Roeder (Hrsg.) Blechtrommeln Kinder- und Jugendliteratur & Musik [1]

[1] Roeder (Hrsg.) Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliteratur & Musik [2] [3] Caroline Roeder (Hrsg.) Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliterat...
Author: Adolph Gärtner
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Roeder (Hrsg.) Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliteratur & Musik

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Caroline Roeder (Hrsg.) Blechtrommeln – Kinder- und Jugendliteratur & Musik kjl&m 12.extra

kopaed (München) www.kopaed.de

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Bibliogr afische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Bibliografische Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 978-3-86736-277-1 ISSN 2193-990X Fotos (Umschlag sowie S. 15, 57, 115, 155, 191, 221 ): Wilfried Stotzka, Berlin Druck: Kessler-Druck, Bobingen © kopaed 2012 Pfälzer-Wald-Str. 64, 81539 München Fon: 089. 688 900 98 Fax: 089. 689 19 12 e-mail: [email protected] Internet: www.kopaed.de

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Inhalt

Caroline Roeder Einsingen

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I: Ouvertüre

Peter Wicke Von der Hausmusik zur House Music. Musik und Jugendkultur im Wandel der Zeiten

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Wolfgang Reißmann/ Dagmar Hoffmann Knopf im Ohr. Geschichte und Gegenwart mobiler Musik im Jugendalter

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Jens Soentgen Hören und Sehen

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Constanze Rora Ästhetisches Hören – Theoretische und didaktische Dimensionen auditiver Wahrnehmung in der Ästhetischen Bildung

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II: Tonleiter

Heidi Lexe Tonspuren. Zum Soundtrack jugendliterarischer Texte

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Felix Giesa Ein Bild, zwo, drei, vier – Comics und Musik, Musik und Comics

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Bilderbuch-Orchester

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Gabriela Paule Auf der großen Bühne. Musik im Kinder- und Jugendtheater

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Christine Lötscher / Ingrid Tomkowiak „Feed Your Head“ – Funktion und Potential der Musik in Alice-Adaptionen

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III: Instrumentaltrubel

Susanne Fontaine Keine Kindersache. Literarische Zeugnisse als Zugang zu einer kulturellen Praxis

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Sebastian Schmideler „Die Backfische im Tanzsaal“ Tanzstunden- und Ballszenen in Mädchenromanen der Kaiserzeit

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Klaus Maiwald „ … silberne Lyra auf rotem Hakenkreuz“ Die Bedeutung der Musik in Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff

[137]

Klaus Farin „Musik ist unsere Waffe“ – Rechtsrock und seine Fans

[147]

IV: Trommelfell

Wolfgang Wangerin Rezeption ist ein immer wechselndes, kaleidoskopisches Spiel. Über Musik im Deutschunterricht

[157]

Jürgen Oberschmidt Unterrichten im Bermuda-Dreieck? Zur Situation des Musikunterrichts zwischen künstlerischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Ansprüchen

[166]

Johannes Weigle ›MuTex‹ Eine Text- und Musikwerkstatt an der Schule

[173]

Jochen Weber Ohne Musik ist alles nichts. Sachbücher und Audiomedien zum Thema Musik

[182]

V: Schalldose

Irmela Schneider „...ohne Leine, ohne ein festes Zuhause, ohne ein genaues Ziel“ Zum Bedeutungswandel des Hybriden im 20. Jahrhundert

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Franz Lettner Wort ist das falsche Wort / Es ist mehr Akkord – Über Lyrik und Lyrics

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Jochen Bonz Soundscapes und ihre Hörer – Klangliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit zwischen Resonanz und Identifikation

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Orchestergraben Die BeiträgerInnen

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Caroline Roeder Einsingen

„...und hielt ich mich an die Trommel“ „Da hab ich sie, die Trommel. Da hängt sie mir gerade, neu und weißrot gezackt vor dem Bauch. Da kreuze ich selbstbewußt und unter ernst entschlossenem Gesicht hölzerne Trommelstöcke auf dem Blech. Da habe ich einen gestreiften Pullover an. Da stecke ich in glänzenden Lackschuhen. Da stehen mir die Haare wie eine putzsüchtige Bürste auf dem Kopf, da spiegelt sich in jedem meiner Augen der Wille zu einer Macht, die ohne Gefolgschaft auskommen sollte. [...] Da sagte, da entschloß ich mich, da beschloß ich, auf keinen Fall Politiker und schon gar nicht Kolonialwarenhändler zu werden, vielmehr einen Punkt zu machen, so zu verbleiben – und ich blieb so, hielt mich in dieser Größe, in dieser Ausstattung viele Jahre lang.“ 1

Der Textausschnitt erlaubt einen Blick ins Matzerath’sche Familienalbum – der Schnappschuss lichtet den Erzähler als dreijähriges Kind ab; stolz präsentiert er sein Geburtstagsgeschenk: eine nagelneue Blechtrommel. Das Medium Foto wird hier mit Bedacht gewählt und setzt den unerhörten Moment – wie Oskar Matzerath zu einer (fremden) Kind-Figur transformiert – ins Bild; zugleich authentifiziert das Fotodokument das Erzählte als Erinnerung. Die Erzählerstimme, die das Foto kommentiert, macht deutlich, dass die Zwergengestalt des Helden nur der Maskerade dient, die Kleinkind-Verpuppung unterscheidet sich von der mentalen Verfasstheit der gnomenhaften Figur grundsätzlich, die durch seine subversiv renitente Lebenshaltung gekennzeichnet ist. – Günter Grass bereitete mit der Blechtrommel (1959) eine Tonspur für die sich einstimmende Protestbewegung der 1960er Jahre, auch wenn sein Protagonist nicht auf, sondern vorzugsweise unter der Tribüne (der politischen Landschaft) agiert. Der Blechtrommler etablierte sich als Erzählstimme der jungen Bundesrepublik, wobei er seine – einst glaszerberstende Stimme – aus einer psychiatrischen Anstalt heraus erhebt und von der (zur Erscheinungszeit) erst kurz zurückliegenden deutschen Vergangenheit berichtet, einer Epoche ideologisch verhetzten Barbarentums und Massenmordens. – Grass’ phantastische Figur beinhaltet ein Kaleidoskop an (möglichen) Lesarten und Bezugnahmen, von denen nur exemplarisch einige Aspekte an dieser Stelle genannt werden können: Seine Kindertrommel, ein populäres Spielzeugrequisit nicht nur des 19. Jahrhunderts, verweist auf die männlichen Kriegserziehungs-Rituale des Bürgertums und erscheint zugleich in seiner Miniatur, angesichts der Verbrechen des Nationalsozialis1 Grass, Günter: Die Blechtrommel. (Sonderausgabe Sammlung Luchterhand). Neuwied: Luchterhand 1977, 46

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mus, die hier besungen werden, wie eine böse Farce. Die Trommel dient Oskar aber auch dem Erzählen selbst, nur mit diesem Instrument kann er die Vergangenheit heraufbeschwören. Die Trommel vermochte auch Historie umzudirigieren, beispielsweise, wenn Oskar die aufmarschierten SS-Chargen in den kollektiven Walzerschritt trommelt. Die Figur Oskar Matzerath verkörpert einen schillernden literarisch-musikalischen Kosmos, der auf besondere Weise Kindheit und Musik, Historie und Literatur zum Zusammenklang zu bringen vermag. So bedeutet es Programm, dass diese außerordentliche Kind-Figur deutscher Literaturgeschichte im Trommlerformat Pate steht für den Titel des vorliegenden Extra-Bands, der sich zur Aufgabe gestellt hat, Musik und Literatur in ihrer Wechselbeziehung zu lesen, ebenso wie Musik und Kindheit (und Jugend) auf konzertante Weise zu verstehen; die unterschiedlichen Medien, die hierbei beispielsweise als Trägermedien oder wiederum als mediale Formen Verwendung finden, miteingeschlossen. Bevor die Gesamtkomposition des Bandes vorgestellt wird, soll in einem ersten Schritt der Bedeutung von Kinder- und Jugendliteratur und Musik nachgegangen werden. Allerleirauh – Musik und Kindheit & Jugend / Kindheit & Jugend und Musik Mit Wiegenliedern und Hänschenklein begegnen Musik und Literatur bereits den allerkleinsten Menschen. Die Poetizität dieser alten Weisen und Reime, die die einfachen Melodien begleiten, wurden bereits von den Romantikern als Wunderhorn verehrt und stifteten viele folgende Dichtergenerationen an, diese im Alltag geformten Weisen in bedeutsamen Anthologien zu bewahren und Lyriker zum kindermundgleichen geformten Reimen anzustiften. Musik durchklingt auch die ersten Begegnungen mit Kinder-Literatur. Großen Musikanten begegnet man in volkstümlichen Figuren wie Hans Wursten oder anderen Eulenspiegeln. Auch in den Volksmärchen wird kräftig aufgespielt und die Magie von Zaubermelodien entführt rattenfängergleich ins Wunderbare. Deutlich wird, dass man etwas Besseres als den Tod mit einem musikalischen Quartett zu finden vermag. Auch die spezifische Kinder- und Jugendliteratur gleicht einer Partitur musikalischer Arrangements. Neben den bereits genannten Kinderlieder- und -märchensammlungen findet man zahlreiche Tier-Musikanten im kinderliterarischen Orchester. Insbesondere im Bilderbuch bzw. in der Buch-Illustrationskunst wird dies ablesbar. Im Jugendbuch wird ab den 1970er Jahren zunehmend der Sound der Jugendkulturen vernehmbar. Die Tonspuren der Rock- und Popmusik sind in Adoleszenzromanen oder der aktuellen All-Age-Literatur, die Jugend in ihren Mittelpunkt stellt, zu vernehmen. Auch an den Biographien, die als hybride Gattung zwischen Sachbuch und Belletristik anzusiedeln sind, lässt sich an den Porträtierten ein erkennbarer Wandel ablesen: Seit längerem werden hier nicht nur Mozart und andere klassische Wunderkinder, sondern ebenso Ikonen des Pop in den Reigen aufgenommen und vielfach im Bildformat der Graphic Novel bildstarke musikalische Lebenswege nachgezeichnet. Und schließlich weist der Sachbuchsektor selbst ein breites Angebot an Musikalien auf; erläutert werden den jungen LeserInnen Instrumente wie einzelne Werke, aber auch die Opernwelt oder popkulturelle Phänomene.

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Bedeutsam ist für diesen expansiven Markt, der sich an Kinder und Jugendliche richtet, neben den vielzähligen Buchprodukten die Vielfalt medialer Angebote (Musikkassette, CD, DVD etc.), die der Medienverbund anbietet. An der opulenten Produktpalette werden die Rezeptionsgewohnheiten heutiger Kindheiten ablesbar. Deutlich wird in den vielfältigen musikalischen Bezugnahmen dieses Textkorpus bereits eine wesentliche Schnittstelle, die zwischen Kinderliteratur als Kindheitsliteratur und den Medien erkennbar wird. Die folgenden Überlegungen schließen hieran an. Wohltemperierte Kindheiten Kindheit und Jugend lässt sich heute ohne ihre medialen Einschreibungen nicht mehr beschreiben. Der Knopf im Ohr, einst Markenzeichen eines bekannten Kinderspielzeugherstellers, ist im 21. Jahrhundert zum Kennzeichen einer Generation generiert. Ob iPod oder Smartphone, das Kabel zur Welt besteht aus Kopfhörer-Miniaturen, die fast rund um die Uhr im Einsatz sind. Durch ihre Kabel schlagert und popt, jazzt und hip-hopt vorwiegend Musik. Die uns umgebende moderne heutige Welt ist darüber hinaus mit einem eng gewebten Klangteppich unterlegt: Der Morgen beginnt mit einem Songzitat als Weckerton, ein Jingel ertönt, wenn die ersten elektronischen Nachrichten gemeldet werden, und nach einem kurzen Blick auf die Playlist wird der Frühstückssoundtrack programmiert oder das Frühstücksfernsehen eingeschaltet. – In der U-Bahnstation tröpfelt die Musik aus den Lautsprechern, in den Fahrgastabteilen drummert sich der Nachbar auf der Nebenbank auf seiner Fahrt zur Arbeit wach. – Das 20. und insbesondere das 21. Jahrhundert scheinen von einer musikalischen Matrix überzogen. Betiteln die einen diese Veränderung kritisch als Dauerberieselung, bewerten andere hinsichtlich der Jugendkultur diese als Begleitung. Wesentlich ist, die Musikerfahrung der Moderne wird durch ihre mediale Vermittlung bestimmt; zugleich ist sie von einer neu erworbenen Mobilität geprägt. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit vermag ein jeder seine Hörwünsche am Hosenbund mit sich zu tragen. Um das Ausmaß dieses medialen Umbruchs anschaulich zu machen, vergleicht der Skandinavist Joachim Grage die Veränderung mit einem bedeutsamen Einschnitt in der Schriftkultur, und zwar mit der Etablierung von Volksschulen im 18. Jahrhundert, die weitgreifende Folgen hatte, nämlich zu einer Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten führte. Die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert lässt sich insofern als Geschichte ihrer Medien beschreiben. Die Medien wiederum bestimmen grundlegend Qualität, Performativität und gesellschaftliche Wertschätzung der Musik. Es wird deutlich, dass Musik nicht nur allgegenwärtig ist, sondern zu einem identitätsstiftenden Element der Alltagskultur – und hier insbesondere der der Jugend(kulturen) – generiert ist. Jugend und Musik verschmelzen zum Synonym, und so wird Musik – von einer Gesellschaft, die Jugend zum Kult erhebt – zu einem Etikett von Jugendlichkeit für alle Generationen. Die skizzierten Ergebnisse resultieren vorwiegend aus sozialwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen. Im Folgenden werden diese ergänzt durch einen Blick auf die literatur- wie kulturwissenschaftliche Forschung zum Gegenstand.

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Komparatistische Grenzgebiete

Musik erschließt ein weites Feld ästhetischer Erfahrung in der lebensweltlichen Wirklichkeit ebenso wie in den Bereichen von Phantasie, Traum und Vorstellungen, also denen der Wirklichkeitstranszendenz. (Dieter Baacke 1998) Der Germanist und Komparatist Steven Paul Scher hat in seinem Handbuch Literatur und Musik (1984) das komplexe Wechselverhältnis von Musik und Literatur in einem systematisierenden Modell zur Darstellung gebracht. In seinem musiko-literarischen zum Klassiker avancierten Werk benennt Scher drei Hauptbereiche des wissenschaftlichen Interesses: Musik und Literatur, Literatur in der Musik und Musik in der Literatur. Bei Musik und Literatur liegt das Forschungsinteresse auf dem Fokus des symbiotischen Miteinanders beider Künste, d.h. auf der Kombination oder Verschränkung von musikalischer Komposition und literarischem Text (Wort-Ton-Einheiten), wie sie in den Gattungen der Vokalmusik zu finden sind (als Beispiel wären Lied oder Oper zu nennen). Bei dem Bereich Literatur in der Musik geht es um die „Literarisierung“ von Musik. Hier wären alle Formen der intermedialen Bezugnahme anzuführen (Adaption, Zitat, Transformation), und schließlich liegt der Schwerpunkt bei der Fragestellung von Musik in der Literatur auf der „Musikalisierung“ von Literatur, d.h. auf der gesamten Forschungsbreite, bei der die narratologische und semantische Bestimmung von „Wortund Sprachmusik“ im Mittelpunkt steht, ebenso wie Untersuchungen zu Formen von „Dichtungsexperimenten“ mit musikalischen Form- und Strukturparallelen bzw. der verbal music (vgl. Scher 1984). Theorie und Praxis dieser von Scher bezeichneten „komparatistischen Grenzgebiete“ sind in den vergangenen Jahren insbesondere durch die kulturwissenschaftliche Perspektive und wesentlich durch die Intermedialitäts- und Medienforschung ausdifferenziert worden. Zu dem komplexen Wechselverhältnis liegen eine Anzahl Grundlagenwie Einzeluntersuchungen vor (vgl. z.B. WMA, International Association for Word and Music Studies, ihre Plattformen und Veröffentlichungen). Vergleicht man diesen Befund mit dem Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung, so wird deutlich, dass hier grundlegende Arbeiten bisher ausstehen. Zwar findet man verschiedene profunde Einzeluntersuchungen und Forschungsansätze beispielsweise zu popkulturellen Einschreibungen, eine Bestandsaufnahme, die die komplexe Partitur Kinder- und Jugendliteratur und Musik erfasst, liegt bisher nicht vor. Der vorliegende Band vermag diese Leerstelle nicht auszufüllen, sondern stellt einen Werkstattbericht dar. Voran ging dieser Bestandsaufnahme eine Spurensuche, die in benachbarte Forschungsländereien führte. Wesentliche Arbeiten findet man neben den bereits genannten komparatistischen Arbeiten sowie literatur- wie kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zu allgemeinliterarischen Themen und Texten (exemplarisch sei hier nur auf die umfänglichen Desiderate zu Thomas Manns Werk, insbesondere Der Zauberberg [1924] und Doktor Faustus [1947], oder zu E.T.A. Hoffmann hingewiesen) in der Musikwissenschaft. Als wesentlich erweisen sich auch Forschungszusammenhänge, die Fragen der ästhetischen Bildung und des ästhetischen Lernens bzw. Lernprozesses unter wahrnehmungstheoretischen, philosophischen ebenso wie unter

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didaktischen Gesichtspunkten in ihren Mittelpunkt stellen. Die sozialwissenschaftliche Forschung weist ein breites Feld an Untersuchungen auf zu Jugend und Musikkonsum bzw. zu Jugendkultur(en). Hand in Hand gehen diese Forschungsfragen mit Studien zu Mediennutzung und Medienforschung. – Der vorliegende Band hat sich diesen interdisziplinären Content zunutze gemacht und versammelt Beiträge, die in der genannten Verschränkung der Disziplinen und Herangehensweisen erlauben, sich dem literarischen Raum Musik und Kindheit und Jugend anzunähern. Blechtrommeln – zur Konzeption Um das breite Spektrum dieses komplexen Wechselverhältnisses von Musik und Literatur abzubilden, wurde der Band in fünf Teile gegliedert. Er stimmt sich ein mit einer OUVERTÜRE, die die Grundkoordinaten von Kindheit und Jugend unter kultureller, medialer und musiksoziologischer Fragestellung sowie unter Berücksichtigung von wahrnehmungstheoretischen und hörästhetischen Fragestellungen zu bestimmen versucht. Der folgende Teil (TONLEITER) legt sein Ohr an exemplarische Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer medialen Gestaltung, gefolgt wird dieses kinder- und jugendliterarische Rondo von einem historischen Teil, der politisch-gesellschaftliche, aber auch ideologische Tonalitäten aufzeigt (INSTRUMENTALTRUBEL). Der vierte Teil (TROMMELFELL) nähert sich Musik und Literatur in der (schulischen) Vermittlung und unter didaktischen Fragestellungen und schließlich schließt der fünfte Teil (SCHALLDOSE) mit Ausflügen in Grenzgebiete, die mediale und sprachpoetische ebenso wie philosophische Experimente bedeuten. Zwischenblätter illustrieren die fünf Sätze und erzählen eine eigene TrommelGeschichte, die bildlich Oskar M. an die Seite gestellt wird. Auch der kleine Trommler auf dem Cover ist hierzuzuzählen und wurde, wie die anderen Fotografien, in Calanda, einem spanischen Dorf in der Region Teruel, aufgenommen, wo alljährlich eine Trommelprozession abgehalten wird. Hunderte Trommler und Pauker versammeln sich in der kleinen Stadt und beginnen mit dem Zwölfuhrmittagsläuten am Karfreitag unisono zu spielen. – Ein ohrenbetäubender Trommelsound erfüllt schlagartig die Luft, der Lärm pulst durch die engen Gassen, die bis zum Bersten mit Zuhörenden gefüllt sind. Nach und nach bildet sich aus der anfänglichen Lärmwolke ein Rhythmus heraus, der immer weiter variiert, improvisiert und mit der Prozession durch die Straßen des Städtchens getrieben wird. Das Hörspektakel dauert die ganze Nacht über an, nicht selten fließt Blut von den wund getrommelten Händen auf die Trommelfelle. Am Ostersonntag schließlich senkt sich mit einem letzten Schlag urplötzlich österliche Stille über den Ort. – Nachdrücklich eingeprägt hat sich diese Hörerfahrung auch dem Filmregisseur Luis Buñuel, der in Calanda aufgewachsen ist. Die Trommel-Töne seiner Kindheit begleiteten ihn sein Leben lang und haben sich in sein filmisches Werk eingeschrieben. (Fotos: Wilfried Stotzka Stotzka, Berlin) Im Fünfvierteltakt – die Beiträge Die OUVERTÜRE eröffnet der Musikwissenschaftler Peter W Wicke icke, der in seinem einfühicke renden Beitrag eine Entwicklungslinie aufzeigt, die von den Gepflogenheiten bürgerlicher Hausmusik bis zur jugendkulturell definierten House Music heutiger Tage reicht. In seinem historischen fundierten Rückblick beschreibt Wicke die Herausbildung einer

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Caroline Roeder

eigenständigen, im Alltag praktizierten Jugendkultur, in der kulturelle Werte der Heranwachsenden verankert sind, und die bedeutsam von Musik geprägt wird. Wicke weist auf das Wechselverhältnis von Jugend und Musik hin und zeigt, welchem Wandel dieses im Laufe seiner Entwicklungslinie unterliegt. War Musik einst im Salon platziert, wo Jugend sich am Erwachsenenleben maß, erfährt diese Bewertung Mitte des 20. Jahrhunderts einen tief greifenden Wandel und emanzipiert sich gewissermaßen zu einem der wirkungsmächtigsten Sozialisierungsinstanzen im Prozess des Heranwachsens, und so wird Musik schließlich zum Synonym von Jugend schlechthin. Aus musiksoziologischer Sicht werfen Dagmar Hoffmann und Wolfgang Reißmann systematisierend einen Blick auf die Geschichte und Theorie mobiler Musik im Jugendalter. An den unterschiedlichen Generationen und Modellen von Tonträgermedien werden die Hörwege und ihre veränderten Rezeptionsbedingungen beispielhaft aufgezeigt. In einem zweiten grundlegenden Schritt legt der musiksoziologisch fundierte Beitrag den Fokus auf den Stellenwert, der Musik im Medienensemble zukommt, differenziert bezüglich der emotionalen Funktion(en) von Musik aus und streicht die sozialen Gesichtspunkte heraus, die diese für junge Menschen einnehmen. Dieser grundlegenden soziologischen Verortung folgt eine phänomenologische Skizze, die Jens Soentgen zum Verhältnis und zur (Be)wertung von Hören und Sehen im historischen Kontext beigesteuert hat. Soentgen beschäftigt sich wissenschaftsgeschichtlich und wahrnehmungstheoretisch mit dem Mensch als „Augentier“. Im Gegenzug liefert er en miniature eine Kulturgea schließlich vervollständigt das Quartett mit ihren schichte des Hörens. Constanze Ror Rora Überlegungen zur ästhetischen Erziehung und ästhetischen Wahrnehmung. Aus der theoretischen Sicht der Ästhetik diskutiert sie Hör-Erfahrung und zeigt didaktische Implikationen einer ästhetischen Hörerziehung am Beispiel eines Kinderhörspiels auf. Der zweite Teil des Blechgetrommels führt in das Klanguniversum der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Medien. Überschrieben wird das folgende Quartett mit dem Titel TONLEITER, deren ersten Ton die Wiener Literaturwissenschaftlerin Heidi Lexe anstimmt. Lexe folgt den Tonspuren jugendliterarischer Texte und dekliniert am Beispiel aktueller Jugendromane (bzw. All-Age-Literatur) (popliterarische) verschiedengestaltige intermediale Bezugnahmen durch. Entworfen wird eine Systematik, bei der zwischen Sound, Soundtrack von Texten und dem Text als Soundtrack differenziert wird. Musik in Bild-Geschichten widmet sich der Graphic Novel-Experte Felix Giesa Giesa. In seinem Beitrag liefert er einen Überblick über das Spektrum musikalischer Einschreibungen und Adaptionsverfahren in der Gattung Comic; Giesa zeigt strukturelle Zusammenhänge von Comics und Musik und liefert vielfältig Beispiele aus aktuellen Graphic chester tritt in dieser Tonleiter auf zum Zwischenspiel. In Novels. Ein Bilderbuch-Or Bilderbuch-Orchester diesem Beitrag stehen Musizierende und Gesangs- wie Pfeifkünstler jedweder Couleur, die bekannte IllustratorInnen geschaffen haben, auf der großen Bühne der Bilderaule untersucht buch- und Buchillustrationskunst. Die Literaturdidaktikerin Gabriela P Paule unter theaterpädagogischem Blickwinkel, welchen Stellenwert der Musik im Theater für Kinder und Jugendliche zukommt. Obwohl Musik eine bedeutsame Rolle innerhalb der theatralen Inszenierungspraxis spielt, fand dieses ästhetische Formelement in der Forschung bisher wenig Berücksichtigung. Paules Beitrag zeigt das Potential dieses Untersuchungsgegenstandes auf, weist die dramaturgischen Funktionen sowie deren ästhetisches Gewicht nach und veranschaulicht die theaterpädagogischen wie deutschdidaktischen Überlegungen an einem Inszenierungsbeispiel.

Einsingen

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Mit einem medial ausgerichteten Beitrag schließt die kinder- und jugendliterarische Tonleiter. Der kinderliterarische Klassiker Alice im Wunderland weist wie kaum ein anderer Titel eine Vielzahl an filmischen Adaptionen auf. Die Schweizer Literaturwisomkowiak werfen einen mediensenschaftlerinnen Christine Lötscher und Ingrid T Tomkowiak kundigen Blick auf dieses Kaleidoskop der Wunderländer und untersuchen Funktion und Potential des nonsensehaft tönenden Stoffes sowie die kulturellen Einschreibungen, die sich in den verschiedenen intermedialen Formen ablesen lassen. Die Spannbreite der Transformation dieser Figur reicht hier von frühen Walt-Disney-Versionen bis zu aktuellen Helden-Epen à la Sucker Punch. Der dritte Teil trägt den Titel INSTRUMENTALTRUBEL und zitiert damit Thomas Manns Der Zauberberg. Zusammengestellt für diesen Teil wurden vier Beiträge, die sich mit historischen und politisch-ideologischen Einschreibungen beschäftigen, was vor allem im Musikalischen dieser Texte manifest wird. Den Auftakt liefert die Musikwissenschaftleontaine rin Susanne F Fontaine ontaine, die sich ebenfalls mit Hausmusik als kulturelle Praxis beschäftigt und diese gegen den Strich liest. Mit dem Verfahren der musikhistorischen Lektüre wendet sie sich Thomas Manns Buddenbrooks (1901), Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages (1909) und Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege (1951) zu. Auch Sebastian Schmideler begibt sich in vergangene Zeiten und sucht die Ballsäle des 19. Jahrhunderts auf. Er dechiffriert am Beispiel von Pensionatsgeschichten und Mädchenliteratur der Jahrhundertwende die Formen der Etiquette als bürgerlich Erziehungsund Herrschaftsdiskurse unter historischer Perspektive. Der Mediendidaktiker Klaus Maiwald lotet die sechsbändige Familiensage Tadellöser & Wolff von Walter Kempowski aus und untersucht wie in dem Zyklus Musik referiert wird, und zwar sowohl als Teil der erzählten Welt, als auch zur Formung des Erzählens (so z.B. mit Musikbezügen als Mittel erzählerischer Form, vielfältig arrangiert und verdichtet mit musikalischen Referenzen). Maiwald hört solcherart in den Musiksalon der großbürgerlichen Familie und verortet den Bedeutungskontext der hier zu vernehmenden Musikstücke vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. arin gewährt Einblick in Der Leiter des Archivs für Jugendkulturen (Berlin) Klaus F Farin die Musikszene des Rechtsrocks und die ideologische Gestimmtheit seiner Fans und liefert darüber hinaus eine Analyse des Medienverbunds und der Vertriebssysteme dieser rechten Szene. Farin gibt damit einen profunden Überblick über dieses Segment ideologisch überformter musikalischer Jugendkultur. Im Kern des dritten Teils (TROMMELFELL), stehen Didaktisches bzw. Vermittlungsforangerin spielt an erster Stelle men von Musik. Der Literaturdidaktiker Wolfgang W Wangerin hier auf und liefert einen einführenden und systematisierenden theoretischen Überblick über Musik im Deutschunterricht. Wangerin weist auf das Potential der Semantik der Musik hin, die jenseits der Grenzen der diskursiven Sprache zu verorten ist und damit auch solchen Erfahrungen eine Sprache zu geben vermag, die diskursiv nicht sagbar sind. Mit einem Hörbeispiel weist Wangerin in mehreren didaktischen Schritten eine mögliche Vorgehensweise auf, um den ästhetischen Lernprozess im Deutschunterricht mit Musik zu ergänzen. schmidt verweist auf die Situation des MuDer Musikwissenschaftler Jürgen Ober Oberschmidt sikunterrichts, der zwischen künstlerischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Ansprüchen in einem Spannungsverhältnis zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik steht. Oberschmidt kontrastiert die Inhalte des Musikunterrichts mit den currikularen

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Caroline Roeder

Vorgaben und fordert einen Kurswechsel hin zu einer Herausbildung musikalischer Basiskompetenzen als Grundvoraussetzung für alle musikalischen Lernprozesse. eber Den lehrreichen Teil schließt der Sachbuchspezialist Jochen W Weber eber, der sich eingehend mit dem Buchmarktsegment Musik für ein jüngeres Lesepublikum beschäftigt hat. Weber liefert eine Systematik des fast unüberschaubaren Marktes und zeigt an seinem Kriterienkatalog die Wertmaßstäbe, die er bei seiner Bücherschau angelegt hat. Der vierte Teil trägt den Titel SCHALLDOSE und stellt damit eine Hommage an den Erfinder des Phonographen Thomas A. Edison dar, der der Menschheit nicht nur eine tönende Erfindung schenkte, sondern bei der ersten Test-Sprachaufnahme ohne zu zögern: „Mary had al little lamb“ rezitierte und damit als erstmalig seine Sprechmaschine ertönte, Kinderliteratur erklang ... Im Mittelpunkt dieses abschließenden Teils stehen Untersuchungen, die Grenzenauslotendes in den Blick nehmen, die Wechselwirkung von Musik und Literatur an außergewöhnlichen Partituren ablesbar machen. Die Medientheoretikerin Irmela Schneider eröffnet diesen Teil mit einer Reflexion und Werkschau zum Bedeutungswandel des Hybriden im 20. Jahrhundert und gibt einen Einblick über das Spektrum des Hybriden in der Sprach- und Kulturgeschichte, der Medienwissenschaft und der Soziologie. Der Fachbegriff erlaubt, in seiner Funktion als „Sonde“ wissenschaftliche Expeditionen zu (neuen) Musik-Formen und Formaten zu initiieren. Gefolgt wird diese komplex komprimierte theoretische Untersuchung von einem kritischen Reim-Vergleich, dem der Wiener Literaturkritiker und Chefredakanz Lettner nachhorcht. Lettner nimmt die Sprachakrobatik und Dialektgedichteur Fr Franz ten der Wiener Gruppe ins Visier, ebenso wie Ernst Jandls ausufernde Gesänge, und setzt sie in Beziehung mit aktuell Gereimtem der Musikgruppe Attwenger. Solcherart verschränkt und diskutiert Lettner den Stellenwert von Lyriks und Lyrics. Der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz schließlich führt in die Landschaft der Soundscapes und zeigt die philosophischen Dimensionen von Klang, wobei er seine theoretischen Ausführungen an Gregg Wagstaffs Soundscape-Projekt TESE anlegt, um an der Dimension des Klanglichen Fragen von Identifikationen und Identifikationsweisen, Aspekten von Subjekt und Subjektivität nachzugehen. Der Band schließt mit einem letzten Satz, dieser führt in den ORCHESTERGRABEN. Dort aufgestellt, finden sich alle BeiträgerInnen des Bandes mit einer kurzen Vita, die die Arbeits- und Forschungsschwerpunkte vermerkt. Daneben finden sich musikalische Viten, die die Autoren in Selbstauskünften geliefert haben und die Angaben machen, welche Musikinstrumente die Betreffenden spielen, welche musikalischen Kindheitserinnerungen sie in sich tragen oder welche Wünsche sie hegen, hätten sie die Möglichkeit, einen ihrer Lieblingssongs oder Musikstücke vorgetragen zu bekommen. – Was für ein Orchester! Hören und lesen Sie nun aber selbst das ganze Konzert des Blechgetrommels.

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I. Ouvertüre

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Bettina Kümmerling-Meibauer

Überschreitung von Mediengrenzen

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Johnny.Smith / photocase.com

Peter Wicke Von der Hausmusik zur House Music Musik und Jugendkultur im Wandel der Zeiten

Jugendkultur und Popmusik sind längst zu Synonymen geworden. Das war nicht immer so. Erst mit dem Rock’n’Roll in den 1950er Jahren erhielt Musik eine symbolische Funktion, die charakteristisch geworden ist für die Kultur Jugendlicher. Und erst das Medium Musik verschaffte Jugendkultur nach und nach jene Autonomie, die sie heute besitzt. Dennoch reicht das Verhältnis Jugend und Musik in die Geschichte viel weiter zurück. Als Heranwachsende die ersten Spuren in der Musikkultur hinterließen, gab es das Wort Jugend noch gar nicht und auch nicht die Vorstellung von einer mehr oder weniger ausgeprägten Übergangsphase zwischen Kind und Erwachsenen. 1852 erschien im Leipziger Musik-Verlag Carl Rühle mit der Nummer 28 in der Reihe Musikalische 20Pfennig-Bibliothek ein „Salonstück für Pianoforte zu zwei Händen“ von der damals gerade achtzehnjährigen Thekla Badarzewska-Baranowska. Es trägt den Titel „La Priére d’une Vierge“ – das Gebet einer Jungfrau. Nun hatte es zwar auch zuvor schon den einen oder anderen Fall eines musikalischen Wunderkindes gegeben. Wolfgang Amadeus Mozart etwa verfasste seine ersten Kompositionen bekanntlich als Fünfjähriger. Aber das Wunder bestand hierbei ja eben gerade darin, dass ein Kind scheinbar mit der Reife eines Erwachsenen zu komponieren und zu musizieren vermochte. „La Priére

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Peter Wicke

d’une Vierge“ dagegen ist mit seiner etwas verkitschten Innerlichkeit in der Erlebniswelt zumindest des weiblichen Teils einer in der Mitte des 19. Jahrhunderts zahlenmäßig keineswegs klein zu veranschlagenden Gruppe Heranwachsender verankert, für die sich diese Lebensphase mit der meist eher ungeliebten Erfahrung häuslicher Klavierexerzitien verband. Der Klavierunterricht war für die Mädchen aus gutem Hause gleichsam das Pendant zum Militärdienst der Söhne, ein unerlässliches Pflichtprogramm. Hinter der Fassade der Gutbürgerlichkeit entstanden dabei die ersten Anzeichen altersspezifischer kultureller Zusammenhänge, auch wenn die seinerzeit noch nicht als solche wahrgenommen wurden. Obwohl das häusliche Musizieren zunächst eine relativ exklusive Angelegenheit des Bildungsbürgertums war, reichte dessen kulturelle Vorbildwirkung dann doch so weit, dass um die Jahrhundertmitte selbst in vielen proletarischen Haushalten ein Klavier zu finden war. Wer irgendwie konnte, ließ seine Tochter Klavierspielen lernen, denn das erhöhte die Chancen auf dem Heiratsmarkt beträchtlich. „Bis in die unteren Stände hinab wird ein gewisses Repertoire an Liedern und Klavierstücken zur unentbehrlichen Aussteuer der Töchter gezählt,“ – heißt es in einer zeitgenössischen Betrachtung hierzu. (Gumprecht 1876, 20) „La Priére d’une Vierge“ war mit seinem beziehungsvollen Titel nicht nur ein Inbegriff für das obligate Ständchen bei den abendlichen Renommierveranstaltungen in der guten Stube des Bürgertums und all derjenigen, die dazugehören wollten. Das Stück gestaltete sich als eine Orgie des gefühlvollen Schwelgens in schönem Klang, die mit relativ einfachen spieltechnischen Mitteln zu haben war. Der Tonraum ist weitgreifend ausgeschritten, was die linke wie die rechte Hand in die Randzonen ihrer Hälfte der Klaviatur führt. Die Inbesitznahme des Instruments in seiner vollen Breite umgibt den Vortrag nicht nur mit der unwiderstehlichen Aura der Virtuosität. Es verlangt auch einen körperlichen Einsatz, der die Reize der jungfräulichen Tochter am Klavier wohlgefällig zur Geltung brachte. Und das alles mit einem spieltechnischen Aufwand, der auch für weniger begabte Naturen zu bewältigen war. Kein Wunder also, dass schon die LoseblattVersion der Originalausgabe aus dem Jahre 1852 in unzähligen Auflagen gedruckt wurde. 1859 erschien das Stück dann als Notenbeilage zur Revue et Gazetta Musicale in Paris, womit es seinen Siegeszug um die Welt antrat. In den folgenden Jahrzehnten fehlte es in keinem der von den Musikverlagen in Fortsetzung auf den Markt gebrachten Klavieralben. Allein 1864 fand es sich gleich in sieben verschiedenen Editionen. Und dieser Boom hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten, ohne dass ein Jahr vergangen wäre, in dem es nicht irgendwo eine Neuveröffentlichung gegeben hätte. Insgesamt 140 Verlage hatten die Originalversion für Klavier in ihrem Programm, hinzu kommen Fassungen für jedes nur denkbare Instrument. Keiner hat die millionenfache Gesamtauflage je gezählt oder bislang auch nur exakt ermitteln können, in wie vielen verschiedenen Arrangements für wie viele verschiedene Besetzungen das „Gebet einer Jungfrau“ inzwischen vermarktet worden ist. Die populäre Internet-Plattform YouTube listet selbst heute noch über 180 Video-Versionen mit Einspielungen des Stücks. Die einunddreißigjährig früh verstorbene polnische Pianistin Thekla Badarzewka-Baranowska hatte mit „La Priére d’une Vierge“ das geschaffen, was man heute einen Mega-Hit nennt. Es war ein Zeugnis des Heranwachsens, was sich gleichsam durch die Hintertür in die Öffentlichkeit stahl, denn auch wenn es üblicherweise die unverheirateten Töchter waren, die am Klavier die Hausmusik bestritten, ein musikalisches Zeugnis ihrer Jugend ließen weder der gute Geschmack noch die bürgerliche

Von der Hausmusik zur House Music

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Etikette im 19. Jahrhundert zu. „Infantil“ gehörte dann auch zu den eher harmlosen Adjektiven, mit denen das Stück von der Kritik belegt wurde. Für den Musikwissenschaftler Hugo Riemann war es Ausdruck einer „den niedrigsten musikalischen Instinkten der Menge huldigenden Afterkunst“. (Riemann 1901, 313) Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann die Phase des Heranwachsens als Jugend ins öffentliche Bewusstsein trat, war diese bei den Betroffenen noch lange von dem Drang gekennzeichnet, ihr möglichst schnell wieder zu entwachsen und frühzeitig als das zu gelten, was Heranwachsende sich unter erwachsen vorstellten. An den Vergnügungen der Erwachsenen teilhaben zu dürfen, charakterisierte bis zur Jahrhundertmitte die Dynamik des kulturellen Verhaltens Jugendlicher. Es war Musik für Erwachsene, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert der entstehenden Jugendkultur einen Rahmen gab. Die in den 1910er Jahren ins Leben gerufene Jugendmusikbewegung dagegen blieb mit ihrer Ausrichtung auf die Pflege des Volksliedgutes eine pädagogische Bemühung um die musische Erziehung der Jugend, auch wenn in diesem Kontext der Begriff „Musikalische Jugendkultur“ (Jöde 1918) geprägt worden ist. Die Jugendlichen selbst suchten zunächst mit Grammophon und Schallplatte und dann am Radiogerät einen Vorgeschmack auf die Freuden des Erwachsenenlebens zu erahnen, denn die einschlägigen Amüsiertempel waren ihnen natürlich verschlossen. Vor allem der Swing zog dann ab Mitte der 1930er Jahre Jugendliche unwiderstehlich in seinen Bann. Die berühmt gewordenen New Yorker „Battles of the Bands“ – Wettkämpfe der populärsten Swing-Bigbands – fanden eigens in den frühen Abendstunden statt, um Jugendlichen den Zugang zu ermöglichen. Und sie strömten zu Tausenden. Über 20.000 waren Zeuge des legendären Wettkampfs zwischen den Bands von Chick Webb und Benny Goodman am 11. Mai 1937, aus dem die Band von Chick Webb als Sieger hervorging. So entstand in den 1930er Jahren im Umfeld der Swing-Bigbands eine Jugendkultur, die mit ihrer geheimbündlerischen Musikbegeisterung, ihrer peniblen Kleiderordnung und einem spezifischen Jargon in der Zeit des Zweiten Weltkrieges dann weder vor dem besetzten Europa noch vor dem faschistischen Deutschland haltmachte.1 Die französischen Zazous oder die deutsche Swing-Jugend waren die aktivsten Repräsentanten dieser Jugendkultur in Europa. Obwohl insbesondere der sportive, körperbetonte Tanzstil – Jitterbug und Lindy Hop – eine altersspezifische Grenzlinie auf dem Tanzboden zog und den jungen Leuten vorbehalten blieb, war die Kultur der Swing-Kids noch eine nachahmende Vorwegnahme des Erwachsenseins und von dem Wunsch geprägt, durch Teilhabe an den Vergnügungen, Geheimnissen und Privilegien der Erwachsenen die Brücken zur Kindheit hinter sich abzureißen. Da aber die Bigband-Variante des Swing die Musik der Ballrooms war, zu denen Jugendliche, wenn überhaupt, dann nur bis 22:00 Uhr und unter Begleitung Erwachsener Zugang hatten, standen die Schallplatte und der privat organisierte Umgang mit Musik hier im Zentrum des jugendkulturellen Verhaltens. Erst als die Kino-Ketten in den USA ihre Häuser für musikalische Show-Veranstaltungen öffneten, um der jugendlichen Musikbegeisterung Raum zu schaffen, geriet in die Öffentlichkeit, was sich bis dahin hauptsächlich hinter verschlossenen Wohnungstüren abgespielt hatte. Da ohne Alkoholausschank, galten die Film-Tempel als jugendtauglich. 1 Vgl. hierzu die überaus informative Studie von Mike Zwerin: La tristesse de Saint Louis. Swing under the Nazis (1985); sowie den von Bernd Polster herausgegebenen Band »Swing Heil«. Jazz im Nationalsozialismus (1989).

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Hier, im New Yorker Paramount Theatre am Broadway, sorgte am 30. Dezember 1942 der für die damalige Zeit sensationell junge Sänger der Big Band von Tommy Dorsey, Frank Sinatra, für ein spektakuläres Konzert, das als eines der ersten Zeugnisse einer eigenständigen, im Alltag und den darin verankerten kulturellen Werten Heranwachsender verwurzelten musikbezogenen Jugendkultur gilt. Das durchweg minderjährige Publikum zelebrierte hier eine derart emotionsgeladene Musikbegeisterung, dass den Kommentatoren die Worte wegblieben. Sinatra erinnerte sich später: „Der Lärm, der mich begrüßte, war einfach ohrenbetäubend. Es war ein gewaltiges Tosen. 5000 Kids trampelten, schrien, kreischten und applaudierten. Ich war zu Tode erschrocken.“ (Zit. n. Summers/ Swan 2005, 135)

Erstmals sah die Welt kreischende Fans zu Füßen eines Stars. Als Sinatra im Oktober 1944 erneut hier auftrat, legten 35.000 seiner Anhänger, denen der Zugang zu dem restlos ausverkauften Konzert verwehrt blieb, den Verkehr auf New Yorks Prachtmeile lahm. Die Bobby Soxers – weibliche Sinatra-Fans im Teenager-Alter mit Pudelrock und heruntergerollten Ringelsöckchen – hatten die Öffentlichkeit erobert. Ihr Idol war nicht mehr nur, wie die Schauspieler zuvor, ein unerreichbares Objekt zum Anhimmeln. Sinatra besaß ein klingendes Erscheinungsbild, das fühlbar war, den Körper umfasste, Resonanzen in der Seele auslöste und für diese halbwüchsigen Mädchen zu einem ihr Innerstes erreichenden Medium der Selbsterfahrung wurde. Durchdrungen von Musik sich selbst in einer sehr unmittelbaren und direkten Form zu erfahren, die sowohl privat und individuell als auch gemeinschaftlich und öffentlich ist, der eigenen Subjektivität in klingender Form habhaft zu werden und dabei zugleich, wie durch ein unsichtbares Band, mit allen jenen verbunden zu sein, die Gleiches erfahren, das sollte eine immer entscheidendere Rolle im Prozess des Heranwachsens spielen. Als Medium der Vermittlung von Öffentlichkeit und Privatheit, Individualität und Gesellschaftlichkeit in einer Entwicklungsphase, in der sich die sozial relevanten Züge des Selbst formen, erhielt Musik nun einen Stellenwert, der sie, begleitet von den Medien Rundfunk und Schallplatte, wenig später auch dem Fernsehen, zu einer der wirkungsmächtigsten Sozialisierungsinstanzen im Prozess des Heranwachsens werden ließ. Was das bedeutete, begann offenbar zu werden, als Elvis Presley am 17. Juli 1953 mit „That’s Allright Mama“ und „Blue Moon of Kentucky“, den beiden Songs seiner ersten Single, im Bon Air Club von Memphis das erste Mal eine Bühne betrat. Die Idolisierung dieses etwas schüchternen Südstaaten-Jungen erreichte schon bei seinem ersten Auftritt Ausmaße, die jedes bis dahin bekannte Maß übertrafen. Fortan beschränkten sich die Auffälligkeiten im kulturellen Verhalten Jugendlicher nicht mehr auf die Begeisterungsrituale bei Konzertauftritten, sondern entfalteten eine Dynamik, die, vorangetrieben von den Medien und Hollywood-Produktionen wie Rebel Without a Cause (… denn sie wissen nicht, was sie tun, 1955) oder Blackboard Jungle (Die Saat der Gewalt, 1955), in eine immer rebellischer werdende Jugendkultur mündete. Herwachsenden, für die die New York Times 1945 die Bezeichnung Teen-Ager aufbrachte (The New York Times, 7. Januar 1945, 12), entdeckten auf dem Tonträgermarkt, vor dem Kofferradio und als immer massiver umworbene potenzielle Konsumgüterkonsumenten, für die in dieser Zeit ein eigener Jugendmarkt geschaffen wurde, dass Konsum mehr ist als bloßer Güterverbrauch. Sie begannen die Probleme des Her-

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anwachsens auf die Konsumgüterwelt zu projizieren, die sich ihnen so aufdringlich andiente, lernten mit Statusgewinn, Sinngebungs- und Differenzierungsstrategien durch Konsum umzugehen. Die Musik war dafür eine besonders geeignete Ressource, denn sie ließ sich mühelos in die Lebenswelt Jugendlicher einbinden. Peter Guralnick, einer der Zeitzeugen und Biograf von Elvis Presley, schrieb später:

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„Rock’n’Roll befreite uns mehr von vergangenen Zeiten, als man damals hätte annehmen können. Seine Energie war explosiv […] Er diente als Ausdruck einer noch nicht genau definierten Sehnsucht. Er bestätigte uns unsere eigene Realität ... Er war eine Welt, in der ‘ver-

rückte, durchgedrehte Jugend’ ein gängiger Ausdruck und ‘wüstes Boogie-Tanzen’ ein Akt des sozialen Widerstandes war ... Gerade seine zügellosen Posen, seine protzende Sexualität, die Gewalttätigkeit, die die Radiostationen jener Tage dem Rock’n’Roll zusprachen, sein verbotener und verderblicher Einfluss – dies machte die unfehlbare Attraktion des Rock’n’Roll aus.“ (Guralnick 1971, 212)

So wurde Musik, die eigentlich doch nichts anderes sein wollte als Entertainment, gleichsam unter der Hand zu einem Symbol des Heranwachsens, in dem und an dem sich Jugend zu definieren begann. Mit dem Aufkommen des Rock’n’Roll verlor die Kultur Jugendlicher endgültig ihre Ambivalenz im Dazwischen von Kind- und Erwachsensein. Sie wird nicht nur auf eine jeweils altersspezifische Weise eigenständig und autonom, sondern zu einem normativen Leitbild, das den sich formierenden Massenkonsumgesellschaften im Prinzip bis heute den Traum von ewiger Jugend vorgaukelt. Eine entscheidende Bedeutung besaß dafür das durchweg jugendliche Alter der Protagonisten dieses neuartigen Jugendmusikkults, auch wenn es noch immer die A&R(Artist & Repertoire)-Abteilungen der Plattenfirmen waren, die entschieden, was an

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Musik produziert wurde und auf Tonträger, über das Radio und schließlich auf den Bühnen Zugang zur Öffentlichkeit erhielt. Doch die Idole waren nun kaum älter als ihr Publikum. Der Umstand, dass es Erwachsene waren, die die musikalischen Ausdrucksformen kontrollierten, die Jugendliche mit dem Rock’n’Roll bald schon nahezu weltweit für die ihren hielten, spielte zunächst keine Rolle. Anders dagegen in den 1960er Jahren, als die britische Beatmusik, allen voran die Beatles, in die Studios und auf die globalen Tonträgermärkte strömten. Sie hatten sich, wie seither noch jede jugendkulturell relevante Entwicklungserscheinung der Popmusik, ihr gleichaltriges Publikum zunächst live und ohne Eingriffe aus der Erwachsenenwelt in den Kellerklubs und

Musikkneipen erspielt. Im Studio wurden die selbstgeschriebenen Songs durch einfühlsame Produzenten, wie George Martin bei den Beatles, dann lediglich medientauglich gemacht. Die authentische Wiedergabe der Gefühlswelt und Weltsicht Jugendlicher stand nun im Zentrum von Musik und ließ aus ihr das zentrale Leitmedium der Jugendkultur werden. Der immense Erfolg der Beatles hatte allerdings zunächst erst einmal damit zu tun, dass sie in aller Öffentlichkeit vom uneingeschränkten Sieg Heranwachsender auf allen häuslichen Konfliktfeldern kündeten. Ihre Musik war das Lauteste, was es bis dahin zu hören gab. Traten die Beatles auf, war dies eine einzige Lautstärkeorgie, ohne dass da jemand sagen konnte: „Leiser drehen!“ In ihrem Aussehen bündelten sie genau das, was jeden Erwachsenen in einen Zustand der Panik versetzte, weil sie die textilen Statussymbole der Mannbarkeit – Anzug, Schlips und Kragen – mit ihren femininen Langhaarfrisuren zu einer Zeit, wo jede männliche Haarsträhne, die die Ohren auch nur berührte, schon als weibisch galt, treffsicher in eine Karikatur verwandelten. Und obwohl kaum älter als ihr Publikum, mussten sich die Beatles durch ihren Erfolg von

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keinem mehr bevormunden lassen und kosteten diesen Umstand in zahllosen Interviews, in denen sie nichts und niemanden ernst zu nehmen schienen, auch demonstrativ aus. Damit verkörperten sie in aller Öffentlichkeit – unüberhörbar und unübersehbar –, was bis dahin immer nur vereinzelt und isoliert stattfand, das trotzige Aufbegehren gegen Autoritätsmuster, die sich allein dadurch legitimierten, dass das eben immer schon so war. Das stärkte die Position der vielen kleinen Einzelkämpfer in den Kinderzimmern und ließ die Eltern angesichts der Welle, die da vor ihnen ablief und von den Medien ins Gigantische projiziert wurde, hilflos zurück. Die Beatgruppen, die Anfang der sechziger Jahre zunächst in England, dann im übrigen Europa – West wie Ost – aus

dem Boden schossen, lieferten den Soundtrack für das insgesamt problematisch, widersprüchlich und ambivalent gewordene Heranwachsen in einer sich rapide verändernden Gesellschaft. Die öffentlich zelebrierten Irritationen, die in den 1960er Jahren diese Entwicklung begleiteten und zu der Begriffsprägung „Beatlemania“ führten, hatten mit dem Umstand zu tun, dass „Jugend“ zu einem intensiv verhandelten Problem-Thema geworden war und dies bis heute in gewisser Weise ja auch geblieben ist. Dass Jugendliche aus den tradierten Verhaltensmustern auszubrechen begannen, wurde in diversen Fachöffentlichkeiten, unter Lehrern, Sozialpädagogen, Soziologen und Jugendfürsorgern vehement diskutiert und von einer Mehrheit des Medienpublikums an den eigenen Kindern erfahren. Im Konstrukt des Beatles-Fans als eines pathologisch verhaltensgestörten Heranwachsenden, der von der Musik in einen Zustand unkontrollierbarer Hysterie versetzt ist, schien die Jugendproblematik ihren griffigsten Ausdruck gefunden zu haben. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass vor allem die Bildmedien die Verhaltensweisen, die sie mit ihren Schnappschüssen porträtierten, in nicht unerheblichem

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Maße erst hervorbrachten. Die jugendlichen Musik-Fans agierten, umlagert von Fotografen und Kamerateams, in einem Spektakel auf einer imaginären Bühne, in dem sie die Hauptrolle spielten. Wo sonst wurde Heranwachsenden eine ähnlich große Aufmerksamkeit entgegengebracht? Der nachdenkliche Teil der Zeitgenossen stellte sich allerdings schon damals mit Bezug auf die jugendlichen Bands und ihr Publikum die Frage: „Sind sie Revolutionäre oder Konformisten; ahnungslose Opfer einer raffinierten Freizeitindustrie, die es auf den kläglichen Rest der Freiheit, die dieses Zeitalter einmal versprach, die Freizeit, abgesehen hat; Verlorene im geplanten Dschungel des Showbusiness – oder augenzwinkernde Eulenspiegel, die in den Rissen und Spalten eines brüchigen Systems leben, das so monolithisch fest gefügt nicht ist, wie es sich ausnimmt?“ (Seuss/Dommermuth/Maier 1965, o.P.)

Auch wenn sie stets beides waren, um die Musik herum entstand nun ein Diskurs, der sie zur Projektionsfläche für den Zeitgeist werden ließ. Dass dieser sich in der Jugend verkörperte und zu verkörpern hatte, galt inzwischen als allgemeiner Konsens. In den Songs der als Rockmusik firmierenden Jugendmusik wurden ab Mitte der 1960er Jahre Themen verhandelt, die wenige Jahre zuvor auch die kühnsten Visionäre nicht mit dem entstandenen Musikkult Jugendlicher in Zusammenhang gebracht hätten. Aus dem pubertären Geschrei kreischender Teenies war Ende der 1960er Jahre der „Sound der amerikanischen Kulturrevolution“ (Eisen 1969) geworden, im Wortsinn die Stimme einer Generation, die in der Musik die Erfahrung ihrer Gemeinschaft, gemeinsame Werte und Sinnkonstruktionen suchte. Es lag nahe, dass Heranwachsende die Welt, die sie sich klingend erlebbar machten, mit der Welt konfrontierten, die ihnen als Wirklichkeit gegenübertrat. Und je mehr sie sich selbst dabei in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten – besser Gleichgestimmten – als soziale Kraft erfuhren, desto realistischer schien der Anspruch, alternative Lebensentwürfe, Wertmuster und Sinnzusammenhänge per Musik auf eine Weise vorzuleben, vorauszuleben, die die Gesellschaft, deren Zukunft jede heranwachsende Generation verkörpert, nicht unverändert lässt. Jugendkultur und Musik waren zu einer sozialen Kraft geworden, die die Hoffnung auslöste, mit der Gitarre in der Hand die Welt verändern zu können. Nahezu alle prominenten Musiker und Bands haben in den Jahren 1967-1969 dieser Entwicklung Tribut gezollt. Die Beatles veröffentlichten 1968 als B-Seite ihrer Single Hey Jude den Song Revolution und die Rolling Stones steuerten im gleichen Monat mit Street Fighting Man von ihrem Album Beggars Banquet (1968) eine Straßenkämpfer-Ballade bei. Mick Jagger hatte den Text nach eigenem Zeugnis auf Anregung des Studentenführers und Vordenkers der Neuen Linken, Tariq Ali, geschrieben. Country Joe and the Fish, die in den USA zu den Wegbereitern des Psychedelic Rock gehörten, lieferten mit I-Feel-Like-I’m-Fixin’-To-Die Rag 1967 der Antivietnamkriegsbewegung einen der populärsten Protestsongs. Je näher die Musik dann mit dem Punk Rock, der New Wave, mit Heavy Metal und Grunge an die Lebensrealität Jugendlicher heranrückte, sich in jugendlichen Subkulturen entfaltete, denen sie zugleich einen Rahmen gab, desto mehr differenzierte sie sich in eine unüberschaubar gewordene Vielfalt an Spielweisen und Stilrichtungen aus. Es ist die „Subversion der Selbstbestimmung“ (Bianci 1996), die diesen Prozess bis