9. Fachtagung Psychiatrie Berlin, Ein deutsches Dilemma Integrierte Versorgung und ihre Fallstricke

9. Fachtagung Psychiatrie Berlin, 02.03.2017 Ein deutsches Dilemma – Integrierte Versorgung und ihre Fallstricke DR. MED. IRIS HAUTH PAST-PRÄSIDENTI...
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9. Fachtagung Psychiatrie Berlin, 02.03.2017

Ein deutsches Dilemma – Integrierte Versorgung und ihre Fallstricke

DR. MED. IRIS HAUTH PAST-PRÄSIDENTIN DER DGPPN ÄRZTLICHE DIREKTORIN DES ALEXIANER ST. JOSEPH-KRANKENHAUS BERLIN WEIßENSEE

ST. JOSEPH KRANKENHAUS

Zentrum für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik 361 Betten/inklusive 86 Tagesklinikplätze, 49 Betten Neurologie, 43 Plätze TWG, PIA, MVZ, 2 Seniorenpflegeheime

2

AGENDA 1. Ist-Situation der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

2. Integrierte Versorgung SGB V §140 3. Beispiele der integrierten Versorgung

4. Fazit

Ambulante Versorgung – vertragsärztliche Versorgung

5.699 Psychiater, Neurologen, Nervenärzte

6.084 Ärztliche Psychotherapeuten

22.547 Psychologische Psychotherapeuten

Quelle: Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister, KBV (Stand 31.12.2015)

 83 % arbeiten mit psychotherapeutischem Fokus (Tendenz steigend!)

Behandlungsfälle nach Arzt-bzw. Psychotherapeutengruppe im Quartal Behandlungsfälle/Arzt

450



Ein Psychiater in Niederlassung behandelt durchschnittlich 400 Fälle/Quartal (Range: 200 bis über 800 Fälle) und erhält ca. 50 € pro Quartal und Fall



In psychotherapeutischen Praxen liegt die Fallzahl bei ca. 50 Fälle/Quartal bei einem Honorar pro Therapieeinheit (50 Minuten) von ca. 82 €

411,95

400 350 300

284,63

250 200 150 100 35,33

50

50,87

47,86

46,65

AP

Psychosom. Medizin

PP

0 KJPP

KJP

Psychiatrie

Quelle: Abrechnungsdaten der KBV. Leistungen vom Quartal 1/2010 der GKV-Abrechnungen im gesamten Bundesgebiet. In Studie zur Versorgungsforschung: Spezifische Rolle der Ärztlichen Psychotherapie (2011)

Wer erhält Psychotherapie? Anteil der Patientenkohorte Organische und WER erhält PSYCHOTHERAPIE? Substanzbedingte

Nur 30 % „schwer“ psychisch krank

psychische Störungen; Schizophrenie, 13% schizotype und wahnhafte Störungen; 4%

Affektive Störungen; 70% Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen; 82%

Verhaltensauffälligkeit en mit körperlichen Störungen; 12%

Intelligenzstörungen; 1%

Patienten mit substanzbedingten Störungen, Demenzen und Schizophrenien erhalten kaum Psychotherapie

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen; 17%

Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend; nicht näher 11% bezeichnete psychische Störungen; 3%

0%

10%

20%

30%

Quelle: KBV-Auswertung (2014)

40%

50%

60%

70%

80%

90%

Zwischenfazit  Überlange Wartezeiten: wochenlanges Warten auf einen Termin beim Facharzt oder Psychotherapeuten ist unzumutbar und führt zur Chronifizierung.  Mangelhafte Bedarfsplanung: der Unterversorgung in ländlichen Regionen muss durch eine Reform der Bedarfsplanung begegnet werden.  Schlechte Honorierung: ca. 50€ pro Quartal und Fall für ambulante Psychiater sind nicht bedarfsgerecht.  Angebotslücken in der Psychotherapie: Menschen mit Demenz, Suchterkrankungen, schizophrene und bipolaren Psychosen müssen auch Psychotherapie erhalten können.  Intransparenz der Zuständigkeiten: die bedürftigen Patienten benötigen Hilfe bei der Orientierung im Versorgungssystem.  Fehlende Koordination: Die Versorgungsangebote müssen besser koordiniert und gesteuert werden.  Leitliniengerechte Behandlung nicht erreicht: neue Instrumente zur Qualitätssicherung werden benötigt.

Abbau stationärer Betten in der Psychiatrie

52.923

 Seit 1970er Jahren über 100.000 Betten abgebaut!

Quelle: Statistisches Bundesamt (2015)

Vielfalt der Behandler

Komplett zersplittertes Versorgungs- und Finanzierungssystem Niedergelassener Tagesklinik – SGB V Beschäftigung, Psychiater – SGB V Ambulanter Betreutes Soziotherapie – Tagesstätten, Zuverdienst Hausarzt – SGB V Wohnen SGB V Beratungsstellen Rehaklinik SGB VI Psychologischer Psychotherapeut – SGB V Psychiatrische Klinik – SGB V Ambulante Pflege – SGB V

Eingliederungs hilfe SGB XII

Bild: Shutterstock (Anatoly Maslennikov)

Ambulante Rehabilitation – SGB V & VI Ärztlicher Psychotherapeut Berufliche – SGB V Institutsambulanz Reha SGB IX SGB V Sozialpsychiatrischer Dienst

Fazit  Ungebremste Leistungsverdichtung in der Psychiatrie: Das Erbringen von immer mehr Therapien in immer kürzerer Zeit ist nicht leistbar und schadet den Patienten.  Mangelhaftes Entlassmanagemet: Beziehungskontinuität muss über die Sektoren hinweg gewährleistet werden.  Fehlende Koordination: Die Übergänge zwischen ambulantem und stationären Bereich müssen besser koordiniert und strukturiert werden.  Fatale Konsequenzen der Versorgungsprobleme: Späte und nicht abgeschlossene Behandlungen, Versorgungslücken, fehlende Nachsorge und berufliche Integration führen zu Verschlechterung und Chronifizierung der Erkrankungen.

AGENDA 1. Ist-Situation der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

2. Integrierte Versorgung SGB V §140 3. Beispiele der integrierten Versorgung

4. Fazit

Schnittstellenproblematik  Ungelöste Schnittstellenproblematik löst zentrale Defizite in Gesundheitsversorgung aus  Vermeidbarer Kommunikationsaufwand  „unnötige parallele Vorhaltung medizinischer Kapazitäten“  Konsequenz: Qualitätsprobleme und unnötige Kosten (schlechter und teurer)

Folgen für Qualität Folgen der sektoralen Trennung:  „Diskontinuität der Behandlung, Betreuung und Verantwortlichkeit“  „Belastung (…) mit unnötiger und teilweise riskanter Diagnostik“  „Unterbrechungen der Therapie mit der damit einhergehenden Gefahr des Wirkungsverlustes“  „Informationsdefizite“  „nicht optimal aufeinander abgestimmte Behandlungen“  „unzureichende oder fehlende Nachsorge“

→ Konsequenz:  Schlechtere Heilungschancen  Höhere Sterblichkeitsrate (insb. bei chronischen Erkrankungen)  Geringere Lebensqualität

Gesetzliche Grundlage der IV  Erstmals wurde im Jahr 2000 die gesetzliche Grundlage geschaffen – doch der Reformversuch zeigte zunächst kaum Wirkung.  2004 wurde sie modifiziert: (i) einzelvertragliche Absprachen können nun auch ohne die Spitzenverbände getroffen werden und (ii) für 2004 – 2008 erfolgte eine Anschubfinanzierung → viele Aktivitäten  Mehrfach modifiziert, zuletzt mit dem Versorgungsstrukturgesetz (2012)

Vertragspartner an der IV IV-Vertragspartner der Krankenkassen nach §140b SGB V:  Haus- und Fachärzte, Zahnärzte (diese müssen zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sein)

 Krankenhäuser  Einrichtungen, z.B. MVZ  Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen

 Nicht ärztlicher Partner, wie z.B. Apotheken  Hersteller von Medizinprodukten (seit 2011) → Keine Beteiligung der Kven möglich! (KV-Vertragsmonopol für ambulante Versorgung aufgebrochen)

Was ist integrierte Versorgung? Zahler (Krankenversicherungen)

Versicherungsvertrag

Versorgungs- und Vergütungsvertrag

Regulierung

Versicherte/ Patienten

Arztpraxen Reha Krankenhäuser

Pharmahersteller/ Apotheken Ambulante & stationäre Pflege

Wie integriert ist IV?

Quelle: Schreyogg, J./Weinbrenner, S./Busse, R. (2006): Leistungsmanagement in Netzwerken der integrierten Versorgung

Merkmale der IV  Übergänge innerhalb des ambulanten Sektors: hausärztliche Versorgung ↔ fachärztliche Versorgung  Übergänge zwischen den Sektoren: ambulanter Sektor → stationärer Sektor → ambulanter Sektor  Übergänge innerhalb des stationären Sektors: akutmedizinische Versorgung → rehabilitative Versorgung  Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen: Medizin/Pflege/Sozialarbeit/andere betreuende Berufsgruppen (Gemeindeschwestern etc.)

Verträge zielen auf  Lückenlose Versorgung → bessere Koordination der Behandlungsabläufe u.a. durch

 Informationsaustausch zwischen Leistungserbringern  Versorgung nach evidenzbasierten Standards/Leitlinien

 Verweildauerverkürzung im Krankenhaus

Vergütung  Die Vergütung der integrierten Versorgung handeln die Vertragsteilnehmer autonom und ohne gesetzliche Vorgabe aus und legen diese in den Verträgen fest.  Mögliche Vergütungsformen:  Einzelleistungsvergütung  Kopfpauschalen  Fallpauschalen  Komplexpauschalen  U.a.

Anzahl der IV-Verträge zwischen 2005 und 2011 Anzahl der Verträge 7000

6400

6262

6374

6339

2008

2009

2010

2011

6000 5069

5000 4000

3309

3000 2000

1913

1000 0 2005

2006

2007

Quelle: Darstellung nach Daten der BQS (2008) sowie der SVR (2012)

IV – Wer mit wem und wofür? 35% 29,10%

30% 25%

19,31%

20% 15%

18,90%

17,20%

11,30%

10% 5% 0%

Quelle: Darstellung nach Daten SVR (2007)

3,00%

3,20%

IV – Wer mit wem und wofür? Vertragsgegenstand

Anzahl

Anteil

Hüft- und Kniegelenk

611

25%

Ambulante Operationen

247

10%

Orthopädie

203

8%

Herz- und Kreislauf

165

7%

Chirurgie

158

6%

Krebserkrankungen

100

4%

Psychische Erkrankungen

100

4%

Gynäkologie

94

4%

Fachübergreifende Behandlung

9

0,37%

Quelle: Darstellung nach Daten SVR (2007)

!

Zusammenfassung Vor- und Nachteile

Krankenkasse

Vorteile

Nachteile



Wettbewerbsvorteile durch Qualität Kosteneinsparungen durch Verzahnung der Sektoren



Möglichkeit von üblichen Vergütungsformen abzuweichen Gemeinsame Nutzung von Technologien Mögliche finanzielle Vorteile Imageförderung



Qualitativ verbesserte Versorgung Bessere Steuerung (Vermeidung von Doppeluntersuchungen, Wartezeiten und unnötigen Krankenhausaufenthalten) Umfassende prä- und postoperative Betreuung

 Eingeschränkte Arztwahl  Weitergabe der Patientendaten → „gläserner Patient“



Leistungserbringer

   

Patient

 





 

Eingeschränkte Möglichkeit der Definition der Anfangskosten Evtl. Kosten für wissenschaftliche Begleitung Unterordnung unter medizinische und wirtschaftliche Standards/Leitlinien (Anfängliche) Mehrarbeit, kosten wg. Umstrukturierung Kostenrisiko für Inanspruchnahme von Ärzten außerhalb des Versorgungsnetzes

Forderungen an eine funktionierende integrierte Versorgung  Keine neue Sektorisierung durch eine Vielzahl IV-Einzelverträgen  Transparenz und Übersicht in der IV-Versorgung  Aufhebung der Schnittstellenproblematik  Erfolgreiche Qualitätssicherung

 Adäquate Honorierung  Nachgewiesener Nutzen für die Patienten

 EDV-basierte Dokumentation  Flächendeckende Ausweitung erfolgreicher IV-Modelle

AGENDA 1. Ist-Situation der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen

2. Integrierte Versorgung SGB V §140 3. Beispiele der integrierten Versorgung

4. Fazit

Innovative Versorgungsformen Instrumente der Gesetzgebung §73 b/c SGB V

Hausarzt-/Facharztverträge

Mandatierung der Niedergelassenen je Bundesland, einzelne Kassen

§140 a-d SGB V

Integrierte Versorgung

Einschreibung der Versicherten, einzelne Kassen, Landesgesundheitsbehörde

§24 BPflV, §63-65 SGB V

Regionales Psychiatriebudget

Alle Kassen

§64b SGB V

Modellvorhaben – PsychVVG

Evaluation, Daten an das InEK, einzelne Kassen

Hamburger Modell nach §140 SGB V  Hamburg Eppendorf Universitätsklinik  Laufzeit seit 2007  KK: AOK-RhHH, DAK, HEK, IKK classic  VP: UKE (Lambert, Bock)

 Vergütung: Jahrespauschalen incl. KH  Indikation: Boderline; F2-F4

 Evaluation: ausführlich, KH-Vermeidung, Verlaufsbesserung objektiv und subjektiv → Steuerung durch das Krankenhaus

Integrierte Versorgung von mehrfacherkrankten Patienten (18+)

Erwachsenenpsychiatrie Managed-Care Netzwerk mit ‚Capitation‘-Finanzierung (Jahrespauschale)  Psychosen Spezialstation  Akutstation  Adoleszenten Spezialstation

 Tagesklinik Psychosen Spezialstation  Krisentagesklinik Jugendliche und junge Erwachsene  Tagesklinik Arbeitstherapie

Therapeutisches Assertive Community Treatment (TACT)

 Psychosen Spezialambulanz  Peer- und Angehörigenbegleitung

 Niedergelassene Psychiater  Pflegedienste  Therapeutische Wohneinrichtungen

Multidimensionaler 4-Jahresverlauf (Erst- und Mehrfacherkrankte; N= 171) Erfolgsvariablen

Psychopathologie (BPRS) Schwere der Erkrankung (CGI-S)

Funktionsniveau (GAF) Lebensqualität (Q-LES-Q-18)

Mixed effect Model Repeat Measurement (MMRM, 4 Jahre)

Mean (SD) Aufnahme

2 Jahre

4 Jahre

80.3 (19.7) 50.3 (11.7) 47.8 (10.9)

5.8 (0.9)

4.0 (1.0)

3.7 (1.0)

35.9 (11.4) 58.9 (11.9) 63.7 (12.9)

2.2 (0.6)

Quelle: Lambert et al. PPT, submitted.

3.3 (0.6)

3.4 (0.6)

Df (time)

Time effect, F p-Wert

7/205.7

13.3