist unter www.psychiatrie.de/dgsp nachzulesen.

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ie etwa sechzig Anwesenden wurden durch den Ersten Vorsitzenden der DGSP Friedrich Walburg begrüßt. Für die Versammlungsleitung wurde Rainer Hölzke (Hamburg) vorgeschlagen und ohne Gegenstimme gewählt. Die im Programm zur Tagung veröffentlichte Tagesordnung wurde einstimmig angenommen, Ergänzungen zur Tagesordnung oder Anträge an die Mitgliederversammlung lagen nicht vor. Die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands stellten sich kurz mit ihren Vereinsfunktionen vor. Friedrich Walburg referierte den Rechenschaftsbericht des Vorstands zum Berichtszeitraum Oktober 2008 bis November 2009.

■ Schwerpunkte der Vorstandstätigkeit Es fanden insgesamt acht Sitzungen des geschäftsführenden und vier Sitzungen des erweiterten Vorstands statt. Nachfolgende Schwerpunktthemen wurden bearbeitet: ■ Entwicklung und Veröffentlichung der »Denkanstöße« der DGSP. In diesem Papier hat sich der Verband zu dreizehn sozialpsychiatrischen Kernthemen positioniert.* ■ Auf dem zweiten Verbandstag Ende April 2009 befassten sich Mitglieder des Gesamtvorstands mit Satzungs- und Strukturfragen, mit der Finanzverteilung an die Landesverbände und Fachausschüsse sowie mit dem Thema UN-Behindertenrechtskonvention (siehe SP 3/2009). ■ Debatte zur Anwendung von Neuroleptika; regelmäßige Veröffentlichungen und Diskussionsforen in der »Sozialen Psychiatrie«; bundesweite Tagung am 26. Februar 2009 in Frankfurt a.M.; Expertendialog zur Neuroleptika-Thematik im Mai 2009 in Köln; »Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika«; Fachtagung »Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika!« am 24. September 2009 in Berlin. Weitere Themen der Vorstandsarbeit: ■ Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe; ■ Situation der klinischen Versorgung psychisch erkrankter Menschen und in diesem Zusammenhang auch aktuelle Fragen der Krankenhausfinanzierung; ■ Situation der niedergelassenen Fachärzte und die Frage der ambulanten Versorgungssituation insbesondere für schwer psychisch erkrankte Menschen;

freulich ist, dass sich in der Mitgliederentwicklung ein leicht positiver Trend abzeichnet: ein Plus von sieben Personen (mehr Eintritte als Austritte).

■ Fortbildungen Die Geschäftsführung berichtete zum Stand der zahlreichen DGSPFortbildungen, die sich weiter sehr gut entwickelt haben: differenziertes und vielfältiges Angebot, steigende Teilnehmerzahlen, allgemein gute Auslastung der einzelnen Seminare. Infostand des LV Schleswig-Holstein ■

Protest gegen Praxis der Videoüberwachung auf psychiatrischen Akutstationen in Nordrhein-Westfalen; ■ Protest gegen Abschiebepraxis psychisch erkrankter Flüchtlinge. Neben diesen inhaltlichen Aspekten der Vorstandsarbeit hatte der geschäftsführende Vorstand die laufenden Geschäfte des Verbandes zu verantworten. Hierzu zählen insbesondere der Kontakt zur DGSP-Geschäftsstelle, die Wahrnehmung der Gesellschafterrolle im Psychiatrie- und BALANCE-Verlag, die Kooperation im Rahmen der ›Kontaktgespräche Psychiatrie‹ und Treffen auf Vorstandsebene mit Partnerverbänden.

■ Tagungen Die DGSP führte im Berichtszeitraum insgesamt neun Tagungen durch bzw. war an diesen maßgeblich beteiligt.

■ Stiftung Die ›Stiftung für Soziale Psychiatrie‹, in deren Stiftungsrat drei Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands vertreten sind, vergab im Mai 2009 den DGSP-Stiftungspreis an das Projekt ›EX-IN-Jobbörse‹ in Hamburg. Die niedrigen Zinsen infolge der Finanzkrise führen dazu, dass der finanzielle Ertrag der Stiftung aktuell sehr gering ausfällt. Auch aus diesem Grunde wird der Stiftungspreis nunmehr nur alle zwei Jahre ausgelobt.

■ Finanzen Christel Achberger berichtete in ihrer Funktion als Schatzmeisterin zur finanziellen Lage des Vereins. Der Jahresabschluss 2008 weist ein positives Ergebnis aus, was sich aus den Mitgliedsbeiträgen und vor allem aus den Erträgen der Fortbildungen ergibt. Er-

■ Aussprache und Satzungsänderung Es folgte die Aussprache, in der der Vorstand und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geschäftsstelle für die zurückliegende Arbeit mit Applaus bedacht wurden. Die in der Einladung zur Mitgliederversammlung angekündigte Debatte zur Satzungsänderung wurde auf die nächste Mitgliederversammlung verschoben. Grund: Wegen der vorangegangenen längerfristigen Diskussion im erweiterten und geschäftsführenden Vorstand konnte die nach dem Vereinsrecht vorgeschriebene Frist zur Bekanntgabe der vorgeschlagenen Satzungsänderung an die Mitglieder nicht eingehalten werden.

■ Verschiedenes In der anschließenden Diskussion wurden verschiedene Themen angesprochen, die für die zukünftige Verbandsarbeit von Bedeutung sind: – Mitarbeit im ›Aktionsbündnis seelische Gesundheit‹; – Zukunft der Krankenhausfinanzierung; – Einbindung der Landesverbände in die Besuchskommissionen auf Länderebene; – Fortführung der Debatte um die Anwendung von Neuroleptika in der Psychiatarie, insbesondere im Hinblick auf den Einsatz bei Kindern und Jugendlichen, und die Rolle der Pharmaindustrie; – Befassung mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Relevanz für die Psychiatrie; – die Rolle der Ärzte bei Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen. ■ * Im Internet unter: www.psychiatrie.de/dgsp/Denkanstoesse/

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dgsp intern

Standpunkte … R i c h a r d S u h r e berichtet vom ersten gemeinsamen Gespräch

auf Vorstandsebene zwischen DGSP und DGPPN.

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on einem historischen Moment in der deutschen Psychiatriegeschichte sprach Herr Professor Dr. Dr. Frank Schneider, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), in seinen einführenden Worten anlässlich des Vorstandstreffens von DGPPN und DGSP am 29. September 2009 in Berlin.

Lange hat es gedauert, bis es zu dieser Begegnung kam. Herr Schneider stellte heraus, dass es viele Gemeinsamkeiten in den Aktivitäten zwischen den beiden Verbänden gebe, so vor allem der Einsatz für die Sicherstellung einer guten medizinischen Versorgung psychisch erkrankter Menschen. In einer kurzen Vorstellung der DGPPN präsentierte er die beeindruckende Mitgliederzahl von zirka 5 000 Mitgliedern aus unterschiedlichen ärztlichen Fachgruppen. Die DGPPN richtet alljährlich den mit etwa 7 000 Besucherinnen und Besuchern europaweit größten Fachkongress im Fachgebiet Psychiatrie aus und unterhält eine eigene Fortbildungsakademie. Die DGSP wurde von Vorstandssprecher Friedrich Walburg vorgestellt: Die DGSP ist mit rund 2 000 Mitgliedern zwar nicht so groß wie die DGPPN, aber durch ihren berufsübergreifenden Ansatz vielfältiger und durch die Aktivität ihrer sechzehn Landesverbände vor Ort präsenter aufgestellt. Und wichtig: Sie ist völlig unabhängig und darum in ihren Aktivitäten nicht gehalten, auf bestimmte Interessen Rücksicht zu nehmen. Das Hauptthema des Meinungsaustausches war die Haltung zur Pharmaindustrie: Anfang 2009 hatte die DGPPN der DGSP die Beteiligung als Mitveranstalter an dem oben genannten Fachkongress 2009 angeboten.

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Dieses Angebot wurde seitens der DGSP abgelehnt, da die DGSP keine Veranstaltungen unterstützt, die mit Pharmageldern gesponsert werden. Laut Herrn Schneider sind mittlerweile neben den wesentlichen Berufsverbänden psychiatrisch Tätiger auch die Bundesverbände der Angehörigen und der Psychiatrie-Erfahrenen mit im »Boot«, sprich Mitveranstalter des Kongresses. Schneider erläuterte, wie die DGPPN zu Pharmageldern und generell zur Pharmaindustrie steht. Der Kongress werde ohne Industriebeteiligung durchgeführt. Lediglich in einem extra abgegrenzten Teil des Veranstaltungsortes sei die Pharmabranche mit Werbeständen präsent. Diesen Teil des Kongresses verantworte die Kongressorganisation, die unabhängig von der DGPPN agiere. Von der DGPPN neu eingeführt wurde, so Schneider, die Regelung, dass die Referenten des Kongresses schriftlich ihre Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie erklären müssen. Um den Forschungsstandort Deutschland wäre es laut Aussagen des DGPPN-Vorstands ohne Pharmagelder sehr schlecht bestellt, da die Forschungsförderung durch die öffentliche Hand angesichts des benötigten Gesamtvolumens der Forschungsmittel verschwindend gering sei. Mit dieser Situation sei man auch seitens der DGPPN nicht zufrieden, da die Forschungsergebnisse verständlicherweise unter Glaubwürdigkeitsproblemen litten. Jedoch wird es als Notwendigkeit angesehen, mit der Pharmaindustrie einen regen Austausch zu pflegen: Schließlich stelle diese die Medikamente her, und nur durch den Dialog zwischen Behandlern und Herstellern sei Einfluss auf deren Produkte zu nehmen. Angesprochen wurde auch der Umgang mit den Pharmareferenten in den Krankenhäusern, wobei die DGSP auf MEZIS (»Mein Essen zahl ich selbst« – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte) hinwies, deren Grundsätze (keine Geschenke annehmen, keine Pharmavertreter auf den Stationen u.a.) beispielsweise an der Uni-Klinik Mainz von Professor Lieb umgesetzt werden (mehr dazu unter www.mezis.de). Wir stellten die Frage, warum die DGPPN als größte psychiatrische Fachgesellschaft sich nicht für die Durchsetzung eines solchen vorbildlichen Standards bei ihren Mitgliedern starkmacht. Grundsätzlich stehe man dem Mainzer Beispiel positiv gegen-

über, so die DGGPN-Vertreter, sehe aber Schwierigkeiten bei der Umsetzung, da Chefund Oberärzte bekanntermaßen eigene Wege gingen, Reglementierungen auch mit Blick auf den Mangel an Nachwuchskräften schwierig seien und kein oder zu wenig Geld in den Krankenhäusern vorhanden sei, um Reise- und Kongresskosten für jüngere Kollegen/Kolleginnen zu erstatten. Herr Schneider lud die DGSP zur Teilnahme am DGPPN-Kongress im Jahr 2010 ein, um dort ein Forum zum Umgang mit der Pharmaindustrie zu gestalten. Eine Diskussion über das wenige Tage zuvor von der DGSP veröffentlichte »Memorandum zur Anwendung von Antipsychotika« fand bei diesem Treffen nicht statt, soll aber nachgeholt werden. Weitere Themen des Gesprächs waren die Situation psychisch erkrankter Flüchtlinge und die Aufarbeitung der Rolle der DGPPN in der Zeit des Faschismus. Folgende Vereinbarungen wurden getroffen: ■ DGSP und DGPPN werden künftig mindestens einmal jährlich ein gemeinsames Treffen auf Vorstandsebene durchführen. ■ Auf den Jahrestagungen der Verbände nehmen jeweils zwei Vertreter des anderen Verbandes teil. ■ Auf der Ebene der Geschäftsführung findet im Bedarfsfall ein Austausch statt. Denkbar wäre die Einrichtung einer Arbeitsgruppe mit dem Ziel der Erarbeitung eines gemeinsamen Memorandums zur Versorgungssituation chronisch psychisch kranker Menschen. Bei den weiteren Treffen wird es notwendig sein, die Bedeutung von Sozialpsychiatrie zu diskutieren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen DGSP und DGPPN herauszuarbeiten und zu verdeutlichen. Dieses erste Treffen der beiden Verbände ist als positiv zu bewerten. ■

Qualifizierung durch DGSP-Beschwerdefortbildung

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um Abschluss der Fortbildung »Beschwerdemanagement für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabhängiger Beschwerdestellen in der Psychiatrie« nahmen die siebzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 12. September 2009 ihr Zertifikat entgegen, das sie als erfolgreiche Absolventen ausweist und ihnen die Befähigung zur Arbeit in einer unabhängigen Beschwerdestelle bestätigt.

Foto: pixelio.de

01/2010 soziale psychiatrie

dgsp intern

Die Fortbildung dauerte von Juni 2008 bis September 2009 und gliederte sich in sechs Module. Themen waren: Aufbau und Selbstverständnis unabhängiger Beschwerdestellen, Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyarbeit, Gesprächs- und Verhandlungsführung, Krankheitsbilder und Behandlungskonzepte, Rechtsgrundlagen sowie psychiatrische Versorgungsstrukturen, psychosoziale Strukturen und Selbsthilfe. Die Teilnehmer kamen überwiegend aus dem Kreis der Psychiatrie-Erfahrenen und arbeiteten zum Teil bereits in Beschwerdestellen. Auch einige Angehörige nahmen teil. Durch die Fortbildung, die im Übrigen

mit trialogisch besetzten Referenten-Teams besetzt war, konnten die Teilnehmer ihr Wissen und ihre Handlungsmöglichkeiten erheblich erweitern. Die Resonanz war sehr positiv. Möglich wurde die Fortbildung durch die finanzielle Förderung der Heidehof-Stiftung, wodurch die Teilnehmergebühren sehr niedrig gehalten werden konnten. Etliche DGSPLandesverbände unterstützten Teilnehmer aus ihrer Region zusätzlich, indem sie beispielsweise Fahrt- und Unterkunftskosten übernahmen. ■ Gudrun Uebele

DGSP-Landesverband Thüringen gegründet Glückwunsch! Nun hat auch Thüringen einen DGSP-Landesverband. Damit ist die DGSP in allen sechzehn Bundesländern vertreten. Vo n R e i n h a r d St r e c k e r

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nde März 2009 hatten sich erstmals mehr als vierzig Interessierte in Altenburg getroffen, um über Sinn und Zweck der Gründung eines Landesverbandes der DGSP in Thüringen zu diskutieren. Ein Ergebnis dieser äußerst lebendigen und kontrovers geführten Diskussion war der Wunsch vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer an die Vorbereitungsgruppe, eine Gründungsveranstaltung vorzubereiten. Dass am 10. September 2009 mehr als fünfzig Interessierte und DGSP-Mitglieder der Einladung zur Veranstaltung in den Festsaal des Erfurter Rathauses gefolgt sind, um die Gründung zu beschließen, hat uns natürlich riesig gefreut und gezeigt, wie sehr eine unabhängige Stimme im Bereich der psychiatrischen Versorgung in Thüringen vermisst und gesucht wurde. Gerade auch der sozialpsychiatrische Ansatz, die sozialpsychiatrische Sichtweise auf die Dinge scheint dabei nach Jahren der Dominanz von Psychopharmakologie und Neurowissenschaften erneut an Attraktivität und Plausibilität zu gewinnen. Dies war auch an dem großen Interesse für den anschließenden Festvortrag von Dr. Stefan Weinmann zum Thema »Erfolgsmythos Psychopharmaka« zu spüren, zu dem zirka 150 Personen in den Festsaal gekommen waren. Herrn Dr. Weinmann von dieser Stelle noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön für seine Unterstützung unserer Veranstaltung.

Nachdem die Gründungsformalitäten nach einigen Anfangsschwierigkeiten abgeschlossen waren, lud der neue Vorstand (Dirk Bennewitz, Reinhard Strecker und Jessica Reichstein) für den 25. November 2009 zur ersten ordentlichen Mitgliederversammlung nach Altenburg ein. Neben einem Austausch und einer Klärung über die Vorstellungen und Wünsche der einzelnen Mitglieder ging es dort um die Planung der inhaltlichen Arbeit für das kommende Jahr, bei dem natürlich regionale Themen den Schwerpunkt bilden. Eine Idee ist, mit den Mitgliederversammlungen in die verschiedenen Regionen des Landes zu gehen, um sich und die Arbeit vorzustellen, aber auch um einen Eindruck von der Situation vor Ort zu bekommen. Durch die Kommunalisierung der Kostenträgerschaft im komplementären Bereich richtet sich die Versorgungssituation für die Betroffenen in Thüringen zunehmend nach der jeweiligen finanziellen Ausstattung in den Kreisen und Kommunen und nicht nach den jeweiligen individuellen Hilfebedarfen der Betroffenen. Unser erstes Jahr als Landesverband fällt mit dem vierzigjährigen Bestehen des DGSPBundesverbandes zusammen – wir nehmen dies als gutes Zeichen und freuen uns auf die bevorstehenden Aufgaben. ■

soziale psychiatrie 01/2010

Planungen zu einem sozialpsychiatrischen DoktorandInnen-Kolloquium Promovierende auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie! Der Fachausschuss Forschung der DGSP plant in Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité (Campus Mitte) ein Kolloquium für Promovierende, die ein Thema auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie bearbeiten. Angesprochen sind damit Promovierende der Fachrichtungen Sozialwissenschaften, Medizin, Psychologie, Sozialarbeit, Pflege, Rehabilitationswissenschaften u. a. Das Kolloquium hat folgende übergreifende Ziele: ❚ die Etablierung eines fach- und disziplinübergreifenden Forums für sozialpsychiatrische Forschung, ❚ die Vernetzung der Promovenden, die ein sozialpsychiatrisches Thema bearbeiten, ❚ die Förderung und Beratung der Promovenden. Es soll ergänzend zu der Betreuung vor Ort an der jeweiligen Universität bzw. Hochschule sowie zu bestehenden Kolloquien angeboten werden und insbesondere diejenigen sozialpsychiatrischen Aspekte vermitteln, die in der jeweiligen Disziplin oder in der jeweiligen Hochschule weniger im Mittelpunkt stehen. Gleichzeitig sollen damit der interdisziplinäre Austausch und die Vernetzung von Wissenschaftlern und Forschern aus dem Feld der Sozialpsychiatrie gefördert werden. Grundlage des Kolloquiums bilden die Präsentation und die kritische Diskussion von Dissertationsprojekten aus dem TeilnehmerInnen-Kreis, welche durch themenspezifisch ausgewählte ExpertInnen begleitet wird. Bei Bedarf sollen Teilfragen auch Gegenstand intensiverer Beratung werden können. Außerdem kann im Rahmen des Kolloquiums auch Hilfestellung bei der Suche nach Zweit- oder Drittgutachtern gegeben werden. Zu dem ExpertInnenkreis gehören u.a.: Prof. T. Borde ❙ Prof. P. Gromann ❙ Prof. A. Heinz Prof. E. v. Kardorff ❙ Prof. A. Kuhlmey Dr. Dr. S. Weinmann ❙ Prof. H.-U. Wittchen Prof. R.-B. Zimmermann ❙ Mitglieder des DGSP-Fachausschusses Forschung

Erster Termin des DoktorandInnen-Kolloquiums: Freitag, 19. Februar 2010, ab 11:00 Uhr in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Mitte (Berlin) Haben Sie Interesse, an dem geplanten sozialpsychiatrischen DoktorandInnen-Kolloquium teilzunehmen? Dann lassen Sie uns Ihre Rückmeldung zu folgenden Fragen zukommen: ❚ Wie ist das Thema bzw. der Gegenstand Ihres Promotionsvorhabens und welchem Erkenntnisinteresse soll es dienen? ❚ In welchem Stadium Ihres Promotionsvorhabens befinden Sie sich? (Themeneingrenzung, Planung, Durchführung, schriftliche Ausarbeitung etc.) ❚ An welchem Fachbereich verfassen Sie Ihre Dissertation? ❚ Zu welchen (Teil-) Aspekten Ihrer Arbeit wird vor allem Beratung benötigt? ❚ Was erwarten Sie von dem geplanten Kolloquium? ❚ Sind Sie eher an einer kontinuierlichen oder einer einmaligen Teilnahme an dem Kolloquium interessiert? Ihre Rückmeldung senden Sie bitte per Mail an die Sprecherin des Fachausschusses Forschung der DGSP, Dr. Karin-Maria Hoffmann: [email protected]

Reinhard Strecker ist Diplom-Psychologe bei Horizonte gGmbH in Altenburg. Kontakt: DGSP-Landesverband Thüringen e.V., Tungerstr. 9, 99099 Erfurt; Tel.: (03 61) 65 39-01 12; E-Mail: [email protected]

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Ausschreibung

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Forschungspreis der Deutschen

Gesellschaft für Soziale Psychiatrie für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie

Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP) verleiht im Jahr 2010 zum siebten Mal einen Forschungspreis für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie. Der Preis ist mit 2.500 Euro dotiert. Er wird an einzelne WissenschaftlerInnen oder Forschungsgruppen auf Vorschlag des Fachausschusses Forschung durch den Vorstand der DGSP verliehen und anlässlich der DSGP-Jahrestagung im November 2010 in Frankfurt am Main durch den Vorsitzenden der DGSP überreicht. Der Fachausschuss wird von einem externen wissenschaftlichen Beirat beraten, zu dem Prof. Dr. Petra Gromann (Fulda), Prof. Dr. Thomas Kallert (Dresden), Prof. Dr. Wulf Rössler (Zürich), Ulrike Villinger (Darmstadt) und Prof. Dr. Johannes Wancata (Wien) gehören. Der Preis kann für theoretische und empirische Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie verliehen werden. Kriterien für die Vergabe sind insbesondere die Relevanz für die Versorgung psychisch erkrankter Menschen, der innovative Charakter und die methodische Qualität. Die eingereichten Arbeiten werden bei Eignung den unterstützenden Verlagen zur Veröffentlichung empfohlen. Die auszuzeichnende Arbeit darf nicht älter als zwei Jahre sein und soll sowohl als Print-Version als auch elektronisch (Word- oder PDF-Datei) eingereicht werden. Bei längeren Arbeiten muss eine Zusammenfassung von maximal zehn Seiten beigelegt werden. Die Arbeiten können sowohl von den AutorInnen selbst als auch durch Dritte eingereicht

werden und sind mit Angaben zur Person der WissenschaftlerIn bzw. zur Zusammensetzung der Forschungsgruppe bis zum 28. Februar 2010 einzusenden an die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie Zeltinger Straße 9, 50969 Köln E-Mail: [email protected] Sponsoren des Forschungspreises sind: ParanusVerlag (Neumünster), Psychiatrie-Verlag (Bonn), Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e.V. (BerlinBrandenburg), Kölner Verein für Rehabilitation sowie die Bundesgeschäftsstelle der DGSP in Köln und die DGSP-Landesverbände Westfalen, Niedersachsen, Rheinland, Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Brandenburg. Der Fachausschuss Forschung der DGSP begrüßt das Sponsoring für den Forschungspreis durch freigemeinnützige Vereine sowie nichtkommerzielle Institutionen ausdrücklich. Kontaktaufnahme für die Aufnahme in die Sponsorenliste bitte an: Richard Suhre (Geschäftsführer) – Bundesgeschäftsstelle – Zeltinger Str. 9, 50969 Köln Tel.: 02 21 - 51 10 02 Köln, im Oktober 2009 www.psychiatrie.de/dgsp/forschungsausschuss/

Posterpreis DGSP-Posterpreis für junge ForscherInnen im Rahmen des 7. Forschungspreises für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie Im Jahr 2010 wird zum dritten Mal ein Posterpreis für praxisbezogene Forschungsarbeiten junger ForscherInnen auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie vergeben. Er ist mit 500 Euro dotiert und wird auf der DGSP-Jahrestagung 2010 vom Vorstand der DGSP auf Vorschlag einer Fachjury verliehen. Die Kriterien für die Vergabe sind die Relevanz für die Versorgung psychisch erkrankter Menschen, der innovative Charakter, die methodische Qualität sowie die Originalität. Die eingereichten Poster werden (sofern sie den Bedingungen entsprechen) auf der DSGP-Jahrestagung 2010 öffentlich präsentiert. Die Entscheidung über die Prämierung fällt eine Jury. Die Ausschreibung richtet sich ausschließlich an Studierende und AbsolventInnen von Universitäten und Fachhochschulen, deren Studienabschluss nicht länger als zwei Jahre zurückliegt. Angesprochen sind damit beispielsweise auch AbsolventInnen von Pflegestudiengängen und Studiengängen der Sozialarbeit/-pädagogik und des Sozialmanagements. Eingereicht werden sollen das Poster (zunächst als Ausdruck im Format DIN A4 oder DIN A3 und als Datei) und ein Abstract (Kurzbeschreibung auf maximal einer DIN-A4-Seite: Thema/Fragestellung, Inhalt, Methode, Ergebnisse, Schlussfolgerungen).

Bewerbungen für den Posterpreis sind mit kurzen Angaben zur Person bis zum 28. Februar 2010 einzusenden an die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie Zeltinger Straße 9, 50969 Köln E-Mail: [email protected] Sponsoren des Forschungspreises sind: ParanusVerlag (Neumünster), Psychiatrie-Verlag (Bonn), Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e.V. (BerlinBrandenburg), Kölner Verein für Rehabilitation sowie die Bundesgeschäftsstelle der DGSP in Köln und die DGSP-Landesverbände Westfalen, Niedersachsen, Rheinland, Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Brandenburg. Der Fachausschuss Forschung der DGSP begrüßt das Sponsoring für den Forschungspreis durch freigemeinnützige Vereine sowie nichtkommerzielle Institutionen ausdrücklich. Kontaktaufnahme für die Aufnahme in die Sponsorenliste bitte an: Richard Suhre (Geschäftsführer) – Bundesgeschäftsstelle – Zeltinger Str. 9 50969 Köln Tel.: 02 21 - 51 10 02 Köln, im Oktober 2009 www.psychiatrie.de/dgsp/forschungsausschuss/