Nikolaus von Kues: Die Welt als Zeichen

Nikolaus von Kues: Die Welt als Zeichen 3 6 9 12 15 18 21 24 27 30 33 36 39 42 45 48 51 54 Das Compendium ist eine späte Schrift, d...
Author: Sven Jaeger
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Das Compendium ist eine späte Schrift, die Nikolaus von Kues vielleicht erst in seinem Todesjahr (1464) verfaßt hat. Die Abhandlung soll die eigene Lehre in einer knappen Übersicht darstellen. Dennoch handelt es sich nicht um eine bloße Zusammenfassung früherer Erörterungen. [...] Zu Beginn der Untersuchung wird [...] die generelle Begrenztheit menschlicher Erkenntnis betont. Dieser erkenntniskritische Vorbehalt ist die Konsequenz zweier Grundsätze, die nach Nikolaus von Kues nicht ernsthaft bezweifelt werden können: 1. Das Eine kann nicht Vieles (das Einzelne nicht mehrfach) sein. Erkenntnis jedoch richtet sich nicht auf die Einzigartigkeit eines Seienden, sondern auf das, was vielen gemeinsam ist. Ist das wahre Sein Eines und einzigartig, dann kann es nicht als solches erkannt werden, sondern nur in der Weise, wie es in vielem ist. 2. Das Sein geht dem Erkennen prinzipiell voran; denn eine Sache existiert, bevor sie erkannt wird. Das Sein als Bedingung alles Erkennens kann selbst nicht erkannt werden. Folglich ist die Weise des Seins (modus essendi) nicht mit den Weisen des Erkennens (modi cognoscendi) zur Deckung zu bringen. Das gilt für die sinnliche Erkenntnis (sensus) ebenso wie für die Vorstellungskraft (imaginatio) und den Verstand (intellectus). Was wir in allem Streben nach Erkenntnis - und bei aller Steigerung ihrer Exaktheit - erreichen können, ist nie die Sache selbst, sondern nur deren Ähnlichkeit (similitudo), deren Erkenntnisbild (species) oder Zeichen (signum). Anders formuliert: Alle Weisen des Erkennens bezeichnen nur das ihnen zugrunde liegende Sein, ohne es als solches zu erfassen. Steht es so, dann ist eine Theorie der Zeichen kein beiläufiges Thema, sondern notwendig zur Klärung des Erkennens überhaupt. Deshalb nimmt die Erörterung des Zeichens im Compendium einen breiten Raum ein. Die Erkenntnis - das gilt es angesichts ihrer kritischen Eingrenzung zu betonen (Kap. 2) - ist biologisch notwendig, nicht nur für den Menschen, sondern bereits für die Tiere. Die Lebewesen sind nämlich darauf angewiesen, die für sie zuträgliche Nahrung zu erkennen. Zur Verbesserung ihrer Lebensweise ist weiterhin notwendig, daß sie ihre Artgenossen erkennen und sich verständigen. Was aber für die Tiere gilt, gilt für den Menschen in noch höherem Maße. Er braucht vielerlei Kenntnisse, um ein gutes Leben führen zu können. Über diese Kenntnisse werden die Mitmenschen belehrt; den Nachkommen werden sie überliefert. Für diese Wissensvermittlung sind Zeichen unabdingbar. Und weiter: Da die jeweiligen Zeichen das Sein nie hinreichend erfassen, sollte man die Erkenntnis einer Sache nicht auf ein Zeichen, sondern auf mehrere Zeichen gründen. „Soll man also auf möglichst vollkommene Weise zur Erkenntnis gelangen, so muß dies durch verschiedene Zeichen geschehen, damit man aus ihnen eine bessere Kenntnis gewinne. So wird ein sinnenfälliges Ding (sensibilis res) durch fünf sinnenfällige Zeichen besser als durch eines oder zwei erkannt“ (XI3, 4/II, 684 ff.).

Nikolaus von Kues beginnt seine Analyse des Zeichens mit der Feststellung, daß alle Zeichen sinnlich wahrnehmbar (sensibilia) sind; sie können - so die wohlbekannte Unterscheidungshinsicht - eingeteilt werden in solche, die von Natur aus, und in solche, die gemäß einer Setzung etwas bezeichnen („... aut naturaliter res designant aut ex instituto“; XI3, 5/II, 686): 1. Zu den natürlichen Zeichen gehört das, wodurch ein Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung bezeichnet wird (das Erkenntnisbild, species). Weiterhin werden Affekte mit natürlichen Zeichen bekundet: Freude durch Lachen, Trauer durch Tränen etc. Für die natürlichen Zeichen gilt, daß wir sie unmittelbar verstehen; die Natur ist unsere Lehrmeisterin. 2. Eingesetzte Zeichen sind Wörter und Schriftzeichen. Ihre Bedeutung müssen wir eigens erlernen. „Und da alle Zeichen, durch die eine Kenntnis weitergegeben werden soll, dem Lehrer und dem Schüler bekannt sein müssen, muß sich der erste Teil der Wissenschaft (prima doctrina) um die Kenntnis dieser Zeichen bemühen“ (XI3, 6/II, 688). Wenn die Wörter zu den willkürlich gesetzten Zeichen gehören, deren Bedeutung allererst zu erlernen ist, dann stellt sich (fast unausweichlich) die Frage nach dem historischen Ursprung der Sprache. Nikolaus von Kues beantwortet diese Frage im dritten Kapitel: Unsere Stammeltern, Adam und Eva, wurden von Gott in vollkommener Weise erschaffen. Zur Vollkommenheit ihrer Natur (!) gehörte aber auch ein Wissen über die Bedeutung der Zeichen, mit deren Hilfe sie ihre Gedanken mitteilen und das von Gott geschenkte Wissen ihren Nachkommen überliefern konnten. So läßt sich die Mühelosigkeit, mit der Kinder sprechen lernen, erklären. „Daher sehen wir, daß die Kinder, sobald sie sprechen (fari) können, für die Kunst des Sprechens (artis dicendi) empfänglich sind, Nikolaus von Kues, Die Welt als Zeichen - 1

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weil sie die erste und für ein gutes Leben (ad bene essendum) notwendigste Kenntnis ist“ (XI3, 6/II, 688). Hat Gott die ersten Menschen vollkommen erschaffen, dann hat er ihnen auch eine vollkommene Kenntnis der Sprache verliehen. Deshalb ist die Sprache Adams nicht nur erste Sprache, sondern Ursprache. Sie muß so reich an Synonymen gewesen sein, daß alle späteren Sprachen schon in ihr enthalten waren. „Denn alle menschlichen Sprachen stammen ab von jener ersten Sprache unseres Stammvaters, das heißt des Menschen. Und wie es keine Sprache gibt, die der Mensch nicht verstünde, so würde auch Adam, der dasselbe ist wie ‚Mensch’, jede Sprache, die er hörte, verstehen“ (XI3, 6/II, 688). Das ist nach Nikolaus von Kues mit der biblischen Überlieferung gemeint, nach der Adam selbst die Namen gegeben hat (Gen. 2,19 f.). Gehen alle Sprachen auf diese Ursprache zurück, dann wird kein Wort einer späteren Sprache auf ursprüngliche Weise (originaliter) gesetzt. Einzig Adam ist Wortsetzer im eigentlichen Sinne. Die Charakterisierung der umfassenden Ursprache Adams mag auf den ersten Blick verwunderlich sein. Sie leuchtet nach Nikolaus von Kues jedoch ein, wenn man zweierlei bedenkt: 1. Wie in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments berichtet wird (2,4), kann Gott mit einem Schlage die Kenntnis aller Sprachen schenken (‚Pfingstwunder’). Warum sollte Adam nicht über diese Fähigkeiten verfügen, da doch auch er die Sprachengabe von Gott empfangen hat? Dieses theologische Argument wird durch ein ‚anthropologisches’ Faktum ergänzt: 2. Es gibt für den Menschen keine natürlichere und leichter zu erlernende Kunst als die des Sprechens; denn jeder, der in vollem Sinne des Wortes Mensch ist, verfügt über diese Fähigkeit. Im Blick auf die Zeichenkenntnis der ersten Menschen muß man sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es kann nach Nikolaus von Kues nicht bezweifelt werden, daß unsere Stammeltern bereits schreiben und lesen konnten. Die Schrift ist nämlich den Menschen eine derart große Hilfe, daß man sie den Stammeltern nur absprechen dürfte, wenn man sie als sehr unvollkommen erschaffene Wesen ansehen würde. Das Verhältnis der Sprache zur Schrift wird so bestimmt: Beide Fähigkeiten vermitteln zwischen Natur und Verstand (intellectus), dem Schöpfer aller menschlichen Kunst. Das Sprechen steht der Natur, das Schreiben dem Verstand näher. Daß die Kunst des Schreibens weiter von der Natur entfernt ist, belegt Nikolaus von Kues mit dem Hinweis, daß die Kinder das Schreiben erst später erlernen, nämlich dann, wenn ihr Verstand sich stärker regt. Die Nähe des Sprechens zur Natur zeigt sich darin, daß die Lebewesen danach streben, ihre Affekte durch natürliche Laute kundzutun. Diese natürlichen Anlagen nutzt der Verstand; er formt und verändert die konfusen Lautzeichen, damit die verschiedenen Bedürfnisse besser mitgeteilt werden können. Auf diese Weise hilft die Kunst des Sprechens der Natur (adiuvat naturam; XI3, 7/II, 690). Weil aber das gesprochene Zeichen sofort verklingt, deshalb dem Gedächtnis leicht entschwindet und weit Entfernte gar nicht erreicht, hat der Verstand mit der Kunst des Schreibens etwas Beständigeres geschaffen. Nach diesen Ausführungen zum Ursprung von Sprache und Schrift thematisiert Nikolaus von Kues (Kap. 4) die sinnlich wahrnehmbaren Zeichen überhaupt (signa sensibilia). Sie sind für die menschliche Erkenntnis aus folgendem Grund unentbehrlich: Ist es - worauf im ersten Kapitel bereits hingewiesen wurde – einerseits unmöglich, daß der Mensch das Selbstsein der Dinge erkennt, ist aber andererseits die Erkenntnis für das Leben notwendig, dann muß es zwischen sinnenfälligem Gegenstand und Wahrnehmungsvermögen ein Mittleres geben, durch das der Gegenstand vervielfältigt und so in die Erkenntnis der Menschen gleichsam eintreten kann. Dieses Mittlere ist das Erkenntnisbild bzw. Zeichen (species seu signum) des Gegenstandes. Die Erkenntnis aber ist ebenso flüchtig wie das gesprochene Wort, da sie nur solange währt, wie der Gegenstand anwesend ist. Damit die Erkenntnis bestehen bleibt, muß sie ‚aufbewahrt’ werden können. Das geschieht in der inneren Vorstellungskraft (in interiori phantastica virtute), die somit der Schrift vergleichbar ist. „Also sind die Zeichen der Dinge in der Vorstellungskraft Zeichen der Zeichen in den Dingen“ (XI3, 8/II, 692). Für alle sinnlich wahrnehmbaren Zeichen gilt, daß sie zunächst ziemlich ungenau und gattungshaft, dann erst eigentümlich und gemäß der Art bestimmt sind (Kap. 5). Diesen zeitlichen Vorrang des Allgemeinen und Unbestimmten erläutert Nikolaus von Kues am Beispiel der sprachlichen Verständigung: Wenn wir von fern ein Wort vernehmen, dann scheint es zunächst nur ein Lautzeichen (signum soni) zu sein. Kommt der Sprechende näher, so hören wir, daß es sich um das Zeichen eines artikulierten Lauts (signum soni articulati) handelt. Schließlich verstehen wir es als Wortzeichen einer bestimmten Sprache (signum vocis alicuius linguae), und zuletzt wird es uns zum Zeichen eines ganz bestimmten Wortes (signum specialis verbi). Dieser Fortgang vom Allge-

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meinen zum Besonderen ist für all unser Erkennen charakteristisch, was uns allerdings oft verborgen bleibt, weil die einzelnen Schritte sehr schnell aufeinander folgen. - Damit ist zugleich erklärt, daß es von einem Seienden verschiedene Zeichen gibt, mit deren Hilfe wir etwas erkennen. Und da den Zeichen ein Mehr oder Weniger an Vollkommenheit eigen ist, können wir die vollkommene Erkenntnis nie erlangen. Ebensowenig kann es vom Einzelnen ein Zeichen geben. Denn das individuelle Einzelseiende läßt (als Substanz im strengen Sinne) kein Mehr und Minder zu; es ist daher nicht durch sich selbst, sondern nur durch beiläufige Eigenschaften, die durch sichtbare Zeichen vermittelt sind (per accidens in signis visibilibus), erfaßbar. Das sechste Kapitel unterstreicht noch einmal die ‚biologische’ Notwendigkeit des Erkennens: Alle Lebewesen entnehmen der sinnlich wahrnehmbaren Welt so viele Erkenntnisbilder, wie für ein gedeihliches Leben notwendig sind. Der Mensch übertrifft durch seine Verstandesbegabung alle anderen Lebewesen. Er kann kraft seines Verstandes die natürlichen Erkenntnisbilder zusammensetzen und trennen, um aus ihnen höhere Möglichkeiten der Erkenntnis und Kunst zu schaffen. Auf diese Weise - Nikolaus von Kues nimmt hier den anthropologischen Ansatz Herders und Gehlens vorweg - gleicht der Mensch die Mängel seiner körperlichen Anlagen (defectus sensuum, membrorum, infirmatum) aus. Durch lange Übung und Ausbildung kann es der Mensch dazu bringen, umfassende Erkenntnisbilder zu gewinnen, durch die er vielfältige Erscheinungen zugleich verstehen kann (Kap. 7). Ein derart umfassendes Erkenntnisbild ist z.B. die Bewegung, die den Wechsel des naturhaft Seienden im Unterschied zum ‚gewaltsam’ Bewegten - begreiflich macht. Ein noch genaueres Erkenntnisbild fand derjenige, „der sich bemühte, aus neun Erkenntnisbildern der Prinzipien ein einziges Erkenntnisbild für die allgemeine Kunst alles Wißbaren zu gewinnen“ (XI3, 14/11, 702).1 Am fruchtbarsten und erhabensten jedoch ist das eine Erkenntnisbild, das der Evangelist Johannes Wort nennt; denn in diesem Erkenntnisbild liegt alles geistig Erkennbare und alles formende Herstellen beschlossen. Ohne das Wort wird nichts verstanden, gesprochen und geschaffen. Cusanus betont in Wendungen, die den Einfluß der Logosphilosophie Eckharts zeigen: „Es ist nämlich das Wort (verbum), ohne das nichts geworden ist noch werden kann, da es der Ausdruck (expressio) des Ausdrückenden und des Ausgedrückten ist. So ist das Sprechen (locutio) des Sprechenden und was er spricht Wort; und das Begreifen (conceptio) des Begreifenden und was er begreift, ist Wort; und das Schreiben (scriptio) des Schreibenden und was er schreibt, ist Wort; und das Erschaffen (creatio) des Erschaffenden und was er erschafft, ist Wort; und das Formen (formatio) des Formenden und was er formt, ist Wort; und ganz allgemein, das Bewirken (factio) des Bewirkenden und das Bewirkte ist Wort“ (XI3, 15/11, 704).

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Die erschließende Kraft dieses Erkenntnisbildes liegt vor allem darin, daß das Wort sich selbst und zugleich alles andere sinnlich wahrnehmbar macht. Deshalb kann man es - wie der Evangelist Licht nennen; denn es macht sich selbst und das andere sichtbar. Auch der Name Gleichheit ist für dieses Wort angemessen, weil es sich zu allem in gleicher Weise verhält, sofern es allen Dingen gleichermaßen verleiht, was sie sind. Steht es so, dann kann man nach Nikolaus von Kues ein Erkenntnisbild aller Schöpfung gewinnen, wenn man die Bildung des stimmlichen Wortes (verbum vocale) analysiert. Cusanus hebt drei Aspekte hervor: 1. Das gesprochene Wort kann ohne Luft nicht hörbar werden; die Luft selbst jedoch wird von keinem unserer Sinne erfaßt. Wir nehmen die Luft nur wahr, wenn bestimmte Eigenschaften hinzutreten: Wir sehen die farbige Luft; wir hören die tönende Luft; wir riechen die duftende Luft; wir schmecken die bittere Luft; wir fühlen die kalte oder warme Luft. - Die Luft ist also Bedingung des Hörens, als sie selbst aber nicht hörbar. Das ist auf das Erkenntnisbild (des Wortes für die Schöpfung) so anzuwenden: Alles, was wirklich sein soll (quod actu esse debet) - das Sinnliche und das Übersinnliche -, setzt etwas voraus, das weder sinnlich noch geistig erfaßt werden kann. Als Voraussetzung alles konkreten (geformten) Seienden ist es selbst etwas Unbestimmtes, deshalb nicht erkennbar und nicht zu benennen. Dennoch hat die Tradition dieses Ungestaltete mit verschiedenen Namen belegt: hyle, Materie, Chaos, Möglichkeit, Werdenkönnen (posse fieri), Zugrundeliegendes (subiectum). 2. Mag auch die Luft zur Erzeugung des Tones notwendig sein, der Ton gehört doch nicht zum Wesen (natura) der Luft. Er bedarf zwar einer materiellen Grundlage; aber damit entsteht noch kein bestimmter Ton. Wie die Luft nicht Grund (principium) für die Formgebung des Tons, so ist 1

Nikolaus spielt hier auf die Ars magna et ultima des Raymundus Lullus an. Lullus ging von neun Seinsprinzipien aus und versuchte, durch methodische Kombinationen aus ihnen das gesamte Seiende und alles Wißbare abzuleiten. Nikolaus von Kues, Die Welt als Zeichen - 3

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überhaupt die Materie nicht Grund für die Gestaltungen des Seins. Prinzip der Gestaltung ist der Formgeber (formator). 3. Das Wort der menschlichen Sprache unterscheidet sich dadurch von der stimmlichen Verlautbarung der Tiere, daß es vom Geist (mens) geformt wird. Der Zweck dieser Wortformung liegt einzig in der Offenbarung des Geistes. Das Wort ist also die zeichenhafte Darstellung (ostensio) des Geistes; und die Mannigfaltigkeit der Worte ist nichts anderes als die verschiedenartige Offenbarung des einen Geistes. - Die Darstellung im Wort ist aber nicht nur Offenbarung für andere, sondern Selbstoffenbarung im Sinne der Selbsterkenntnis des Geistes. Um das zu verdeutlichen, greift Nikolaus von Kues die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Wort auf: „Das Begreifen (conceptio) aber, durch das der Geist sich selbst begreift, ist das vom Geist gezeugte Wort (verbum a mente genitum), nämlich die Erkenntnis seiner selbst. Das stimmliche Wort (verbum vocale) aber ist die Offenbarung jenes geistigen Wortes“ (XI3, 16/11, 706). Und Cusanus fügt hinzu: „Alles aber, was gesprochen werden kann, ist nichts als Wort“ (ebd.). Das heißt: Alles, was der Geist offenbaren und erkennen kann, ist gebunden an zeichenhafte Darstellung. Der menschliche Geist ist Abbild des göttlichen Geistes, und die beschriebene Genesis bietet in mehrfacher Hinsicht das höchste Erkenntnisbild für die Genesis alles Seienden: - Wie der menschliche Geist sich in dem von ihm gezeugten Wort selbst erkennt, so erkennt sich der göttliche Geist in dem von ihm gezeugten ewigen Wort. - Wie die vielen gesprochenen Worte vielfältige Zeichen der Offenbarungen des einen Geistes sind, so offenbart sich das unerschaffene Wort auf mannigfache zeichenhafte Weise in der Schöpfung. - Wie alles Gesprochene nichts anderes ist als Wort, so ist alles Seiende Zeichen der Offenbarung des göttlichen Wortes. - Wie das stimmliche Wort nur bestehen kann, wenn und solange der Geist es äußern will, so kann das Geschaffene nur sein, wenn und solange es der göttliche Schöpfer als Former aller Dinge will. - Wie die körperlichen Voraussetzungen der Verlautbarungen auf den Zweck der Wortartikulation hingeordnet sind, so dienen alle Geschöpfe letztlich der Offenbarung des einen Wortes. Mit diesen Analogien zwischen menschlichem Geist und Schöpfergott, zwischen Lautwort und ewigem Wort Gottes hat die Zeichenlehre des Nikolaus von Kues ihren höchsten Punkt, d.h. ihr Prinzip, erreicht. Das achte und neunte Kapitel führen weitere Analogien und Wege an, auf denen der Mensch zur vollkommenen Einsicht gelangen kann. Im achten Kapitel wird der Mensch als Kosmograph mit Gott als Schöpfer der Welt verglichen: Der Kosmograph zeichnet alles auf, was ihm die fünf Sinne von der Welt zeigen; er strebt danach, die Sinne offenzuhalten und seine Beschreibung immer genauer zu machen. Wendet er sich nun von seiner Weltkarte ab und in einer inneren Schau dem Schöpfer der Welt zu, dann entdeckt er folgende Analogie: Gott verhält sich vorgängig so zum Universum wie der Kosmograph zu seiner Karte. Diesem Menschen geht auf, daß die von ihm erstrebte Wahrheit nur Bild der eigentlichen Wahrheit ist. Zugleich jedoch sieht er seine eigene geistige Schöpferkraft als das erste und nächste Zeichen (primum et propinquius signum) des höchsten Schöpfers. Ist aber der Geist das vollkommenste Zeichen des göttlichen Schöpfers, dann sind die sinnlichen Zeichen von minderem Rang. Deshalb wendet sich der Kosmograph den geistigen, einfachen und formhaften Zeichen (intelligibilia simpliciaque atque formalia signa) zu. Zwar bleibt auch für diese geistigen Zeichen das eine Sein unfaßbar; aber es leuchtet in ihnen ‚wie das Licht in der Finsternis’. Das neunte Kapitel verweist auf ‚Schwierigeres’ (subtiliora), nämlich auf die verschiedenen Künste als Nachahmungen der Natur und Bilder der göttlichen Schöpfung. Auch in diesem Zusammenhang nimmt die Kunst des Sprechens (ars dicendi) wieder eine zentrale Stellung ein. Der Aufbau der Sprache dokumentiert einen Weg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Aus den unterschiedlichen Lauten werden Silben, aus diesen Wörter, aus diesen die zusammenhängende Rede (oratio) gefügt. Die Rede ist das eigentlich Intendierte der menschlichen Lautgebung; „denn die Rede ist die Bezeichnung oder Definition einer Sache (rei designatio seu definitio)“ (XI3, 21/11, 710). So kann der Mensch aus Zeichen und Wörtern sein Wissen über die Dinge aufbauen, vergleichbar der göttlichen Schöpfung und Ordnung. Analog zur elementaren Kunst des Redens schafft der Mensch weitere Künste, in denen er die Natur nachahmt. „Wie nämlich der Geist den Laut in der Natur vorfand und dann die Kunst hinzufügte, alle Zeichen der Dinge in Lautgestalt zu setzen, so fügte er zu dem Wohlklang, den er in der Natur vorfand, im Bereich

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der Töne die Kunst der Musik hinzu, jeden Wohlklang zu bezeichnen. Das gleiche trifft bei den übrigen Künsten zu“ (XI3, 21/11, 712). 3

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Die Entwicklung der Sprache ist aber nicht nur das Urbild für die Erfindung der Künste; sondern sie ist auch notwendig für deren Mitteilung und Überlieferung. Nikolaus von Kues hat hier (Kap. 10) vornehmlich die schriftliche Überlieferung im Blick; für die mündliche Belehrung gilt dies aber entsprechend: Wenn man eine Kunst erfunden hat und sie (schriftlich) weitergeben will, dann muß man die Bedeutungen der Worte genau erklären. Das geschieht durch möglichst präzise Definitionen. Sie bewirken ein Wissen, sofern sie die Ausfaltungen dessen vollziehen, was im Wort eingefaltet ist. Nikolaus von Kues beschließt seine Zeichenlehre mit der folgenden ‚hermeneutischen Regel’: „Und darauf muß sich bei jedem Bücherstudium dein Hauptaugenmerk richten, daß du die Worterklärung (interpretationem vocabulorum) gemäß dem Geist des Schriftstellers vornimmst; und dann wirst du alles leicht begreifen und die Texte, die, wie du glaubtest, sich widersprachen, miteinander in Einklang bringen. Daher tragen die Unterscheidungen der Begriffe (distinctiones terminorum) viel zur Harmonisierung verschiedener Texte bei, vorausgesetzt, daß man beim Unterscheiden keinen Fehler begeht. Und dann geht man weniger in die Irre, wenn man sich bemüht, die verschiedenen Texte auf die Gleichheit (ad aequalitatem) zurückzuführen“ (XI3, 22 f./II, 714).

Der erste Teil des Compendium (Kap. 1-10, n. 1-28) gehört - wie das zweite Kapitel von Idiota de mente - zu den wichtigsten sprachphilosophischen Texten unserer Tradition. Freilich könnte es auch hier auf den ersten Blick so scheinen, als greife Nikolaus von Kues nur traditionelle Motive auf: die Bestimmung des Wortes im Zusammenhang einer Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen (Kap. 2); die Schöpferkraft des verbum Dei im Anschluß an den Prolog des Johannes-Evangeliums; die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Wort (Kap. 7). Solche traditionellen Elemente erfahren jedoch - wie bereits bei der Würdigung von De mente erwähnt - durch ihre Integration in das Gesamtkonzept der Cusanischen Philosophie eine entscheidende Wandlung. Davon ist vor allem der Begriff des Zeichens betroffen. Ausgangspunkt der Philosophie des Nikolaus von Kues ist die These, daß menschlich-endlicher Erkenntnis das wahrhafte In-sich-sein der Dinge verschlossen bleibt. Zwar ist Erkenntnis für das menschliche Leben unabdingbar; aber sie gelangt nur zu Bildern bzw. Zeichen. Einerseits sind diese Zeichen unvollkommen; andererseits sind sie jedoch Zeichen der Vollkommenheit und damit menschlich angemessen. Ist menschliche Erkenntnis insgesamt bild- und zeichenhaft, dann besteht kein Anlaß, das Wort als bloßes Zeichen gegenüber der Sache selbst abzuwerten. Dann muß auch dem Denken kein prinzipieller Vorrang gegenüber dem Sprechen eingeräumt werden; denn beide bewegen sich in einer zeichenhaften Welt und rücken so in eine ursprüngliche Nähe. Die positive Bewertung sprachlicher Verständigung wird auch bei der Erläuterung ihres historischen Ursprungs deutlich. Zwar greift Nikolaus von Kues - ganz selbstverständlich - die biblische Überlieferung (erste Namengebung durch Adam, Turmbau zu Babel als Grund für die Vielfalt der Sprachen) auf. Aber er setzt in entscheidenden Punkten eigene Akzente: Die Sprache wird nicht nachträglich vom Menschen - vielleicht sehr mühsam - ‚erfunden’; sondern sie gehört zu seinem Wesen. Insofern hat sie einen natürlichen Ursprung. Sofern Gott jedoch der Schöpfer alles Seienden ist, gründet die Möglichkeit sprachlicher Verständigung letztlich in Gott. Ist aber die Sprache ein Bild der Vollkommenheit des Menschen, dann darf man annehmen, daß die Ursprache Adams über eine große Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten verfügte, daß sie bereits im Keim alle späteren Sprachen in sich barg. Wenn Nikolaus von Kues (mit Gen. 2, 20) darauf hinweist, daß Adam selbst die Namen gesetzt habe, dann will er damit nicht die Willkürlichkeit der Wortsetzung betonen, sondern hervorheben, daß später keine anfängliche Namengebung mehr möglich ist. Das heißt: Wortschöpfung und sprachliche Verständigung vollziehen sich auf dem Hintergrund einer schon bestehenden Sprache. Der Gegensatz zwischen natürlichen und (willkürlich) gesetzten Zeichen ist nur von relativer Gültigkeit: Im Vergleich zu Naturlauten, über die bereits Tiere verfügen, sind die artikulierten Laute menschlicher Sprache weiter von der Natur entfernt; im Vergleich zu den Schriftzeichen sind die gesprochenen Worte naturnäher. Nicht die Entgegensetzung ‚natürlich - willkürlich’ ist die entscheidende Hinsicht für die Wesensbestimmung der Sprache (und der Schrift); vielmehr liegt ihr Wesen in der Vermittlung von Natur und ‚Kunst’. Wie die sprachphilosophische Reflexion in De mente, so gelangt auch die Zeichenlehre des Compendium erst mit dem Erkenntnisbild des verbum Dei ins Ziel. Damit stellt sich Nikolaus von Kues in den Zusammenhang der Trinitätsspekulation von Augustinus bis Eckhart. Aber diese Tradition Nikolaus von Kues, Die Welt als Zeichen - 5

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erfährt bei Nikolaus von Kues eine sprachphilosophische Wendung. Ausschlaggebend sind für ihn weniger die Analogien zwischen menschlichem und göttlichem Geist, zwischen göttlichem Wort und innerem Wort des Menschen (verbum mentis); sondern er blickt zuerst auf das gesprochene Wort, an dessen Bildung er den Sinn des höchsten Erkenntnisbildes erläutert. Die Analyse der Bildung des stimmlich geäußerten Wortes (verbum vocale) eröffnet die rechte Sicht, um sich den göttlichen Schaffensprozeß näher zu bringen. Daß die Verbum-Spekulation Fragen im Blick auf das angemessene Verständnis der menschlichen Sprache aufwirft, ist bei Augustinus, Anselm, Thomas, Eckhart deutlich geworden. Das Verdienst des Nikolaus von Kues liegt darin, daß er im Unterschied zu seinen Vorgängern diese Fragen gesehen und zu beantworten versucht hat. Die Versuche des Nikolaus von Kues, das Wesen des Wortes zu ergründen, sind durchweg geleitet von einer positiven Einschätzung der menschlichen Sprache. Das bezeugt nicht nur die These des Laien von der Angemessenheit menschlicher Wortsetzung in De mente, sondern in besonderer Weise die ausführliche Zeichenlehre des Compendium. Diese Wertschätzung sprachlicher Verständigung sieht auch in der Vielheit der Sprachen und in der Komplexität schriftlicher Überlieferung (Kap. 10) keinen bedauernswerten Mangel, sondern die dem endlichen Menschen angemessene Weise, der Wahrheit in Bild und Zeichen nachzuforschen. Die positive Bewertung der Sprache gründet nach Nikolaus von Kues in der Wahrheit des Wortes Gottes. Diese Wahrheit, die im Prolog des Johannes-Evangeliums exemplarisch formuliert ist, gibt der christliche Glaube vor. Das wird auch von Nikolaus von Kues nicht in Frage gestellt; insofern steht seine Philosophie insgesamt und besonders seine Sprachphilosophie in der mittelalterlichen Tradition. Sofern jedoch die Wahrheit des ewigen Wortes für die Erkenntnis des Menschen unerreichbar bleibt und deshalb das zeichen- und bildhafte Wissen des Geistes auf sich selbst zurückgeworfen wird, kündigt sich Neues an. Indem sich die tragenden Gedanken der mittelalterlichen Philosophie bei Nikolaus von Kues gebündelt wiederfinden und in ein eigenes Konzept gebracht werden, gibt er für diese Epoche gleichsam die letzte Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Sprache. Die neuzeitliche Philosophie der Sprache wird diese Antwort nicht unverändert übernehmen können; aber sie wird sich an dem Niveau der Cusanischen Wort-Reflexionen bemessen lassen müssen. Hennigfeld, Jochem (1994): Geschichte der Sprachphilosophie. Bd. 1: Antike und Mittelalter, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 303-315. Nicolaus Cusanus (1401-1464), ein deutscher Winzersohn aus dem Dorfe Kues an der Mosel, der 1448 zur römischen Kardinalswürde aufstieg, steht auf der Grenze zweier Zeitalter: des Mittelalters und der Neuzeit, und zweier Gebiete: der Theologie und der Philosophie; sodass man ihn fast ebenso gut dem einen wie dem anderen zuzählen kann. Er fasst mehrere Richtungen des ausgehenden Mittelalters, wie den Nominalismus und die Mystik, in seiner Person zusammen, aber er ist auch schon berührt von dem Humanismus der Renaissance. [...] Philosophisch bedeutsam ist vor allem seine Theorie des Erkennens. Er nimmt vier Stufen desselben an: 1. den nur verworrene Bilder liefernden Sinn, 2. den sondernden Verstand (ratio), 3. die spekulative Vernunft (intellectus) und zuhöchst 4. die mystische Anschauung, die in der Vereinigung der Seele mit Gott besteht. Jede Stufe ist in der nachfolgenden enthalten, aber alle vier sind nur Gestaltungen einer und derselben Grundkraft. Das Erkennen besteht in der Verähnlichung des erkennenden Subjekts und seines Gegenstandes, ist also ein geistiges Messen. Doch all unser Wissen ist nur ein Vermuten. Der Mensch muss sich bewusst werden, dass er Gott oder das Unendliche nie ganz erfassen kann, wenn er sich auch ihm beständig anzunähern vermag: das ist der Zustand des »bewussten Nichtwissens«, der Docta ignorantia, wie der Titel seiner Hauptschrift lautet. In Gott lösen sich alle Gegensätze in Einheit auf (coincidentia oppositorum), in ihm sind alle Möglichkeiten verwirklicht (er ist das poss-est d.h. das »kann-ist«). Aber er stellt nicht bloß das alles umfassende und überragende Maximum, sondern auch das in allem seiende Minimum, dabei zugleich das absolute Können, Wissen und Wollen, die absolute Sittlichkeit dar. Und wenn nun auch der Theologe in Nicolaus die Geheimnisse der kirchlichen Dreieinigkeitslehre u.a., zum Teil in phantastischen Zahlenspekulationen, auszulegen sich bemüht, so zieht ihn doch sein philosophischer Geist zum Pantheismus hin. In Gott hängt ihm alles Seiende zusammen. Gottes Entfaltung, gewissermaßen sein Körper ist die Welt; und jedes Ding spiegelt an seiner Stelle das Universum wider. So ist auch der Mensch ein Spiegel des Alls, eine »kleine Welt« (parvus mundus, Mikrokosmus). Seine Vervollkommnung ist nur eine Entfaltung seiner ursprünglichen Anlagen, seine Liebe zu Gott = Einswerden mit Gott. Aber auch des Menschen Geist entspricht der absoluten. Wirklichkeit, sein Sehen ist ein Nachbild des göttlichen, ohne seinen Intellekt gäbe es keine Werte auf der Welt. So[298] wird das Negative schließlich zum Positiven, das »bewusste Nichtwissen« zur »unendlichen Erkenntnis«. Vorländer, Karl (1919): Geschichte der Philosophie, Band 1, 5. Auflage, Leipzig 296-298 (gekürzt und leicht überarbeitet).

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