Schlingensief und das Operndorf Afrika

Schlingensief und das Operndorf Afrika Jan Endrik Niermann Schlingensief und das Operndorf Afrika Analysen der Alterität Jan Endrik Niermann Wien...
Author: Marie Fertig
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Schlingensief und das Operndorf Afrika

Jan Endrik Niermann

Schlingensief und das Operndorf Afrika Analysen der Alterität

Jan Endrik Niermann Wien, Österreich

Forschungsarbeit am Institut für Internationale Entwicklung und an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, Österreich

ISBN 978-3-658-01054-6 DOI 10.1007/978-3-658-01055-3

ISBN 978-3-658-01055-3 (eBook)

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Inhalt

Vorwort: Anti-Bayreuth anders (von Jens Kastner) ........................................9 1 Einleitung – Schlingensief und Alterität.......................................................15 1.1 Alterität in der Schwebe von Herrschaft und Freiheit .............................18 1.2 Kontextualisierung des Forschungsobjekts ..............................................22 1.3 Zur Methodologie der Alteritätsüberlegungen.........................................24 1.4 Zum Aufbau der Arbeit .............................................................................26 2 Annäherungen an die Alterität ......................................................................29 2.1 Figuren der Alterität: Fremde und Andere ...............................................29 2.2 Strukturelle und begriffliche Ebenen der Alterität ..................................35 2.3 Postkoloniale Repräsentationen der Alterität...........................................37 2.4 Alterität als Othering bzw. Binaritäten.....................................................40 2.5 Eine Kulturtheorie der ‚europäischen’ Fiktionen ....................................42 2.5.1 ‚Andere’ mit Defiziten: Kolonial- und Entwicklungsdiskurs.......44 2.5.2 Exotisierung als Ausdrucksform der Alterität ...............................46 2.6 Das Aufbrechen binärer Differenzen........................................................48 2.6.1 Neu-Verortungen der Alterität .......................................................51 2.6.2 Ambivalenz der Alterität.................................................................52 2.6.3 Hybridität und Dritter Raum...........................................................54 2.6.4 Alterität als Mimikry.......................................................................56 2.6.5 Die Konstitution kultureller Differenzen .......................................58 2.7 Bestimmungen des Post-Development zur Alterität................................59 3 Christoph Schlingensief und das Operndorf Afrika ..................................65 3.1 Christoph Schlingensief – zur Person und seinem Werk ........................65 3.1.1 Psychogramm: ein Blick auf die Person Schlingensief ................67 3.1.2 Grenzüberschreitungen als Prinzip von Schlingensiefs Kunst .....70 3.1.3 Inszenierungen des Biographischen als Ausdrucksform Schlingensiefs..................................................................................74 3.1.4 Karnevalisierung und Sprachversagen...........................................77 3.1.5 Schlingensiefs Glaubensbekenntnis: „Scheitern als Chance“ ......79 3.1.6 Gesamtkunstwerk ............................................................................80

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Inhalt

3.2 Das Operndorf und Festspielhaus Afrika .................................................81 3.2.1 Die Grundsteinlegung in Afrika .....................................................82 3.2.2 Europa: das verdorbene und entfremdete Ich ................................85 3.2.3 Afrika: das verborgene und ungetrübte Ich ...................................87 3.2.4 Befreiung aus getrennten Welten ...................................................88 3.2.5 Die erweiterte Oper als zirkulierendes Gefäß................................91 3.3 Kultur-, kunst- und entwicklungstheoretische Analysen des ‚Operndorf Afrika’.....................................................................................93 3.3.1 Via Intolleranza II ...........................................................................94 3.3.2 ‚Entwicklungspolitische’ Dimensionen .......................................100 3.3.3 Die soziale Plastik .........................................................................105 3.3.4 Ästhetische Fremderfahrungen.....................................................107 3.3.5 Politik mit Bildern .........................................................................110 3.3.6 Kunst und Freiheit .........................................................................111 3.3.7 Relativitäten der Repräsentationen des ‚Anderen’......................113 3.3.8 Abschied von Authentizität und Imagination ..............................115 3.4 Zwischenfazit I.........................................................................................117 4 Subjekttheoretische Strukturen und Kontingenzen: Alterität im Fokus des Subjekts.........................................................................................121 4.1 Das ‚zentrierte’ Subjekt der klassischen Subjektphilosophie ...............123 4.2 Die phänomenologische Uneinholbarkeit des Anderen ........................125 4.2.1 Sartre und de Beauvoir: zur Phänomenologie der Alterität........129 4.2.2 Waldenfels und Lévinas: Philosophie der Fremd- und Andersheit......................................................................................132 4.3 Subjekt soziologisch ... und dann kam die Interaktion ..........................137 4.4 Kulturwissenschaftliche Subjektanalyse ................................................138 4.4.1 Dezentrierungen des Subjekts ......................................................140 4.4.2 ‚Cultural Studies’ – das ‚moderne’ kulturtheoretische Feld.......143 4.4.2.1 Kulturalismus und Strukturalismus.................................145 4.4.2.2 Hegemoniale Verbindungspunkte ...................................146 4.4.2.3 Diskurs, Macht und Subjekt ............................................148 4.4.2.4 Strategien, Taktiken und Politik – Praktiken des Widerstands ......................................................................150 4.4.3 Poststrukturalismus: Dekonstruktion und das ‚konstitutive’ Außen .............................................................................................152 4.5 ‚Kopernikanische Wende’ der Subjektkonzeption ................................157 4.5.1 Lacans Register des Symbolischen, Imaginären und Realen .....161 4.5.2 „Fremde sind wir uns selbst“........................................................164 4.6 Zwischenfazit II .......................................................................................166

Inhalt

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5 Wegbereiter der Alterität: Enrique Dussel................................................169 5.1 Leben, Werk und Kontexte Dussels .......................................................175 5.1.1 Bondy versus Zea ..........................................................................176 5.1.2 Dependenztheorie..........................................................................178 5.2 Destruktionen, Dezentrierungen und Re-Konstruktionen .....................181 5.2.1 Recuperación latinoamericana......................................................181 5.2.2 ego conquiro und ego cogito ........................................................184 5.2.3 Ontologische Differenz .................................................................187 5.2.4 Konstruktion der Moderne: ‚Mythos der Moderne’....................189 5.2.5 Destruktion der ‚modernen’ europäischen Denktradition ..........194 5.3 Die Metaphysik der Anderen und die trans-ontologische Differenz ....198 5.3.1 Lévinas radikale Alterität des ‚Anderen-im-Selben’ ..................200 5.3.2 Exteriorität .....................................................................................204 5.3.3 Analektik als positive Dialektik ...................................................206 5.3.4 Nähe als Praxis der Befreiung ......................................................208 5.3.5 Die Architektur einer Ethik der Befreiung ..................................210 5.4 Transmoderne...........................................................................................212 5.4.1 Concientización .............................................................................215 5.4.2 Abgrenzungen zur Postmoderne ..................................................217 5.5 Zwischenfazit III ......................................................................................222 6 Vollstrecker der Alterität: postkoloniale / postokzidentale Theorien ...225 6.1 Postkoloniale Betrachtungen der Alterität .............................................225 6.1.1 Prolog: Soziohistorisches Erfahrungsumfeld ..............................225 6.1.2 Postkoloniale Anschlüsse an Enrique Dussel..............................228 6.1.3 Postkoloniale Herausforderungen im Überblick .........................232 6.1.3.1 Materialismus / Kulturalismus im Postkolonialismus ...234 6.1.3.2 Subalterne als Gestalten der Alterität..............................235 6.1.3.3 Zur Bedeutung des Präfixes ‚post’ in postkolonial ........239 6.2 Postokzidentale Diagnosen der Alterität ................................................241 6.2.1 Unterschiede von Postkolonialismus und Postokzidentalismus.244 6.2.2 Kolonialität der Macht ..................................................................246 6.2.3 Koloniale epistemische Differenz ................................................250 6.2.4 Frantz Fanon: Koloniale ontologische Differenz ........................252 6.2.5 Grenzdenken als Aushandlungszone der Alterität ......................256 6.3 Zwischenfazit IV......................................................................................260 7 Schlussbetrachtung: konkrete Utopie in den Alteritätsbeziehungen.....263 8 Bibliographie...................................................................................................273

Vorwort: Anti-Bayreuth anders

„Der Unterdrückte“, antwortet Enrique Dussel, „braucht keine Anerkennung!“ Gefragt hatte das Berliner Philosophie-Magazin den argentinisch-mexikanischen Philosophen nach der Andersheit und wie ihr begegnet werden müsse. Stattdessen gehe es um Freiheit, um „Befreiung (...) als ein Prozess des Kampfes“ (Dussel 2012/13: 23). Was Dussel hier in der Ausgabe der Zeitschrift zum Jahreswechsel 2012/2013 formuliert, kann getrost als Quintessenz seines Jahrzehnte langen Schaffens begriffen werden. Dussel, der auch in Deutschland studiert hatte und im lateinamerikanischen Kontext als einer der ganz großen Namen der Geistes- und Sozialwissenschaften gilt, blieb im deutschen Sprachraum ansonsten eher marginal rezipiert.1 Diese Tatsache allein schon scheint die Selbstbeschreibung seiner eigenen Perspektive zu bestätigen, die er als peripher kennzeichnete: vom (geopolitischen) Rand her denkend und zugleich randständig. Mit dem Randständigen und Marginalen hat sich auch der 2010 verstorbene Theater-, Fernseh- und Kunstmacher Christoph Schlingensief stets beschäftigt. Er tat dies zuweilen auch in den medialen Zentren der kulturellen Aufmerksamkeit, schließlich selbst in einer der Hochburgen der verbliebenen Hochkultur, dem Bayreuther Festspielhaus. Aber Schlingensief blieb auf Distanz, in seinem Krebstagebuch nennt er Bayreuth unzweideutig einen „Fascho-Laden“ (Schlingensief 2009: 171). Seine Begeisterung in den letzten Jahren seines Schaffens galt einem anderen Großprojekt, dem von ihm initiierten „Operndorf Afrika“ in der Nähe von Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos.2 Das mit Spielstätten, Wohnhäusern, Fußballplatz und Café geplante Operndorf soll Trennungen aufheben: traditionell-avantgardistisch die zwischen Kunst und Leben, aber auch die zwischen Entwicklungshilfe und Subsistenz, zwischen Gebern und Nehmern, zwischen Europa und Afrika. Auch die zwischen Anderem und Eigenem. In dieser Hinsicht ist das Operndorf ein Anti-Bayreuth. 1

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Einige von Dussels Schriften sind in den 1980er und frühen 1990er Jahren auf Deutsch erschienen und heute nur noch antiquarisch erhältlich, vgl. etwa Dussel 1989 und 1993. In einer deutschsprachigen Studie zur marxistischen Philosophie in Mexiko wird er als mit der Macht der Katholischen Kirche im Bunde stehend (weil befreiungstheologisch) beschrieben und fortan ignoriert (vgl. Gandler 1999: 14). Erst kürzlich erschienen ist Dussel 2012. www.operndorf-afrika.com

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Vorwort: Anti-Bayreuth anders

Wie kommen nun Dussels Befreiungstheorie und Schlingensiefs Theaterprojekt zusammen? Jan Niermann verknüpft in der vorliegenden Arbeit den theoretischen Ansatz des einen mit dem praktischen Vorhaben des anderen über das Problem der Alterität. Gegenstand der Studie ist neben den philosophischen, kulturwissenschaftlichen und soziologischen Theorien zur Alterität eben das Schlingensief'sche „Operndorf Afrika“. Sie ist als Diplomarbeit im Rahmen des Studiengangs Internationale Entwicklung an der Universität Wien entstanden und dies spiegelt sich unverkennbar nicht nur in der Diskussion von für die Fachrichtung zentralen Theorieansätzen wie der Dependenztheorie und den Postcolonial Studies, sondern auch in der Verortung des Gegenstands „in der Kontinuität oder Diskontinuität von Entwicklungshilfe und Kulturimperialismus“ (Niermann). Das Konzept der Alterität bezieht sich auf psychische, interpersonelle und soziopolitische Verhältnisse gleichermaßen und umfasst darin „Herrschaft“ (verstanden als Herr-Knecht-Beziehung) ebenso wie „Freiheit“ (im Sinne von Potenzialen der Entwicklung/Entfaltung). Dieser Hypothese gemäß und den relationalen Charakter von Alterität betonend, entwickelt Niermann einen methodischen Zugang, der das „Bild einer Montage zur Alterität zu skizzieren“ beansprucht. Dieser Anspruch wird in verschiedener Hinsicht eingelöst. Konfigurationen von Alterität sind, so stellt Niermann überzeugend heraus, mehr als wirkmächtige Beschreibungen der „Anderen“, kulturelle Selbstbestätigung und dominante Ermächtigung – Alterität ist „ein umkämpftes Terrain.“ Niermann zeichnet die Diskussionen von der Entdeckung der Alteritätsherstellung in den Sozialwissenschaften bis zur Eröffnung des „Dazwischen“ als gleichsames Theorie- und Handlungspotenzial durch die Postcolonial Studies nach. Dabei werden entscheidende Wegmarker dieser Auseinandersetzungen sowohl in positioneller Hinsicht (Zygmunt Bauman, Edward Said, Homi K. Bhabha u.a.) als auch im Hinblick auf begriffliche Verwandtschaften (Mimikry, Hybridität, Differenz u.a.) gekonnt rekonstruiert und zueinander in Beziehung gesetzt. In den weiteren Ausführungen steht das implizite Alteritätsverständnis von Schlingensiefs Operndorf im Zentrum. Dabei wird Schlingensief zunächst als Künstler präsentiert, der bzw. dessen Arbeit sich jeder „Konstruktion falscher Eindeutigkeit“ entziehe. Unter Rekurs auf die wesentlichen, sowohl feuilletonistischen wie kunsttheoretischen Positionen zu Schlingensief wird das Operndorf in dessen gesamtes Schaffen eingeordnet. Die Analyse des Operndorfes stützt sich auf Pläne und Konzepte des Künstlers selbst, und unterzieht diese einer Interpretation auf der Grundlage der eingangs geschilderten, kulturtheoretischen Konzepte, um schließlich die eigene Hypothese zu plausibilisieren. Das Operndorf sei nicht als ein weiteres „Entwicklungshilfeprojekt“ zu begreifen, sondern als deren „uneingeschränkte Transformation“. Dem Gegenstand gemäß wird die

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Arbeit Schlingensiefs auch kunsthistorisch kontextualisiert und – auf überzeugende Art und Weise – mit Begriff und Vorstellung der sozialen Plastik bei Joseph Beuys verknüpft. An dieser Stelle ist bereits das hohe Reflektionsniveau wie auch die sprachliche Unbeschwertheit zu betonen, mit der der Autor die selbstgestellte und durchaus anspruchsvolle Aufgabe bewältigt, eine komplexe philosophisch-soziologische Fragestellung auf einen kaum weniger vielschichtigen Gegenstand zu beziehen. Eine Theorie der Alterität, so Niermann, interessiert sich für das Subjekt in dem Sinne sie „zu bestimmen suche, was nicht zum Subjekt wird.“ Daher werden im Anschluss an die Operndorf-Interpretation auch philosophische und kulturwissenschaftliche Subjekttheorien diskutiert. Ziel dieser Diskussion ist es, herauszuarbeiten, dass Alterität ohne die sie umgebenden „kulturelle(n) Ordnungsstrukturen“ nicht zu denken ist. Dazu wird (mit den Ansätzen von Andreas Reckwitz und Stuart Hall) kulturtheoretisches ebenso wie philosophisches (Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir) Terrain betreten, um Subjektivität schließlich sozialtheoretisch in „Kräfte- und Machtverhältnissen“ zu situieren. Niermann diskutiert die transformativen Potenziale, die sich aus dieser Situiertheit ergeben könnten bzw. darin entdeckt wurden. Trotz der Vielzahl der besprochenen Ansätze verbleibt die Arbeit durchgängig keinesfalls auf bloß einführendem Niveau. Nach dieser theoretischen Kontextualisierung bzw. begriffsgeschichtlichen Herleitung widmet sich Niermann schließlich dem eingangs vorgestellten „Vordenker“ der Alterität genauer: Enrique Dussel. Als einem Kritiker des Eurozentrismus und Begründer der „Philosophie der Befreiung“ kommt Dussel eine besondere Rolle in der Konzeptualisierung von Alterität im Hinblick auf deren emanzipatorische Neuformulierung zu. Die Subjektkonstitution wird von Dussel – historisch wie theoretisch – als mit den Kolonisationsprozessen verknüpft ausgewiesen. Dussels Begriff der „Exteriorität“ und sein Konzept der „Transmoderne“, die der Autor in ihrer Genese und Diskussion darstellt, bilden schließlich eine der geschichtsphilosophischen Grundlagen für die postkolonialistische Auseinandersetzung mit Alterität seit den 1990er Jahren – und sie verweisen politisch laut Niermann auf eine „andere Form der Kultur“. Er weist postkoloniale und postokzidentale Theorieansätze als „Vollstrecker der Alteritätsproblematik“ und grundsätzlich als Instrumente zur Analyse von „langfristigen kulturellen, soziopolitischen und psychologischen Nachwirkungen des Kolonialismus“ aus. Theoretische Figuren wie die „koloniale Differenz“ werden als Möglichkeiten beschrieben, die beide eingangs thematisierten Dimensionen von Alterität – „Herrschaft“ und „Freiheit“ – zu fassen in der Lage sind. Das wird insbesondere an den Positionen der Gruppe „Modernität/Kolonialität“,

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einem Zusammenschluss lateinamerikanischer TheoretikerInnen, noch einmal deutlich gemacht.3 Abschließend wird, unter Bezugnahme auf die im vorherigen Kapitel ausgeführten Begrifflichkeiten, die Diskussion um die Potenziale von Alterität wieder aufgegriffen. Schlingensiefs Arbeit erscheint in diesem theoretischen Lichte (und durchaus im Einklang mit dem Künstler selbst) als alternativer, nicht-wissenschaftlicher Weg zur Umgehung und Vermeidung von Dualismen – wenn er auch die Aspekte von Gewalt und Herrschaft der Kolonialität wesentlich weniger betont und sich „der Alterität in ihrer Freiheitsform“ (Niermann) nähert. Jan Niermann hat nicht nur ein Diskursfeld durchdrungen, sondern verschiedene Denkschulen und theoretische Ansätze zueinander in Beziehung gesetzt, auf seinen Gegenstand bezogen und an ihm erprobt. Die Gründlichkeit seiner Arbeitsweise wird an Details wie etwa der Tatsache deutlich, dass auf nicht weniger als 26 Titel (Bücher und Aufsätze) allein von Dussel selbst Bezug genommen wird – ein Umfang, der das übliche Ausmaß an Literaturverweisen für ein Kapitel innerhalb einer Diplomarbeit deutlich überschreitet. Die Arbeit insgesamt zeichnet sich durch einen souveränen Umgang mit den rezipierten Positionen sowie durch deren emphatische wie kritische Diskussion aus. Diese Kombination aus theoriegeschichtlicher Einbettung, anwendungsbezogener und theoretischer Diskussion ist in hervorragender Weise als gelungen zu betrachten. „Fürs Spielen Spenden“ fordern Postkarten, die mit spielenden Kindern vor bunter Architekturanimation für das „Operndorf Afrika“ werben und Ende 2012 in verschiedenen Theaterfoyers ausliegen. Als eine andere Art von Werbung, für das Operndorf, aber nicht weniger für die Theorie der Alterität (und den, das ist aufgelegt, spielenden Umgang mit ihr), mag dieses Buch gelesen werden. Jens Kastner

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Zu Dussels zentraler Rolle als Partizipant und Stichwortgeber dieses theoretischen Zusammenhangs vergleiche auch die Beiträge in Moraña et al. 2008, zusammenfassend Kastner/Waibel 2012.

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Literatur Gandler, Stefan (1999): Peripherer Marxismus. Kritische Theorie in Mexiko. Hamburg: Argument Verlag. Dussel, Enrique (1989): Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument Verlag. Dussel, Enrique (1993): Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne. Düsseldorf: Patmos Verlag. Dussel, Enrique (2012): Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien: Verlag Turia + Kant. Dussel, Enrique (2012/13): „‚Mexikos Schreie werden nicht gehört.’ Gespräch mir Jana Glaese.“ In: Philosophie-Magazin, 2. Jg., Nr. 1/2013, S. 22-23. Kastner, Jens; Waibel, Tom (2012): „Dekoloniale Optionen. Argumentationen, Begriffe und Kontexte dekolonialer Theoriebildung.“ In: Walter D. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien: Verlag Turia + Kant, S. 7–42. Moraña, Mabel; Dussel, Enrique; Jáuregui, Carlos A. (2008) [Hg.]: Coloniality at Large. Latin America and the Postcolonial Debate. Durham & London: Duke University Press. Schlingensief, Christoph (2009): So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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