Nr Januar 2011

Nr. 1 | 30. Januar 2011 Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914–1918 | Max Frisch Wiedergelesen von Andreas Isenschmid | Umbert...
Author: Georg Blau
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Nr. 1 | 30. Januar 2011

Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914–1918 | Max Frisch Wiedergelesen von Andreas Isenschmid | Umberto Eco Neue Bücher | Kurt O. Wyss Aus dem Innenleben des EDA | Eugen Sorg Die Lust am Bösen | Weitere Rezensionen zu Martin Suter, Angelika Overath, Joseph Goebbels und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese

Lassen Sie Bücher sprechen... 10CAsNsjY0MDAx1TU0MrY0tQAAoO9HxA8AAAA=

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Inhalt

Ungeschminktes aus dem Bundeshaus-West

Barack Obama (Seite 16). Illustration von André Carrilho

In der Mittelschulverbindung war sein Zerevis «Goal»: Damals spielte Kurt O. Wyss als Handball-Goalie in der ersten Mannschaft des Turnvereins Burgdorf. 1972 trat der promovierte Anglist in den Dienst des Eidgenössischen Departements für Auswärtige Angelegenheiten (EDA), war unter anderem Botschafter in Singapur, Damaskus und Ankara und erlebte bis zu seinem Rücktritt 2004 sechs Amtsvorsteher. In seinen jetzt erschienenen Memoiren nimmt der «Paradiesvogel im goldenen Käfig» – so umschreibt er das Diplomatenleben – kein Blatt vor den Mund (Seite 20). Sein Urteil über den «janusköpfigen», machtbesessenen EDA-Chef Flavio Cotti ist vernichtend. Ebenso wie jenes über Glamour-Botschafter Thomas Borer. Und das Wirken von Cottis Quereinsteigern sei – so Rezensent Paul Widmer, selber ein Diplomat – «ernüchternd» gewesen. Hattrick für Ex-Goalie Wyss, der für einmal zum Torschützen mutiert. Einen so ungeschminkten Einblick ins Innenleben des Aussendepartements boten bisher weder Wikileaks noch andere Insider aus dem Bundeshaus-West. 2011 ist Max-Frisch-Jahr. Zwanzig Jahre nach seinem Tod hat Andreas Isenschmid das Werk des grossen Schweizer Autors neu gelesen und ist begeistert (S. 12). In den USA seziert Starreporter Bob Woodward die Präsidentschaft Obama – auch ein Blick hinter die Kulissen (S. 16). Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre. Urs Rauber

Belletristik

Kurzkritiken Sachbuch

4 Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914 −1918 Von Manfred Koch 6 Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff

15 Willi Wottreng: Zigeunerhäuptling Von Kathrin Meier-Rust Stephan Pörtner: Hosenlupf

7 Angelika Overath: Alle Farben des Schnees Von Sandra Leis 8 Esther Pauchard: Jenseits der Couch



Nr. 1 | 30. Januar 2011

Bob Woodward Obamas Kriege | Ernst Jünger Kriegstagebuch 1914–1918 | Max Frisch Wiedergelesen von Andreas Isenschmid | Umberto Eco Neue Bücher | Kurt O. Wyss Aus dem Innenleben des EDA | Eugen Sorg Die Lust am Bösen | Weitere Rezensionen zu Martin Suter, Angelika Overath, Joseph Goebbels und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese

Von Sacha Verna



Von Klara Obermüller

Fred Herzog: Photographs



Von Urs Rauber

20 Kurt O. Wyss-Labasque: Paradiesvogel im goldenen Käfig Von Paul Widmer Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung

James Palmer: Der blutige weisse Baron

Von Geneviève Lüscher

Von Simone von Büren

16 Bob Woodward: Obamas Kriege Von Peter Studer

Von Stefana Sabin

Von Kathrin Meier-Rust

Irène Speiser: Hausauflösung

Sachbuch

10 Ludwig Lewisohn: Der Fall Crump

Von Thomas Köster

19 Roswitha von dem Borne, Johannes Lenz: Marta Fuchs 1898−1974

Von Urs Rauber

Von Gerhard Mack

9 Paul Murray: Skippy stirbt

18 Michael Nerlich: Umberto Eco Umberto Eco, Jean-Claude Carrière: Die grosse Zukunft des Buches

Von Reinhard Meier

21 Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist

Von Urs Rauber

22 Toby Lester: Der vierte Kontinent

Von Kirsten Voigt

11 Habib Selmi: Meine Zeit mit Marie-Claire

Von Susanne Schanda

23 Peter Longerich: Goebbels

Kurzkritiken Belletristik

Von Andreas Tobler

Helge Sobik: Päpste seit Anbeginn der Fotografie

Von Kathrin Meier-Rust

11 Martin Suter: Allmen und die Libellen

Von Regula Freuler

Thomas Bernhard: Autobiografische Schriften

24 Michael Lewis: The Big Short Von Sebastian Bräuer Susanna Ruf: Fünf Generationen Badrutt

Philipp Luidl: Was zu merken ist

25 Thomas Asbridge: Die Kreuzzüge

Dirk von Petersdorff: Nimm den langen Weg nach Haus

26 Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz

Von Regula Freuler

Von Charlotte Jacquemart

Von Manfred Papst

Von Geneviève Lüscher

Von Manfred Papst



Essay



12 Seine Meisterschaft erlangte er erst nach sechzig Andreas Isenschmid hat die Bücher von KPA / KEYSTONE

Kolumne Das Zitat von Victoria Beckham

Von Andreas Mink

Agenda

Max Frisch neu gelesen – erst mit Befremden, dann mit Jubel

15 Charles Lewinsky

Von Martin Walder

Das amerikanische Buch Isabel Wilkerson: The Warmth of Other Suns. America’s Great Migration

Max Frisch, hier im November 1973, wäre am kommenden 15. Mai 100 Jahre alt geworden.

27 Werner Gadliger, Nora Iuga: Vom Süden her kommt ein Herz auf Stelzen Von Manfred Papst Bestseller Januar 2011

Belletristik und Sachbuch Agenda Februar 2011

Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Belletristik Erster Weltkrieg Mit seinem Buch «In Stahlgewittern» wurde Ernst Jünger berühmt. Jetzt sind erstmals die Originalaufzeichnungen in 15 Tagebuchheften erschienen

Gleichmut inmitten eines Blutbades Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918.

Hrsg. Helmuth Kiesel. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 655 Seiten, Fr 46.90. Von Manfred Koch

In der vierten Fassung der «Stahlgewitter» (1934) berichtet Ernst Jünger, wie er am Ende des Ersten Weltkriegs im Lazarett liegend «aus Langeweile» seine Verwundungen zusammenrechnete: «Ich stellte fest, dass ich, von Kleinigkeiten wie von Prellschüssen und Rissen abgesehen, im ganzen mindestens vierzehn Treffer, nämlich fünf Gewehrgeschosse, zwei Granatsplitter, eine Schrapnellkugel, vier Handgranaten- und zwei Gewehrgeschosssplitter aufgefangen hatte, die mit Ein- und Ausschüssen gerade zwanzig Narben hinterlassen hatten. In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, dass elf von diesen Geschossen auf mich persönlich abgegeben wurden.» Er hatte, heisst das, jenen verhee-

Ernst Jünger Nach dem durchschlagenden Erfolg seines Kriegsbuchs «In Stahlgewittern» war der 1895 geborene Ernst Jünger in den 1920er-Jahren einer der Wortführer der nationalrevolutionären deutschen Rechten. Zum NS-Regime hielt Jünger, der im Zweiten Weltkrieg als Wehrmachtsoffizier in Frankreich diente, Distanz; seine Erzählung «Auf den Marmorklippen» (1939) wird häufig als Widerstandsbuch interpretiert. Von 1949 bis zu seinem Tod 1998 lebte Jünger als Schriftsteller («Siebzig verweht», 1997) und Insektenforscher in Wilfingen (D). 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

renden Krieg als jene gewaltige Materialschlacht erlebt, in der die einzelnen Soldaten nurmehr wie Bestandteile des Geländes von Explosionen in die Luft gewirbelt und zerfetzt, von Feuerwellen niedergeworfen und verbrannt worden waren. Und er hatte es doch auch geschafft, in diesem hochtechnisierten Vernichtungsbetrieb das alte Ideal des heroischen Kampfes «Mann gegen Mann» aufrechtzuerhalten. Er, Ernst Jünger, der preussische Leutnant, war Achilles im Zeitalter der Lufttorpedos gewesen. «In Stahlgewittern», das Buch, mit dem Jünger berühmt wurde, trug in der Erstausgabe 1920 den Untertitel «Aus dem Tagebuch eines Sturmtruppführers». Jetzt sind erstmals die Originalaufzeichnungen erschienen, aus denen Jünger das laut André Gide «schönste Kriegsbuch» der modernen Literatur zusammengestellt hat. Die vergleichende Lektüre zeigt, dass «In Stahlgewittern» mehr ein Erinnerungs- als ein Tagebuch ist. Jünger hat so gut wie nie direkt übernommen, was er in seinen dreieinviertel Jahren Kriegsdienst tatsächlich fast Tag für Tag notierte, zum Teil unter schwierigsten Umständen: im Schützengraben während einer Feuerpause, als Beobachter am Rande eines Verbandsplatzes, auf dem Mitglieder seiner Kompanie zu Krüppeln wurden oder, bevor noch ein Arzt sie zu Gesicht bekam, verbluteten. Wie er änderte, zeigt exemplarisch seine Beschreibung der Schlacht bei Les Esparges vom April 1915, des ersten grossen Gefechts, das er miterlebte. Die Szenerie ist schrecklich. Das Kampfgelände ist übersät von Granateinschlägen, überall liegen Verwundete und «frische Tote» herum. Plötzlich bietet sich dem Offiziersanwärter Jünger ein noch grauenvolleres Bild: Er sieht die bereits in Verwesung übergegangenen Leichen

zweier französischer Soldaten. «Einer lag ohne Jacke mit dem Körper über seine Beine geklappt, das lange Haar noch ganz spärlich auf einem seltsam gebräunten Schädel; ein anderer lehnte feldmarschmässig mit dem eigentümlichen franz. Lederzeug an einem Baume, so dass man fast erschrak beim Hinblicken.» So der Tagebucheintrag. In den «Stahlgewittern» dramatisiert Jünger die Szene und schmückt sie aus. Der an den Baum Gelehnte erhält die spärlichen Haare des Zusammengeklappten und obendrein noch einen «hochgepackten Tornister, von einem runden Kochgeschirr gekrönt. Leere Augenhöhlen und wenige Büschel Haare auf dem schwarzbraunen Schädel verrieten, dass ich es mit keinem Lebenden zu tun hatte.» Das Gestelzte dieses Satzes «verrät» vor allem eines: den Willen zur literarischen Formung, der hier, wie häufig in den «Stahlgewittern», dem Text etwas Preziöses verleiht. Die erste, unambitionierte Formulierung wirkt stärker.

Spiel mit dem Leben

Das Kriegstagebuch ist vor allem eine Chronik der Kampfeinsätze und damit eine Chronik des Todes. Es grenzt an ein Wunder, dass Jünger, der irrsinnig kühne Unternehmungen befehligte, nicht fiel und mit am Ende 103 Lebensjahren zum ältesten Schriftsteller der deutschen Literatur überhaupt wurde. Was ihn in den Krieg getrieben hatte, war nicht patriotische Begeisterung, sondern Abenteuerlust – «adoleszenter Erfahrungshunger», wie es der Herausgeber Helmuth Kiesel in seinem lesenswerten Nachwort nennt. «Das ständige Spiel mit dem Leben hat seinen Reiz», notiert Jünger am 29. März 1916, seinem 21. Geburtstag, und resümiert: «Mir macht das Kriegsleben jetzt gerade den richtigen Spass.» Der Spass sollte ihm

ses Besäufnis» und amüsiert sich über Kameraden, die «vor Angst in die Hosen scheissen» usw. Unter Artilleriebe­ schuss lädt man über Grabenabschnitte hinweg «einen dritten Mann zum Skat» ein. Diese Art von markigem Landser­ humor wird vollends widerlich, wenn es darum geht, wie viele «Franzmänner» oder «Englishmen» zuletzt wieder «er­ ledigt» wurden. Die eintrainierte und im Kriegsver­ lauf weiter gesteigerte Rohheit, die ge­ nerell die Soldatenseele prägte, spricht fraglos auch aus Jüngers Tagebüchern. Nur dass sie bei diesem Kommandeur des Todes – mehrfach schildert er, wie er zögernde oder fliehende Untergebe­ ne wieder ins feindliche Feuer führte – eine merkwürdige Verbindung mit einer extremen Wahrnehmungssensibilität einging. Die intensivsten Passagen im Kriegstagebuch (wie später in den «Stahlgewittern») sind die Beschrei­ bungen fürchterlichen Sterbens: «Er knickte in seiner Grabenecke zusammen und verblieb mit dem Kopf gegen die Grabenwand gelehnt, in kauernder Stel­ lung. Sein schnarchendes Röcheln er­ tönte in immer längeren Abständen, bis es ganz aufhörte. Während der letzten Zuckungen gab er sein Wasser von sich.»

süddeutsche zeitung photo

Sinnliches Grauen

erhalten bleiben. Zwar verspürt er zwischendurch Anwandlungen, den «Scheisskrieg» als sinnlose Zerstörung der europäischen Kultur zu verdammen. Doch sie werden sogleich als «Wacht­ stubenphilosophie» abgetan. Die Sucht nach neuen todesnahen Grenzerfahrun­ gen setzte sich rasch wieder durch. Jüngers heiterer Gleichmut inmitten des Dauerblutbads hat mehrere Facet­

ten. Zum einen übernimmt er bruchlos die Strategien der Selbstpanzerung, die charakteristisch für das ganze Heer, vor allem das Offizierskorps, waren. Das schlägt sich nieder in einem forciert schnoddrigen Kasinoton, der bei Jünger dazu noch einen pennälerhaften Ein­ schlag hat. Man «pennt ganz famos» in einer «kriegsmässig genialen Bude», fei­ ert regelmässig «ein allgemeines gros­

Der Schriftsteller Ernst Jünger (1895– 1998) mit dem Orden Pour le Mérite, der ihm 1918 verliehen wurde.

Jünger hält im selben Eintrag fest, dass er solche Vorgänge «mit Sachlichkeit» registriere. Die Gefühlskälte, zu der er sich damit bekennt, wirkt zunächst em­ pörend. Psychologisch gesehen war sie aber wohl ein Selbstschutz, um ange­ sichts der täglichen, ja stündlichen Kon­ frontation mit Verstümmelten und Toten nicht den Verstand zu verlieren (Jünger hat später zugegeben, Gemüts­ zustände erlebt zu haben, für die der Ausdruck «Nervenzusammenbruch» eine Beschönigung gewesen wäre.) Die Abschottung gegen Mitleid, Angst und Trauer ermöglichte anderer­ seits jene Wahrnehmungsschärfe, die Leser wie Gide an Ernst Jüngers Mo­ mentaufnahmen des Kriegs faszinierte. Die eindringlichsten von ihnen sind auch frei von der Heldenpose, vom eit­ len Vorführen der eigenen Kaltblütig­ keit. Sie bieten nichts als nüchterne Bil­ der des Grauens. Ein Beispiel ist seine Beschreibung der Landschaft, in der die Sommerschlacht (August 1916) statt­ fand: «Jeder Millimeter des Bodens um­ gewühlt und wieder umgewühlt, die Bäume ausgerissen, zerfetzt und zu Mulm zermahlen. Die Häuser niederge­ schossen, die Steine zu Pulver zerstaubt. Die Schienen der Eisenbahnen zu Spira­ len gedreht, Berge abgetragen, kurz alles zur Wüste gemacht.» Solche Sätze könnten auch in einem Antikriegsbuch stehen. Sie warnen nicht durch morali­ sche Appelle, sondern durch sinnliche Präzision. «Das ist das Gesicht des Krie­ ges», heisst es im Tagebuch, «unver­ gesslich.» l Manfred Koch, geboren 1955, ist Privatdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel, Literaturkritiker und Buchautor. 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik

Wiederentdeckung Katherine Anne Porters Bestsellerroman «Das Narrenschiff» von 1962 wurde erfolgreich verfilmt. Die kommentierte Neuauflage strahlt melancholischen Zauber aus

Das Böse ist immer im Vorteil

irgendwo bereits der Tumor des Zerfalls, des physischen, moralischen, des menschlichen Zerfalls. «Ich glaube, dass die Menschen zum totalen Bösen fähig sind, aber dass niemand je total gut war. Damit ist das Böse immer im Vorteil», sagte Katherine Anne Porter einmal. Diese pessimistische Weltsicht inszeniert sie auf der «Vera». Was nie ein Traumschiff war, wird schon bald zum Alptraumschiff, wo die Laster, von der Triebhaftigkeit bis zur Trunksucht, ein Höllenfest feiern, das als dramaturgischer Höhepunkt am Schluss tatsächlich steigt. Dabei bleiben die Exzesse durchaus im Rahmen des Plausiblen, denn Katherine Anne Porters Narren tragen weit weniger fratzenhafte Züge als jene von Sebastian Brant. Porter verzerrt ihre Figuren nur so stark, dass sie gerade noch glaubwürdig wirken. Sie stattet sie mit einer Reihe von Eigenschaften und Geschichten aus, die sie zu Individuen machen, denen sie allerdings einen kleinen Rest archetypischer Steifheit lässt.

Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff

Aus dem Amerikanischen von Susanna Rademacher. Nachwort von Elke Schmitter. Manesse, Zürich 2010. 700 Seiten, Fr. 44.90. Von Sacha Verna

Auf dem Weg ins Ungewisse

Zur Bühne zuerst. Die «Vera» ist ein eher zweitklassiges deutsches Passagier- und Frachtschiff, auf dem sich eine sehr gemischte Gesellschaft 1931 drei Spätsommerwochen lang miteinander vertragen muss. Es sind dies keine Kreuzfahrtenthusiasten, wohlgemerkt, vielmehr allesamt Menschen auf dem Weg ins Ungewisse. Da ist das Schweizer Ehepaar Lutz, das nach elf Jahren in Mexiko mit seiner hässlichen Tochter Elisa in die Heimat zurückkehrt, um in St. Gallen ein Hotel 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

Rassismus als Motiv

HIPP-FOTO

Als 1494 das erste «Narrenschiff» in See stach, segelte es mit seinen hundert Passagieren dem Ruhm entgegen: Sebastian Brants Moralsatire wurde zum erfolgreichsten deutschsprachigen Buch der Reformation. Rund 450 Jahre später war einem zweiten «Narrenschiff» ähnliches Glück beschieden: Katherine Anne Porters 1962 in den Vereinigten Staaten erschienener Roman avancierte zum Bestseller und wurde von Stanley Kramer mit internationaler Besetzung verfilmt, darunter die Filmstars Vivien Leigh, Heinz Rühmann, Simone Signoret und Lee Marvin – narrensicher möchte man meinen. Zwar fährt Katherine Anne Porters Schiff «Vera» nicht gen Narragonien, sondern von Veracruz nach Bremerhaven. Und statt hundert befinden sich beinahe tausend Narren an Bord, wobei dem Leser ungefähr drei Dutzend von ihnen näher vorgestellt werden. Doch das Sinnbild sei dasselbe, so Katherine Anne Porter in einer kurzen Vorbemerkung: «Das Schiff dieser Welt auf seiner Fahrt in die Ewigkeit.» Die Amerikanerin Katherine Anne Porter (1890–1980) wurde mit ihren Kurzgeschichten bekannt. «Das Narrenschiff» blieb ihr einziger Roman, was nicht überrascht, zumal die Arbeit an dem siebenhundertseitigen Epos über zwanzig Jahre in Anspruch nahm. Mit dieser kommentierten Neuauflage legt der Manesse-Verlag ein quasi doppelt historisches Werk vor: Eines, das in der Vergangenheit verfasst wurde und noch weiter zurück in der Vergangenheit spielt. Richtet man darauf den Scheinwerfer der Gegenwart, ergibt sich daraus ein feines Bühnenstück.

zu eröffnen. Da sind Herr und Frau Professor Hutten, ehemalige Leiter einer deutschen Schule in Mexiko, die mit ihrer garstigen Bulldogge Bébé aufs selige Seniorendasein in Todtmoos im Schwarzwald hoffen. Da ist der texanische Chemieingenieur William Denny, ein junger Mann mit Pickeln und Hygienefimmel, den in Berlin eine neue Stelle erwartet. Da ist die kubanische Adelsruine La Condesa, die gar nichts mehr erwartet ausser der politischen Verbannung in Teneriffa. Ein Ort, an dem Menschen unterschiedlichster Herkunft für beschränkte Zeit und in erzwungener Musse zusammenkommen, ist als Romanschauplatz immer reizvoll. Man denke ans abgelegene Herrenhaus im englischen Moor, in dessen Bibliothek ein Mord passiert. Oder an Thomas Manns Sanatorium auf dem «Zauberberg», aus dem die Toten nachts auf Schlitten abtransportiert werden. An solchen Orten wuchert stets

Simone Signoret und Oskar Werner in der Verfilmung des «Narrenschiffs» 1965.

Einen unangenehmen Beigeschmack erhält dieses Verfahren freilich im Fall des einzigen Juden an Bord, eines Herrn Julius Löwenthal, der in katholischen Devotionalien handelt und direkt der NaziPropaganda entsprungen sein könnte. Diesen Beigeschmack mindert auch der Umstand nicht, dass das Motiv des Rassismus den ganzen Roman durchzieht und dieser als Übel aller Übel angeprangert wird. Gerade den Antisemitismus seziert die Autorin in all seinen Formen – schliesslich hält die «Vera» Kurs aufs anbrechende Dritte Reich. Die Autorin schrieb «Das Narrenschiff» im Wissen um den Holocaust. Im Grunde verachtet aber jeder jeden auf diesem Schiff. Und Keiner verzeiht dem anderen sein Anderssein. Ist der Hass auf den Mitmenschen die eigentliche «conditio humana»? Und suchen wir deshalb unsere Identität so gerne in Gruppen, Glauben oder Nationen, weil es sich in Rudeln paradoxerweise am besten hasst? Die Antwort dieses Romans auf diese Frage ist ein ganz klares Ja. Katherine Anne Porters «Narrenschiff» merkt man das Alter an. Der deutsche «Schaumwein», der darin ausschliesslich anstelle von Champagner serviert wird, ist sehr deutsch und Herrn Löwenthals krumme Nase sehr krumm. Doch werden sich selbst Zweckoptimisten dem melancholischem Zauber dieser verlorenen Illusionen auf hoher See kaum verschliessen können. ●

Tagebuch Wenn das Ferienidyll zum Dauerzustand wird: Angelika Overath über ihre neue Heimat

Glückssekunden auf Romanisch Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch. Luchterhand,

München 2010. 256 Seiten, Fr. 32.90. Von Sandra Leis

Angefangen hat alles mit einer Anfrage der Zeitschrift «Piz. Magazin für das Engadin und die Bündner Südtäler». Angelika Overath, die Ende Juli 2007 mit ihrem Mann und dem siebenjährigen Sohn von Tübingen nach Sent umgezogen ist, sollte schildern, wie aus einer Ferienfamilie Dorfbewohner werden. Der Text erschien, und Overaths Verlag war so entzückt, dass er seine Autorin ermunterte, daraus ein Buch zu machen. Jetzt ist es da, und bereits vier Tage nachdem es in den Handel kam, war die erste Auflage ausverkauft. Wohl aus zwei Gründen: Erstens ist Angelika Overath (Jahrgang 1957) bekannt für ihre analytisch so glasklaren wie einfühlsamen Reportagen, und zweitens hat sie etwas gewagt, womit manche Menschen zeitlebens nur liebäugeln – sie lebt jetzt dort, wo es sie immer wieder hingezogen hat. Sent, 1450 Meter über Meer, 900 Einwohner. Wer hier mehr sein möchte als

Tourist oder Zugezogener, wer eingebunden sein will in die Dorfgemeinschaft, muss eines können: Vallader, das rätoromanische Idiom des Unterengadins. Der Bub lernt die Sprache im Unterricht schnell; der Mann kann sich bald in einfachen Sätzen unterhalten, doch bei Overath hapert es. Immer wieder kommt ein Gespräch ins Stocken. Erfolge sind selten, aber es gibt sie. Beispielsweise beim Telefonieren mit dem Lehrer, um den Sohn krankzumelden: «Die Hälfte meiner Sätze habe ich auf Romanisch hinbekommen. Er hat auf Romanisch geantwortet. Glückssekunden.» Der Wunsch, in die kleine Universitätsstadt Tübingen zurückzukehren, existiert nicht. Einzig nach dem Wochenmarkt sehnt sie sich gelegentlich, doch in Sent hat Overath einen eigenen Gemüsegarten. Sie lebt in einem Bauernhaus, geht mit zum Heuen, singt im Chor und lernt Klavierspielen, schreibt rätoromanische Gedichte und schaut ihrem Hund zu, wie er sich im Schnee wälzt. Für das Naturschauspiel vor ihren Augen findet sie eine hochpoetische Sprache. Am 14. Dezember 2009 notiert sie: «Ein Morgen aus Glas. Selbst die Berge scheinen durchsichtig. Der Reif

auf dem Balkon, der Schnee auf den Dächern, eine fragile, schwach bläuliche Helle.» In diesem Tagebuch sind Naturimpressionen festgehalten, Kindheitserinnerungen, Alltagsbeobachtungen, Gespräche, Gedichte und historische Fakten. Gelegentlich verliert sich die Autorin im Detail, manchmal winkt sie zu stark mit dem wertenden Zeigefinger. Letzteres passiert vor allem dann, wenn es um die grossen Fragen der Kinderaufzucht geht. Da verwandelt sich die Reporterin in eine Mutter, die zum Gegenangriff bläst, weil sie erklären will, warum für ihren Jüngsten eine Dorfschule in den Bergen das Richtige ist. In Tübingen seien Kindergarten und Schule durch Akademiker-Familien geprägt gewesen. «Das Kind sollte etwas werden. Und leicht wurde vergessen, dass ein Kind schon etwas war.» Mehrheitlich aber sind die Notate geprägt vom untrüglichen Blick der Reporterin für das Besondere im Alltäglichen. Angelika Overath wählt dafür eine Sprache, die einprägsam festhält, was ist. Es ist diese Beobachtungsgabe, welche die Annäherung an Sent und seine Bewohner auszeichnet. ●

Das Buch mit Beispielen, Umbauplänen und Fotos

Mariette Beyeler



Weiterbauen

Wohneigentum im Alter neu nutzen

Wie lassen sich Einfamilienhäuser für das Wohnen im Alter umbauen und anpassen? Reich bebilderte Beispiele illustrieren die Vielfalt der baulichen Möglichkeiten und Wohnszenarien.

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Age Stiftung (Hg.) Christoph Merian Verlag

172 Seiten CHF 38.–/Euro 26,– ISBN 978-3-85616-491-1 erhältlich im Buchhandel und unter www.merianverlag.ch

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7

Belletristik

Kriminalroman Das Début der Berner Psychiaterin Esther Pauchard erzählt von einer an Schizophrenie erkrankten Mutter und Kindsmissbrauch

Eine Ärztin ermittelt Esther Pauchard: Jenseits der Couch.

Nydegg, Bern 2010. 429 Seiten, Fr. 39.–. Von Klara Obermüller Krimis werden nie besser, als wenn sie dort spielen, wo der Autor, die Autorin sich auskennt. Das muss sich auch die junge Bernerin Esther Pauchard gesagt haben, als sie ihren Erstling in eben jenem Milieu ansiedelte, in dem sie selber tätig ist: in der Psychiatrie. Esther Pauchard ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und arbeitet in einer Suchtfachklinik in Burgdorf. Ort der Handlung ihres Kriminalromans ist eine Psychiatrische Anstalt in der Nähe von Thun, das Opfer eine unter Schizophrenie leidende, drogen-

abhängige Patientin, die Ermittlerin die sie behandelnde Ärztin. Temporeich und atmosphärisch dicht erzählt Esther Pauchard in ihrem Krimi «Jenseits der Couch» die Geschichte von Doris Greub, die mit einer entgleisten Schizophrenie in die Klinik eingewiesen wird und im vermeintlichen Wahn ihren Ehemann beschuldigt, ihre halbwüchsige Tochter aus einer früheren Beziehung missbraucht und an andere Männer weitervermittelt zu haben. Und sie erzählt die Geschichte der Ärztin Kassandra Berger, die nicht weiss, ob sie der Frau Glauben schenken oder die horrenden Vorwürfe als Wahnvorstellungen abtun soll. Ihre ärztliche Ausbildung sagt ihr, dass sie Distanz halten soll, ihr Gefühl jedoch drängt sie dazu, die Patientin ernst zu nehmen, die auf

Kanada Die fünfziger Jahre in Farbe

ihren Vorwürfen auch dann noch besteht, als der akute Schub längst abgeklungen ist. Das Dilemma spitzt sich zu, als die Patientin aus der Klinik ausbricht und wenig später in einer Bahnhofstoilette tot aufgefunden wird. Von da an geht Kassandra Berger die Frau nicht mehr aus dem Kopf. Die Fachärztin für Psychiatrie mutiert zur kriminalistischen Ermittlerin in eigener Sache.

Psychiaterin gerät in Konflikt

Unterstützt von ihrer Praktikantin Kerstin verbeisst Kassandra Berger sich in den Fall, den alle anderen längst zu den Akten gelegt haben. Sie vernachlässigt Familie und Beruf und gerät dabei immer tiefer in den Konflikt zwischen beruflicher Distanz und persönlichem Engagement. Was gibt mir als Ärztin das Recht, fragt sie sich, als Wahn abzutun, was vielleicht grausame Wirklichkeit ist? Ist die Patientin, nur weil sie an Schizophrenie leidet und Drogen konsumiert, weniger glaubwürdig als andere? Und hat es ihr Mann nicht vielleicht genau darauf angelegt, wenn er sich der behandelnden Ärztin gegenüber als der fürsorgliche Gatte aufspielt, der seine unzurechnungsfähige Frau vor sich selbst schützen muss? Esther Pauchard war als Ärztin vermutlich noch nie mit einem Kriminalfall konfrontiert. Über die Fragen jedoch, die sich Kassandra Berger in ihrem Roman stellt, denkt sie zweifellos nicht zum ersten Mal nach. Und auch die ständige Überforderung durch Beruf, Ehe, Haushalt und Mutterschaft kennt sie sehr wahrscheinlich aus eigener Anschauung.

Finale furioso

Vancouver 1958. Ein Afroamerikaner geht mit Tochter und Hund spazieren. An den chinesischen Ladenschildern ist ablesbar, dass wir uns wohl kaum in der teuren City befinden. Aber Anzug, Hut und Krawatte, der ganze Auftritt zeigen ein Selbstbewusstsein und eine Lust an der eigenen Inszenierung, wie wir sie aus den fünfziger Jahren in dieser Schicht kaum erwartet hätten, auch wenn die Aufnahme nicht aus den USA mit ihren Rassenkonflikten, sondern aus Kanada stammt. Zur Stimmung tragen entschieden die Farben bei. Das Sonnenlicht hebt die Blau-, Rot- und Grüntöne so hervor, dass der Passant wie im Rampenlicht und Dekor einer Bühne auftritt. Als Fred Herzog in den fünfziger Jahren begann, solche Strassenszenen auf Kodachrome-Filmen festzuhalten, wurde er Pionier der Farbfotografie, lange bevor die Stars der New Color Photography wie William Eggleston, Stephen Shore und Helen Levitt 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

ihren Siegeszug gegen die Dominanz der SchwarzWeiss-Bilder antraten. Gleich nach seiner Auswanderung aus Deutschland 1953 begann Herzog zu fotografieren, «weil die Menschen später sonst in Zeitschriften schauen müssten, um herauszufinden, wie die Leute früher aussahen». Wenn wir diese Aufnahmen heute sehen, faszinieren sie durch den Reichtum an Details, die ganze Geschichten erzählen. Eine alte Frau schaut an der Bushaltestelle neugierig die bandagierte Hand eines Mannes an. Schaufenster und Werbeflächen zeigen eine vergangene Kultur. Es sind Ikonen des Alltags und seiner Vergänglichkeit. Fred Herzog blieb lange fast unbeachtet. Der kleine Band entdeckt die wunderbaren Bilder nun erstmals für ein deutschsprachiges Publikum. Gerhard Mack Fred Herzog: Photographs. Hrsg. Felix Hoffmann. Hatje Cantz, Ostfildern 2010. 192 Seiten, 98 Abbildungen, Fr. 43.50.

Dass es ihr gelingt, aus der persönlichen Lebens- und Arbeitswelt heraus eine spannende und in sich stimmige Kriminalgeschichte zu entwickeln, macht den unverwechselbaren Reiz ihres Buches aus. Die Autorin Esther Pauchard beherrscht ihr Fach, das ärztliche wie das kriminalistische, und sie hat gründlich recherchiert: im Berner Drogenmilieu ebenso wie auf dem Gebiet der Medikamenten-Interaktion oder der InternetPornographie. Ihre Figuren haben Profil, die politischen Verhältnisse in der scheinbar heilen Welt wohlhabender Berner Landgemeinden sind gut beobachtet. Die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit sieht man der Autorin deshalb gerne nach. Gegen Schluss häufen sie sich zwar, und auch wo der Schuldige zu suchen ist, wird bald einmal klar. Doch das ändert nichts daran, dass sie die Spannung stetig zu steigern vermag und ihr zu guter Letzt ein fulminantes Finale gelingt, das alles umfasst, was zu einem guten Krimi-Schluss gehört: Lebensgefahr für die Ermittlerin und die Überführung des Täters. ●

Internatsroman Raffiniert verpackte Kritik an Irlands mangelhafter Vergangenheitsbewältigung: Der Zweitling von Paul Murray überzeugt trotz spärlicher Handlung

Hormone, Medikamente und andere Drogen

– Liebeskummer – für seinen Suizid, der den Ruf der altehrwürdigen Institution zu ruinieren droht und den die reichen Eltern seiner Mitschüler «als ein unanständiges Wort» sehen, «das jemand mutwillig in die glatte schwarze Politur ihres Lebens geritzt hat». Im Übrigen geht man in Seabrook mit dem Todesfall um wie mit anderen schwierigen Ereignissen: Man verschweigt ihn: «Man redet nicht darüber und auch nicht darüber, dass man nicht darüber redet.» Dass Skippy noch ganz andere Gründe hatte für seine Tat – eine sterbende Mutter und eine traumatische Missbrauchserfahrung, welche die Schulleitung mit allen Mitteln zu vertuschen sucht – hatte er totgeschwiegen. Ebenso wie Ruprecht seinen ArbeiterklasseHintergrund verschweigt, Carl seine zerschnittenen Unterarme, Pater Green seine sexuellen Fantasien und Howard seine gescheiterte Beziehung.

Paul Murray: Skippy stirbt. Aus dem

Englischen von Rudolf Hermstein und Martina Tichy. Antje Kunstmann, München 2010. 782 Seiten, Fr. 38.90 Von Simone von Büren

Buchpreis-Nomination

Gefürchteter Vertreter der alten Garde ist der ehemalige Missionar Pater Green, von den Schülern «Père Vert» genannt, der an den Verben an der Tafel «herumschrubbt, als seien es Schandflecke auf seiner Seele. Aus der jungen Laiengeneration stellt uns Murray – neben einem hinkenden Schwimmtrainer und einigen Lehrerinnen, «die selbst für einen Vierzehnjährigen nur schwer als geschlechtliche Wesen erkennbar sind» – den Geschichtslehrer Howard vor, einen gescheiterten Investmentbanker, der an

Internat steht für Irland

PATRICK FRILET / REX / DUKAS

Der ungeduldig erwartete Zweitling des Iren Paul Murray spielt in einer Internatsschule. In Seabrook College, einer alten katholischen Privatschule für Knaben in Irland, geht es nicht viel ruhiger zu als in Harry Potters Hogwarts, wenn hier auch statt kauzigen Geistern Gipsmadonnen «kokett schmollend auf die ausser Rand und Band geratene Männlichkeit hinabblicken» und Zauber höchstens in Computerspielen vorkommt. Aber die Schüler finden durchaus Wege, in andere Universen, veränderte Zustände und grosse Gefahr zu kommen: Medikamente, Drogen, geheime physikalische Experimente und Hormone, die dank der benachbarten Mädchenschule St. Brigids regelmässig in Wallung geraten. Der 35-jährige Autor schildert den Mikrokosmos der Schule aus rund zwanzig mit verblüffender Leichtigkeit ineinandergewobenen Erzählperspektiven von Schülern, Lehrern, Rektoren und Priestern. Im Zentrum steht der fragile Skippy aus der achten Klasse, ein begnadeter Schwimmer, der aber partout nicht am Schwimmwettbewerb teilnehmen will. Skippy träumt von Lori aus St. Brigids, die aber niemals «mit so einem mickrigen Loser» wie ihm gehen würde und auf die es auch Carl abgesehen hat – ein älterer Mitschüler, der mit Drogen handelt, Lehrer bedroht und «öfter mal nicht weiss, was er tut». Unterdessen arbeitet Skippys übergewichtiger Zimmergenosse Ruprecht, der «im Alleingang den Notendurchschnitt in seinem Jahrgang um sechs Prozent anhebt», an der Erschliessung paralleler Universen mittels elektromagnetischer Wellen.

Die Mädchenschule bringt die Hormone im benachbarten Knabeninternat in Wallung.

die Schule zurückkehrt, «an die er einst geschickt wurde, um sozial aufzusteigen, an der zu arbeiten nun aber als Karriererückschritt betrachtet wird.» Für seine 780 Seiten enthält der quirlige Roman, der auf der Longlist des Man-Booker-Preis 2010 stand und nun von Neil Jordan verfilmt werden soll, wenig äussere Handlung: Eine Halloweenparty mit St. Brigids, ein Weihnachtskonzert, einige Beziehungsdramen, einige gescheiterte wissenschaftlichen Experimente, eine unbewilligte Exkursion, einen Brand – und schliesslich einen Todesfall. Letzterer ist weniger dramatischer Höhepunkt als stiller Kern der Geschichte. Er wird im Titel angekündigt und gleich auf den ersten Seiten geschildert: Skippy stirbt während eines Doughnut-Wettessens mit Ruprecht an einer Überdosis Tabletten. Seine Tragik entfaltet dieses Ereignis, wie so vieles aus Murrays humorvoller Feder, erst mit der Zeit. «Sag Lori» schreibt Skippy in seinen letzten Sekunden mit Himbeermarmelade auf den Boden und liefert der Schulleitung damit ein willkommenes Motiv

Der Geist all dieser verdrängten Fakten, Erfahrungen und Schuldgefühle strudelt durch die Flure «wie Giftgas» und hat verheerendere Auswirkungen auf die Figuren als Skippys Tod. Feinfühlig und humorvoll erkundet Paul Murray das daraus entstehende psychische Leid, das sich in Selbstverletzungen, Drogenmissbrauch, Essstörungen, Angeberei und Paranoia äussert und über das wiederum niemand spricht. Wie in seinem international gefeierten Début «An Evening of Long Goodbyes» gelingt es Murray, anhand der authentisch gezeichneten Schicksale seiner Figuren auch Kritik am System zu üben. Denn Seabrook steht für ganz Irland und dessen Umgang mit den heikleren Kapiteln der eigenen Geschichte. Und das Tragische in der irischen Vergangenheit ist – genau wie im Roman – weniger das schwierige Ereignis an sich, als vielmehr «der furchtbare Preis», zu dem es über Generationen hinweg verschwiegen wird. Dass es Murray gelingt, diesen Bezug verstörend, aber frei jeden Moralisierens zu schaffen, macht «Skippy stirbt» zu viel mehr als einem höchst unterhaltsamen und brillant gebauten Roman. Dazu kommt Murrays durch Schwung, Wortwitz und poetische Metaphern bestechende Sprache, die eine Klasse «wie einen murmelnden Umhang» hinter dem Lehrer herwogen und «dicke Haarknäuel wie ertrunkene Meerjungfrauen im Abflussgitter der Duschen zittern» lässt. Spätestens in dieser verschlungenen Sprache ist er dann doch zu finden, der Zauber. ● 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9

Belletristik

Neuübersetzung In einem wiederentdeckten Roman erzählt der deutsch-amerikanische Autor Ludwig Lewisohn die Geschichte eines Ehekrieges

Sie machte das Leben zur Hölle Ludwig Lewisohn: Der Fall Crump.

Nachwort von Thomas Mann. Neu übersetzt aus dem Amerikanischen von Christian Ruzicska. Secession, Zürich/ Berlin 2010. 340 Seiten, Fr. 37.90.

Der Befreiungsschlag kommt ganz am Ende. «Er wusste nicht, dass er nach dem Messinggriff des Schürhakens gegriffen hatte. Er wusste gar nichts, bis er den knirschenden Aufprall seines Hiebes hörte.» Denn nachdem er sich von einer Frau mit zwielichtiger Vergangenheit hatte verführen lassen, sie dann aus gesellschaftlicher Konvention geheiratet und die Ehe aus emotionaler Trägheit jahrelang und unter Selbstaufopferung aufrechterhalten hatte, findet Herbert Crump schliesslich die Kraft, dem unglücklichen Leben zu entkommen. Den «Fall Crump» entfaltet der deutsch-amerikanische Autor Ludwig Lewisohn aus erzählerischer Distanz. Lewisohn, 1882 in Berlin geboren, 1890 nach Charleston, North Carolina, ausgewandert, hatte in New York studiert und in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Publizist (er war Redaktor der Zeitschrift «The Nation») und Übersetzer ein gewisses Renommee erlangt, das mehrere Romane, Erzählungen und Essays vergrösserten. Dennoch wurde er, der Mitgründer der Brandeis University war und dort bis zu seinem Tod 1955 unterrichtete, in den fünfziger Jahren als Schriftsteller vergessen.

Im Lügennetz gefangen

«Der Fall Crump» erschien 1926 in Paris, 1928 in Deutschland, schliesslich 1947 in den USA. Darin erzählt Lewisohn die Geschichte einer unmöglichen Ehe und zugleich eine Entwicklungsgeschichte: Der junge, unerfahrene Herbert Crump kommt aus einer Kleinstadt im Süden nach New York, um Komponist zu werden, und gerät dort in die Fänge einer manipulativen älteren Frau, gegen die er sich nicht zu wehren weiss. «Seine Unerfahrenheit lehrte ihn nicht, dass seine Depression und seine Unruhe der Tatsache geschuldet waren, dass er Anne nicht liebte, dass die vielen leidenschaftlichen Umarmungen ihn nicht befriedigten.» Crump erliegt dem Unglück und findet in der Musik eine Zuflucht und auch jene Zufriedenheit, die ihm sonst verwehrt bleibt. Nur sehr langsam und um den Preis der eigenen Jugend entwirrt er das Netz aus Lügen und Täuschung, in das er sich hat verfangen lassen. Das emotionale Heranreifen spiegelt sich in seinen Kompositionen wider, die subtiler und zugleich dramatischer werden, und er macht in New York Karriere. Als aber die nörgelnde Ehefrau mit einem öffent10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

PICTORIAL PRESS LTD. / ALAMY

Von Stefana Sabin

Ludwig Lewisohn schildert das Leben im New York der 1920er Jahre, wo sein Protagonist als Musiker Karriere macht.

lichen Skandal droht, verliert er die Fassung und schlägt zu. «Langsam ging er zum Telefon, nahm den Hörer ab und verlangte die Polizeizentrale.» Mit diesem letzten Satz, der die Selbstverwirklichung in Selbstanzeige verwandelt, mutiert der Roman zu einer Fallbeschreibung, auf die sowohl der deutsche wie der englische Originaltitel schon hindeuten: «Der Fall Crump» – «The Case of Mr. Crump» suggerieren einen zu verhandelnden gerichtlichen Fall.

Ein gerissenes Weib

Die Geschichte von Crumps Verführung und von seinem langen Unglück fungiert dann als Darstellung der strafmildernden Umstände, die den schliesslichen Befreiungsschlag nachvollziehbar machen. So als müsste sich eine Jury – der Leser – ein unabhängiges Urteil über die Tat bilden, versucht Lewisohn einen distanzierten Erzählton zu finden und aufrechtzuerhalten. Er verzichtet auf psychologisierende Figurencharakterisierung und auf wertende Kommentare. Doch ist eine unterschwellige Empathie mit dem Unglück und der Hilflosigkeit des Herbert Crump zu erkennen – und entsprechend ein verbrämter Widerwille gegen die Gerissenheit seiner Frau. Erkennen lässt sich auch, dass Crump dem Unglück nicht einfach ausgeliefert ist, sondern dass er sich immer wieder der Realitätsprüfung verweigert. «Möglich, dass eine letzte Eitelkeit in

ihm ihn genau daran hinderte, glauben zu wollen, dass er ein völliger Narr gewesen war.» Lewisohn gestaltet den Fall Crump aus vielen Einzelheiten und versucht, sowohl einen Eindruck von den allgemeinen gesellschaftlichen Zwängen als auch von den besonderen Charaktermerkmalen der Figuren zu vermitteln. Er versucht, den gemächlichen Alltag in einer Kleinstadt der Südstaaten und das gehetzte Leben in New York zu beschreiben und dabei auch ein Bild von der Musikszene der zwanziger Jahre zu liefern. Aber die Handlung ist wenig mehr als eine lange Reihe von ähnlichen Episoden, deren Dramatik sich in der Wiederholung verbraucht; den Figuren fehlt es an durchgehender Glaubwürdigkeit, und der Sprache – jedenfalls in der jetzigen Neuübersetzung – fehlt es an metaphorischer Kraft. Zwar gibt es immer Anlass, vergessene Romane wiederzuentdecken, wie es sich der 2009 gegründete Zürcher Secession-Verlag zur Aufgabe gemacht hat. Der Verlag will Romane veröffentlichen, die Geschichten über die Bedingungen der Liebe erzählen, und dieser Vorgabe entspricht Lewisohns Roman, indem er von fehlender Liebe erzählt. Als Beschreibung «des Lebens als Ehehölle» hatte ihn denn auch Thomas Mann in seinem Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe, das in der jetzigen Ausgabe als Nachwort dient, gelobt. ●

Roman Ein Tunesier und eine Pariserin; kann das gut gehen?

Bittersüsse Multikulti-Liebe

Kurzkritiken Belletristik Martin Suter: Allmen und die Libellen.

Kriminalroman. Diogenes, Zürich 2010. 197 Seiten, Fr. 25.90.

Thomas Bernhard: Autobiographische Schriften. Residenz, St. Pölten 2010.

5 Bände, ca. 640 Seiten, Fr. 81.90.

Habib Selmi: Meine Zeit mit Marie-Claire.

Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Lenos, Basel 2010. 246 Seiten, Fr. 29.50.

MARKUS KIRCHGESSNER / LAIF

Von Susanne Schanda «Meine Zeit mit Marie-Claire» ist eine bittersüsse Liebesgeschichte aus Paris, die durch die Tatsache, dass ihr Ende bereits auf der zweiten Seite vorweggenommen wird, nichts von ihrem Zauber einbüsst. Wir sehen Marie-Claires rundes, sommersprossiges Gesicht, das vor Glück strahlt, wenn sie mit ihrem Geliebten frühstückt. Wir riechen ihre entblössten Achselhöhlen, die eine wohlige Geborgenheit bei ihm auslösen. Wir hören sie lachen und schimpfen. In einem Café hat der aus Tunesien stammende Machfudh sie kennengelernt. Bald zieht sie bei ihm ein und stellt seine Wohnung und sein Leben auf den Kopf. Er nimmt es hin, Hauptsache, sie ist bei ihm. Vorsichtig geht er jeder Auseinandersetzung aus dem Weg, versucht, das Glück dieser Liebe im Schwebezustand zu bewahren, und trägt gerade durch sein Schweigen zur Entfremdung bei. «Mühelos, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, trennte sie sich von mir», stellt der Ich-Erzähler fest. Der 1951 in Tunesien geborene und seit rund dreissig Jahren in Frankreich lebende Autor Habib Selmi erzählt seine interkulturelle Liebesgeschichte sinnlich, ehrlich und mit einer Leichtigkeit, wie sie bei dieser Thematik selten anzutreffen ist. Dabei vermeidet er Spektakuläres und simple Klischees über arabische Machos und die Unvereinbarkeit der Kulturen. Fein beobachtend, mit Wehmut und leisem Humor lässt der Ich-Erzähler seine verlorene Liebe in der Erinnerung aufleben, nimmt jedes Detail des gemeinsamen Alltags unter die Lupe, auf der Suche nach einer Erklärung: «Ich stocke und höre auf, die toten Blätter einzusammeln. Und ich konzentriere meine ganze Aufmerksamkeit auf den Namen der Pflanze, die Marie-Claire mir geschenkt hat. Lange versuche ich, ihn wiederzufinden, aber es will mir nicht gelingen.» Die Auseinandersetzung mit dem Westen ist eines der grossen Themen der arabischen Gegenwartsliteratur. Selmi hat es in seinem Roman sensibel umgesetzt – ohne jede Bitterkeit. In der arabischen Welt hat Habib Selmis Buch grosse Aufmerksamkeit erregt und wurde 2009 für den arabischen Bookerpreis nominiert. ●

Martin Suter auf allen Kanälen: im Kino, am Fernsehen, im Theater. Wer trotzdem noch nicht genug hat, sah sich unlängst mit einem neuen Büchlein des Erfolgsautors beglückt. Die 194 locker bedruckten Seiten hat man indes schnell gelesen, da vieles vertraut ist: sowohl der Held wie auch die kunstlose Sprache. Johann Friedrich von Allmen ist ein geistiger Verwandter des «Letzten Weynfeldts» aus Suters vorletztem Roman. Mit dem Unterschied, dass Lebemann von Allmen sein Vermögen verprasst hat und sich durch Tricks über Wasser hält. Im Laufe des Buches (er)findet er sich einen Job: Ermittler für gestohlene Kunstwerke. Auch die vielen Wiederholungen und die Suter-typische Schubladisierung (mittels Beschreibung von Äusserlichkeiten) statt psychologische Charakterzeichnung verkürzen die Lektüre. Futter für die Fans oder eine Zugfahrt lauwarme Unterhaltung für alle. Regula Freuler

Die Schule war die Hölle, Bücher hat er gehasst, erst eine schwere Krankheit hat ihn dazu gebracht, diesen Hass durch Schreiben zu überwinden. Heute gehört er zu den berühmtesten deutschsprachigen Schriftstellern, und am 9. Februar würde er seinen 80. Geburtstag feiern, wäre er 1989 nicht den Folgen eines Lungenleidens erlegen. Schimpfen und Leiden prägen auch Bernhards Bücher. Am besten erfährt man den Grund dafür aus den fünf berührenden autobiographischen Werken «Die Ursache», «Der Keller», «Der Atem», «Die Kälte» und «Ein Kind», die anlässlich des Jahrestags gebunden im Schuber erschienen sind. Die Bände können auch einzeln (Fr. 20.50, bei dtv Fr. 13.90) erworben werden, sind allerdings als «Autobiographie» günstiger in einem Band (Fr. 37.90), ebenfalls bei Residenz, erhältlich. In welcher Form auch immer, unverzichtbar sind diese Schriften auf jeden Fall. Regula Freuler

Philipp Luidl: Was zu merken ist. Miniaturen. Illustriert von Cornelia von Seidlein. Maro, Augsburg 2010. 78 S., Fr. 27.90.

Dirk von Petersdorff: Nimm den langen Weg nach Haus. C. H. Beck, München

Das dichterische Werk Philipp Luidls ist schmal, aber gewichtig. Bisher umfasst es vier Lyrikbände, die alle im durch Charles Bukowski bekannt gewordenen Augsburger Kleinverlag Maro erschienen sind. Nun kommt ein Bändchen mit autobiographischen Prosa-Miniaturen hinzu. Auch in ihnen zeigt sich der inzwischen 80-jährige gelernte Schriftsetzer, der drei Jahrzehnte lang als Dozent für Typographie an der Akademie für das Grafische Gewerbe in München wirkte, als Virtuose der Verknappung. In kleinen Szenen lässt er seine Kindheit und Jugend während des Dritten Reiches auferstehen. Seine Prosa ist so eindringlich wie lapidar. «Genauere Exerzitien des Auges gibt es in der deutschen Poesie dieser Zeit nicht», hat der HanserVerleger Michael Krüger einmal über Luidls Gedichte geschrieben. Der Satz lässt sich auch auf die poetischen Erinnerungen des Kleinmeisters anwenden. Manfred Papst

Der 1966 geborene deutsche Schriftsteller Dirk von Petersdorff, der an der Universität Jena lehrt, hat bereits mit mehreren Gedichtbänden («Zeitlösung», 1995, «Wie es weitergeht», 1998, «Bekenntnisse und Postkarten», 1999, «Die Teufel in Arezzo», 2004), mit zeitkritischen Essays («Verlorene Kämpfe», 2001) und erzählender Prosa («Lebensanfang», 2007) auf sich aufmerksam gemacht. In seinem neuen Buch vereint er Gedichte aus seinen früheren vier Lyrikbänden mit neueren Arbeiten, insbesondere Liebesgedichten, die ihn als formbewussten «poeta doctus» in der Nachfolge Enzensbergers zeigen. Im Zentrum der Sammlung steht der Sonett-Zyklus «Die Vierzigjährigen». Von Petersdorffs Gedichte sind zugleich ernsthaft und leicht, konzentriert und gelassen, verständlich und tiefsinnig. Die Vielfalt der Formen wirkt so wenig aufgesetzt wie das Geflecht der Anspielungen. Manfred Papst

2010. 101 Seiten, Fr. 25.90.

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11

Essay

2011 ist für die Schweizer Literatur das Max-Frisch-Jahr. Was hat uns dieser Autor heute noch zu sagen? Andreas Isenschmid hat sein Werk neu gelesen, erst mit Befremden, dann mit Jubel

Seine Meisterschaft erlangte er erst nach sechzig Hat jemand einmal die unzähligen Gläser, Flaschen und Tassen gezählt, die bei Max Frisch Werk um Werk in massloser Wut gegen die Wände, Schüttsteine und Cheminées geschmettert werden? Hat jemand die Katzen und Hunde gezählt, die Frisch in seinen Büchern zu Tode bringt? Gibt es ein Verzeichnis der Morde, Selbstmorde und entsprechender Fantasien in all seinen Bänden? Der Schreibende hat Frischs Bücher einige Jahre ruhen lassen. Frischs Äusserungen zur Schweiz hatten ihn gelangweilt. Ihre Wahrheiten enthielten zu viel Ressentiment. Und Frischs Frauenbild nervte. Nun hat er aus gegebenem Anlass zwei Wochen nicht viel anderes getan, als kreuz und quer in den sieben Bänden von Frischs «Gesammelten Werken» herumzulesen. Es waren zwei Wochen, die mit Befremden begannen und im Jubel endeten. Doch durch beides hindurch zeigte Frisch – untrügliches Zeichen klassischer Qualität – dem Schreibenden sich von Seiten, die ihm früher nicht ins Auge gefallen waren. Am auffälligsten war dabei das schiere Ausmass von Gewalt in seinen Werken. Was sind das für Männer, die den halben «Stiller» und «Gantenbein» hindurch in wortlosem Zorn Gläser und Flaschen «en suite» zerschlagen? Welches ist ihr Leiden? Was lässt sie

Max Frisch (1911−1991) Am 15. Mai wäre Frisch 100 geworden, am 4. April jährt sich sein Todestag zum 20. Mal. Das Frisch-Porträt von Volker Weidermann (Kiepenheuer & Witsch) ist schon erschienen. Bald folgen die Frisch-Studie von Beatrice von Matt (Nagel & Kimche) und die Biografie von Julian Schütt (Suhrkamp). Am 16. März eröffnet die Frisch-Ausstellung im Museum Strauhof, Zürich. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

mit der Welt so zerfallen, dass sie Katzen in Kühlschränke sperren oder sie töten und braten, was lässt sie Hunde umbringen? Natürlich sind die Auslöser dafür nicht selten die Eheund Liebeskrisen, als deren Darstellung man Frischs Romane durchaus lesen kann. Aber die Aggressivität bei Frisch geht ja über alle Ehekrisen weit hinaus. Allenthalben schlägt die Fremdaggression in Selbstaggression um. Stiller will sich nicht wegen Julika in der bei weitem tiefsten Szene des Romans das Leben nehmen. Marion eröffnet das erste «Tagebuch» nicht wegen einer Ehekrise damit, dass er seinen Hund erwürgt und sich erhängt. Und auch «der Goldschmied» hat andere Gründe, wenn er das zweite «Tagebuch» mit einer schreckerregenden Liste von Selbstmordarten beginnt: «Zündkapsel in den Mund», Erschiessen, Erhängen, «Sprung von einem Aussichtsturm», «Gashahn», «Schlafmittel-Methode, die er unmännlich findet».

Untergangsfantasien

Überhaupt sind es nicht nur die Männer, die sich auslöschen – ist es nicht die Welt schlechthin, die sich auflöst? Was sagt der Staatsanwalt im «Öderland», als er seine Sympathie für den «Mord einfach so» (im Gegensatz zu dem «aus Gewinnsucht» oder «aus Eifersucht») bekennt? «Das ist wie ein Riss in der Mauer. Man kann tapezieren, um den Riss nicht zu sehen. Der Riss bleibt. Man fühlt sich nimmer zuhaus in seinen vier Wänden.» Der Riss bleibt nicht nur, er taucht nach 28 Jahren auch wieder auf. In Frischs so hinreissendem Spätwerk «Der Mensch erscheint im Holozän», das so anders ist als alles vorherige und in dem doch einmal mehr Tassen fliegen, Katzen sterben und Herr Geiser, der allenthalben Risse sieht, sucht und findet, über seine Auslöschung durch Selbstmord nachdenkt. Zugleich hat Frisch in diesem Werk die Selbstauslöschung eines Einzelnen in eine Vision von der Auslöschung der ganzen Menschheit einge-

bettet. Natürlich kann man die Sintflut-Fantasie im «Holozän» ökologisch lesen. Aber man griffe damit zu kurz. Frisch hat seiner Untergangsfantasie deutlich eine metaphysische und religiöse Dimension gegeben. Herr Geiser fragt sich wie Frisch andernorts auch, ob es «Gott gibt, wenn es einmal keine Menschen mehr

Im Spätwerk «Der Mensch erscheint im Holozän» hat Frisch die Selbstauslöschung des Einzelnen in eine Vision der Auslöschung der ganzen Menschheit eingebettet. gibt». Und der Autor selbst hat sein Werk doppelt in Beziehung zur biblischen Schöpfungsgeschichte gesetzt. Erst lässt er Geiser als ersten von vielen Zetteln den Anfang der Genesis an die Wand pinnen: «Die Erde war aber wüst und öde, und die Finsternis lag auf der Urflut.» Und dann inszeniert er sein Werk, in recht kühner Ausdeutung seiner Schöpferrolle, als negative Schöpfungsgeschichte. Plötzlich leben mit Geiser auch Feuersalamander im Haus, ja Geiser fühlt sich wie ein Lurch, bekanntlich ein Amphibium. Der Mensch geht, in den erzählerischen Obertönen, also erst zurück ins Wasser «mit webenden und lebendigen Tieren», wie die Bibel sagt. Und der Regen macht sich dran, die göttliche Unterscheidung von Wasser und Festland zu widerrufen.

Festlicher Existenzialismus

«Der Mensch erscheint im Holozän» ist Frischs letztes, schönstes und umfassendstes Bild für sein gar nicht so heimliches Lebensthema der existenziellen Unbehaustheit des Menschen. Dies Thema gibt den dunklen Grund für Frischs

SIGRID ESTRADA

Essay

Schreiben sei «Kommunikation mit dem Unaussprechlichen», meinte Max Frisch. (New York, 1981). 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13

KPA / KEYSTONE

Essay

Die Autoren Max Frisch, Barbara König und Walter Höllerer diskutieren in einer ZDF-Sendung im Dezember 1972 über das Thema «Sind Tagebücher zeitgemäss?».

so licht- und lebenszugewandten Existenzialismus, wie ihn Beatrice von Matt in einem schönen Kapitel ihres Anfang Februar erscheinenden Frisch-Buches herausarbeitet. «Frischs Existenzialismus hat eine festliche Note», schreibt Beatrice von Matt. Der Mensch sei für Frisch «nicht ein geworfener», «als absurd» könne «Frisch die menschliche Existenz nicht verstehen». Doch wer so viele seiner Helden in realen oder gedachten Selbstmorden am Sinn verzweifeln lässt, ist dem Absurden vielleicht doch nicht ganz fern. Auffällig ist indes, wie eng das Finstere der Gewalt und des Selbstmords bei Frisch verschwistert ist mit der lichtvollen und beglückenden Erfahrung der Neugeburt. Und wie er die Auslöschung des Menschen im «Holozän» an die religiöse Sprache angelehnt hat, so tut er es auch mit der komplementären Erfahrung des verwandelten Neugeborenseins. Davon sprechen die intimsten Seiten des «Stiller».

Polemik gegen die Schweiz

Man kann den «Stiller» natürlich auch als schweizkritischen Roman lesen. Kapitelweise finden sich Predigten gegen die Engstirnigkeit, Putzwut, Selbstgerechtigkeit der Schweizer, gegen ihren mangelnden Wagemut, ihr Klammern an die Vergangenheit, ihr Ausklammern der Zukunft. Aber erstens würde ein Roman, der so sehr von einer lediglich zeittypischen Schweizkritik lebt, rasch sein historisches Verfallsdatum erreichen. Und zweitens fällt doch auf, dass je mehr Stiller in die Tiefen seines Lebens hinabsteigt, desto weniger von der Schweiz die Rede ist. Als Stiller in einem singulären Akt die Freundschaft annimmt, die ihm 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

Rolf, sein Staatsanwalt, anbietet, redet er nicht von der Schweiz, sondern von «meinem Engel»: «Wenn Sie mein Freund sind, dann müssen Sie auch meinen Engel in Kauf nehmen.» Und zu diesem ersten Bezug auf religiöse Sprache wird er bald einen zweiten fügen: «Näher bin ich dem Wesen der Gnade nie gekommen», wird er sagen, als er dem Freund seinen Engel erläutern will. Bis es so weit ist, warten auf den Leser indes gleich zwei der bekannten Gewalteruptionen. Gegen die Schweiz polemisiert Stiller

Auffällig ist, wie eng bei Max Frisch das Finstere der Gewalt und des Selbstmords verschwistert ist mit der beglückenden Erfahrung der Neugeburt. zwar gern in Worten, aber wenn’s ans handfeste Zerstören geht, hält er sich nicht an die Schweiz, sondern an sein Selbst. Erst zerstört er sein Atelier und die dort noch vorhandenen Kunstwerke, also sein vergegenständlichtes Selbst. Und dann schildert er seinen Versuch, durch Selbstmord sein eigentliches Selbst abzuwerfen. Das glückt und missglückt ihm zugleich. Die Kugel streift den Kopf nur, und Stiller gerät in einen erleuchteten Zustand zwischen Tod und Leben. «Ich wusste, dass dies nicht der Tod ist, auch wenn ich jetzt sterbe.» Dieser Schrecken einer «Ohnmacht bei vollkommenem

Wachsein» ist es, «was ich meinen Engel nenne». Diese «Gnade» gibt Stiller die «Empfindung, jetzt erst geboren zu sein». Nun nimmt er in «ungeheurer Freiheit» sich als den Menschen an, als der er eben geboren worden ist, bereit, kein anderes Leben zu suchen als dieses. Diese Erzählung einer Selbstannahme rechnet zu den schönsten und tiefsten Passagen im «Stiller». Sie gehört als Beispiel einer Theologie ohne Gott in jedes theologische Lesebuch. Sie steht im «Stiller» übrigens durchaus in einem theologischen Zusammenhang. Stiller antwortet mit seinem Bericht auf die von seinem Freund Rolf im Geist von Kierkegaards Sündentheologie vorgetragene Mahnung, sich selbst anzunehmen. Im übrigen geht der Weg, der von der Gewalt zur Gnade führt, noch ein Stück weiter. Es führt vom Engel und der Gnade nämlich eine direkte Linie in den Kern von Frischs literarischer Ästhetik. Frisch dachte, wenn er übers Schreiben schrieb, meist nicht an die literarische Gesellschaftskritik, derentwegen ihn so viele lieben. Auch der Satz «Du sollst Dir kein Bildnis machen», der im Mittelpunkt seiner Ästhetik steht, stammt ja nicht aus einem Traktat gegen den Abbildrealismus, sondern aus der Bibel. Im «Stiller» fliessen die Überlegungen über die Gnade und die übers Schreiben fast ineinander. Über seinen Engel sagt Stiller, man könne «etwas Unverständliches nicht verständlich machen, ohne es gänzlich zu verlieren». Fast das Gleiche sagt er übers Schreiben: Es sei «Kommunikation mit dem Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermöchte, um so reiner erschiene das Unaussprechliche. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.» Diese Überlegungen beschäftigten Frisch schon im 1947 bei Atlantis veröffentlichten «Tagebuch mit Marion». «Zur Schriftstellerei» notiert er da: «Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten.» Das lasse sich aber «bestenfalls umschreiben». Auch hier bedient sich Frisch theologischer Ausdrücke, um seine schriftstellerische Reflexion zuzuspitzen. Vom Unsagbaren, nie Abzubildenden, nur zu Umschreibenden sagt er auch, es sei «Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist». Wer es fassen wolle, «versündige» sich.

Meisterschaft im Alter

Der Schreibende war bei seiner Relektüre von Frisch erst befremdet von der Gewalt, die ihm entgegenschlug, dann beeindruckt von ihrer Verwandlung in Gnade, schliesslich beglückt von den Büchern, die Frisch, produktiv wie der alte Philip Roth, zwischen seinem 60. und seinem 70. Geburtstag publiziert hat – «Tagebuch 1966–1971», «Montauk», «Triptychon», «Holozän». Hier hat Frisch in der Wiedergabe des «Weissen zwischen den Zeilen» eine unvergleichliche Meisterschaft erlangt. Nach den Experimenten mit der Skizzenform und der Ablösung der «Dramatik der Peripetie» durch eine offene «Dramatik der Permutation» fand Frisch nun mehr Weisses als je zuvor im einzelnen Satz. Seine Sätze wurden, paradox genug, zugleich knapper und aussagekräftiger. Sie kamen ihrem Gegenstand weder zu nah, noch blieben sie ihm zu fern. Zugleich bleiben diese kargen Sätze in der Schwebe, weil Frisch eine Gabe für den abgebrochenen Satz und eine Gabe für die Berechnung der vielsagenden Lücken zwischen den Sätzen hat. Manche dieser kunstvoll verknappten Sätze beginnt man, wie es sonst eher bei Lyrik geschieht, unwillkürlich laut zu lesen. Man sollte dann nicht ganz vergessen, dass hinter dieser unablässig betriebenen Erforschung des Weissen zuletzt ein theologischer Urantrieb steckt. l

Kolumne

Charles Lewinskys Zitatenlese

GAËTAN BALLY / KEYSTONE

Ich habe in meinem Leben noch nie ein Buch gelesen. Ich habe einfach keine Zeit.

Charles Lewinsky, 64, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Seine Adventsparodie «Der Teufel in der Weihnachtsnacht» ist 2010 bei Nagel & Kimche neu aufgelegt worden.

Kurzkritiken Sachbuch Willi Wottreng: Zigeunerhäuptling. Das Schicksal des Robert Huber. Orell Füssli, Zürich 2010. 224 Seiten, Fr. 39.90.

Stephan Pörtner: Hosenlupf. Eine freche Kulturgeschichte des Schwingens. Walde + Graf, Zürich 2010. 232 Seiten, Fr. 58.-.

Zuerst handelte er mit Chlüppli, dann mit Seilen, später mit Alteisen und Antikem. In die Ferien flog er nach Kenia und Thailand und beim eigenen Gerichtsprozess fuhr er im Amischlitten vor. Er besass zwar fast immer einen Wohnwagen, doch bis der Jüngste aus der Schule war, lebte er mit seiner Familie durchaus sesshaft: Robert Huber, mit drei Jahren von der Pro Juventute «versorgt», durchlief siebzehn Pflege- und Heimplätze, um als junger Erwachsener den Weg zurück zu den Fahrenden zu finden. Als Präsident ihrer «Radgenossenschaft» wird er zu ihrem Sprecher. Das liebevolle, akribisch dokumentierte Porträt dieses Mannes bietet weit mehr als der Titel vom Zigeunerhäuptling verspricht: nebst der Geschichte der unseligen Aktion «Kinder der Landstrasse» der sechziger Jahre auch jene der Jenischen in der Schweiz und ihrer Protestbewegung zur Verteidigung ihrer Lebensweise und Kultur. Kathrin Meier-Rust

«Tradition ist, was bleibt, wenn die Moden vorbei sind», rief SP-Bundesrat Willy Ritschard den Besuchern des Eidg. Schwing- und Älperfests 1977 zu. Auch Ritschards Freund, der Schriftsteller Peter Bichsel, geht seit Jahren an Schwingfeste, um «einen friedlichen Sonntag unter freundlichen Menschen» zu erleben. Heute erfreut sich der urschweizerische Hosenlupf – genau wie der Jodel und das Alphornblasen – einer neuen Beliebtheit, auch im städtischen Milieu. In der reich bebilderten Chronik kommen Schwinger-Legenden wie Karl Meli, Ernst Schläpfer, Jörg Abderhalden und Kilian Wenger zu Wort. Die Rede ist auch vom Kampfgericht, vom Sägemehl und von der urchigen Zwilchhose. Ein besonderes Lob gebührt dem Illustratoren-Trio Paula Troxler, Chrigel Farner und Noyau: allein schon ihre liebevollnostalgischen Zeichnungen rechtfertigen die Anschaffung dieses wunderbaren Buches. Urs Rauber

Irène Speiser: Hausauflösung. Stroemfeld, Frankfurt am Main 2010. 119 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 24.Ω.

James Palmer: Der blutige weisse Baron. Eichborn. Die Andere Bibliothek. Frankfurt, 2010. 383 Seiten, Fr. 45.90.

Anhand einer Wohnung die Familiengeschichte erkunden. Irène Speiser (51), freie Autorin und zeitweilige NZZ-Korrespondentin in New York, folgt den Spuren ihrer Grossmutter (1902Ω1998), die als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Worms in die Schweiz heiratete und über 70 Jahre in einem herrschaftlichen Jugendstilhaus in Zürich lebte. Die schöne «Granny» war Bratschistin in einem Damen-Quartett, modellierte Köpfe und verkehrte mit Persönlichkeiten wie Pablo Casals, Max Planck und Chaim Weizmann. Ein Besuch bei ihr war ein Ritual, «die Stunden waren mit Bedacht platziert, seziert, dividiert». In einer behutsam literarischen Sprache erzählt die Enkelin vom Haus mit vielen Räumen, Treppen und Winkeln. Und von Personen, die hier verkehrten. Mit leiser Wehmut verlässt man die Villa, die nach dem Tod der kultivierten Dame abgerissen wurde. Urs Rauber

Der Historiker James Palmer stellt uns die ebenso surreale wie reale Biografie eines baltischen Barons mit deutschem Stammbaum namens Roman Nikolaj Maximilian von Ungern-Sternberg vor. Ein gescheiterter zaristischer Offizier, der nach der russischen Revolution an der sibirisch-chinesischen Grenze strandete. Die Stunde des fatalistischen Draufgängers schlug, als im Strudel der russischen Revolution entlang der transsibirischen Eisenbahn ein mörderischer Bandenkrieg entbrannte. Mit einem versprengten Kosakentrupp errichtete er in der Steppe ein Terrorregime und wollte 1921 als wiedergeborener Dschingis Khan ein mongolisches Grossreich schaffen. Der Blutrausch endete nach wenigen Monaten mit seiner Gefangennahme und Erschiessung durch die Sowjets. Die Fakten dieser bizarren Episode hat Palmer aus russischen und mongolischen Quellen zusammengetragen. Geneviève Lüscher

Victoria Beckham

Keine Proteste, bitte! Auch das ist ein Autorenzitat und gehört damit in «Bücher am Sonntag». Zugegeben, Victoria Beckham hat noch keinen Literaturnobelpreis gewonnen. (Obwohl man die Möglichkeit nach manchen Entscheidungen des Stockholmer Komitees nicht ganz ausschliessen sollte.) Aber sie hat immerhin zwei Bücher geschrieben, die beide in den Bestsellerlisten gelandet sind. Naja, «geschrieben» ist vielleicht viel gesagt. In ihren Kreisen erledigt man gröbere Arbeiten nicht persönlich. Mrs. Beckham hat schreiben lassen. Sie putzt ihr Klo ja auch nicht selber. Dabei muss sie sich einen der besseren Ghostwriter geleistet haben. Ein Titel wie «That Extra Half An Inch: Hair, Heels And Everything In Between», der muss einem erst einmal einfallen. So was Fetziges hat Thomas Mann nie geschafft. Wobei Victoria Beckham wahrscheinlich nicht weiss, wer Thomas Mann ist. Weil der ja nicht bei Real Madrid spielt. Womit wir jetzt endgültig zum lehrreichen Teil dieser Kolumne kommen. Wer keine Bücher liest, merkt euch das, liebe Kinder, der ist noch schlimmer dran als einer, der seinen Spinat nicht isst. Weil nur Bücher jene lebenswichtige Hirnnahrung enthalten, ohne die man eines Tages so wird wie Victoria Beckham. Und eine Spice-Girlisierung ist so ziemlich das Schlimmste, was einem Menschen zustossen kann. Nur schon die körperlichen Veränderungen. Wie der Suppenkaspar (von dem Frau Beckham auch nichts weiss) wird man dünner und dünner, bis man schliesslich aussieht wie ein Kleiderständer auf einem Flachbildschirm. Damit nicht genug! Von Büchern wird man erhoben, während man ohne Bücher nur geliftet wird, und zwar so regelmässig, bis auch der in solchen Dingen unerfahrene Betrachter merkt, dass das niedliche Grübchen am Kinn früher mal der Bauchnabel gewesen sein muss. Und auch der Geist leidet unter längerer Leseabstinenz. Nach Geburten hat man Aussetzer und nennt seine Söhne Brooklyn, Romeo und Cruz. Und irgendwann verliert man dann jede Scham und gesteht der prominentengeilen Welt, dass man noch nie ein Buch gelesen hat. Immerhin: Frau Beckham hat gemerkt, dass man damit nicht gut ankommt. Deshalb hat sie ihre Aussage auch gleich wieder eingeschränkt. Es sei ja nicht so, dass sie überhaupt nicht lese. Modezeitschriften, hat sie gesagt, die interessierten sie durchaus.

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15

Sachbuch USA Der amerikanische Starreporter Bob Woodward, der den Watergate-Skandal aufdeckte, beobachtet und analysiert auch Präsident Obamas Politik

Chronik der zögerlichen Entscheidungen Bob Woodward: Obamas Kriege.

Zerreissprobe einer Präsidentschaft. DVA, München 2011. 490 S., Fr. 38.90. Von Peter Studer Eine Reuters-Agenturmeldung von Anfang Januar: In Afghanistan seien während des Jahres 2009 fast 10 000 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen – darunter mehr als 5200 Aufständische, 1300 afghanische Polizisten, 2000 Zivilisten. Das erklärte das afghanische Innenministerium. Reuters rechnet auf: «Die Gewalt am Hindukusch befindet sich seit 10 Jahren – also seit Beginn des amerikanischen Einmarschs – auf einem Rekordhoch: und das trotz der Präsenz von 150 000 Nato-Soldaten». Einer, der diesen Saldo mit grösstem Unbehagen zur Kenntnis genommen haben muss, ist Präsident Barack Obama, der die oberste Verantwortung für das amerikanische Engagement bei seinem Amtsantritt vor genau zwei Jahren angetreten hat. Die aussenpolitische Hauptplanke in seinem Wahlkampf hatte gelautet: So rasch als möglich die Zelte im eroberten Irak abbrechen; dafür den Einsatz in Afghanistan und an der pakistanischen Grenze aufbauen. Das sei die wirkliche strategische Gefahrenzone. Bob Woodward, Starreporter der amerikanischen Politberichterstattung, hat sich des Themas angenommen. Der akademisch gebildete Ex-Marine und sein ungehobelter Partner Carl Bernstein, Aspiranten an der «Washington Post», waren an einem langweiligen Sonntag 1972 auf Pflichtdienst – und stolperten in den «Watergate»-Skandal hinein. Ein seltsamer Einbruch in das Wahlhauptquartier der Demokraten, als dessen Drahtzieher viel später der republikanische Präsident Richard Nixon sichtbar wurde. Die Recherchen des fanatischen Reporters Woodward und des 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

chaotischen Stilisten Bernstein weckten die Wachhunde im Kongress, und zwei Jahre später musste Nixon zurücktreten. Alan Pakulas grosser Film «All the President’s men» (1976) mit Robert Redford und Dustin Hoffman erzählt diese Episode nach. Seither brilliert Woodward, der stets betont, er sei seit Kindsbeinen «eben ein Reporter», auf andere Weise. Er sichert sich das privilegierte Entrée zum prominentesten politischen Milieu, dem Weissen Haus. Und er gräbt sich während einiger Monate in ein Kernthema des Präsidenten und des ihn umgebenden Hofstaats ein. Diesmal, mit dem – wenn ich richtig zähle – zwölften Band, hat er 18 Monate lang Obamas Entscheidbildung rund um Afghanistan beobachtet. Woodwards Text beginnt zwei Tage nach Ende des Wahlkampfs 2008: Der neue Präsident, der ja erst Ende Januar 2009 das Amt antritt, erhält in Chicago ein Briefing durch den Direktor der Nationalen Nachrichtendienste, Vizeadmiral Michael McConnell.

Drama in 31 Kapiteln

Ernüchternd: Am 10. Juli 2010 führte Woodward ein letztes Interview mit Präsident Obama. Der Präsident erinnerte ihn an die erste aussenpolitische Rede des jungen Senators Obama, die damals (2002) Aufsehen erregte: Obama warnte vor «einer amerikanischen Besetzung des Irak, von unbestimmter Dauer, mit unbestimmbaren Kosten und Folgen». Dann fuhr er fort: «Der Krieg ist die Hölle. Sind die Hunde des Kriegs mal ab der Leine, weiss niemand, wo’s hinführt» – berühmtes Zitat von General Tecumseh Sherman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Den beiden Kriegspräsidenten der allerjüngsten Zeit, George W. Bush (Irak) und Lyndon B. Johnson (Vietnam), wäre eine solche Reminiszenz kaum eingefallen. Obama fuhr nachdenklich fort: «Nächstes Jahr

Weiter spielen mit der Hofstaat: Die Männer, die Obama als Wahlkampfleiter ins Weisse Haus gehievt hatten; alle besorgt, dass die Militärs Obama zu einer Truppenaufstockung nötigen (traumatisiert vom Vietnam-Krieg 1965/75, den sie alle nicht mehr aktiv erlebt hatten). Dann die Generäle: Admiral Michael Mullen, Vorsitzender der Stabschefs, bürokratischer Motor der Truppenaufstockung. General Stanley McChrystal, der 40 000 Mann Verstärkung verlangte und immerhin 30 000 bekam, aber wegen eines «Rolling Stone»-Artikels voller verächtlicher Zitate über die «Zivilisten» entlassen wurde. General David Petraeus, ein politisch sensibilisierter General der neuen Generation mit Erfolgen im Irak (jetzt Kommandierender in Afghanistan). Und viele andere, wie es im Theaterprogramm jeweils heisst. Eine Konstante war die Empörung über die korrupte Regierung Karzai und über den pakistanischen Geheimdienst- und Politikerklüngel, der im Grenzgebiet nicht aufräumt, weil er die Hauptgefahr im Erzfeind Indien sieht.

Präsident Obama, Adressat all dieser widersprüchlichen Forderungen, hörte während fast eines quälenden Jahres zu, gab weitere Gutachten in Auftrag, stellte Fragen. Bis er sich ermannte und Ende November 2009 ein meisterhaft redigiertes strategisches Papier verteilte, das einen Teil der Militärforderungen erfüllte, aber gleichzeitig den Horizont eines Abzugs ab Juli 2011 festlegte. Hätte er viel früher tun können – so ungefähr frotzelten der kürzlich verstorbene Krisendiplomat Richard Holbrooke und CIA-Direktor Leon Paletta. Durch die endlosen Sitzungsgespräche wabern immer wieder Erinnerungen an die Debatten während des Vietnam-Kriegs, wobei das heutige Personal – trotz vieler oberflächlicher Ähnlichkeiten – weniger ideologisch und politisch differenzierter argumentiert als seine Vorgänger.

11. August 2010 im Situation Room des Weissen Hauses: Barack Obama berät mit Joe Biden und dem nationalen Sicherheitsrat die Lage im Irak.

Protokolle, Briefe, Gespräche

PETE SOUZA / REUTERS

ist’s zehn Jahre her, dass wir in Afghanistan sind. Unser längster Krieg …». Und jetzt das Zwischenresultat, das Reuter meldet! Die 31 Kapitel zwischen Anfang und Ende des Woodward-Protokolls laufen wie die Dramaturgie eines Dramas in (fast nur) einem Dekor ab – in den Sitzungszimmern des Weissen Hauses. Es treten verschiedene Handlungsgruppen auf. Politiker: Vizepräsident Joseph R. Biden, belächelt als Schwätzer, voller Misstrauen gegen militärische Hybris und Afghanistans Korruption der Regierung Karzai. Dissidente Militär- und Diplomatiekader munitionierten ihn. Aussenministerin Hillary Clinton, JaSagerin zum Irak-Krieg, Supporterin der Generalsvorschläge. Verteidigungsminister Robert Gates, übernommen aus dem Bush-Kabinett. Er sagte: «Unser Plan sollte einen Horizont von 18–24 Monaten haben. Dann beginnen wir unsere Kräfte auszudünnen.» Obama schloss sich ihm schliesslich an: Nach peinlich genau nacherzählten Sitzungen, am 29. November 2009.

Wie arbeitet Woodward? Natürlich sass er nicht unter den Teilnehmern der hochgeheimen Meetings am Konferenztisch des Präsidenten. Im «Hinweis an die Leser» schreibt Woodward: «Der Kern des Buchs beruht auf schriftlichen Unterlagen: Sitzungsprotokollen des Nationalen Sicherheitsrats, Briefen, EMails, persönlichen Gesprächsnotizen» usw. Er ist berühmt dafür, dass er einem Gesprächspartner hellwach zuhört, nach Hause eilt und aus dem Gedächtnis ein langes Gesprächsprotokoll in den Computer hackt. Die Vereinbarung lautet jeweils: «Hintergrundgespräch» – Inhalt frei, ohne Quellenangabe. Bei einigen Informanten häuften sich bis zu 300 Seiten aus mehreren Gesprächen an. Kein Gegenlesen und Autorisieren, das sich im deutschsprachigen Raum zu einer eigentlichen Interviewfalle ausgewachsen hat. Dafür skrupulöse Fairness, die republikanische wie demokratische Präsidenten samt ihren Hofstaaten, Generäle und Zivilisten, Parteisoldaten und Service-Public-Missionare hinhalten liess, immer wieder. Artikulierte Proteste nach Publikation sind ganz selten (Ronald Reagan reklamierte einmal gegen eine «frei erfundene Passage», die sich später aber als richtig erwies). Am meisten Skepsis äussern die Kollegen: Geht’s hier auch um «embedded journalism»? Sympathisiert Woodward mit den offenherzigsten Informanten? Merkt er, wenn jemand die Story zurechtbiegt, um vor «der Geschichte» gut dazustehen? Vielleicht ist Woodwards Fleiss – um nicht zu sagen: der Furor seiner Recherche in alle Richtungen – ein Korrektiv. Sodass man hinnimmt, wenn er den Eindruck erweckt, er sei «als Fliege an der Wand» dabeigewesen und habe den schrillen Ton des einen, das irritierte Stirnrunzeln des anderen erlebt. Dabei hat er nur davon gehört. ● Peter Studer war USA-Korrespondent des «Tages-Anzeigers» in Washington zur Zeit der Watergate-Affäre, später Chefredaktor des TA und des Schweizer Fernsehens. 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17

Sachbuch

Porträt Ein neues Buch rehabilitiert Umberto Eco als Romancier. Und eine Gesprächssammlung zeigt ihn einmal mehr als brillanten Geist und anekdotischen Erzähler

Das Feuilleton hat ihn verspottet

schen und narrativen Meisterschaft und der philosophischen Dimension seines Werkes sollte man jedoch zurückhaltend mit solchem Urteil sein». Wer hier vermessen ist und hätte Zurückhaltung üben sollen, bleibt wohl die Frage. Ansonsten kommt auch einiges zu kurz in Nerlichs Biografie. Das gilt vor allem für Ecos auf wenigen Seiten abgehandelte Zeichentheorie, die als Harmonisierung strukturalistischer und hermeneutischer Ansätze in ihrer Originalität bis heute nicht genug gewürdigt wird. Das gilt aber auch für den Versuch, eine besonnen vermittelnde Position zwischen Buch und Internet in einer webbasierten Gutenberg-Galaxis einzunehmen: eine Position, die Ecos neueste Publikation «Die grosse Zukunft des Buches» illustriert. Versammelt sind Gespräche mit dem grossen französischen Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, die unter der Moderation von Jean-Philippe de Tonnac aufgezeichnet (und hinterher offenbar stark redigiert) worden sind – und in denen sich Eco nicht selten als überlegener Dialogpartner eines keineswegs dummen Pendants erweist.

Michael Nerlich: Umberto Eco. Die

Biografie. Francke, Tübingen 2010. 350 Seiten, Fr. 43.50.

Umberto Eco, Jean-Claude Carrière: Die grosse Zukunft des Buches. Hanser,

München 2010. 288 Seiten, Fr. 29.90.

Von Thomas Köster Als der Weltbestseller «Der Name der Rose» des heute 79-jährigen italienischen Romanciers, Zeichentheoretikers, Kolumnisten, Kulturphilosophen und Medienwissenschafters Umberto Eco 1982 auf Deutsch erschien, hallte ein Aufschrei des Entsetzens durchs gesamte bundesrepublikanische Feuilleton. Ein «geschwätziges und spitzfindiges Konglomerat» sei das Buch, das vordergründig die Aufklärung einer Mordserie in einer norditalienischen Benediktinerabtei des 14. Jahrhunderts behandelt: ein «ambitiöser Gelehrtenscherz», blutleer und substanzlos, «mit jedem Satz ein Professorenroman». Wie Michael Nerlich in seiner Biografie Umberto Eco herausstellt, war diese einhellig vernichtende Kritik inmitten internationaler Begeisterung ebenso einzigartig wie engstirnig: Heute gilt das Buch als vielschichtige und anspielungsreiche, ästhetisch innovative und geschichtlich absolut fundierte Neubelebung des historischen Romans.

LEA CRESPI / LUZPHOTO

Buch hat Zukunft

Vielseitig und engagiert

Es ist ein grosses Verdienst von Nerlichs Biografie, Eco vom immer noch gerne kolportierten Image des professoralen Hobbyliteraten, der vom Semiotiker zum Schriftsteller mutierte, glaubhaft zu befreien. Stattdessen porträtiert sie den extrem vielseitigen Autor als einen vom italienischen Faschismus und Katholizismus geprägten, linksintellektuell beeinflussten und politisch überaus engagierten Literaten aus dem Umfeld der sprachexperimentellen «Gruppo 63», der selbst sein wissenschaftliches Interesse aus einem lebenslangen Faible fürs Erzählen entwickelt hat. Folgerichtig stehen bei Nerlich Ecos grosse Romane «Der Name der Rose» (1980), «Das Foucaultsche Pendel» (1988), «Die Insel des vorigen Tages» (1994), «Baudolino» (2000) und «Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana» (2004) im Zentrum, denen ausführliche und teils gekonnt interpretierende Kapitel gewidmet sind. Letzteres gilt vor allem für die Analyse des im deutschen Feuilleton als «Trivialbarock» verspotteten Romans «Die Insel des vorigen Tages»: Dessen «blödsinniger Plot» rund um den in der Südsee gestrandeten Briefeschreiber Roberto de La Grive entpuppt sich als raffinierte, postmodern-avantgardistische Erzählstrategie, die nicht die Hauptfigur, son18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

dern das gesamte Wissen des 17. Jahrhunderts zum Helden hat. Leider gelingt Nerlich die Ehrenrettung Ecos nicht immer derart überzeugend. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Biograf dem Werk des Autors, der «wie kein anderer den LiteraturNobelpreis verdiente», mit ungebremster, teils in Superlativen gefasster Bewunderung entgegentritt. Da wird «Der Name der Rose» schon mal als «absolut offenes Kunstwerk» im Eco’schen Sinne auf eine Stufe mit den grossen formalexperimentellen Werken der Moderne wie «Finnegans Wake» gestellt. Wie der Don Quichotte habe das Buch «die Romanproduktion in der gesamten Welt massgeblich beeinflusst und verändert», muss man erstaunt zur Kenntnis nehmen. Und «Die Insel des vorigen Tages» wird kurzerhand «einer der realistischsten psychologischen Geschichtsromane aller Zeiten». Unbewiesen bleibt auch die Unterstellung, Eco habe mit seinem literarischen Werk (berechtigterweise) vorgehabt, «ein zweiter Dante» zu werden: «Das mag vermessen anmuten, angesichts der unendlichen Menge an Wissen, angesichts seiner poetisch-rhetori-

«Ich lese aus Lust am Lesen»: Umberto Eco ist Zeichentheoretiker, Philosoph, Erzähler und Kolumnist.

Dabei geht es nicht nur um die im Titel prophezeite Zukunft des Buches, sondern vor allem auch um dessen Vergangenheit. Es geht um die Tragödie des Vergessens und den Fluch der Erinnerung, um Zensur, Kontrolle und brennende Bibliotheken, um die Geschichte des Buchdrucks und die fruchtbare Auseinandersetzung mit menschlicher Dummheit, um ungelesene Romane oder nie gesehene Filme, um unbekannte Meisterwerke und die einsame Jagd des Sammlers nach kostbaren Kodizes. Und es geht um die Borniertheit Berlusconis, E-Books und die neuen Chancen des World Wide Web. Besonders eindrucksvoll gerät «Die grosse Zukunft des Buches» vor allem dann, wenn Eco seine Argumentation anekdotisch oder biografisch unterfüttert – etwa in jener Passage, in der er seine These von der grösseren Beständigkeit des Gedruckten am Verlust der auf Diskette gespeicherten Urschrift des Foucault’schen Pendels deutlich macht: «Hätte ich den Roman auf der Maschine getippt, wäre das Manuskript noch da». Einmal berichtet Eco auch von den jährlichen Buchgeschenken einer Nachbarin zur Weihnachtszeit. «Eines Tages fragte sie mich: ‹Sag mal, Umbertino, liest du, um zu erfahren, was in dem Buch steht, oder aus Liebe zum Lesen?› Und ich musste zugeben, dass ich nicht immer gefesselt war von dem, was ich las. Ich las aus Lust am Lesen. Das ist eine der grössten Offenbarungen meiner Kindheit.» An Stellen wie diesen zeigt sich, dass Eco auch mündlich ein grossartiger Erzähler ist. ●

Biografie Die Wagner-Sängerin Marta Fuchs machte ihre grosse Karriere im Dritten Reich

Roswitha von dem Borne, Johannes Lenz: Marta Fuchs 1898–1974. Das

schwäbische Götterkind. Mayer, Stuttgart 2010. 373 Seiten, Fr. 40.50.

Von Kathrin Meier-Rust Marta Fuchs hatte nicht nur eine grosse Stimme, sondern offenbar auch eine atemberaubende Bühnenpräsenz . Die Tochter eines sangesfreudigen Malermeisters debütierte als Konzertsängerin, um später ihre Altstimme zu einem dramatischen Sopran umzubilden. Ab 1930 war sie eine gefeierte Opernsängerin an den Staatsopern in Dresden und Berlin, von 1933 bis 1942 stand sie im Mittelpunkt der Bayreuther Festspiele, wo sie als grösste Wagner-Sopranistin ihrer Generation hymnische Rezensionen erntete. Auch in Zürich, wo «die Bayreuther Hochdramatische mit der edlen Gestik» 1944 als Isolde gastierte.

Marta Fuchs war als junge Frau in Stuttgart der anthroposophischen Kirche der Christengemeinschaft beigetreten und blieb dieser bis an ihr Lebensende sehr eng verbunden. Zwei anthroposophische Autoren widmen ihr deshalb nun eine erste Biografie, die mit zahlreichen Bühnenfotos des Stars den schwülstigen Wagner-Geschmack jener Zeit wunderbar wiedergibt. Mangels schriftlicher Zeugnisse der Künstlerin selbst ziehen die Autoren neben zahllosen Kritikerstimmen vor allem auch Anekdotisches bei. So etwa ein legendäres Gespräch mit Hitler: Auf einem Empfang in Bayreuth soll sie dem Führer 1938 gesagt haben, dass er «no koin Krieg anfange soll». Um dann auf seine Beschwichtigungen zu antworten: «I trau Ihne net.» Solch zwinkernde Bodenständigkeit, die sich der Star gefahrlos erlauben konnte, nun zu Mut zu stilisieren, ebenso wie die Bemühungen der Sängerin,

JOHANNES LENZ

Ein Götterkind, das mit Hitler scherzte

Bayreuth 1937: Marta Fuchs (4. von rechts) und Wilhelm Furtwängler (ganz rechts).

über ihre Beziehungen zu Nazi-Grössen das Verbot anthroposophischer Einrichtungen abzuwenden, zeigt allerdings die hochproblematischen Seiten dieser Biografie. Die der Karriere dienliche Naivität des «schwäbischen Götterkindes» – so Ex-Königin Charlotte von Würtemberg – mag mit Nachsicht beurteilt werden. Keine Nachsicht verdient jedoch eine ebenso naive wie verharmlosende Darstellung dieser Karriere im Dritten Reich. Geradezu grotesk wird es, wenn die Erinnerungen von Marcel ReichRanicki an die Konzerte im Warschauer Ghetto zitiert werden, um den Trost zu illustrieren, den auch die Musik in Bayreuth den Menschen in schwieriger Zeit geboten habe. ●

Offizielle Sondermünze 2011

100. Geburtstag von Max Frisch Zürich, Rom, New York, Berlin und Berzona TI sind die prägenden Stationen im Leben des grossen Schriftstellers und kritischen Geistes des 20. Jahrhunderts. Den Weltbürger und Literaten Max Frisch ehrt die Schweizerische Eidgenossenschaft im Jubiläumsjahr mit einer Sondermünze aus edlem Silber. Erhältlich bei Banken, Münzenhandel und www.swissmint.ch. 10CAsNsjY0MDAx1TU0MjKzMAMAspyxJQ8AAAA=

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Schweizerische Eidgenossenschaft Confédération suisse Confederazione Svizzera Confederaziun svizra

Limitierte Auflage. Jetzt bestellen: www.swissmint.ch Ich bestelle gegen Vorausrechnung, zzgl. Versandkosten Anzahl Qualität Preis/Stück Name: Max Frisch 20-Franken-Silbermünze, Silber 0,835; 20 g, Ø 33 mm Strasse: Silber, Unzirkuliert CHF 20.– MWSt-frei Silber, Polierte Platte im Etui CHF 55.– inkl. MWSt Datum: Coupon einsenden an Eidgenössische Münzstätte Swissmint, Bernastrasse 28, 3003 Bern.

Swissmint

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30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19

Sachbuch

Schweizer Aussenpolitik Der frühere Botschafter Kurt O. Wyss setzt sich kritisch mit EDA-Chef Flavio Cotti und mit Thomas Borer auseinander

Selbstinszenierung von Diplomaten Ankara – ein Diplomatenleben. Stämpfli, Bern 2011. 334 Seiten, Fr. 39.–.

Von Paul Widmer Es kommt immer wieder mal vor, dass Schweizer Diplomaten Memoiren schreiben. Meist handeln sie von den Freuden und Leiden des Berufs. Man berichtet von Versetzungen in ferne Länder, von berühmten Besuchern, noblen Empfängen und feinen Bekanntschaften, und wirft ein paar Streiflichter auf das jeweilige Gastland, verbunden mit etwas Landeskunde – biedere Geschichten auf gediegenem Niveau. Solche findet man auch bei Kurt O. Wyss. In seinen Erinnerungen blickt er auf eine erfolgreiche Karriere in der Schweizer Diplomatie zurück: Dem Schreinersohn aus Burgdorf war nicht in die Wiege gelegt, dass er sein Berufsleben als Botschafter in der Türkei abschliessen sollte. Doch das soeben erschienene Buch bietet mehr. Im Grunde beschreibt Wyss anhand seines eigenen Beispiels, wie der diplomatische Dienst in der Schweiz funktioniert. Er greift über die individuelle Erfahrung hinaus und erfasst auch das administrative Umfeld. Das beginnt mit den Aufnahmeprüfungen. Der Autor schildert nicht nur, wie es ihm ergangen ist, sondern erläutert detailliert die Anforderungen an Diplomaten. Über die Posten, die er in Bern absolvierte, vermittelt er mehrere Innenaufnahmen aus dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Diese sind persönlich gehalten, in der Schilderung eines offenen Konflikts mit

einem Vorgesetzten sogar sehr persönlich. Doch immer bezieht Wyss auch die Verwaltung mit ihren Strukturen und Regeln ein. Schliesslich lenkt er auch auf den Botschaften – sei es in Singapur, Damaskus oder Ankara – den Blick auf die Arbeitsabläufe im diplomatischen Alltag. Ein weiterer Zug ist hervorzuheben. Wyss hat, was man im EDA wusste, Zivilcourage. Deshalb wohl übertrug ihm Bundesrat Flavio Cotti eine ganz besondere Aufgabe: nämlich ein diplomatisches Inspektorat aufzubauen. Als Erster hatte er das Betriebsklima auf den Aussenposten und in einzelnen Abteilungen der Zentrale zu untersuchen. Das erlaubte Wyss einen tiefen Einblick in den diplomatischen Dienst. Umso schwerer wiegt seine heftige Kritik an EDA-Chef Flavio Cotti – meines Wissens die erste schriftliche Abrechnung aus Diplomatenkreisen. Er nennt ihn «janusköpfig»: freundlich und umgänglich zur Presse und den Parla-

Bundesrat Flavio Cotti (links) setzt Thomas Borer als Chef der Task Force «Vermögenswerte Naziopfer» ein, 25. Oktober 1996.

KEYSTONE

Kurt O. Wyss-Labasque: Paradiesvogel im goldenen Käfig. Singapur, Damaskus,

mentariern, machtbesessen und griesgrämig mit den Mitarbeitern, stets fordernd, aber nie fördernd. Dieses harsche Urteil dürfte von den meisten ehemaligen Mitarbeitern im Bundeshaus-West geteilt werden. Cottis Misstrauen gegenüber seinen Diplomaten kam auch darin zum Ausdruck, dass er Quereinsteiger von aussen auf Botschafterposten hievte. Wyss sieht in diesem Vorgang, den er vielleicht etwas überbewertet, einen gezielten Angriff auf die Karrierediplomaten. Als Inspektor bestand er darauf, auch die von Quereinsteigern geleiteten Missionen zu inspizieren. Das Resultat war ernüchternd. Kein Blatt vor den Mund nimmt Wyss auch, wenn er auf Thomas Borer zu sprechen kommt. Die Bilanz dieses «Überfliegers» ist durchzogen. Insgesamt hätten die Selbstinszenierungen des Botschafter-Glamourpaars mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Als Kontrast widmet er den Diplomatengattinnen ein eigenes Unterkapitel. Diese wirken meistens in aller Stille als Gastgeberinnen – eine Aufgabe, die von der Öffentlichkeit vorausgesetzt, aber kaum je gewürdigt wird. Wer sich für die Schweizer Diplomatie interessiert, erhält in diesen Memoiren eine gute Einführung in das EDA. Studienabgängern, die eine diplomatische Laufbahn in Betracht ziehen, seien sie zur Lektüre empfohlen. Kurt Wyss hat ein Buch vorgelegt, das ganz auf seine Biografie zugeschnitten ist, aber weit darüber hinaus reicht. Ein ehrliches Buch gefüllt mit Informationen und reich an Wertungen, dazu sorgfältig und gut leserlich geschrieben. ● Paul Widmer ist Autor von «Schweizer Aussenpolitik und Diplomatie» (2003).

Zeitgeschichte Noch immer pflegt Russland einen zwiespältigen Umgang mit dem Stalinismus

Held und Monster, damals wie heute Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus

und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Wallstein, Göttingen 2010. 149 Seiten, Fr. 23.50. Von Reinhard Meier

«Womit lassen sich die Ergebnisse der Umfragen erklären, nach denen heutzutage 50 Prozent der Befragten Stalin für einen weisen Führer halten, der die UdSSR zu Macht und Blüte brachte», fragt Irina Scherbakowa in ihrer vielschichtigen Studie über Russlands Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die in Moskau lebende Autorin begnügt sich nicht mit plakativen Antworten. Sie kennt die Widersprüchlichkeiten und Schizophrenien um den 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

Stalin-Mythos aus der Geschichte der eigenen Familie. Ihre Grosseltern und Eltern jüdischer Herkunft waren mindestens streckenweise überzeugte Stalin-Verehrer, obwohl sie gleichzeitig über den diabolischen Terror seiner Herrschaft angstvoll Bescheid wussten. Ein Gespräch mit der Autorin über biografische Zugänge zur Geschichte der sowjetischen Repression gehört zu den eindrucksvollsten Kapiteln des faktenreichen Buches. Dass der Stalin-Kult auch im postsowjetischen Russland weiterflackert, ist selbst für den distanzierten Beobachter nicht völlig unfassbar. Stalin mag ein ebenso monströser Diktator gewesen sein wie Hitler – aber er gehörte im Zweiten Weltkrieg zu den grossen Siegern. Und Sieger werden in den nationa-

len Geschichtsbildern meist nachsichtiger oder jedenfalls zwiespältiger dargestellt als totale Verlierer wie Hitler. Hinzu kommt allerdings – und davon ist Irina Scherbakowa, eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial, tief enttäuscht –, dass in der Ära Putin die Tendenz zur Stalin-Verklärung wenigstens punktuell begünstigt wird. Allerdings sind auch hier die Realitäten widersprüchlicher als mitunter kolportiert. So hat unlängst die russische Duma in aller Form bestätigt, dass das Massaker von Katyn an 20 000 polnischen Offizieren im Sommer 1940 auf einen ausdrücklichen Befehl Stalins zurückgeht. Und eine gekürzte Fassung von Solschenizyns «Archipel Gulag» über das sowjetische Lagersystem ist inzwischen in russischen Schulen Pflichtlektüre geworden. ●

AMW PRESSEDIENST / ULLSTEIN

Psychologie Der Reporter Eugen Sorg schreibt über Kriegsverbrecher und Alltagsgewalt. Sein Fazit: Grausamkeit entspringt nicht sozialen Defekten, sondern der Lust am Bösen

Übeltäter werden entschuldigt Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum

Gewalt nicht heilbar ist. Nagel & Kimche, München 2011 (erscheint am 7. Februar). 157 Seiten, Fr. 22.90.

Von Urs Rauber Über das Böse haben sich unzählige Philosophen, Kirchenlehrer, Psychologinnen und Ethikkommissionen geäussert. Das neue Buch des Zürcher Publizisten Eugen Sorg nähert sich dem Thema von der empirischen Seite. Der promovierte Psychologe fuhr als Delegierter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) und später als Journalist in Krisengebiete: nach Bosnien, Jemen, Afghanistan, in den Sudan, in die Unruheherde an den Rändern des Westens. Im Sommer 1992 besuchte Sorg als IKRK-Delegierter ein Gefangenenlager im bosnischen Bosanski Brod. Lagerkommandant war ein 23-jähriger Kroate, Ante Culap, der zuvor als Buffetbursche in Bellinzona gearbeitet hatte. Strotzend vor Selbstbewusstsein führte der jugendliche Milizionär die Besucher im Lager herum, das er sichtlich mit harter Hand führte. Unter den 80 Gefangenen hatte er sich eine junge Frau zur Freundin genommen. «Wahrscheinlich werden Culap und seine Kumpane den Krieg als beste Zeit ihres Lebens in Erinnerung behalten.» Genau wie jene Taliban-Krieger, die Sorg drei Jahre später in Afghanistan, oder die Rebellen im Südsudan, die er zu Beginn der neunziger Jahre getroffen hatte.

Bestürzende Einsichten

Sorgs Erlebnisse, seine Gespräche mit Opfern und Tätern von Gewaltexzessen, Genoziden und Bürgerkriegen führten ihn weg von einem idealistischen Menschenbild zu bestürzenden Einsichten: Nicht übersteigerter Nationalismus, Religion, koloniale Unterdrückung oder soziale Ungerechtigkeiten seien die primären Antriebskräfte für Folter, Mord und Einschüchterung. Nein, an erster

Stelle stünden niedrige menschliche Motive wie Habgier, Eifersucht, Rache, Lust, Gewaltrausch. Und die freche Gewissheit, bei Aggressionen nicht gestoppt zu werden. «Die meisten Menschen berauschen sich nicht an Ideen, sondern sie benutzen Ideen, um ihren Rausch zu legitimieren.» Der Autor ist überzeugt, dass jede Gesellschaft ihren Bodensatz an Asozialen, Psychopathen und Mördern hat, der in aufgewühlten Zeiten an die Oberfläche gespült wird. Menschen seien mit einem genuinen Hang zum Bösen ausgestattet. Als Adolf Ogi zu Beginn der neunziger Jahre die etwas undiplomatische Aussage machte, dass die Jugoslawen, die sich jetzt die Köpfe einschlagen, zum Teil selber schuld seien, rührte er an ein Denkverbot. Denn das aufklärerische Denken geht davon aus, dass die Humannatur primär gutartig ist und das Böse eine Folge von Vorurteilen, Aberglauben und Unwissen. Von Kriegsgräueln im Balkan springt Sorg zu den «Todesengeln» in Spitälern und Heimen. So erlebte der 36-jährige Luzerner Krankenpfleger Roger A., der 24 Insassen von Seniorenheimen umgebracht hat, gemäss eigenen Worten jeden Mord als «Befreiungsschlag». Die vier Wiener Krankenschwestern aus den achtziger Jahren töteten hingegen «aus Mitleid und Barmherzigkeit». Als ihre Fälle bekannt wurden, suchten Medien und Öffentlichkeit fieberhaft nach den «wahren Ursachen». Rasch wurde man fündig: beim beruflichen Stress, bei Problemen im Team, fehlender Gesprächskultur, narzisstischen Kränkungen oder im gesellschaftlichen Umfeld. Doch keine Analyse und kein Kommentar stellte die Frage, «ob die Tötungen auch aus Lust am Töten begangen worden sein könnten». Aus einem Gefühl der Allmacht, aus dem Rausch der Megalomanie heraus. Der Luzerner Krankenpfleger zum Beispiel kam nach seinen Taten jeweils pfeifend aus dem Zimmer seiner Opfer. Auch von Jugendgewalt ist die Rede – von den fünf Schweizer Berufsschü-

«Todesengel»: Die vier Wiener Krankenschwestern töteten in den 1980er-Jahren über 40 Patienten «aus Mitleid».

lern, die im Sommer 2009 in München mehrere Unbeteiligte grundlos spitalreif prügelten, und von den beiden Münchner S-Bahn-Schlägern, die im gleichen Jahr einen 50-Jährigen zu Tode brachten. Die Fantasie, andere zu töten, zu erniedrigen, zu schädigen, hätten die meisten Menschen schon einmal gehabt, so Sorg: «Der Wunsch ist nicht böse. Erst die Tat ist es.»

Das Böse ist nicht heilbar

Eugen Sorgs Beobachtungen sind treffend, seine Analysen messerscharf und überzeugend. Aber auch schmerzhaft, weil sie die Frage nach der wirkungsvollen Gegenwehr offen lassen. Er zieht einen Bogen vom Gemetzel zwischen Tutsi und Hutu in Ruanda bis zum Rudelkampf von Hooligans und Politkrawallanten. Auch letztere – sei es am 1. Mai, sei es nach einer Abstimmungsniederlage – geilten sich an der Lust auf, gesellschaftliche Barrieren nieder zu reissen. Die Auffassung, die Kräfte der Destruktion seien eine Art Fehlverhalten, das mit sozialpädagogischen Remeduren allein zum Verschwinden gebracht werden könne, sei «der Vodoo der aufgeklärten Eliten.» Im letzten der 14 anschaulich erzählten Kapitel interpretiert er Max Frischs Theaterstück «Biedermann und die Brandstifter» (1958) als eine Parabel des Bösen und des blinden Vertrauens gegenüber Übeltätern. «Der Biedermannsche Pazifismus des Westens reagiert auf hässliche Gewaltvorkommnisse mit reflexartigem Wegschauen und zwanghaften Beschwichtigungen. Je abscheulicher eine Tat ist, desto weniger ist der Täter dafür verantwortlich – dies gilt als Universaldiagnose für tödliche U-Bahnschläger und Terrorgruppen wie die Hamas.» Sein Fazit: Das Böse begleitet die Geschichte des Menschen, es «ist nicht heilbar, nicht umerziehbar, nicht wegfinanzierbar», da es Bedingung der menschlichen Freiheit sei. Das Böse zu erkennen, wenn es auftauche, sei jedoch von entscheidender Wichtigkeit. ● 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21

Sachbuch

Geografie Toby Lester erzählt die aufregende Geschichte der alten «Waldseemüllerkarte»

Wie das Bild der Welt sich rundete Toby Lester: Der vierte Kontinent. Wie

eine Karte die Welt veränderte. Berlin Verlag, Berlin 2010. 527 Seiten, Fr. 56.90.

Von Kirsten Voigt Man kann mit Landkarten reisen – an fremde Orte, durch die Welt oder durch die Zeit. Toby Lesters Buch widmet sich der 1507 entstandenen «Waldseemüllerkarte» und unternimmt mit ihr universalistische Expeditionen durch eineinhalb Jahrtausende Welt- und Wissenschaftsgeschichte. Diese heute nur noch in einem Exemplar überlieferte Weltkarte verzeichnete erstmals «Amerika» und gab dem Erdteil seinen Namen. Vorweg: Der Verlag hat mit seiner «Übersetzung» des Untertitels das Thema des Buches um mindestens so viele Längengrade verfehlt wie Kolumbus Indien. Im Deutschen macht er darauf gespannt: «Wie eine Karte die Welt veränderte». Das englische Original heisst: «The Race to the Ends of the Earth, and the Epic Story of the Map That Gave America its Name». Dies nun trifft Anlage und Inhalt dieser abenteuerlich komplexen, kenntnisprallen Darstellung präzise. Es geht nicht um die Wirkung der Karte auf die Nachwelt – lediglich ein Kapitel nährt Spekulationen darüber, ob Kopernikus durch sie mit zur Erkenntnis fand, dass die Erde um die Sonne kreist. Detailliert ausgebreitet wird vielmehr die lange Vorgeschichte ihrer Entstehung. Dazu gehört die Entwicklung der Kartografie; noch mehr Wissenswertes trägt der Autor aber über die ihr zu Grunde liegenden antiken, christlichen und frühneuzeitlichen kosmologischen Vorstellungen zusammen. Unabdingbar sind dafür selbstredend die spannenden Schilderungen der Entdeckungsreisen – nicht nur nach Westen und damit nach Amerika, sondern an der Küste Afrikas entlang, nach Indien und China –, auf denen diese Hypothesen überprüft wurden. Man erfährt, wie Kolumbus sich – vielleicht strategisch – die Welt klein rechnete, um für seine Expeditionen Unterstützung zu erhalten. Und da man auf diesen Reisen nicht nur geografische Fakten, sondern auch Schätze, Geldquellen, Verbündete, fantastische Lebewesen und neue Herrschaftsgebiete suchte, geht es um Mönche und Mongolen, Kaiser, Könige und Päpste, die Geschichte von Kreuzzügen und Erfindungen – wie die des Kompasses –, die Gründung früher Welthandelsimperien wie jenes der Familie Marco Polos, den Beginn des portugiesischen Sklavenhandels 1441, um See- und Landkarten, die als Staatsgeheimnisse gehütet und aus22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

spioniert wurden, und vor allem um das aufregende Erwachen der kritischen Vernunft im Humanismus. Lesters initiales Interesse datiert aus dem Jahr 2003. Damals erwarb die «Library of Congress» für zehn Millionen US-Dollar die 137 mal 243 Zentimeter grosse, aus zwölf Blättern zusammengefügte «Waldseemüllerkarte». Jahrhundertelang war sie verschollen, galt als «Gral» der Kartografie und wurde erst 1901 von dem österreichischen Jesuitenpater Josef Fischer im oberschwäbischen Schloss Wolfegg wiederentdeckt. Fast genau vierhundert Jahre zuvor hatten im lothringischen Saint-Dié-desVosges der Kartograf Martin Waldseemüller und der Gelehrte Matthias Ringmann dieses neue «Weltbild» entworfen, gestützt auf die Schriften des Ptolemäus und tatsächliche oder ihm zugeschriebene Texte des Amerigo Vespucci.

Im Einklang mit Dogmen

Rätselhaft und frappierend bleibt die Tatsache, dass Waldseemüller und Ringmann Amerika schon ganz von Wasser umgeben zeigten – entweder ging dies auf heute verschollene Berichte einer vielleicht geheimen portugiesischen Expedition zurück, oder wissenschaftliche Spekulation bildete die Basis. Erst sechs Jahre nach der Veröffentlichung sah Balboa vom Festland aus als erster Europäer den Pazifik. Magellan befuhr ihn 1520. Karten hatten im Mittelalter in Einklang zu stehen mit religiösen Überlieferungen, Dogmen oder Prophezeiungen. In ihnen spielte etwa jener Ort eine Rolle, an dem die kriegerischen Völker von Gog und Magog siedelten, oder das legendäre Königreich eines sehnlich erwarteten Priesterkönigs aus dem Fernen

Die lange verschollene «Waldseemüllerkarte» aus dem Jahre 1507. Sie zeigt Amerika ganz von Wasser umflossen.

Osten mit Namen Presbyter Johannes, der die Muslime besiegen und Jerusalem befreien sollte. Eine wichtige theologische Frage war überdies jene nach der Lage des irdischen Paradieses.

Amerika verschwindet

Ein Schlüsselkapitel widmet sich Claudius Ptolemäus und der Wiederentdeckung seiner «Geographia». Um 1300 fand der byzantinische Mönch Maximos Planudes eine Kopie. Fast ein Jahrhundert später gelangte die «Geographia» nach Florenz. Ariost und Alberti erwähnen sie, Leonardo bezog sich in seiner Anatomie – der Darstellung des menschlichen Mikrokosmos – explizit auf diese Strukturierung des Makrokosmos. Ptolemäus hatte nicht nur alle ihm bekannten Teile der Welt kartografiert, sondern schon dargelegt, dass der Erdumfang etwa 40 000 Kilometer messe. Er empfahl zur Berechnung von Entfernungen ausserdem ein Gitter aus Breiten und Längen. Mutmassungen, die Entwicklung der Zentralperspektive in Florenz könnte durch die ptolemäische mathematische Methodik mit angeregt worden sein, wirken nicht abwegig. Merkwürdig: Für kurze Zeit nach Ringmanns Tod 1511 verschwand der Name «Amerika» von Neuauflagen der Karte – ebenso der Pazifik. Hatten Waldseemüller Zweifel befallen? Der Name «Amerika» war und blieb dennoch in der Welt. Toby Lester zeigt souverän, wie Kenntnisse über diese Welt unter bewundernswerten Anstrengungen gesammelt und verteidigt wurden, bis sich das Bild rundete – und er zeigt an individuellen Schicksalen auch den oft von Zufällen, Irrtümern und Ungerechtigkeiten bestimmten «Lauf der Welt». ●

Nationalsozialismus Nach seiner Himmler-Biografie präsentiert Historiker Peter Longerich sein nächstes monumentales Werk: über Hitlers Propagandaminister

Mit Goebbels in der Psychoanalyse über blumenbestreute Strassen fahren liess und schliesslich im Februar 1943 im Berliner Sportpalast ein «Plebiszit für den totalen Krieg inszenierte» (Longerich). Zugleich gewinnt das Psychogramm des Propagandaministers an Konturen, wenn Longerich erzählt, wie sich nicht nur Goebbels, sondern auch Hitler in die spätere Magda Goebbels verliebte, wie Hitler seine Ansprüche zurückstellte und als ständiger Gast zu einem Mitglied der Familie Goebbels wurde. Dabei kann Longerich deutlich machen, dass

Peter Longerich: Goebbels. Biografie.

Siedler, München 2010. 910 S., Fr. 58.90.

Von Andreas Tobler

Papstbilder Meistfotografierter Mensch der Welt

ARTURO MARI / AP

«Wollt ihr den totalen Krieg?» Mit dieser Suggestivfrage hat sich Joseph Goebbels als Einpeitscher der Massen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wie wurde der kleingewachsene, klumpfüssige, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Goebbels zum Volksverführer? Was trieb ihn an? Antworten auf diese Fragen gibt der in London lehrende NS-Forscher Peter Longerich in seiner monumentalen Goebbels-Biografie, in der er die erst seit 2006 vollständig gedruckt vorliegenden Tagebücher des Propagandaministers auswertet. Wie bei seiner 2008 erschienenen Himmler-Biografie diskutierte Longerich auch bei der Arbeit an «Goebbels» mit einer Gruppe von Psychoanalytikern über das Innenleben des Porträtierten. Während bei Himmler eine Bindungsstörung festgestellt werden konnte, diagnostiziert Longerich bei Goebbels einen krankhaft ausgeprägten Narzissmus, der sich in einem unstillbaren Bedürfnis nach Anerkennung gezeigt habe und auf eine gestörte Autonomieentwicklung im frühen Kindesalter zurückzuführen sei. Auf den ersten Blick wirkt Longerichs Diagnose kühn, denn Goebbels’ Kindheit kann mangels aussagekräftiger Dokumente gerade nicht rekonstruiert werden. Ausserdem könnte man im lebenslangen Streben Goebbels nach Anerkennung auch eine Reaktion auf seinen Klumpfuss sehen, der in der frühen Kindheit wohl infolge einer Stoffwechselstörung auftrat. Diesen Einwänden hält Longerich entgegen, dass der junge Goebbels trotz seiner körperlichen Behinderung Anerkennung fand und auch Erfolg bei Frauen hatte. Im grossen Bogen seiner Biografie kann Longerich dann zeigen, dass das psychische Profil, das er auf der Grundlage der 1924 begonnenen Goebbels-Tagebücher präzise herausarbeiten kann, geradezu lehrbuchhaft auf das eines Narzissten zutrifft. Typisch für einen Narzissten machte sich Goebbels zur Stärkung seiner eigenen, als unzureichend empfundenen Persönlichkeit auf die Suche nach einem Gegenüber, das ihm die nötige Anerkennung und Bestätigung entgegenbrachte. Für Goebbels war dies Hitler, ein – gemäss Tagebuch – «divinatorisches Genie», das seinen «Schrei nach Erlösung» (Goebbels in einem frühen Artikel) erhörte. In den folgenden Jahren stellte sich der Narzisst ganz in den Dienst seines Erlösers: Minutiös und auf dem Stand der aktuellen Forschung schildert Longerich Goebbels Aufstieg vom Gauleiter Berlins zum Propagandaminister, der Hitler nach dem Sieg über Frankreich

Goebbels durch sein unermüdliches Streben nach Anerkennung und durch den engen, fast täglichen Kontakt sich schliesslich ganz in die psychische Abhängigkeit seines Erlösers begab, aus der er sich nicht mehr befreien konnte – auch nicht nach Hitlers Tod: Goebbels war der einzige aus der NS-Führungsriege, der nach Hitlers Selbstmord im Führerbunker verblieb. Und er war der einzige, der seinem «Führer» folgend seine ganze Familie – seine Frau Magda und die sechs Kinder – mit in den Tod nahm. ●

In assortierten weissen Jogging-Schuhen zur weissen Soutane wandert ein Heiliger Vater durch Nordspanien, auf dem alten Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Es war im August 1989 und der päpstliche Leibfotograf Arturo Mari war wie immer dabei – fünf Millionen Bilder soll er allein von Johannes Paul II. geschossen haben. Seit Johannes XXIII. erstmals intime Fotos aus der Nähe zuliess, setzt die katholische Kirche ganz bewusst auf Bilder vom Heiligen Vater: Der Mann in Weiss ist heute der meistfotografierte Mensch der Welt. Rückwärts, das

heisst beginnend mit dem heutigen Papst Benedikt XVI. und endend bei den düsteren, prunkvollen Fotografien von Pius IX. (Papst von 1846–78), zeigt der Bildband von Helge Sobik spezielle Momente aus dem Leben aller Päpste «seit Anbeginn der Fotografie». Leider fehlen nicht nur oft die Jahreszahlen, sondern auch die Namen der päpstlichen Fotografen, die im Begleittext enthusiastisch gepriesen werden. Kathrin Meier-Rust Helge Sobik: Päpste seit Anbeginn der Fotografie. Feymedia, Düsseldorf 2010. 287 Seiten, Fr. 69.90. 30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23

Sachbuch

Wall Street Niemand sah die Finanzkrise voraus – ausser ein paar Spekulanten, die daran riesig verdienten

Michael Lewis: The Big Short.

Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte. Campus, Frankfurt 2010. 336 Seiten, Fr. 37.90. Von Sebastian Bräuer Im Januar 2007 sagte Charlie Ledley zu seiner Mutter: «Ich glaube, wir stehen kurz vor dem Aus des demokratischen Kapitalismus.» Er war sicher, dass sich auf dem amerikanischen Häusermarkt eine Blase von gigantischen Ausmassen gebildet hatte, deren Platzen das globale Finanzsystem ins Wanken bringen würde – 20 Monate vor dem Kollaps von Lehman Brothers. Doch seine Mutter zweifelte an seinem Verstand. «Sie meinte nur: ‹Ach, Charlie›, und riet mir dringend, es doch einmal mit Lithium zu versuchen.» Nicht nur Ledleys Mutter lag falsch. Fast niemand war Anfang 2007 der gleichen Ansicht wie der damals völlig unbekannte Spekulant aus dem kalifornischen Berkeley. Die grossen Banken investierten in den amerikanischen Häusermarkt, als könnten Immobilien gar nicht an Wert verlieren, und Anleger aus aller Welt spielten mit. Nur eine kleine Gruppe von Investoren wettete offen gegen den billionenschweren Markt minderwertiger Hypotheken – allesamt Aussenseiter, die vom Establishment nicht ernst genommen wurden, was ihren spektakulären Erfolg überhaupt

erst ermöglichte. Sie sind die Gewinner der Finanzkrise. «Die Katastrophe war vorhersehbar, doch nur eine Handvoll Menschen registrierte das auch», stellt Michael Lewis in seinem Buch fest, «mehr als zehn, doch weniger als 20 Investoren». Er porträtiert einige der zurecht pessimistischen Spekulanten und beschreibt aus ihrer Perspektive die Jahre bis zum grossen Knall. Lewis konnte sich ausführlich mit allen Protagonisten unterhalten und hat intensiv in ihrem Umfeld recherchiert. Deswegen gelingt ihm eine ungewöhnlich detaillierte Darstellung der Ereignisse, teilweise brüllend komisch und trotz der trockenen Materie durchgehend unterhaltsam zu lesen. Laien bekommen einen lehrreichen, akkuraten Einblick in die Welt der Collaterized Debt Obligations und Credit Default Swaps, werden aber nicht mit Details überfordert. Lewis stilisiert die Hauptfiguren seines Buches nicht zu Helden. So unbestritten ihr Mut war, sich gegen den Mainstream zu stellen, so messerscharf ihre Analysen des Hypothekenmarktes sein mochten, so schlecht ausgeprägt waren ihre sozialen Kompetenzen. Über Ledley schreibt Lewis etwa: «Selbst auf eine einfache Frage hin starrte er stumm Löcher in die Luft, nickte und blinzelte mit den Augen wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte.» Weitere Charaktere sind Steven Eisman, der regelmässig Kunden mit seinem rüpelhaf-

SUSAN WALSH / AP

Krisengewinnler

Richard S. Fuld, Chef von Lehman Brothers, kurz nach dem Konkurs der Bank, 6. Oktober 2008 in Washington.

ten Verhalten vergraulte, Michael Burry, ein notorischer Einzelgänger, der schon als Kind keine Freunde hatte, und Greg Lippmann, der sich bei seinem Arbeitgeber beschwerte, sein 50-MillionenDollar-Bonus sei zu gering. Aus jedem Kapitel trieft beissender Spott über das Wall Street-Establishment. Ihr kollektives Versagen, die Risiken des Hypothekenmarktes richtig einzuschätzen, wirkt geradezu grotesk vor dem Hintergrund, dass dies den namenlosen Spekulanten mit dem merkwürdigen Sozialverhalten perfekt gelang. Lewis war in den 80ern selbst Investmentbanker. Auch deswegen schafft er es, seine Schilderungen in einer Authentizität zu formulieren, die sein Buch zu einem der besten Werke über die Finanzkrise macht. Auch Lewis’ erstes Werk «Wall Street Poker» gehört seit seinem Erscheinen im Jahr 1989 zu den Klassikern der Finanzliteratur. Nun beweist Lewis, dass die Branche in den vergangenen 20 Jahren weniger dazugelernt hat, als er selbst gehofft hatte. ●

Wirtschaftsgeschichte Wie die Familie Badrutt im Engadin die Wintersaison erfand

Eine Hoteldynastie prägt ein ganzes Tal Susanna Ruf: Fünf Generationen Badrutt.

Hotelpioniere und Begründer der Wintersaison. Schweizer Pioniere der Wirtschaft, Band 91. Verein für wirtschaftshistorische Studien, Zürich 2010. 104 Seiten, Fr. 25.–. Von Charlotte Jacquemart

Waren sie es oder waren sie es nicht, die Schöpfer der touristischen Wintersaison in der Schweiz, ja gar in Europa? Der neue Band der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik», der sich den fünf Generationen Badrutt widmet, meint ja: Die Familie Badrutt hat im Engadin Spezielles aufgebaut, geleistet, hinterlassen. Das Vermächtnis der Hoteldynastie Badrutt ist gleichzusetzen mit dem Mythos St. Moritz, der bis heute nichts von seinem Glanz und seiner Anziehungskraft eingebüsst hat. Keiner anderen Region wird in den Medien derart viel Aufmerksamkeit geschenkt wie dem Bündner Hochtal Engadin. Die 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

Reichen und Schönen geben sich jedes Jahr von neuem ein Stelldichein im Oberengadin – dessen Wurzeln gehen zurück auf den Pioniergeist von Johannes Badrutt Senior (1791–1855), der die Grundsteine der später zur Blüte gelangenden Hoteldynastie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegt hat. Der Pionierband zeichnet die Geschichte der fünf Generationen Badrutt bis zum heutigen Tage nach. Wie man es sich von der Serie «Schweizer Pioniere» gewohnt ist, wird der Text durch eine reiche Bebilderung ergänzt, die alleine schon die «Lektüre» rechtfertigt. Oder haben Sie gewusst, dass zwischen St. Moritz-Dorf und St. Moritz-Bad 1896 das erste Tram der Schweiz verkehrte? Die Autorin Susanna Ruf erkürt Johannes Badrutt Junior (1819–1889) zum Hotelpionier und eigentlichen Erfinder der Wintersaison. Sein erstes Kaffee- und Gasthaus «La Vue Du Bernina» eröffnete Johannes Badrutt Junior in Samedan, doch bald

schon zielten seine Pläne auf St. MoritzDorf. Dieses hatte damals St. MoritzBad mit den Heilbädern und Hotels für die bessere Gesellschaft noch nichts entgegenzusetzen. Mit dem Verkauf der Pension Faller an Badrutt begann für St. Moritz der Aufbruch in ein neues touristisches Zeitalter: Bald hiess das Faller «Engadiner Kulm»; Badrutt erweiterte es Stück für Stück zum dominierenden Hotelkomplex hoch oberhalb des Sees. Die Kundschaft war international. Weil der Visionär keine Heilbäder vor der Türe hatte – die in erster Linie im Sommer Kundschaft anzogen –, setzte er auf etwas Neues, Unbekanntes: die Wintersaison. Badrutt warb in ganz Europa mit Curling, Schlitteln, Winterspaziergängen fürs Engadin. Mit Erfolg: Sein Sohn Caspar (1848–1904) war es folglich, der kurz vor der Jahrhundertwende den Bau des Palace-Hotels wagte, diese Mischung aus Burg und Schloss, wie es heute noch trutzig am Hang von St. Moritz klebt. ●

Sachbuch

Geschichte Die mittelalterlichen Kreuzzüge handelten meist vom Krieg gegen Andersgläubige. Christen und Muslime lebten damals aber zeitweise friedlich nebeneinander

Sinnlose Schlachten im Orient Cotta, Stuttgart 2010. 807 S., Fr. 56.90. Von Geneviève Lüscher Das Datum 1291 kennt jedes Schweizer Schulkind, es ist das legendäre Geburtsjahr der Alten Eidgenossenschaft. Dass im gleichen Jahr auch die Hafenstadt Akkon im Heiligen Land in die Hände der Mamluken fiel, und damit nach 200jährigem Ringen das Ende der Kreuzzüge besiegelt war, ist hingegen kaum bekannt. Im Gegensatz zum Rütlischwur ist der Fall von Akkon aber ein historisches Faktum. Thomas Asbridge, britischer Historiker an der Londoner Universität, zeigt uns in seiner neuen, episch angelegten Geschichte der Kreuzzüge, wie es zu diesem Abenteuer in Outremer gekommen ist. Wie es geschehen konnte, dass zwei Weltreligionen Gewalt im Namen Gottes predigten. Wie Tausende von Christen und Muslime überzeugt waren, der Kampf um den Glauben würde ihnen das Paradies öffnen. Und er fragt sich: War die Zeit der Kreuzzüge ein durchgehend feindlicher «Zusammenstoss der Kulturen» oder gab es damals auch Möglichkeiten der Koexistenz oder gar eines Kulturaustauschs?

Zersplitterter Islam

Es fing mit einer Brandrede an: Im November 1095 hielt Papst Urban in Clermont eine derart emotional geladene Predigt gegen den Islam, dass sich Tausende begeistert aufmachten, Jerusalem von den Heiden zu befreien. Warum rief der Papst zum Heiligen Krieg auf? Asbridge zeigt, dass kein äusserer Grund vorlag. Jerusalem befand sich zwar tatsächlich in muslimischer Hand, aber das schon seit 400 Jahren. Und weder planten die muslimischen Herrscher im Vorderen Orient eine Offensive, noch verfolgten sie die Christen. Der Grund war: Das Papsttum befand sich in einer schweren Krise, und der Papst wollte mit diesem Schachzug seine Autorität festigen. Dass seinem Aufruf fast 100000 Menschen folgen würden, hatte er allerdings nicht vorausgesehen. Der bewaffnete Pilgerzug wurde ein Erfolg. Am 15. Juli 1099 konnte Jerusalem eingenommen werden, und die Eroberer gründeten in Outremer verschiedene Kreuzfahrerstaaten. Der Erfolg war der Zersplitterung des Islams zu verdanken. Die Region war kein muslimischer Block, sondern ein Flickenteppich aus verschiedensten Gruppen. Die wichtigsten waren die sunnitischen Seldschuken und die schiitischen Fatimiden. In der Levante lebten auch viele Christen – Griechen, Armenier, Syrer und Kopten – sowie Juden, die aber alle von den Kreuzfahrern nicht geschont wurden.

Im 12. Jahrhundert tobten im Heiligen Land die Kreuzfahrerschlachten.

Die Lage im Vordern Orient blieb indes prekär, und 1147 startete ein zweiter Kreuzzug, der aus dem Ruder lief und vor Damaskus in einem Desaster endete. Im dritten Kreuzzug 1189 begegnen wir König Richard Löwenherz und Sultan Saladin. Asbridge nimmt ihnen aber den Glorienschein: Weder ist Saladin der «edle Heide», noch Löwenherz der «edle Ritter». Im grausigen Blutrausch blieben sich die beiden nichts schuldig. Saladin hatte den längeren Atem und eroberte Jerusalem zurück. Der vierte Kreuzzug 1198 gelangte gar nicht erst bis ins Heilige Land, plünderte dafür 1204 das christliche Konstantinopel, was so nicht geplant war. 1219 folgte ein fünfter erfolgloser Kreuzzug. Erst zehn Jahre später gelang es ausgerechnet dem exkommunizierten Stauferkaiser Friedrich II., Jerusalem ohne Blutvergiessen zu erobern, was den Papst nicht daran hinderte, zu einem Kreuzzug gegen den Kaiser aufzurufen. Die Bühne der Weltgeschichte wurde zunehmend unübersichtlich, zumal auch die Gegenseite in innerislamische Kämpfe verwickelt war. Asbridge versucht zwar, den roten Faden nicht zu verlieren, aber die endlosen Schlachten, Allianzen, Fehden und diplomatischen Schachzüge über viele hundert Seiten verwirren, die Orientierung in Zeit und Raum droht verloren zu gehen. Fast ist man froh, dass um 1291 mit Akkon endlich die letzte christliche Bastion fällt. Trotz der Langfädigkeit, die der penetranten Vorliebe für schmückende Adjektive geschuldet ist, liest sich das Buch

leicht. Spannung verleihen ihm der Wechsel zwischen christlicher und islamischer Perspektive und das Einstreuen amüsanter Episoden. So erfährt man, dass Ritter Raimund von Toulouse auf einer Pilgerfahrt ein Auge ausgerissen worden ist; den vertrockneten Augapfel trug er fortan bei sich, um seinen Hass gegen den Islam wachzuhalten.

Interreligiöse Arrangements

Asbridge zeigt aber auch, dass sich Kreuzritter und Muslime nicht nur auf grausamste Art niedermetzelten, sondern sich auch arrangieren konnten, dass sie Handelsbeziehungen pflegten, gemeinsam den Hamam besuchten und wenn nötig gar unheilige Allianzen – zum Beispiel gegen den christlichen Kaiser von Byzanz – schmiedeten. Laut Asbridge gerieten die Unternehmen in Outremer nach Akkon rasch in Vergessenheit, sie hatten keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte. Erst im 19. Jahrhundert entstand der Begriff «Kreuzzug». Anfang des 20. Jahrhunderts stilisierten sich Kaiser Wilhelm II. oder Lloyd George im Vorderen Orient zu Kreuzzugführern, während sich in der arabischen Welt die Widergänger von Saladin mehrten; Saddam Hussein war der letzte. Und nach 9/11 feiern die gottbefohlenen Kreuzzüge sogar in Übersee wieder unfröhlich Urständ. Aber, schliesst Asbridge sein Werk: Die Geschichte soll man nicht instrumentalisieren und die Kreuzzüge dort lassen, wo sie hingehören, ins Mittelalter – womit er wohl recht hat. ●

PHILIP JAMES LOUTHERBOURG / BRIDGEMAN

Thomas Asbridge: Die Kreuzzüge. Klett-

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25

Sachbuch

Film Ein Erinnerungsband an Hollywood ist Emigrations- und Liebesgeschichte zugleich

Wo die Manns und Chaplins verkehrten Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz.

Nachwort von Michael Lentz. Eichborn, Frankfurt am Main 2011. 507 Seiten, Fr. 48.90. Von Martin Walder «Eines Morgens klingelte Rainer Maria Rilke an meiner Tür»: Zwar wimmelt es in diesen neu aufgelegten und von Michael Lentz klug situierten und auch kommentierten Erinnerungen der 1889 geborenen und 1978 in Klosters gestorbenen Schauspielerin und Drehbuchautorin Salka Viertel nur so von Namen. Doch illuminieren sie beim Lesen sehr anschaulich ein Emigrantenleben zwischen Europa und Amerika im letzten Jahrhundert. Eine Frau beugt sich über ihren bis zum Rand mit Briefen, Notizheften und Tagebüchern vollgestopften Koffer und

lässt ihr Leben Revue passieren. Und je länger man ihrem ruhigen, episodischen Bericht folgt, desto näher – aber in keinem Moment zu nahe – kommt uns eine genaue, wache, starke, mit trockenem Witz gesegnete und unsentimentale Person. Nach ihrem Weg durch deutschsprachige Bühnen landete Salka Viertel auf einen Ruf von F. W. Murnau an ihren Mann, den Dichter, Autor und Regisseur Berthold Viertel, in Hollywood. Da zog sie drei Söhne gross, spielte da und dort ein paar Rollen und entkam der deprimierenden Arbeitslosigkeit durch ihre Freundschaft zu Greta Garbo – als Autorin und eine Art Drehbuch-Gewissen des Stars. Was solches in der «Traumfabrik» Hollywood bedeutete, liest sich mit Schaudern. Den späteren Flüchtlingen des NaziTerrors stand das Haus der Viertels offen: Die Manns, die Brechts, Chaplins, Werfels gingen an der Mabery Street 165

in Santa Monica ein und aus. Man kommt da auch anekdotisch auf seine Rechnung. Köstlich, wie der MGMFilmmogul um Schönberg wegen seiner «entzückenden Musik» buhlt, dieser «uneingeschränkt über die Tonstruktur des Films, Dialog inbegriffen» bestimmen will – die gegenseitige Konsternation ist mit Händen zu greifen. In seinem schönen, starken Kern aber ist dieses 1969 erschienene Buch die Geschichte einer grossen Liebe über Zeiten und Kontinente. Das Leben liess Salka und Berthold auseinanderdriften und neue Bindungen eingehen. Doch aus den eingewobenen Briefauszügen scheint eine tiefe Verbundenheit auf. Berthold Viertel starb in Wien, bevor Salka nach dem Tod ihrer betagten Mutter und im Kalten Krieg gepiesackt von McCarthys Ausschuss für unamerikanische Umtriebe, ebenfalls zurück nach Europa kam. ●

Die Journalistin Isabel Wilkerson zitiert gerne Leo Tolstoi, der Kunst als die Übertragung von Emotion von einer Person zu einer anderen definiert hat. Nach fünfzehnjähriger Recherche ist ihr nun mit The Warmth of Other Suns. The Epic Story of America’s Great Migration (Random House 2010, 622 Seiten) ein ausserordentlich reichhaltiges und anrührendes Paradebeispiel für Tolstois Kunstbegriff gelungen. Die amerikanische Kritik lobt das Buch durchweg als Meisterwerk. Wilkerson erzählt anhand dreier ausgewählter Biografien die Geschichte der grossen Wanderbewegung von sechs Millionen Afroamerikanern, die von 1915 bis 1970 aus den ehemaligen Sklavenstaaten im Süden in den industrialisierten Nordosten, Norden und Westen der USA gezogen sind. Sie beschreibt diese Migration als Exodus, der die USA – und die Afroamerikaner – so tiefgehend verändert hat, dass er meist gar nicht als historisches Einzelphänomen begriffen wird. 1994 als erste Afroamerikanerin mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, lehrt Wilkerson heute an der Boston University Geschichte und Publizistik. Sie vergleicht die «grosse Migration» etwa mit der Einwanderung Millionen russischer Juden aus dem Zarenreich um 1900 und macht zunächst die Brutalität der Lebensverhältnisse greifbar, unter denen Schwarze in den Südstaaten bald nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei leiden mussten. Ab 1877 nahmen die «Jim Crow»-Gesetze in Florida, Alabama oder Mississippi den Afroamerikanern ihre neuen Bürgerrechte und lieferten sie der Willkür weisser Arbeitgeber und Lynchmobs aus. Als sich 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Januar 2011

JACK DELANO / LIBRARY OF CONGRESS

Das amerikanische Buch Die grosse Migration der Afroamerikaner

Eine schwarze Familie verlässt den Süden der USA in Richtung Norden, Juli 1940. Autorin Isabel Wilkerson (unten).

mit Beginn des Ersten Weltkriegs Arbeitsmöglichkeiten ausserhalb des Südens boten, flohen erst Einzelne, dann Tausende von Schwarzen nach New York, Detroit oder Los Angeles. Zählten nördliche Metropolen wie Chicago um 1915 kaum ein Prozent afroamerikanischer Bürger, stieg deren Anteil bis 1970 auf ein Drittel an. Wilkerson weist nach, dass die Migranten im «gelobten Land» von Philadelphia oder Milwaukee für überseeische Einwanderer charakteristische Verhaltensweisen an den Tag legten, indem sie etwa nach Herkunftsorten «Wohnkolonien» in bestimmten Nachbarschaften bildeten. Wie die überwiegende Mehrheit der heutigen Afroamerikaner stammt die Autorin von Migranten aus dem Süden ab. Sie hat über 1200 Zeitzeugen inter-

viewt und drei herausgegriffen, deren Lebenswege für die Herkunftsregionen und verschiedene Generationen der Auswanderer stehen. So schildert sie mitreissend, wie Ida Mae Gladney 1937 mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern aus dem Baumwollland im Nordosten von Mississippi flieht, nachdem Weisse einen Verwandten aufgrund eines Bagatelldiebstahls, den dieser gar nicht begangen hatte, zum Krüppel schlugen. Heimlich musste die Familie ihre spärliche Habe verkaufen und sich von einem Freund zu einem entfernten Bahnhof fahren lassen, um dort Karten nach Milwaukee zu kaufen. George Starling rettete sich 1947 mit knapper Not aus dem Zitrusanbaugebiet im Zentrum Floridas nach Harlem, nachdem ihn Schergen von Plantagenbesitzern als Wortführer streikender Orangenpflücker ausgemacht hatten. Und 1953 brach der Militärarzt Robert Joseph Pershing Foster von Louisiana nach Los Angeles auf, um dort in Freiheit praktizieren zu können. In diese Biografien webt Wilkerson die Ergebnisse der einschlägigen Forschung ein, um mit Legenden wie der aufzuräumen, dass die Migranten dank ihrer «Rohheit und ihres Mangels an Bildung für die Verelendung der Schwarzen im Norden verantwortlich waren». Laut Wilkerson war dass Gegenteil der Fall: Wie bei anderen Immigrantengruppen waren es meist die mutigsten und energischsten Schwarzen, die ausserhalb ihrer bedrückenden Heimat ihr Glück suchten – und dies oft dank ihres für Einwanderer typischen Fleisses auch fanden. ● Von Andreas Mink

Agenda

Foto und Lyrik Die Kunst des genauen Blicks

Agenda Februar 2011 Mittwoch, 2. Februar, 19 Uhr

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.

KIRILL GOLOVCHENKO

Basel

Donnerstag, 10. Februar, 19 Uhr

Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Lesung, Fr. 17.Ω. Literaturhaus (s. oben). Sonntag, 20. Februar, 15.15 Uhr

Von Eis und Schnee. Lesung für Kinder ab 5 Jahren. Gratis-Zvieri. Literaturhaus (s. oben). Anmeldung: www.ed.bs.ch.

Bern Mittwoch, 2. Februar, 17.30 Uhr

Judith Giovannelli-Blocher: Die einfachen Dinge. Lesung. Diakonissenhaus, Schänzlistrasse 43, Tel. 031 337 77 00. Freitag, 18. Februar, 20 Uhr Der 1950 in Kehrsatz bei Bern geborene Künstler Werner Gadliger ist gelernter Fotograf, hat sich aber auch mit phantasievollen, vom Surrealismus inspirierten Zeichnungen und Collagen einen Namen gemacht. Als Fotograf steht Gadliger in jener grossen Schweizer Tradition, die Poesie mit Exaktheit, den raschen Blick fürs Ungewöhnliche mit der geduldigen Arbeit in der Dunkelkammer verbindet. Für sein neuestes Buch mit Schwarzweissbildern aus den verschiedensten Weltgegenden hat er sich mit Nura

Iuga zusammengetan, der Grande Dame der rumänischen Lyrik. Sie ist 80 Jahre alt und kein bisschen weise; ihre Verse überzeugen durch eigenwillige Dynamik und tabulose Neugier. Alles in ihnen ist Fluss. Im Dialog mit Werner Gadligers Kunst, die den magischen Moment aufs Papier bannt, entfaltet sie ihren ganz eigenen Reiz. Manfred Papst Werner Gadliger (Fotografien), Nora Iuga (Gedichte): Vom Süden her kommt ein Herz auf Stelzen. Waldgut, Frauenfeld 2011. 96 Seiten, Fr. 29.−.

Hanns-Josef Ortheil: Die Nacht des Don Juan. Lesung. Podium. Waisenhausplatz 29. Reservation: Tel. 031 310 85 85. Sonntag, 20. Februar, 10 Uhr

Lika Nüssli erzählt und zeichnet Geschichten für Kinder von 5 bis 10 Jahren. Fr. 10.Ω/25.Ω inkl. Frühstücksbuffet. Kornhausbibliothek, Kornhausplatz 18. Billette im Vorverkauf: Tel. 031 327 10 10.

Zürich Donnerstag, 3. Februar, 19 Uhr

Bestseller Januar 2011

Juli Gudehus: Das Lexikon der visuellen Kommunikation. Musikalische Buchpremiere. Museum für Gestaltung, Ausstellungsstrasse 60, Tel. 044 251 15 84.

Sachbuch

1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90. 2 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70. 3 Blanvalet. 512 Seiten, Fr. 28.80. 4 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 32.50. 5 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 34.50. 6 Wörterseh. 216 Seiten, Fr. 36.90. 7 DTV. 460 Seiten, Fr. 21.80. . 8 Manhattan. 464 Seiten, Fr. 22.80. 9 Springer. 528 Seiten, Fr. 10.Ω. 10

1 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. 2 AT. 144 Seiten, Fr. 39.80. 3 Edition A. 192 Seiten, Fr. 29.90. 4 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90. 5 List. 220 Seiten, Fr. 33.90. 6 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90. 7 DVA. 464 Seiten, Fr. 35.90. 8 Heyne. 736 Seiten, Fr. 40.90. 9 Fona. 236 Seiten, Fr. 19.90. . Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90. 10

Martin Suter: Allmen und die Libellen. Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf. Sandra Brown: Süsser Tod. Martin Suter : Der Koch.

Ken Follett : Sturz der Titanen. Susanna Schwager: Ida.

Jussi Adler-Olsen: Schändung

Sophie Kinsella : Mini Shopaholic. Karen Rose: Todesschrei.

Fay Weldon: Spa-Geflüster.

Rhonda Byrne: The Power.

Anna Staiger Eichenberger, Annette Gröbly: tibits at home. Elfriede Vavrik: Nacktbadestrand. Guinness World Records 2011.

Freitag, 4. Februar, 20 Uhr

Harry Rowohlt liest und erzählt. Fr. 25.Ω. Rote Fabrik, Aktionshalle, Seestrasse 395. Reservation: [email protected]. Mittwoch, 9. Februar, 20 Uhr

Beatrice von Matt: Mein Name ist Frisch. Buchvernissage und Lesung, Fr. 18.Ω inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Donnerstag, 10. Februar, 20 Uhr

Natascha Kampusch: 3096 Tage.

Georg Klein: Roman unserer Kindheit. Lesung, Fr. 18.Ω, inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben).

Jamie Oliver : Jamies 30-Minuten-Menüs.

Mittwoch, 16. Februar, 20 Uhr

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Keith Richards : Life.

Thomas Wyss: Sammelsurium Schweiz. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25. Auflage

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18. 1. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.

Axel Hacke & Giovanni di Lorenzo: Wofür stehst du? Gemeinsame Lesung, Fr. 35.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.

Bücher am Sonntag Nr. 2

erscheint am 27. 2. 2011 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.

30. Januar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27

ANGELIKA WARMUTH / EPA

Belletristik

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