Reinhard Schmidt-‐Rost Semesterschluss-‐Gottesdienst am 2.2.2014 Liebe Gemeinde, Die Predigtreihe „Polyphonie des Glaubens“ endet heute, Prediger und Musiker legen eine Pause ein, aber die Polyphonie des Glaubens hört niemals auf, sie ist ein ewiger Klang, ein unendlicher Gesang, und man kann sich nie genug darin üben. Wir versuchen es heute von Chor und Orchester gestützt zwar nicht vielstimmig, aber wenigstens vierstimmig. So lassen Sie uns singen „Der Morgenstern ist aufgedrungen“, und wer es vermag, mag seine Stimme halten, der Chor wird uns stützen. +++++ Liebe Gemeinde! Polyphonie ist die Kunst, viele Stimmen zu verbinden, ohne sie zur Einheit zu zwingen. Polyphone Musik klingt mitunter ziemlich bewegt, aufgeregt, ja sogar unharmonisch; ob Sie nun die Kunstwerke alter italienischer Meister hören und lieben, oder die Fuge singen, die Bachs Kantate „Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei“ einleitet: Auch sie hinterlässt, so kurz sie ist, doch einen Eindruck von verwirrender Disharmonie. Der Choral mildert diesen Eindruck, verwischt ihn aber nicht ganz. Lassen Sie die beiden Ecksätze der Kantate noch einmal auf sich wirken: Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei, und diene Gott nicht mit falschem Herzen! Ich armer Mensch, ich armer Sünder Steh hier vor Gottes Angesicht. Ach Gott, ach Gott, verfahr gelinder Und geh nicht mit mir ins Gericht! Erbarme dich, erbarme dich, Gott, mein Erbarmer, über mich!
Lied 244, 4+5 Fugen sind die Hochform vielstimmiger Musik und damit zugleich eine besondere Würdigung der Individualität, jede einzelne Stimme ist gleich wichtig, aber nur im Zusammenhang der ganzen Komposition kommt ihr Gewicht zur Geltung; hier kann nicht jede Stimme allein, für sich wirken, und
doch ist jede einzelne Stimme unverzichtbar. Wohl sind die Einzelstimmen gelegentlich auch für sich eindrucksvoll, aber wirksam nur, wenn sie sich in die Gesamtkomposition einfügen. Liebe Gemeinde, Die gesellschaftlich möglichst günstige Gestaltung von Vielfalt beschäftigt die Dichter und Denker, die Richter und Lenker, und nicht zuletzt die bildenden Künstler und Komponisten in den Kulturen der Menschheit seit alter Zeit. Vielfältig sind die Versuche, die Vielfalt menschlichen Lebens zu ordnen, zu lenken, zu gestalten. Es hat sich dabei längst herausgestellt, dass eine gewaltsame Vereinheitlichung genauso schädlich ist wie eine Unordnung des schrankenlosen „Jeder gegen jeden“. Die Erzählung von Noah und der Sintflut, Predigttext nach der Ordnung für den 4. Sonntag nach Trinitatis, ist ein Versuch, die Vielfalt menschlichen Lebens zu begreifen und zu ordnen und im Verlauf der Erzählung die Überzeugung zu vermitteln, dass Gewalt als Mittel zur Gestaltung von Gesellschaft unbrauchbar, ja lebensfeindlich ist. Unauslöschlich ist die Erzählung von der Arche und von Noah in die Geschichte der Menschheit eingeschrieben, für alle Zeit, so lange die Erde besteht und Frost und Hitze sich ablösen, Saat und Ernte aufeinander folgen. Nicht von ungefähr ist auch für den Islam Noah eine wichtige Gestalt, einer der ersten Propheten. Lange bevor Komponisten die Polyphonie der Klänge kunstvoll zu gestalten lernten, war der Regenbogen, die Aufteilung der Einheit des weißen Sonnenlichts als Symbol der Vielfalt aus Einheit bekannt und hat mit seinem Farbenspiel die Maler zu ihren Kreationen angeregt. So lag es auch nahe, diese besondere Naturerscheinung als Zeichen für einen wesentlichen gesellschaftlichen Fortschritt zu wählen: Gewalt soll als Mittel zur Ordnung von Gesellschaft ausgeschlossen werden, die Kraft der Einheit und Vereinheitlichung, die das Sonnenlicht physikalisch-physisch in das Leben der Menschheit strömen lässt, wird gemildert im Spektrum der Farben. Der Begriff Lichtbrechung hat sich in unserer Sprache für dieses Phänomen eingebürgert, eine gewaltsame Bezeichnung für einen Vorgang der Milderung, wenn aus dem harten, hellen Licht milde Vielfarbigkeit wird. Der Regenbogen bildet in der Sintfluterzählung das Zeichen eines Kulturwandels. Hatte Gott am Anfang noch die Auslöschung der Menschheit wegen ihrer Gewalttat angekündigt, so hat er sich nach der Flut eines anderen, Besseren besonnen. Nicht, dass sich die Menschheit eines Besseren hätte
belehren lassen, keineswegs, so weit sind wir auch heute noch nicht, sondern Gott hat eingesehen, dass die Gewalt der Sintflut gerade nicht dazu angetan ist, die Menschen zu einem gewaltfreieren Umgang miteinander zu locken. Wenn man die biblische Erzählung ihres mythischen Gewandes entkleidet, so bleibt auch dem rationalen Räsonieren, dem kritischen Denken diese kulturpraktisch wichtige Erkenntnis übrig: Gewalt führt nicht zur Verbesserung des gemeinsamen Lebens auf der Erde. Wenn man es nun kulturgeschichtlich weiter verfolgt, wie die abrahamitischen Religionen mit dem Gewaltproblem umzugehen versuchten und es weiterhin versuchen, so kann man sich der Einsicht nicht verschließen, dass der Opfertod Jesu der bleibend bedeutsame Versuch ist, die Menschheit von ihrer Fixierung auf Gewalt zu lösen. Wenn sich Gott selbst aller Gewalt entäußert und Knechtsgestalt annimmt, seinen Jüngern die Füße wäscht und für die Lehre, Gott sei ein barmherziger Vater, in den Tod geht, dann wirkt das auf die Menschheit, - und es hat gewirkt. Liebe Gemeinde, es mag sein, dass meine kulturhistorischen Erkundungen manchen unter uns nicht fromm genug erscheinen, zu sehr auf Plausibilität erpicht sind. Ich kann aber als Prediger im Dienst einer modernen Bildungseinrichtung gar nicht anders, als mir immer wieder Rechenschaft darüber zu geben, warum ich die Geschichten der Bibel immer neu in die Gegenwart zu transformieren versuche. Ich kann Sie, liebe Gemeinde, nicht nach der Devise behandeln: Friss Vogel oder stirb. Ich meine, sie sollten wissen, was Sie glauben, wenn sie glauben, und wie Ihr Glaube an den barmherzigen Gott unsere Welt verändert. Denken Sie etwa an den Beitrag, den unsere Musiker zur Entfaltung einer polyphonen Kultur leisten, oder denken Sie an die sozialen Initiativen, die in diesen Gottesdiensten seit langem gefördert werden oder von engagierten Gliedern unserer Gemeinde neu in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden: Madagaskar, die Philippinen und heute Burkina Faso, Dies sind alles Werbeaktionen für Barmherzigkeit in der Gesellschaft gestützt auf den Glauben, dass wir alle aus der Barmherzigkeit Gottes unser Leben haben.
Auch wenn es plausibel ist, das uns der entgegenkommende Gott mit seiner Liebe einen vielfarbigen Frieden bescheren will, so glauben es längst nicht alle, und auch jedem von uns fällt es immer wieder schwer, solches zu glauben, denn das Trachten des Menschenherzen ist böse von Jugend auf, oder freundlicher gesagt: Wir können es uns nicht gut vorstellen, dass wir überleben, ohne uns gegen unsere Mitmenschen durchzusetzen. Wir stehen zu nahe bei uns selbst, um Gottes Güte allen zu gönnen, aber Gott wirbt immer wieder um uns, auch heute … auch durch die Sintflut-Geschichte. Sie beginnt mit den Worten Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. und sie endet mit den Worten: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Gott scheint zu resignieren, aber er hat nicht aufgegeben, er kommt den Menschen immer wieder nahe, sendet seine Propheten … sendet Jesus … und alle, die von Jesus fasziniert sind, tragen seine Botschaft weiter: Liebe und Barmherzigkeit sind die Kräfte, die die Welt zum Guten bewegen, die eine geistige Einheit hervorrufen und nicht zwingen: Die Farbenpracht des Lebens frisch gereinigt mit Regenfluten himmlischer Gewalt, versunken, was bisher auf Erden galt, und weggeschwemmt, was Mensch und Tier gepeinigt, womit selbst Brüder täglich sich gesteinigt, -‐ verwandt in Wesen, in Gestalt, und suchten in Gemeinschaft Halt -‐ belastete grad' die, die eng vereinigt,
soll man es "Sünde" nennen wie die Ahnen, Empörung gegen Menschen, gegen Gott? Erschloss die Sintflut wirklich neue Bahnen, treibt nicht die Selbstsucht weiter und unendlich ihren Spott? Ich mag nicht denken, dass der Regenbogen als Gottes Friedenszeichen hat getrogen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.