Positionspapier zum Rettungsdienst in Niedersachsen

Positionspapier zum Rettungsdienst in Niedersachsen Herausgeber: Deutsches Rotes Kreuz Landesverband Niedersachsen e.V. Erwinstr. 7, 30175 Hannover ...
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Positionspapier zum Rettungsdienst in Niedersachsen

Herausgeber: Deutsches Rotes Kreuz Landesverband Niedersachsen e.V. Erwinstr. 7, 30175 Hannover Tel.: 0511 28000 0, Fax 0511 28000 177 www.drklvnds.de, [email protected] Verantwortlich für den Inhalt: Landesgeschäftsführer Dr. Ralf Selbach Redaktion: Vertreter der Hilfsorganisationen Arbeiter-Samariter-Bund e. V. (ASB), Deutsches Rotes Kreuz e. V. (DRK), Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH) und Malteser Hilfsdienst e. V. (MHD) Stand: März 2011

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Zusammenfassung Der Rettungsdienst übernimmt im Alltag vielfältige, nicht mehr wegzudenkende Aufgaben im Rahmen der Gesundheitsvorsorge und Gefahrenabwehr und spielt eine wichtige Rolle als „Speerspitze“ des Bevölkerungsschutzes. Um dieser bedeutenden Funktion als integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes gerecht zu werden und sie auch für die Zukunft zu sichern und zu stärken, müssen die dafür erforderlichen politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen Arbeiter-Samariter-Bund e. V. (ASB), Deutsches Rotes Kreuz e. V. (DRK), Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. (JUH) und Malteser Hilfsdienst e. V. (MHD) nutzen im Rahmen ihres komplexen Hilfeleistungssystems die einzigartigen Synergie-Vorteile durch eine Verzahnung des Rettungsdienstes mit den anderen Elementen des Bevölkerungsschutzes. Der besondere Vorteil liegt dabei in der Vorhaltung ehrenamtlich geprägter Aufwuchssysteme (z. B. in Form von Schnell-Einsatz-Gruppen oder Einheiten des Katastrophenschutzes). Allerdings hängt der Zusatzwert der vielen ehrenamtlichen Helfer entscheidend von deren Erfahrungsschatz in der alltäglichen Gefahrenabwehr ab. Es ist daher unerlässlich, dass die Helfer am Regelrettungsdienst teilnehmen, weil sie nur so die notwendige Vorbereitung und Routine erlangen, um im Fall von Großschadenslagen schnell und zuverlässig Hilfe leisten zu können. Ohne den Einsatz der Hilfsorganisationen wäre das Notfallversorgungssystem um ein vielfaches teurer und in weiten Teilen nicht so leistungsfähig wie es sich heute darstellt. Neue Entwicklungen zeigen eine zunehmende Tendenz hin zu Vergabeverfahren. (Europaweite) Ausschreibungen ohne jede Steuerung gefährden jedoch unser einzigartiges Bevölkerungsschutzsystem. Das gleiche gilt für die als Reaktion darauf teilweise stattfindende Flucht in die (Re-) Kommunalisierung, also die Verstaatlichung, des Rettungsdienstes.

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Zur Sicherstellung eines effektiven Bevölkerungsschutzes halten wir folgende Punkte für notwendig: 1. Bereichsausnahme im GWB Es ist zu erörtern, ob und unter welchen Voraussetzungen nach dem Urteil des EuGH vom 29. April 2010 eine Bereichsausnahme im GWB möglich und wirksam ist. 2. Beschränkung der deutschen Regelungen im Vergaberecht auf die notwendigen unionsrechtlichen Vorgaben Eine solche Beschränkung macht viele formale Zwänge unnötig. Sie ist in jedem Fall europarechtskonform und hängt nur vom politischen Willen des deutschen Gesetzgebers ab. 3. Überarbeitung des Niedersächsischen Rettungsdienstgesetzes Hier muss insbesondere einer Verzahnung von Rettungsdienst und Katastrophenschutz im Sinne eines komplexen Hilfeleistungssystems Rechnung getragen werden. Nach der Entscheidung des EuGH vom 10.03.2011 zur Dienstleistungskonzession nach dem Bayrischen Rettungsdienstgesetz, sind Dienstleistungskonzessionen vergaberechtsfrei, unterliegen also nicht dem Kartellvergaberecht. Hier ist ein Auswahlverfahren unter Beachtung des Transparenzgebotes und des Diskriminierungs- und Willkürverbotes nach öffentlicher Bekanntmachung durchzuführen. Wir betrachten uns in dieser Frage als Partner der Niedersächsischen Landesregierung und bitten Sie, unter Berücksichtigung des EuGH Urteils, die aus unserer Sicht notwendigen Änderungen des Nds. Rettungsdienstgesetzes, zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen durch die Träger des Rettungsdienstes umzusetzen. 4. Neue rechtliche Einordnung des Rettungsdienstes im SGB V Beim Rettungsdienst steht die medizinische Versorgung im Vordergrund. Er ist daher aus den „Fahrkosten“ herauszunehmen und der „Krankenbehandlung“ zuzuordnen. 5. Prüfung von Handlungsoptionen im ressortübergreifenden Ansatz Um das hohe Schutzniveau des Bevölkerungsschutzes in Deutschland zu erhalten und nicht zu gefährden, müssen im Wege eines ressortübergreifenden Ansatzes neue Handlungsmöglichkeiten auf allen Ebenen beleuchtet werden.

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Der Rettungsdienst in Niedersachsen Die Entwicklung des Rettungsdienstes in seiner heutigen Konzeption reicht in die späten 1950er Jahre zurück, als erstmals ein Notarztsystem in der Form, in der es heute bekannt ist, in Dienst genommen wurde. In der ehemaligen britischen Besatzungszone haben die Hilfsorganisationen in Niedersachsen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges maßgeblich am Aufbau des Krankentransportes und später auch der Notfallrettung mitgewirkt. Zunächst auf der Grundlage des Personenbeförderungsgesetzes und ab 1992 des Niedersächsischen Rettungsdienstgesetzes war und sind die Hilfsorganisationen ein verlässlicher Partner der Landkreise und kreisfreien Städte. Wesentliche Beiträge zur Vereinheitlichung von Terminologien und Sachmitteln (Fahrzeugen) im Rettungsdienst wurde durch Festlegungen im Rahmen der Deutschen Industrienorm erreicht. Insbesondere die DIN 13050 regelt die Begrifflichkeiten des Rettungswesens. Sie beschreibt den Rettungsdienst als öffentliche Aufgabe der Gesundheitsvorsorge und der Gefahrenabwehr, die sich in Notfallrettung und Krankentransport gliedert. Die anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen bieten im Rahmen ihres komplexen Hilfeleistungssystems einen umfassenden und nachhaltigen Ansatz an, bei dem der Rettungsdienst ein integraler Bestandteil des Bevölkerungsschutzes ist. Der besondere Vorteil liegt darin, dass durch eine Verzahnung des Rettungsdienstes mit den anderen Elementen des Bevölkerungsschutzes einzigartige SynergieVorteile genutzt werden können. Diese Möglichkeit haben gerade wir als Hilfsorganisationen, da wir über eine langjährige Tradition von ehrenamtlich geprägten Aufwuchssystemen, z. B. in Form von Schnell-Einsatz-Gruppen und Einheiten des Katastrophenschutzes, verfügen, die es uns ermöglichen, selbst im Großschadensfall noch genug Personal zu mobilisieren, um schnell und wirkungsvoll Hilfe leisten zu können. Als praktische Beispiele für ein ideales Zusammenspiel der ehrenamtlich geprägten Aufwuchssysteme kann der Massenunfall auf der BAB 2 im Juli 2009 zwischen Hannover und Braunschweig dienen, an dem 259 Fahrzeuge beteiligt waren. Die 5

Hilfsorganisationen waren mit insgesamt 148 haupt- und ehrenamtlichen Einsatzkräften und 60 Fahrzeugen vor Ort und versorgten die 70 Verletzten. Durch den Einsatz von Rettungswagen der Bereitschaften konnten die Rettungswachen, welche durch den Großschadensfall längerfristig nicht besetzt waren, binnen kürzester Zeit nachbesetzt und damit wieder in Dienst genommen werden. Die Aufbauleistungen der anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen, ihre Leistungsstärke, Verlässlichkeit, ihre Kontinuität und die Dienstleistungstiefe

vom

Regelrettungsdienst

über Großschadensereignisse bis zur Bewältigung von Katastrophenfällen machen die Hilfsorganisationen zu einem unverzichtbaren Partner im Bereich der Gefahrenabwehr und der Daseinsvorsorge und -fürsorge.

Der Rettungsdienst im SGB V Mit dem Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz – GRG) vom 20. Dezember 1988 erfolgte die Einordnung des Rettungsdienstes unter „Fahrkosten“ gem. § 60 SGB V. Diese Einordnung widerspricht dem medizinischen Charakter dieser Aufgabe. Der Rettungsdienst ist eine medizinisch determinierte Leistung und keine Transportleistung im Sinne einer reinen Personenbeförderung. Die Subsumierung des Rettungsdienstes unter Fahrkosten trägt dem medizinischen Charakter dieser Leistung nicht Rechnung. Dies ist etwa dasselbe, als würden Krankenhäuser dem Hotel- oder Beherbergungsgewerbe zugeordnet. Der Transport eines Patienten ist keine „Fahrt“, sondern dient der Fortführung der eingeleiteten medizinischen Maßnahmen bis zur definitiven klinischen Behandlung. Der Rettungsdienst muss deshalb durch die Aufnahme als eigenständige „Krankenbehandlung“ eindeutig dem Gesundheitsversorgungssystem zugeordnet und aus den „Fahrkosten“ (§ 60) des 5. Sozialgesetzbuches herausgenommen werden.

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Eine Änderung im SGB V unterstützt außerdem die Auffassung von ASB, DRK, JUH und MHD, dass es sich beim Rettungsdienst um eine hoheitliche Tätigkeit handelt.

Verzahnung von Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz Der Staat ist kein Generalversicherer, der alle Lebensrisiken abfangen kann. Man erweckt gelegentlich in der Bevölkerung den Eindruck, gerade in medizinischen Notfällen könne und dürfe man sich auf ein „sicheres Netz“ verlassen. Eigen- und Nachbarschaftshilfe werden schon fast zu Fremdwörtern. Der Ruf nach der Einhaltung von Hilfeleistungsfristen ersetzt die Bereitschaft, das therapiefreie Intervall nach einem Notfall durch eigene Erste Hilfe zu überbrücken. Auch in der Ersthelferausbildung sind die anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen in Niedersachsen langjährig bewährte Partner. Die anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen verfügen über ein komplexes Hilfeleistungssystem. Neben den Einrichtungen und Einheiten des Katastrophenschutzes und Rettungsdienstes werden auch solche aus dem Bereich des Wohlfahrtsverbandes in die Bekämpfung größerer Notfälle und Katastrophen eingebunden, um Menschen medizinisch zu versorgen und zu betreuen (Unterkunft, Verpflegung, soziale Betreuung, psychosoziale Notfallnachsorge). Der Rettungsdienst wird im Vorfeld des Katastrophenschutzes und somit als seine „Speerspitze“ tätig. Beide Systeme unterstützen, verstärken und ergänzen sich gegenseitig und dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Dies wird in der Praxis dadurch deutlich, dass Schnelleinsatzgruppen des Katastrophenschutzes bei größeren Notfällen zusätzlich zum Rettungsdienst alarmiert werden. Anhand aktueller Ereignisse, wie z. B. die Evakuierung der Bevölkerung in Göttingen aufgrund der Bombenräumung und Explosion am 01.06.2010, wird die wirksame Verzahnung deutlich. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer des Katastrophenschutzes arbeiten im hauptamtlichen Rettungsdienst mit, umgekehrt hauptamtliche Mitarbeiter des Rettungsdienstes im Katastrophenschutz. Das personelle Einsatzpotenzial der anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen im Katastrophenschutz würde massiv geschwächt, wenn die Hilfsorganisation Teile oder den ganzen öffentlichen Rettungsdienst verlieren. Personelle, sich ge7

genseitig ergänzende Ressourcen, würden entfallen. Katastrophenschutzhelfer könnten keine Einsatzerfahrung insatzerfahrung im täglichen Regelrettungsdienst mehr machen. Die Einheit von Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz als integrales System der nichtpolizeilichen polizeilichen Gefahrenabwehr muss erhalten bleiben. bleiben

Vergabe – Rettungsdienst ist mehr als Blaulicht auf auf vier Rädern Die auf den Prämissen Markt und Wettbewerb aufbauende Grundstruktur der EuroEur päischen Union hat den Rettungsdienst als „marktfähige Dienstleistung“ identifiziert. Die zunehmende Durchführung von förmlichen Vergabeverfahren bei der BeschafBescha fung von rettungsdienstlichen Leistungen könnte in den niedersächsischen geg wachsenen Strukturen zu erheblichen Veränderungen führen. Derzeit bestehen vielerorts stabile rettungsdienstliche Strukturen. Die D anerkannten gemeinnützigen

Hilfsorganisationen

führen den Rettungsdienst vielfach seit Jahrzehnten zehnten

ohne

Beanstandungen

durch. Gleichzeitig wirken sie im regionalen Katastrophenschutz mit, wo traditionell und unverzichtbar ehrenamtliches EnE gagement von Helferinnen innen und Helfern die Stütze des Systems sind. Somit haben diese Strukturen auch gesellschaftliche Bedeutung. Ein „Herausschneiden“ des Rettungsdienstes als marktfähige Dienstleistung und die damit einhergehend „enge“ Betrachtung auf die Wirtschaftlichkeit bedeutet, den Blick auf das Gesamtrisiko zu vernachlässigen. vernachlässigen. Der Einsatzwert der örtlich ehrenamtlichen UnterstützungsUnterstützungs und Aufwuchskräfte sowie ihre flächendeckende PräPr senz würden deutlich abnehmen, das bewährte vernetzte System ernsthaft in Frage gestellt. Eine immer wiederkehrende Ausschreibung von rettungsdienstlichen Leistungen führt zu einem zunehmenden Arbeitsplatzrisiko für die Beschäftigten. Diese verlieverli ren ihren Arbeitsplatz, wenn ihr Arbeitgeber bei einer Ausschreibung keinen Auftrag oder nur einen Teilauftrag erhält.

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Die isolierte Betrachtung der Aufgabe „Rettungsdienst“ (Notfallrettung und qualifizierter Krankentransport) wird ihrer Bedeutung nicht gerecht und schwächt im Falle von Ausschreibungen, die sich primär am Preis orientieren, das Gesamtsystem Bevölkerungsschutz. Einfließen in eine rettungsdienstliche Ausschreibung sollte neben der reinen rettungsdienstlichen Leistung z. B. auch explizit die Ausbildung von Ersthelfern. Ersthelfer stehen am Anfang jeder Rettungskette und sind unerlässlich zur Verkürzung des therapiefreien Intervalls mit entsprechenden Auswirkungen auf die weitere (klinische) Versorgung des Patienten. Achtzig Prozent der Kosten im Rettungsdienst sind Personalkosten. Ein Einsparpotenzial wird daher immer bei den Personalkosten gesehen. Spürbare Einsparungen im Sachkostenbereich (z. B. an den Fahrzeugen) sind kaum umsetzbar. Eine weitere Reduzierung der Vergütungen oder eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (wechselnde Arbeitgeber, unsichere Zukunftsperspektive, unregelmäßige Dienstzeiten etc.) machen den Beruf des Rettungsassistenten unattraktiv. Im Wettbewerb mit anderen Berufen wird es schwieriger werden, qualifiziertes Personal zu gewinnen.

(Re-) Kommunalisierung des Rettungsdienstes Das Subsidiaritätsprinzip muss insbesondere im Rettungsdienst gelten und Anwendung finden, da die anerkannten gemeinnützigen Hilfsorganisationen nachweislich in der Lage sind, die Notfallrettung und den qualifizierten Krankentransport entsprechend der heutigen Leistungsstandards kostengünstig auszuführen. Eine Kommune darf nur für den Fall, dass kein geeignetes Unternehmen die Aufgabe übernehmen will, selber tätig werden. Eine (Re-) Kommunalisierung des Rettungsdienstes wird zu einem deutlichen Anstieg der betriebswirtschaftlichen Gesamtkosten des Rettungsdienstes führen und damit das von den gesetzlichen Krankenkassen und anderen Kostenträgern zu finanzierende Gesundheitswesen zusätzlich unverhältnismäßig hoch belasten. Dies gilt es zu vermeiden.

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Nach Kündigung oder Auslaufen eines Beauftragungsvertrages und Übernahme des Rettungsdienstes ausschließlich durch die Kommune ohne Betriebsübergang fallen sog. „nachlaufende Kosten des Rettungsdienstes“ an, die als Kosten des Rettungsdienstes nach bisher zu dieser Fragestellung vertretenen Rechtsauffassungen nicht mehr über die Kostenträger als Kosten des Rettungsdienstes refinanziert werden können. Die Möglichkeiten der hiervon betroffenen Verbände sich örtlich weiterhin umfassenden karikativen Aufgabe widmen zu können, werden dadurch erheblich eingeschränkt. Aber auch auf die Kommune kommen Probleme zu: Nichtaufrechterhaltung des erweiterten Rettungsdienstes (Katastrophen- und Bevölkerungsschutz) in der erforderlichen Quantität und Qualität Ehrenamtliche Dienste der Hilfsorganisationen müssen eingestellt werden, da diese u. a. mit vielen hauptamtlichen Mitarbeitern erbracht werden (durch die intensive Bindung zur Organisation) Die Aus- und Fortbildung der Bevölkerung und der Ersthelfer in den Unternehmen in der Region im Rahmen der Breitenausbildung in Erster Hilfe wird durch den fehlenden Praxisbezug der Ausbilder in ihrer Qualität und Aktualität sinken Die Kommunen tragen das gesamtbetriebswirtschaftliche Risiko. Sollte das vereinbarte Budget z. B. aufgrund eines hohen Krankenstandes nicht ausreichen, haben im Moment die Beauftragten im Rahmen ihres Budgets diese nicht gedeckten Kosten zu tragen. Zusätzliche finanzielle Belastungen öffentlicher Haushalte und sozialer Sicherungssysteme

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Urteil des EuGH vom 29.04.2010 Weder die Ausschreibung rettungsdienstlicher Leistungen als vergaberechtlicher Dienstleistungsauftrag nach den Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen noch die ausschließliche Kommunalisierung des Rettungsdienstes lösen die zurzeit im Rechtsbereich insbesondere nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes diskutierten Probleme. Der EuGH hat mit Urteil vom 29.4.2010 (C-160/08) festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Vergabe von Rettungsdienstleistungen insoweit gegen Vorschriften der Richtlinie 2004/18/EG vom 31.3.2004 (und die entsprechenden Vorgängerregelungen) verstoßen hat, als bestimmte Bekanntmachungspflichten nicht eingehalten wurden (Art. 35 Abs. 4 der Richtlinie). An weitergehenden Festlegungen sah sich das Gericht wegen der mangelnden Sachverhaltsaufbereitung der Klage durch die EU-Kommission gehindert. Der EuGH hat in dem Urteil festgestellt, dass sich die Verletzung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen auf einen Verstoß gegen die nachträgliche Bekanntmachungspflicht beschränkt. Und es sich bei der Vergabe von Rettungsdienstleistungen um Dienstleistungsaufträge handelt, die nach den Vorschriften der Vergabekoordinierungsrichtlinie zu vergeben sind. Eine generelle Ausschreibungspflicht beinhaltet das Urteil nicht. Auch die aktuelle Rechtsprechung des OVG Niedersachsen (11 ME 583-09 Beschl. v. 11.06.2010) geht weiterhin von einer Wahlmöglichkeit aus: … „Ob eine Ausschreibungspflicht nach dem GWB-Vergaberechtsregime dann nicht besteht, wenn auch die Beauftragung selbst durch Verwaltungsakt (mit Nebenbestimmungen) und nicht im Vertragswege erfolgt, ist vom Europäischen Gerichtshof nicht entschieden worden. Der erkennende Senat hält in einem solchen Fall den Verzicht auf das Vergabeverfahren nach §§ 97 ff. GWB nicht von vornherein für ausgeschlossen, zumal das niedersächsische Rettungsdienstrecht weder das bislang praktizierte zweistufige Verfahren noch eine vertragliche Vergabe von Rettungsdienstleistungen vorschreibt, sondern dies gerade offen lässt. …..

Insbesondere der dort betonte ausdrückliche Verzicht auf gesetzliche Vorga-

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ben dürfte darauf hindeuten, dass die Rettungsträger in der Ausgestaltung des Auswahl- und Beauftragungsverfahrens landesrechtlich weitgehend frei sein sollen. Der Senat sieht aber keinen Anlass, diese Frage im Rahmen des vorliegenden Verfahrens abschließend zu beantworten.“ Eine Beauftragung durch Verwaltungsakt wäre derzeit möglich. Zuvor können potentielle Bewerber durch ein Auswahlverfahren nach „Vergabe und Vertragsordnung für Leistungen“ (VOL/A 2009) mit entsprechender Bekanntmachung ausgewählt werden.

Urteil des EuGH vom 10.03.2011 Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10.03.2011 das Konzessionsmodell, in dem aufgrund des Vorliegens einer Dienstleistungskonzession das europäische Vergaberecht, also die Vergabekoordinierungsrichtlinie (VKR), keine Anwendung findet, bestätigt. Auf Basis der Entscheidung des EuGH handelt sich im Rahmen des Konzessionsmodells i.d.R. um Dienstleistungskonzessionen und nicht um Dienstleistungsaufträge. Entscheidendes Kriterium ist das Fehlen eines unmittelbaren entgeltlichen Auftrages, also die Tatsache, dass der Leistungserbringer das Entgelt nicht direkt vom Auftraggeber, sondern von einem Dritten erhält. Außerdem spricht die Übertragung des wirtschaftlichen Betriebsrisikos auf den Leistungserbringer für das Vorliegen einer Dienstleistungskonzession. Hier ist schon ein „erheblich eingeschränktes Betriebsrisiko“ ausreichend, sofern der Leistungserbringer, wie im Konzessionsmodell üblich, das Entgelt von einem Dritten erhält. Für die Übernahme eines solchen erheblich eingeschränkten Betriebsrisikos reicht es insbesondere aus, dass die Höhe der Benutzungsentgelte von jährlichen Verhandlungen mit Dritten abhängen und der Leistungserbringer keine Gewähr für die vollständige Deckung seiner Kosten hat. Bei Verträgen über Dienstleistungskonzessionen im Rahmen des Konzessionsmodells gelten die strengen formalen Kriterien aus GWB und VOL/A nicht. Auch die europäische Vergabekoordinierungsrichtlinie (VKR) findet keine Anwendung. Allerdings bedeutet das nicht, dass keine Auswahlverfahren erforderlich sind. Unabhängig von Submissions- und Konzessionsmodell ist das europäische Primär12

recht anwendbar. Daraus ergeben sich die Grundsätze von Transparenz und Nichtdiskriminierung, die auch bei Vorliegen einer echten Dienstleistungskonzession anzuwenden sind, wenn ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht. Darauf weist auch der EuGH am Ende seiner Entscheidung vom 10. März 2011 noch einmal ausdrücklich hin. Die Vergabe von Rettungsdienstleistungen muss also in einem willkürfreien Verfahren stattfinden, an dem allen geeigneten Bewerbern die Möglichkeit der Teilnahme gegeben wird. Dazu gehört grundsätzlich eine vorherige Bekanntgabe des Auswahlverfahrens.

Überarbeitung der Rettungsdienstgesetze der Länder Das GWB berechtigt in § 97 Absatz 4 den Landesgesetzgeber dazu, Anforderungen an die Eignung der Bieter zu stellen. Rettungsdienst ist Ländersache. Der Landesgesetzgeber kann daher in den Landesrettungsdienstgesetzen Eignungskriterien für die Vergabe von rettungsdienstlichen Leistungen festlegen und die bundesgesetzlich vorgegebenen Kriterien wie Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit näher konkretisieren. In diesem Zusammenhang sollte der Landesgesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nutzen und die Gründe, die ihn zur Privilegierung von Hilfsorganisationen bewogen haben, in Form von Eignungskriterien festlegen. Im Rahmen dieser Eignungskriterien sollte vor allem der Verzahnung von Rettungsdienst und Katastrophenschutz Rechnung getragen werden, indem verlangt wird, dass der Anbieter des Rettungsdienstes in der Lage sein sollte, auch den Katastrophenschutz sicherzustellen. In diesem Zusammenhang kann man auch fordern, dass der Anbieter über ein System mit einer Vielzahl von ortsnah ansässigen ehrenamtlichen Helfern verfügt, die im Großschadensfall sofort zur Verfügung stehen. Im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem EuGH hat die Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen vom 11. Februar 2010 auf die bereits von der Kommission vorgetragene Möglichkeit hingewiesen, dass die Verfügbarkeit vor Ort als Auswahlkriterium berücksichtigt werden kann und es sich dabei um eine vergaberechtskonforme Alternative handelt. Auch der EuGH verweist in seinem Urteil vom 29. April 2010 auf die Möglichkeit einer

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„Verpflichtung tung zur Vorhaltung von ausreichenden menschlichen und technischen Mitteln an Ort und Stelle“. Außerdem sollte in den Rettungsdienstgesetzen der Länder auch ein klares politipol sches Bekenntnis gegen eine (Re-) (Re Kommunalisierung enthalten sein. Man könnte z. B. in Form einer Subsidiaritätsklausel festlegen, dass der Staat die Aufgabe des Rettungsdienstes nur dann selbst wahrnimmt, wenn Dritte (Hilfsorganisationen oder Private) dazu nicht willens oder in der Lage sind.

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Fazit ASB, DRK, JUH und MHD sind sich ihrer besonderen Rolle als nationale Hilfsgesellschaften bewusst. Allerdings ist es nur möglich, das hohe Schutzniveau des Rettungsdienstes und des gesamten Bevölkerungsschutzes in Deutschland zu erhalten, wenn jetzt auch die Kostenträger, die staatlichen Verantwortungsträger und die politischen Mandatsträger lösungsorientiert zusammenwirken. Aus Europa wird zwar ein Rahmen vorgegeben. Die Gestaltungsspielräume des deutschen Gesetzgebers, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene, sind aber nicht zu unterschätzen. Diese Gestaltungsspielräume müssen jetzt im Sinne der Erhaltung eines effektiven Bevölkerungsschutzes genutzt werden. Die Vergabe von rettungsdienstlichen Leistungen durch eine europarechtskonforme Ausschreibung ist nur dann akzeptabel, wenn die Leistungsbeschreibung die spezifischen Aufgaben des Rettungsdienstes (Notfallrettung und qualifizierter Krankentransport) und dessen Verzahnung mit übergeordneten Leistungen des Bevölkerungsschutzes – und diese als homogenes und qualitativ hochwertiges System –, die besonders durch das Zusammenspiel hauptamtlicher Kräfte (insbesondere im Rettungsdienst) und des ehrenamtlichen Aufwuchspotentials (z. B. Schnell-EinsatzGruppen, Katastrophenschutz) hervorstechen, wiederspiegelt. Der Preis kann und darf nicht das einzige Zuschlagskriterium sein. Die Personalkosten machen fast 80% des Preises aus. Eine zu starke Gewichtung des Leistungspreises würde zwangsläufig den Druck auf die Vergütungsstrukturen der Anbieter erhöhen und könnte einen Abwärtstrend bei den Gehältern des Rettungsdienstpersonals auslösen. Dies würde nachhaltig die Attraktivität des Berufsbildes Rettungsassistent senken und mit Blick auf die demographische Entwicklung zu qualitativen- und Nachwuchs-Problemen in diesem Bereich führen. Überall dort, wo Hilfsorganisationen aus dem Rettungsdienst ausscheiden, wird die Katastrophenschutzvorhaltung sowohl personell als auch materiell deutlich zurückgeführt werden oder u. U. ganz wegfallen. Gleichzeitig würden die bisher für den Bereich des Katastrophenschutzes zur Verfügung gestellten Eigenmittel der Hilfsorganisationen wegfallen. Im Ergebnis werden die notwendigen Qualitätsansprüche (diese werden auch vom Europäischen Gerichtshof gefordert) nicht erreicht werden können.

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