Predigt am 13.1.2013 in der Kreuzkirche Reutlingen über Johannes 12,34-36 Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer Liebe Gemeinde, an diesem Sonntag fällt noch einmal weihnachtlicher Glanz auf den Gottesdienst. Sie können noch einmal unsere wunderschöne Krippe bewundern. Und ich möchte Ihre Aufmerksamkeit heute auf ein weihnachtliches Bild lenken. Sie finden es hier abgedruckt. Auf dem Bild sehen Sie eine Mutter, gut eingehüllt in ihren Mantel. Der Mantel schützt nicht nur sie selbst, sondern auch das Kind in ihren Armen. Es ist die Mutter Gottes, die Madonna von Stalingrad. Das Bild ist wohl das bekannteste Kunstwerk des Zweiten Weltkrieges. Es stammt aus dem Kessel von Stalingrad und ist entstanden an Weihnachten im Jahr 1942. Der Arzt und Pfarrer Dr. Kurt Reuber hat es vor gerade 70 Jahren auf der Rückseite einer Landkarte dort im Feld gemalt – Sie sehen noch die Faltknicke der Landkarte. Er hat dort in Stalingrad, in eisiger Kälte und in militärisch aussichtsloser Situation, mit den Soldaten einen Weihnachtsgottesdienst gefeiert und eigens dafür das Bild gemalt. Dieser Gottesdienst und vor allem das Bild muss die Soldaten sehr 1

berührt haben. Die allermeisten von ihnen sind nicht mehr lebend aus diesem Kessel herausgekommen. Vom Maler selbst stammen die Worte, die das Bild wie einen Rahmen umgeben: „Licht – Leben – Liebe“.

Liebe Gemeinde, Das Wort „Licht“ ist ein zentrales Thema in unserem Predigttext heute. „Wandelt (im Licht), solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle“, sagt Jesus im Johannesevangelium (Joh 12,35). Licht, Glanz, Helligkeit – das ist das große Thema von Weihnachten. Die Klarheit des Herrn leuchtet auf den Feldern von Bethlehem bei den Hirten, so dass sie aufschrecken und sofort zum Kind in der Krippe gehen. Der leuchtende Stern führt die drei Könige auf ihrem weiten Weg aus dem Osten nach Bethlehem in den Stall zum Kind. „Wandelt (im Licht), solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle“, sagt Jesus in unserem Predigttext. Liebe Gemeinde, Leben. Licht. Liebe. Das sind auch die Themen unseres Predigttextes. Da scheint auch das Weihnachtslicht. Und in diesem Weihnachtslicht erkennen wir schon das Licht von Ostern. Da ist schon das Licht des auferstandenen Gottessohnes verborgen. 2

Wie an Weihnachten steht auch hier der Himmel offen, und wir sehen himmlisches Licht. Oder noch besser gesagt: Wenn wir auf den auferstandenen Gottessohn schauen, sehen wir das Licht seines und unseres Vaters im Himmel. Dieses Licht sollen wir in uns aufnehmen. Die Worte, die der Evangelist Johannes Jesus in den Mund legt, sind keine Menschenworte, sondern die Worte des Auferstandenen. Sie rufen uns auf, unser Leben im himmlischen Licht zu gestalten und Licht um uns zu verbreiten. Wir wissen nur zu gut: Viele Menschen heute müssen ihr Dasein auf der Schattenseite des Lebens fristen. Viele von ihnen haben überhaupt eine Chance, auf die Lichtseite zu gelangen. Die einen im Licht, die anderen im Schatten. Ist das bloßes Schicksal? Viele Menschen werden von Menschenhand in die Dunkelheit gestoßen. In diesen Tagen, am 27. Januar, jährt sich zum 68. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz. Sechs Millionen unserer jüdischen Schwestern und Brüder, darunter über eine Million Kinder, wurden von Christen überfallen und umgebracht. Dunkle Machenschaften, sie scheuen das Licht. Menschen nehmen Menschen das Leben. Furchtbare Finsternis. In wesentlich verkleinertem Maßstab und ausschnittsweise anhand einzelner Schicksale, aber deshalb vielleicht fassbarer, konnten wir das Grauen letzte Woche im Fernsehen nacherleben: im Dreiteiler über das berühmte Hotel Adlon in Berlin – vielleicht haben Sie den Film gesehen.

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Christen, die so manipuliert werden und sich manipulieren lassen, dass sie gemein, brutal und bereit sind, andere Menschen einfach umzubringen. Furchtbare Finsternis, die die Ältesten unter uns noch erlebt haben. Aber auch heute: Täglich gibt es Anlass, unzähliger Menschen zu gedenken, die, als ob sie überfallen würden, in die Finsternis geraten. Gott sei es geklagt. Da ist eine plötzliche Krankheit, die unsere Leistungsfähigkeit und die Kraft, das Leben zu gestalten, einschränken kann. Da sind junge Menschen, die krank werden und sterben müssen. Wir erleben zwischenmenschlichen Kälteeinbruch in unserer nächsten Umgebung. Beziehungsabbruch. Naturkatastrophen, Gewalt und Hass, Kriege, Armut, Hunger. Wie viel Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe. Sehnsucht nach einem Licht, das kein Irrlicht ist. Nicht jedes Licht ist ein gutes Licht. Es gibt kaltes und warmes Licht. Grelles, stechendes Licht und Licht, das meinen Lebensweg erhellt. Licht, das mir leuchtet, damit ich weiß, wohin ich gehe. Morgenlicht wie am ersten Schöpfungstag. „Morgenglanz der Ewigkeit.“ Oder moderner: „Morgenlicht leuchtet.“ „Wandelt (im Licht), solange ihr das Licht habt …“, mit diesem Aufruf antwortet Jesus den Menschen, die ihn damals in Jerusalem umgeben. Jesus will das Beste für sie. Allerdings schränkt er ein: „Solange ihr das Licht habt“. Ihr habt nicht unendlich viel Zeit. „Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch“ - „Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt“. Der auferstandene Jesus von Nazareth, das Licht in Person. Aber „der Menschensohn“ stellt sich mit seinem Ruf zum Glauben nicht selbst 4

ins Licht, sondern Gott, der ihn gesandt hat: „Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat“, sagt Jesus im weiteren Zusammenhang seiner Rede (Joh 12,44). „Wer ist dieser Menschensohn?“, hallt es Jesus aus dem Volk entgegen. Die Fragenden beziehen sich auf die Bibel, sie nennen sie zusammenfassend „das Gesetz“ oder, wie unsere jüdischen Schwestern und Brüder sagen, „die Thora“. Der Evangelist Johannes nimmt uns mitten hinein in den Streit um das rechte Bibelverständnis und um Jesus, der mit seiner Auslegung Aufsehen erregt. Der Streit um Jesus und wie die Bibel zu verstehen ist, trieb nicht nur die Gemeinden damals um. Bis heute halten uns diese Fragen in Atem, nicht allein innerhalb unserer christlichen Kirchen. In die Auseinandersetzung um Jesus und die Bibel hören wir jetzt drei verschiedene Stimmen. Sie ringen um Glauben und Leben, um Licht, „Erleuchtung“. Wir hören eine Stimme aus dem jüdischen Volk: (1. Hans-Jürgen Vohrer) Ist dieser Jesus nicht einer der vielen Wanderprediger, die durch das Land ziehen? Sind sie dazu überhaupt berechtigt, beauftragt? Predigen, lehren - dies ist doch eine Sache von Menschen, die dazu ausgebildet sind. Darum haben wir die Schriftgelehrten. Sie kennen sich in der Bibel aus, sie befassen sich täglich intensiv mit den Heiligen Schriften und bemühen sich, sie zu verstehen. Astrid: Da ist die Stimme eines Pharisäers: (2. Edeltraud Faigle) Aber es gibt unter uns auch die Pharisäer. Ich bin einer von ihnen. Ich kann wie die meisten kein Bibelstudium vorweisen. Dennoch 5

lese ich jeden Tag in der Bibel und bin nicht weniger daran interessiert. Mit meinem gesunden Menschenverstand, den ich Gott verdanke, suche ich in meiner Bibel nach lebenspraktischen Weisungen. Ich möchte meinen Glauben leben und damit Gott ehren. Ich weiß, wie wichtig Jesus in unserer Bibel das Gebot der Nächstenliebe ist. Er stellt es gleichgewichtig neben das der Gottesliebe. Er sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Nach meiner Überzeugung stehen wir Pharisäer Jesus oft näher, als es in den Evangelien dargestellt wird und uns nachgesagt wird. Die Bibelworte und Erklärungen klingen aus dem Mund Jesu so anders. Sie überraschen mich und finden Anklang bei mir. Auf einmal weiß ich, welchen Weg ich gehen soll. Astrid: Da ist noch eine andere Stimme aus dem jüdischen Volk: (3. Kurt Frank) Sollte Jesus, dieser Galiläer, der Messias sein? Oder ist es Anmaßung, wenn er sich auf eine Stufe mit dem verheißenen „Messias“ und „Menschensohn“ stellt? Wer darf das von sich behaupten? Aber er scheint auch die Gabe des Heilens zu haben, und er führt sie auf unseren Gott zurück. Sind die Menschen vielleicht zu leichtgläubig? Hier ein Heilungswunder, dort eine Massenspeisung und geschickte Rhetorik - schon verlieren sie den Verstand und fallen auf alles herein. Aber wenn dieser Jesus wirklich der Messias ist, der von Gott eingesetzte 6

König, um sein Volk aus der Hand der Römer zu retten? Immerhin sieht er sich als Lichtgestalt. Er sagt sogar von sich: „Ich bin das Licht der Welt“. Da ist noch seine besondere Art, die Bibel auszulegen. Steht darin nicht, dass der Christus immer bleiben wird? Wieso kann er sagen: „Der Menschensohn muss erhöht werden“? Das verstehe ich nicht. Gut, dass sie ihn fragen: „Wer ist dieser Menschensohn?“ Es ist auch meine Frage. Ich bin hin und her gerissen. Aber irgendetwas berührt mich an seiner Person, ich kann nicht an ihr vorbei. Es ist, als ob es in meinem Leben hell wird.

Liebe Gemeinde, wir sind Christinnen und Christen, Angehörige einer Kirche, die sich auf Jesus von Nazareth beruft. Ich fühle mich meinen „älteren“ jüdischen Schwestern und Brüdern verbunden, und ich verstehe viele Fragen, die Christinnen und Christen auch heute stellen. Mit der Person Jesu habe ich es manchmal leichter und nicht selten auch schwer. Seine radikale Lehre, die die Liebe über alles setzt und uns dazu ermutigt, sogar dem eigenen Feind mit Liebe zu begegnen, fordert mich heraus. Seine Sicht lässt mich die Welt mit anderen Augen sehen. Ich sehe die Not und das Leid anderer Menschen – materiell und auch manche seelische Not. Und ich frage mich, was ich dazu beitragen kann, um anderen Menschen beizustehen und etwas vom Himmelslicht in diese Welt hineinzutragen. Jesu Art zu glauben, weckt in mir den Wunsch, etwas davon in meinen Alltag mitzunehmen. Ich sehe meine Aufgabe, Licht und Wärme zu verbreiten, die von ihm ausgehen. 7

Jesus ist für mich ein gutes Licht. Licht, das von Gott kommt. Der „Menschensohn“ ist mir und Ihnen, allen Menschen, nahe. Glaubt mit mir und lebt mit mir. Geht mit mir meinen Weg. „Nachfolge“, so nennt es das Neue Testament. Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind (Jes 8,23). Das Licht scheint schon in der Finsternis (Joh 1,5). Jesu Worte stoßen an, bewegen, fragen mich, wo ich meine Aufgaben sehe.

Liebe Gemeinde, wer ist dieser „Menschensohn“? Jede Zeit wird diese Frage neu stellen und jeder Mensch für sich persönlich. Wie schmerzlich muss damals die Trennung in den jungen Gemeinden gewesen sein, die sich in Glauben, Hoffnung und Liebe auf Jesus und seine Gottesbotschaft beriefen. Wie verhängnisvoll waren die Folgen jener Spaltung zwischen Juden und Christen. Da war die glühende Erwartung einer Rettergestalt, eines Messias einerseits, die Juden und Christen verbinden, und andrerseits die Verheißung aus dem Alten Testament, aus der Hebräischen Bibel, dass der Christus „in Ewigkeit“ bei ihnen bleibt. Was wäre geworden, wenn damals in den jungen Gemeinden die unterschiedlichen Bibelauslegungen und die sich daraus ergebenden Spannungen in eine „versöhnte Verschiedenheit“ geführt hätten? Wenn der „Streit um Jesus“ und die späteren Streitigkeiten nicht zur gegenseitigen Verdammung, sondern zur Einheit in der Vielfalt, zur „Familie Gottes“ geführt hätten?

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So bleibt bis heute die Frage der Menschen jüdischen Glaubens bestehen, bleibt der Anstoß bestehen: Ein leidender, sterbender und sogar hingerichteter Christus – kann es das geben? Für den Evangelisten Johannes ist der leidende, sterbende, am Kreuz hingerichtete Jesus von Nazaret der am Kreuz „Erhöhte“, der Messias. Die herkömmlichen religiösen Begriffe und Denkgewohnheiten gerieten damals in der Auseinandersetzung mit Jesus und seiner Botschaft ins Wanken, und es ist so bis heute.

Schauen wir noch einmal auf das Bild der Stalingrader Madonna. Licht. Leben. Liebe. Für die Soldaten an Weihnachten des Jahres 1942 im Kessel von Stalingrad war das keine theologische Frage und wohl auch keine Frage des Glaubens. Sie wollten leben. Sie sehnten sich nach dem Weihnachtslicht, nach Hoffnung, dem Grauen zu entkommen. Und sie sehnten sich an Weihnachten besonders nach ihren Lieben: ihren Frauen, ihren Kindern und Eltern. Das Bild mit der Schutzmantelmadonna hat vielen damals Kraft gegeben. Vielleicht konnten sie sich für kurze Zeit so geborgen fühlen wie das Kind: eingehüllt im Mantel seiner Mutter. Licht. Leben Liebe. Es ist, als ob der Arzt und Pfarrer Dr. Kurt Reuber damit drei Ursehnsüchte von uns Menschen festgehalten hat. Sie bewegen uns 9

Menschen nicht nur damals, sondern genauso auch heute und morgen. Licht. Leben. Liebe. Tragen wir als Christinnen und Christen dazu bei und setzen wir unsere ganze Kraft dafür ein, dass unsere Sehnsucht nach Licht, Leben und Liebe immer wieder in Erfüllung geht. Amen.

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