Die Welt als Ortsverein

Nr. 21 DIE ZEIT SCHWARZ DIE Nr. 21 18. Mai 2006 61. Jahrgang CYAN MAGENTA ZEIT C 7451 C Preis Deutschland 3,00 ¤ CD-Kritiken mit Hörproben: w...
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Nr. 21

DIE ZEIT

SCHWARZ

DIE

Nr. 21 18. Mai 2006 61. Jahrgang

CYAN

MAGENTA

ZEIT

C 7451 C Preis Deutschland 3,00 ¤

CD-Kritiken mit Hörproben: www.zeit.de/tontraeger

DKR 38,00 · FIN 5,80 ¤ · E 4,30 ¤ · F 4,30 ¤ · NL 3,90 ¤ · A 3,40 ¤

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WO C H E N Z E I T U NG F Ü R P O L I T I K • W I RT S C H A F T • W I S S E N U N D K U LT U R

Ist das Jazz?

Foto: UNIVERSAL

Wo beginnt die Sucht?

Die erfolgreichen Spielereien des Trompeters Till Brönner. Dazu: Neue CDs aus Pop, Jazz und Klassik Musik-spezial S. 51–54

Hirnforscher zeigen, wie Abhängigkeit von Alkohol, Nikotin oder Glücksspiel entsteht – und wie stark Drogen uns verändern. Dazu ein Test: Sind Sie ein Suchtkandidat? wissen S. 33–36

Sommer-Literatur Die wichtigsten neuen Bücher auf zwölf Seiten, u. a. von Denis Johnson, Norbert Zähringer und Peter Zadek Literatur-Spezial S. 55–66

Reizender Frühling Es schwirren so viele Pollen umher wie Weisheiten über den Heuschnupfen. Welche stimmen? christoph drösser leben S. 69 Foto: Stock4b/Mauritius

Die Welt als Ortsverein SPD-Chef Kurt Beck kann sich gar nicht schnell genug von Schröders Erbe trennen Von Tina Hildebrandt eine Veranstaltung mit Erfolg und Ausstrahlungskraft über die Bewohner des eigenen Apparats hinaus war. Vor Schröder war Lafontaine und davor Rudolf Scharping, der Pfälzer, der wie sein Nachfolger Beck im eigenen Land erfolgreich war, der als volksnah galt. Jener Scharping, den die Partei in einer Urabstimmung zum SPD-Chef auserkoren hatte, weil er unverdächtig war, so abzuheben wie Schröder, den die Mehrheit der Deutschen aber nicht zum Chef wählen wollte.

eck to the roots: Der Vorsitzende der SPD kommt wieder aus dem alten Westen, er heißt Kurt Beck. Innovation heißt wieder Erneuerung, und Erneuerung bedeutet auf Sozialdemokratisch: Wenn man das Alte lange genug nicht gesehen hat, wirkt es fast wie neu. Mit Becks Wahl zum SPD-Parteivorsitzenden endet nicht nur die fünfmonatige Amtszeit des Interims-Hoffnungsträgers Matthias Platzeck, sondern endgültig auch das Projekt einer neuen Mitte, eines Dritten Weges. Vor allem aber endet die Ära Schröder, die in der Partei zunehmend als etwas peinliche Episode, jedenfalls aber als peinigendes und verunglücktes Experiment betrachtet wird. Ohne den Exkanzler oder seine Agenda 2010 zu nennen, vollzog Beck mit seiner Antrittsrede eine Abkehr von der Regierungszeit Schröders, in der SPD auch schamhaft »die sieben Jahre« genannt. Staatliche Deregulierung, Steuersenkungen, das Abrücken von der Verteilungsgerechtigkeit – alles ein Irrtum. Die Herausforderung der Zukunft – nicht Globalisierung, Überalterung oder Arbeitslosigkeit, sondern: das Mitnehmen der Parteibasis, die sich unter Schröder und Müntefering »ins sprachlose Abseits« gedrängt gesehen habe.

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Foto: Katharina Hesse für DIE ZEIT

Was an den sieben rot-grünen Jahren war schlecht, was gut? Dieser Frage wich die SPD nach der Wahl aus, wie auch die Union sich vor einer echten Debatte über die Gründe ihrer Stimmverluste drückte. Unter der Hand setzte sich folgende Lesart durch: Die SPD verlor, weil sie zu viel reformiert hatte; die CDU, weil sie zu viel reformieren wollte. Schröder war es, der einer Revision seiner Politik die Tür öffnete, indem er Wahlkampf gegen sich selbst machte. Danach setzte sich Franz Müntefering zum Ziel, einen Rückfall hinter die eigene Regierungszeit zu verhindern. Nun kassiert Beck, was sich an Politik mit Schröders Namen verbunden hatte. Er tut das ohne Kampfansage, einfach durch Nichtfortsetzung, es ist eine Revision durch Unterlassung. Nur als Neinsager zum Irak-Krieg taucht der Altkanzler noch auf, während die Welt in Becks Reden zum großen Ortsverein wird. Mit Beck kehrt die SPD zur althergebrachten Rationalität der Politik zurück: Erfolgreich ist, wer Wahlen gewinnt. Richtig ist, was Mehrheiten sichert. Zumutbar ist, was die eigene Partei mitmacht. Wobei eine Retraditionalisierung der SPD nicht per se schlecht sein muss. Es ist ja wahr, dass die Partei unter Schröder dramatisch an Zustimmung, Mitgliedern und Ministerpräsidenten verloren hat. Es ist wahr, dass eine Reform nicht schon dann gut ist, wenn sie der SPD wehtut. Und es ist auch wahr, dass Schröder und sein Wirtschaftsminister Clement die eigene Partei sprachlos gemacht haben, indem sie diese ihres traditionellen Vokabulars beraubt haben, ohne das Neue auf andere Begriffe als Alg II oder Hartz IV zu bringen. Allerdings scheinen einige in der SPD nun zu vergessen, dass die Partei vor Schröder mitnichten

Die Frage ist,an welche Tradition Beck anknüpfen will: An die der Funktionärs-SPD der achtziger Jahre, die Verteilungsgerechtigkeit sagte und Besitzstandswahrung meinte und dabei zunehmend konservativ-selbstgenügsame Züge annahm? Oder an die einer SPD, die sich als progressive Kraft verstanden hat und als die Partei, die Leistung anstelle des Privilegs setzen wollte. Mag sein, dass Beck das so meint, gesagt hat er es bislang nicht. Beim einzigen Thema der neuen Regierung, das bisher die Agenda 2010 fortführte, der Rente ab 67 Jahren, schlug sich Beck jedenfalls auf die Seite der Dachdecker und damit auf die eigene Seite, schließlich war er im Wahlkampf. Weil er in Rheinland-Pfalz lange mit der FDP regiert hat, halten manche die von Beck in Gestus und Worten betriebene Rolle rückwärts für geschickte Rhetorik, die der Partei den Schmerz über die Zumutungen des Regierens mit der CDU nehmen soll. Wer Beck länger kennt, beschreibt ihn als eingefleischten Anhänger des Staates, den er im Zweifel für den besten Patron des »kleinen Mannes« hält. Diesen Etatismus hat Beck in Rheinland-Pfalz durch einen bürgerschaftlich-beteiligenden Politikstil ergänzt. In den Neunzigern etwa bot er jeder Gruppe und jedem Verein im

www.kulturrevolution.cn Chinas Internet-Journalisten wie Wang Xiaoshan kämpfen gegen die Partei und für Meinungsfreiheit. Bundeskanzlerin Merkel will die Rebellen nächste Woche in Peking treffen

Land eine Internet-Seite an. So verschaffte Beck sich einen Überblick und zerlegte das Land in übersichtliche Kästchen, die er politisch bewirtschaften konnte. Bildung und Familie baute er zu einem Feld aus, auf dem Politik für den Bürger erlebbar sein sollte. Staat, Bürger, Bildung, geschickt jonglierte Beck mit diesen drei Bällen und prägte so das Bild eines zugleich bodenständigen und modernen Politikers, ohne sich je grundsätzlich zur Rolle des Staates äußern zu müssen – diese Aufgabe nahm ihm die FDP ab. Doch über die Instrumente, die Becks Erfolg in seinem Bundesland ermöglicht haben, verfügt er in seiner Rolle als Parteichef nicht. Die Republik lässt sich nicht in übersichtliche Kästchen einteilen, Kurt Beck wird nicht jedem Bundesbürger die Hand schütteln können, und sein Gegner heißt hier nicht Christoph Böhr, sondern Angela Merkel – und wenn er nicht aufpasst, möglicherweise auch Franz Müntefering. Denn der Vizekanzler verkörpert durch sein exemplarisches Durchleben des Reformprozesses geradezu die mit der Agenda 2010 verbundenen Zumutungen für die SPD. Müntefering habe es jetzt bei Beck mit einem anderen Kaliber zu tun als mit dem weichen Matthias Platzeck, prophezeien einige. Wenn es sich da mal nicht um eine optische Täuschung handelt. Als Müntefering zurücktrat, war es keineswegs so, dass Beck Platzeck den Vortritt ließ, vielmehr hatte dieser zugegriffen, während Beck im Urlaub war. Langjährige Kenner beschreiben Beck als ebenso machtbewusst wie dünnhäutig. Trotzdem könnte es sein, dass der 57-Jährige als last man standing auf der sozialdemokratischen Landesbühne lange Vorsitzender der SPD bleibt. In seiner Generation hat er nicht mehr viele Konkurrenten, und die 45-Jährigen können warten, zumal die Wahl 2009 aus heutiger Sicht nicht gerade als aussichtsreiche Runde für die SPD gilt. Der Union könnte Beck mit seinem Retro-Kurs ziemlichen Ärger bereiten. Bisher hat sich in der Großen Koalition die Union auf Kosten der SPD saniert – aber zugleich an Profil verloren. Die CDU erreicht, wie das anschwellende Gegrummel unter den Ministerpräsidenten zeigt, langsam die Grenzen der Anpassungsfähigkeit. So wenig Zumutungen per se ein Gradmesser für die Qualität von Reformen sind, so wenig ist es der Verzicht auf jede Zumutung, vor allem, wenn Parteien darauf verzichten, sich selbst etwas zuzumuten. Anstatt ihre Schwächen auszugleichen, sind SPD und CDU in der Großen Koalition dazu übergegangen, ihre Opportunismen zu addieren: Gibst du der Ehefrau, die freiwillig keinen Job hat, eine Lohnersatzleistung, dann bekommst du von mir einen Aufschlag aufs Arbeitslosengeld. Das hat auch Tradition, aber es ist keine gute Tradition, sondern eine schlechte Angewohnheit.

Georg Blume Dossier S. 15–18

Nr. 21 DIE ZEIT

Audio a www.zeit.de/audio

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Stets zu Diensten Der BND hat sich Unerhörtes geleistet, aber er fand in den Medien leider auch willige Helfer Von Martin Klingst eulich in Pullach, so ungefähr dürfte es gewesen sein: Der Bundesnachrichtendienst (BND) ärgert sich über einen Zeitungsartikel, der über eine geheime Operation im Nahen Osten berichtet, und will wissen, wer in der Behörde mit dem Journalisten geplaudert hat. Ein BND-Mann trifft einen ihm bekannten Kollegen des Journalisten und bittet ihn, den Redakteur doch einmal auszuhorchen und dessen Leben auszuforschen. Diese Gefälligkeit solle nicht zu seinem Schaden sein. So wäscht eine Hand die andere. Mal geht ein geheimes Dossier über den Tisch, mal ein dickes Geldkuvert. Niederträchtige Geschichten wie diese, dachten wir bislang, schrieb nur die Stasi. Doch jetzt steckt auch der BND an seinem 50. Geburtstag inmitten solch einer Affäre. Anscheinend ist jeder Geheimdienst dafür anfällig, selbst ein kontrollierter und der Demokratie verpflichteter. Das Ausmaß und die Auswirkung des Skandals sind noch nicht zu ermessen – weder für den BND und seine einstigen wie gegenwärtigen Vorgesetzten noch für die Medien. Vor vierzig Jahren hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Spiegel-Affäre den Kern der Pressefreiheit so definiert: Eine »freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates«. Pressefreiheit setzt also zweierlei voraus: dass der Staat nicht die Medien lenkt und sich niemand in den Medien vom Staat lenken lässt. Wer in diesem Licht den BND-Skandal betrachtet, muss feststellen: Er gefährdet die Pressefreiheit doppelt – von außen durch den skrupellosen Nachrichtendienst und von innen durch ebenso gewissenlose Journalisten. Kurzum, wer zu Recht den BND ins Visier nimmt, darf verantwortungslose Medienleute nicht verschonen.

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Fest steht bislang: Um seine Geheimnisse zu schützen – ein an sich berechtigtes Anliegen –, hat der BND zwischen 1994 und 2005 zahlreiche Journalisten, die über ihn berichtet haben, bis in ihr Privatleben hinein ausspionieren lassen – nicht nur einmal, sondern immer wieder und ganz gezielt. Die Journalisten wurden allem Anschein nach mit Wissen hoher Vorgesetzter bespitzelt, vielleicht sogar auf deren Anordnung oder zumindest mit deren Duldung. Das muss Konsequenzen haben. Wen, wenn

Was aber die Mittäter aus den Medien angeht: Zumindest einer soll für das Ausspionieren von Journalisten bezahlt worden sein. Fast schlimmer aber noch handelten jene, die

Die nächste Ausgabe der ZEIT erscheint wegen des Feiertags Christi Himmelfahrt bereits am Mittwoch, dem 24. Mai 2006

nichts Unrechtes dabei fanden, den BND mit ihrem Wissen über Kontakte, Recherchen und private Vorlieben von Kollegen zu speisen. Für sie war es ein Gegengeschäft, vielleicht das Dankeschön für geheimes Material, das ihnen der BND seinerseits für einen Artikel geliefert hat. Meinen doch manche, dass erst eine als »vertraulich« gekennzeichnete BND-Akte ihre Story zur wirklichen Enthüllungsgeschichte macht. Und manches Medium zahlt seinen Leuten dafür sogar eine Prämie. Hier offenbart sich ein wirkliches Problem – und die Kriminalromane sind voll davon: Geheimdienstler und nach Geheimem suchende Journalisten ziehen einander oft magisch an. Natürlich lebt auch die Demokratie davon und nützt es ihr, wenn Staatsunrecht verraten wird. Doch manches Mal entsteht Kumpanei, wo Distanz und Misstrauen herrschen sollten. Keine Zeitung, kein Magazin, kein Radio, kein TV-Sender ist davor gefeit. Das Do-ut-des-Geschäft hat seinen Preis, und es ist schwer, sich dessen Verlockungen immer zu entziehen. Am Ende braucht also nicht nur der BND neue Regeln. Richtlinien – aber besser noch die eigene Berufsehre – könnten auch Journalisten davor bewahren, sich mit den Geheimen gemein zu machen. Siehe auch Politik, Seite 7 Audio a www.zeit.de/audio

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nicht die beiden damaligen BND-Chefs, sollte man hierfür zur Verantwortung ziehen? Der eine, Hansjörg Geiger, ist schon pensioniert. Der andere aber, August Hanning, arbeitet heute als Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Ironie der Geschichte: Beide traten ihr Amt als Aufklärer an und haben tatsächlich ein wenig Licht in den Geheimdienst gebracht.

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Krach der Riesen Was soll der Europäer davon halten, wenn sich Quasi-Imperien gegenseitig »Imperialismus« vorwerfen? Es ist zwar nur ein schwacher Abklatsch von Kuba-Krise und Checkpoint Charlie, aber nach Kaltem Krieg klingt es schon, was Amerikaner und Russen sich da an den Kopf werfen. US-Präsident George W. Bush und sein Vize Richard Cheney halten Russland vor, mit Energielieferungen kleinere Staaten zu erpressen. Auf der anderen Seite redet der russische Präsident Wladimir Putin von Wölfen in Washington und sein außenpolitischer Knappe Michail Margelow gar von KZ-Wächtern. Sehnsucht nach dem simplen Schema der Welt vor 1989? Für die Flucht nach hinten fehlen heute ein paar Voraussetzungen. Der ideologische Gegensatz ist dahin, die militärische Stärke der Russen auch. Aber die geopolitische Rivalität in Europa und Asien ist geblieben. Soll die zwitterhafte Ukraine Teil des Westens oder Teil von Moskaus Orbit sein? Ist der Südkaukasus eine eigenständige Weltgegend oder doch wie seit ehedem Russlands Gemüsegarten? Führen alle Pipelines aus Zentralasien durch das moskowitische Gasprom-Reich oder einige auch an ihm vorbei? Über diesem Streit verwischt die gemeinsame Antiterrorfront von Russen und Amerikanern. Auch bei Iran trauen sich die beiden Sicherheitsratsmächte nicht mehr recht über den Weg. Wo sollen die Europäer stehen beim Streit der »Imperien«? Notgedrungen natürlich da, wo sie sich geografisch ohnehin befinden, in der Mitte. Aber beim zweiten Blick sollte auffallen, dass manche kritische Frage der USA an Russland so abwegig nicht ist. Michael Thumann

Der »Fall« HA Die Affäre um die niederländische Autorin und liberale Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali ist eine persönliche Tragödie und politische Farce zugleich. Bei ihrer seinerzeitigen Aufnahme als somalische Asylbewerberin habe sie, so »enthüllte« eine TV-Dokumentation, unwahre Angaben gemacht – was sie selbst freilich oft schon erzählt hat. Vor allem habe sie eine drohende Zwangsverheiratung erfunden – was sie bestreitet. Wie auch immer, nun wird die Autorin eines internationalen islamkritischen Bestsellers ausgebürgert. Ihre enge persönliche Freundin und Bundesgenossin vom rechten Flügel der liberalen Regierungspartei VVD, Immigrationsministerin Rita Verdonk, ließ Hirsi Ali Anfang der Woche per Brief wissen, sie sei ab sofort keine Niederländerin mehr. Bisher ein Star, jetzt staatenlos. Dabei hat die dunkelhäutige Einwanderin mit ihrer Kritik am Islam der radikalen AntiEinwandererpolitik der Ministerin vortrefflich ins Konzept gepasst. Jetzt aber schnitzt Frau Verdonk, die sich um eine führende Position in ihrer Partei bewirbt, an ihrem Profil als Erbin des Populisten Fortuyn. Der »Fall« Hirsi Ali kam ihr da gerade recht. Seht her, ich kenne keine Ausnahmen! Verdonks Schamlosigkeit passt zu dem unfassbaren Urteil eines Haager Richters, der einer Klage von Hirsi Alis Nachbarn stattgab, die sich durch die seit der Ermordung Theo van Goghs verschärften Sicherheitsvorkehrungen für die Politikerin beschwert fühlten: Sie müsse ausund wegziehen. Werner. A. Perger

Gerede Oh, wie sie nervt, diese deutsche Leidenschaft, Probleme nicht zu lösen, sondern zu zerreden. Das Problem: Die Einwandererkinder, besonders jene türkischer Herkunft, können viel schlechter lesen und rechnen als der deutsche Nachwuchs. Wenig ruhmreich führt die Bundesrepublik die Weltliga der Ungleichheit an. Bekannt ist das seit 2001, da wurde die erste Pisa-Studie veröffentlicht. Eine Sonderauswertung der Studie brachte es dieser Tage noch einmal auf den Tisch (siehe Seite 90). Und die Reaktionen? Multikulti sei schuld daran, hört man aus der CSU. Den Einwanderern müsse mehr Wille zur Integration abverlangt werden. Nein, das selektive Schulsystem sei schuld, schallt es aus der SPD. »Wenn der Deutsche hinfällt«, das wusste schon Tucholsky, »steht er nicht auf, sondern sieht sich um, wer ihm schadenersatzpflichtig ist.« Folgenloses Gerede hat Tradition: So stritt man hierzulande jahrzehntelang über das Für und Wider der Sprachförderung. Es floss viel Geld in den Unterricht – ohne Konzept und ohne Kontrolle. Bis heute gibt es – kaum zu glauben – keine brauchbare Studie über seine Wirksamkeit. Klar definierte Ziele und Standards bei den Sprachförderprogrammen sind hingegen das Erfolgsrezept etwa von Schweden, das mit einer ähnlichen Einwandererstruktur zu besseren Leistungen kommt. Weniger Rhetorik, stattdessen deutliche Ziele und Ergebniskontrolle – so nüchtern muss handeln, wer die Einwandererkinder wirklich fördern will. Thomas Kerstan

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18. Mai 2006

orbert Röttgen hat am Kinn ein Grübchen, eher eine Grube. Gott sei Dank, ein kleiner Makel, bei aller Perfektion: Er ist jung, schlank, intelligent, gebildet, telegen, intellektuell, eloquent, Schwiegersohn-Typ, effizient, familiär, humorvoll, höflich, verbindlich. Und so weiter. Klar, dass so einer, nebenbei, auch seinen Wahlkreis gewinnt, immer wieder. Alles in allem scheint er wie eigens für die moderne Politik geklont, nur dabei auch noch authentisch. Darum gilt Norbert Röttgen als eines der wenigen großen politischen Talente seiner Generation. Vielmehr: galt. Doch dazu später. Röttgen hat noch eine andere kleine Schwäche, eine, die selten zum Vorschein kommt. An jenem Sonntagabend im Dezember des Jahres 2004 jedoch zeigte sie sich recht deutlich. Die CDU richtete ein Fest aus für den Düsseldorfer Parteitag, aber keiner feierte so richtig. Die Regierung Schröder schien, man kann es sich heute kaum mehr vorstellen, durch zu sein mit ihrer Agenda, politisch über den Berg, die Union hingegen fühlte sich wieder einmal ganz fern der Macht. Auch der reformradikale Zauber des vorangegangenen Parteitags in Leipzig war verflogen. Die Stimmung war nicht gut unter den Christdemokraten, aber besonders mies gelaunt war Norbert Röttgen. Der stand, nein, lümmelte, an einer Wand und schimpfte geschliffene Tiraden gegen die Politik in sein Rotweinglas. Er kann das gut, auch beim Sarkasmus verliert Röttgen nichts von seiner Eloquenz. Solche Ausbrüche kommen bei Politikern gelegentlich vor. Gewöhnlich bedeuten sie nicht viel, meist entspringt die große Systemkritik an der Politik dann einem ganz persönlichen großen Frust. Diese Interpretation lag auch bei Norbert Röttgen nahe. Denn zu der Zeit war er gerade einmal rechtspolitischer Sprecher einer Oppositionspartei, nicht viel, gemessen an seinen Fähigkeiten. Röttgen stand am Rande der Macht, am Rande der Partei – und an der Schwelle zur Resignation.

Intelligent, effizient, telegen: Der Merkel-Vertraute Norbert Röttgen, 40, stand vor einer großen politischen Karriere. Nun wechselt er zum BDI.Warum nur? Von Bernd Ulrich

Niemand konnte und wollte ihn stoppen. Nun tut er es selbst Doch schon wenige Wochen nach diesem traurigen Parteitag wendete sich das Blatt für die Union – und für Norbert Röttgen. Die rot-grüne Regierung schlitterte in ihre größte und letzte Krise. Der Wahlkampf und die Neuwahl katapultierten den 40-Jährigen ins Zentrum der Macht. Er avancierte zum Vertrauten von Angela Merkel, wurde Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und zählte zu der kleinen Gruppe, die Angela Merkels Wahlprogramm schrieb. Das war die Zeit, als er insgeheim schon als künftiger Kanzleramtschef gehandelt wurde. Dass die Kanzlerin sich dann doch nicht für ihr Nachwuchstalent entschied, gab ihm einen kleinen Stich, mehr nicht. Röttgen blieb, was er war, und konnte auch in dieser Funktion neben und an Fraktionschef Volker Kauder vorbei vieles tun und tut es noch. Regieren zum Beispiel. Er hat am Koalitionsvertrag mitgearbeitet, die Föderalismusreform vorangetrieben oder das Gesetz zum Bürokratieabbau inspiriert. Und gemessen an seiner Stellung im Parlamentsbetrieb, hat er sich in kurzer Zeit größten Einfluss und öffentliche Resonanz verschafft. Röttgen hat einen kurzen, steilen Aufstieg hinter sich. Dass weitere Stufen garantiert waren, gehörte zu den Gewissheiten im Berliner Betrieb. Niemand konnte und wollte diesen Mann stoppen. Nun tut er es selbst. Nach nur sechs Monaten des Mitregierens gab Röttgen seinen Wechsel zum BDI, einem einflussreichen Interessenverband der deutschen Industrie, bekannt. Ein vergleichbarer Vorgang ist nicht erinnerlich: Dass jemand ging, der das Regieren unter Schröder nicht aushielt, kam schon vor. Dass sich einer aus gesundheitlichen Gründen zurückzieht, hat kürzlich erst die SPD erschüttert. Dass jemand in die Wirtschaft flieht, weil er in der Politik nichts mehr werden kann, das konnte Röttgen vor kurzem am Fall Friedrich Merz erleben. Aber dass einer, der gesund ist, dem alles offen steht und der beste Kontakte zur Kanzlerin hat, aus freien Stücken geht, das ist mehr als ungewöhnlich. Fast erschütternd. Röttgens Rückzug ist – de facto – das härteste Urteil, das bisher über Angela Merkel, die Unionsfraktion, die Große Koalition, ja die politische Klasse insgesamt gefällt wurde. Und das glaubwürdigste, weil Röttgen nicht spricht, sondern eine für ihn existenzielle Entscheidung trifft, eine, die nicht mehr, wie beim Düsseldorfer Parteiabend, aus politischer Randständigkeit oder aus Kränkung kommt, sondern aus eigener Anschauung, aus nächster Nähe zur Macht. Oder dem, was man gemeinhin dafür hält und dessen Begrenztheit er offenbar allzu drastisch erfahren hat. Da seine Entscheidung das harte Urteil spricht, müssen es seine Worte nicht mehr. Am Tag nach der Bekanntgabe seines Abschieds aus der Politik sitzt der Flüchtling angespannt, aber offenbar unerschütterlich in seinem Büro. Es sieht noch nicht richtig eingerichtet aus, bald wird es leer geräumt werden, für einen oder eine mit weniger Begabungen. Das sagt nicht er, aber das wird so sein. Versuchen wir Röttgens Entscheidung zu erklären. Seine eigene Begründung trägt natür-

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Norbert Röttgen 1965 geboren in Meckenheim 1982 Eintritt in die CDU 1984 bis 1989 Jurastudium in Bonn 1992 bis 1996 Landesvorsitzender der Jungen Union in Nordrhein-Westfalen 1993 Zulassung als Rechtsanwalt seit 1994 Bundestagsabgeordneter seit Januar 2005 Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag

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" WORTE DER WOCHE

Ein flüchtiges Talent N

Foto [M]: Werner Schuering

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lich nicht. Allein die Attraktivität seines neuen Betätigungsfeldes kann schwerlich erklären, warum so einer nach nur sechs Monaten geht. Es muss auch Gründe geben, die im politischen Betrieb liegen. Man spürt, dass da einer den Glauben verloren hat, das politische System könne allein von innen heraus seine Denk- und Gestaltungsschwäche überwinden. Mit wem soll man unter diesen Bedingungen politische Ideen durchsetzen? Ist nicht auch die Kanzlerin zwangsläufig eine Situationspolitikerin, ähnlich wie Helmut Kohl? Was wird sie erreichen können als Chefin einer Großen Koalition? Mit dieser SPD? Man denke nur an den ideenlosen Parteitag vom letzten Sonntag. Und auch die CDU/CSU-Fraktion brennt vielleicht nicht gerade auf allzu viele Neuerungen. Aber gab es nicht die Agenda 2010 oder den Leipziger Parteitag? Ist nicht da die Politik aus ihrem Trott ausgebrochen und zu großer Form aufgelaufen? Er winkt ab. Schröders unangekündigte Agenda habe ungeheuer viel demokratisches Vertrauen aufgebraucht und dabei operativ zu wenig gebracht.

»Wir müssen ziemlich schmerzhafte Entscheidungen treffen miteinander. Und dann noch mit einem Koalitionspartner, der nun als nicht immer besonders veränderungsfreudig bekannt geworden ist.« Angela Merkel, Bundeskanzlerin (CDU), über die Arbeit der Großen Koalition

»Wer den Fuß auf der Bremse hat, sollte nicht auf den Motor schimpfen, wenn es zu langsam geht.« Kurt Beck, neuer SPD-Vorsitzender, zu Merkels Kritik am Reformwillen seiner Partei

»Zeit wird’s, Bürger, aufstehen.« Guido Westerwelle, FDP-Vorsitzender, über die Steuerpolitik der Bundesregierung

»Die langen Nächte in der Dunkelkammer des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat werden künftig die Ausnahme und nicht mehr die Regel sein.« Olaf Scholz, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag, über die Auswirkungen der geplanten Föderalismusreform

»Der Glaube, dass ausschließlich übermotivierte BND-Mitarbeiter ohne Wissen der Hausführung über einen längeren Zeitraum hinweg tätig waren, dieser Glaube fehlt mir.« Wolfgang Bosbach, Unions-Vizefraktionschef, über die Bespitzelung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst

Es ist, als würde Michael Ballack jetzt lieber Handball spielen

»Will mir jemand erzählen, dass zig Millionen Amerikaner etwas mit al-Qaida zu tun haben?«

Der Blick aus seinem Büro im 5. Stock des Jakob-Kaiser-Hauses ist fantastisch. Man sieht die Spree, den Reichstag, den strahlend blauen Himmel und die Weite. Doch wenn Röttgen von den Zwängen des Systems redet, von den beschränkten Perspektiven des Parteienstreits, dann hat man den Eindruck, das hier sei zeitweilig ein Luxus-Gefängnis. Jedenfalls will er hier raus. Ausgerechnet er. Zu seinem regelmäßigen Hintergrundkreis am Beginn der Parlamentswoche kommen regelmäßig 70 Journalisten, auch heute wieder. Das ist sehr viel für einen parlamentarischen Geschäftsführer. Sie kommen, weil sie hier nicht nur Informationen bekommen, sondern intelligente, unterhaltsam präsentierte Einsichten zum aktuellen Geschehen. Sie kommen auch wegen einer anschwellenden Verzweiflung über das politische Personal in Berlin. Viele wie ihn gibt es eben nicht mehr. Für die Hauptstadtjournalisten ist dies deshalb eine harte Woche, ein bitteres Bonmot kursiert: Beck kommt, Röttgen geht, Engelen-Kefer bleibt. Berührt ihn das nicht? Einzelne Personen könnten in der Politik nicht mehr viel ausrichten, entgegnet Röttgen darauf. Auch er nicht. Es müssten von außen neue Ideen einfließen. An dieser Stelle kommt dann der argumentative Salto mortale seiner Entscheidung, der Skeptizismus gegenüber der Politik verwandelt sich in einen beinahe überschäumenden Idealismus gegenüber dem: BDI. BDI? Ist das nicht jener Lobbyverband, der lange Zeit öffentlich einen so penetrant neoliberalen Tonfall pflegte, dass die Veränderungen, für die auch Röttgen sich einsetzt, eher erschwert als befördert wurden? Haben nicht Hans-Olaf Henkel, der frühere BDI-Präsident, und seine Nachfolger oft über das Volk hinweggeredet? Sehr vehement widerspricht der künftige Geschäftsführer hier nicht. Doch denkt Röttgen, er könne einiges dafür tun, die Kommunikation zwischen Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit zu verbessern. Mehr noch. Vom BDI aus sollen der Politik neue Ideen zufließen, neue Horizonte sich öffnen. Das ist seine Perspektive. So eine Art Apo de luxe. Etwas merkwürdig ist das schon. Immer wieder wechseln Politiker in die Wirtschaft. Schröder, Müller, Merz, Göhner und so weiter – braucht es da noch einen Röttgen, einen Mann, der für die Politik einen fast idealen Talente-Mix aufweist? Es ist ein wenig so, als hätte Michael Ballack vor einiger Zeit beschlossen, lieber Handball zu spielen. Weil dem deutschen Fußball von innen heraus nicht mehr zu helfen sei und weil es viel mehr Austausch geben müsse zwischen Handball und Fußball. Natürlich hat Röttgens Wechsel auch eine subjektive Komponente, das streitet er gar nicht ab. Endlich kann er seine Familie nach Berlin holen, endlich muss er nicht mehr zwischen seinem Wahlkreis in Rhein-Sieg und der Hauptstadt pendeln. Aber wenn man von der Kanzlerin gesagt bekommt: Es ist ein Schaden, wenn du gehst? Röttgen hat erste Ansätze von Burnout an sich festgestellt. Und er möchte nicht so werden wie eines seiner großen politischen Vorbilder. Der sei nach allzu vielen Jahren als Überflieger in einem immer mittelmäßigeren politischen Betrieb heute unterfordert, wirkt oft angewidert, mitunter ausgebrannt. Da flieht einer auch vor seiner Schwäche, vor der Gefahr, zynisch zu werden. Ohnehin wirkt Röttgens aufwändig begründeter Abschied nicht einfach nur wie Desertion. Wenn man seinen Argumenten folgt, dann ist es eine Flucht aus der Verantwortung – aus Verantwortung. Man kann ihm glauben, dass er das glaubt, aber kaum, dass es realistisch ist. Nur, wer wollte darüber richten? Schließlich tut er nur vor aller Augen, was in den letzten Jahren Tausende in aller Stille getan haben, sich gegen die Politik und für andere Karrieren entscheiden. Deswegen wirkt die politische Klasse so ausgezehrt. Ende dieses Jahres, wenn Röttgen geht, wird sie noch etwas dürftiger sein. Dafür wird der BDI alsbald zu einer Quelle der Erneuerung und Inspiration. Bestimmt.

Patrick Leahy, amerikanischer Senator, über die breit angelegte Telefonüberwachung durch den Geheimdienst

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»Wir unternehmen diese Schritte, um Libyens Verpflichtung anzuerkennen, auf Terrorismus zu verzichten und nach dem 11. September 2001 exzellent zu kooperieren.« Condoleezza Rice, US-Außenministerin, zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern

»Egal, wie stark die Gründe einer Festnahme sind: Es gibt kein Recht, den Aufenthaltsort einer Person zu verheimlichen oder zu bestreiten, dass sie festgehalten wird.« Jakob Kellenberger, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, über den verwehrten Zugang zu Gefangenen der US-Regierung

»Wir dürfen uns nicht mit feurigen Reden und Slogans zufrieden geben, die uns in die internationale Isolation führen.« Mahmud Abbas, palästinensischer Präsident, zur Politik der Hamas-Regierung

»Wenn dieser österreichische Sänger nicht so viel Kokain verbrauchen würde, hätten wir in Bolivien weniger Probleme.« Evo Morales, bolivianischer Präsident, über den mit Kokain erwischten Sänger und Showmaster Rainhard Fendrich

»Das ist für mich eine große Ehre und ein riesiger Ansporn.« David Odonkor, Mittelfeldspieler bei Borussia Dortmund, über seine überraschende Nominierung für den deutschen WM-Kader

»Auf der Bank ist es doch am schönsten.« Oliver Kahn, Nummer zwei im deutschen Fußballtor, in einem Werbespot auf einer Bank im Biergarten

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Ausgezeichnet Mehrere Redakteurinnen und Redakteure der ZEIT sind mit Preisen ausgezeichnet worden. Den Henri-Nannen-Preis für die beste Reportage (Egon-Erwin-Kisch-Preis) gewann Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill für sein Dossier über Sterbehilfe am Beispiel seines Bruders: »Ich will nur fröhliche Musik« (ZEIT Nr. 50/05). Den NannenPreis in der Kategorie Dokumentation erhielten Henning Sußebach, Redakteur im Ressort Leben, und Reporter Stefan Willeke für ihren Artikel Operation Lohndrücken (ZEIT 11/05). Darin schildern sie, warum die ganze Welt gebraucht wird, um einen deutschen Rasierapparat zu bauen – ein Lehrstück über die Globalisierung. Der Nannen-Preis wird vom Verlag Gruner + Jahr und dem stern verliehen. Den diesjährigen Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Allgemeines erhält Marc Brost, stellvertretender Leiter des Ressorts Wirtschaft, für seinen Beitrag Mensch, Ackermann (ZEIT 52/05), ein Porträt über den Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann. Den Preis vergibt der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. Beim Journalistinnenpreis der Zeitschrift Emma gewann Heike Faller, Redakteurin im Ressort Leben, den ersten Preis mit ihrem Artikel Haben wir die Emanzipation verspielt? (ZEIT 17/06). Tina Hildebrandt, Redakteurin im Hauptstadtbüro, wurde für ihr Porträt über die SPD-Politikerin Ute Vogt, Kein Mann, kein Kind, kein Hund (ZEIT 15/06) mit dem zweiten Preis geehrt. Im Zeitungsdesign-Wettbewerb European Newspaper Award gewann die ZEIT in der Kategorie Wochenzeitung den Titel Europe’s Best Designed Newspaper. Die Jury lobte die »plakative Gestaltung der Titelseite, bei der das Thema der Woche immer sehr gut visualisiert wird« sowie »ungewöhnliche Ideen zur Illustration«. An dem Wettbewerb beteiligten sich 306 Zeitungen aus 26 Ländern. DZ

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Fotos: Tobias Gerber/Bilderberg; Alessandra Benedetti/Corbis;Reporter/Eastway (v. o. n. u.)

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Pilger werfen sich im Wallfahrtsort Tschenstochau zu Boden

Der polnische Kreuzzug Warschau s war ein katholisches Wochenblatt, das die Attacke führte: »Wenn diese Leute das Land aufkaufen«, so Sprawa Katolicka, »dann werden die Polen, Herren des Landes von alters her, eines Tages heimatlos zwischen Fremden wandern.« Eine Warnung vor deutschen Rückkehrern, vor den vermeintlichen Plänen Berlins, Polen mit dem Instrument der EU nun wirtschaftlich zu besetzen? Inspiriert von Jaros¬aw und Lech Kaczyºski, die in Warschau regieren, um Vaterland und Christenheit um jeden Preis zu retten? Was so frisch, fromm und vertraut klingt, ist schon über siebzig Jahre alt. Nicht auf die Deutschen zielte das Zitat, sondern auf die Juden. Die Kirchenzeitungen in Polens nordöstlicher Region ÷omza malten in den dreißiger Jahren Woche für Woche die Bedrohung der christlichen Nation an die Wand: »Jeder jüdische Hof ist ein Splitter im lebenden Fleisch der polnischen Bauern.« Als die Deutschen nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 in diesen traditionell nationalkatholischen Raum einmarschierten, halfen ihnen die Bewohner vieler ländlicher Flecken, die Juden zusammenzutreiben. Im Ort Jedwabne verbrannten Polen ihre jüdischen Mitbürger ohne Befehlsnotstand in einer Scheune. Besonders taten sich dabei drei Brüder namens Laudanski hervor. Jerzy Laudanski, einer der jüngsten und grausamsten Mörder von Jedwabne, wurde 1949 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Heute können die regierenden Brüder Kaczyºski, die selbst keine Antisemiten sind, aber die Angst vor allen Fremden säen, um Anhänger zu sammeln, auf Jedwabne und Umgebung zählen. Ihre Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat dort bei den Parlamentswahlen im September 91 Prozent der Stimmen erhalten – im ganzen Lande hingegen nur 27 Prozent. Da die Wahlbeteiligung mit 40 Prozent erschreckend gering war, stimmten überhaupt nur 10,54 Prozent der 31 Millionen wahlberechtigten Polen für die Partei der Zwillinge. Doch nachdem Lech Kaczyºski im Oktober auch noch die Präsidentenwahlen gewann, strebt das Duo einen nationalkatholischen Obrigkeitsstaat an, als hätte es einen einsamen, haushohen Sieg eingefahren. Wenn die Brüder ihr Ziel erreichten, würde Polen zu einem paternalistischen Staat ohne Beispiel in der EU mit präsidialer Machtfülle, strenger, regierungsfrommer Justiz, Moralwächtern, Medienkontrolle und vor ausländischem Zugriff geschützten Unternehmen. Für die andere Hälfte Polens, die städtische, marktorientierte, europafreundliche Bürgergesellschaft würde es eng.

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Der Wolf Europa, unter dessen Pelz Liberale und Homosexuelle lauern Wer in die nordöstlichen Wähler-Reservate der patriotischen Brüder kommt, kann schon im Autoradio hören, welche Welten Polen trennen. Die schrillen, sich überschlagenden Werbespots der kommerziellen Sender aus den Großstädten werden schwächer und schwächer. Sonore Stimmen erheben sich salbungsvoll, spenden all jenen Hörern Trost, denen die Konsumtempel und die moderne Welt verschlossen geblieben sind. Sie schüren zugleich die Furcht ihrer Herde vor dem Wolf Europa, unter dessen Schafspelz sie Deutsche und Juden, Kommunisten, Liberale und Homosexuelle lauern sehen. Zwischen Rosenkranzgebeten und frommen Ratschlägen tauchen auch die Stimmen aus dem Jenseits der Geschichte wieder auf. Wie plötzlich im letzten Sommer. Da waren die Laudanski-Brüder auf Sendung, die Todesengel von Jedwabne, jetzt Greise ohne Reue. Sie durften den noch amtierenden Staatspräsidenten Aleksander Kwa™niewski der Ver-

schwörung gegen die Nation bezichtigen, weil er in Jedwabne die Juden um Vergebung gebeten hatte. Das alles bietet der Nation Radio Maryja, »die katholische Stimme in deinem Haus«, der größte religiöse Privatsender in Polen. Um die bigotten Brüder Kaczyºski an die Macht zu bringen, waren dem frommen Hetzsender die Laudanski-Brüder gerade recht. Ohne Radio Maryja hätte Polen heute wohl eine andere Regierung. Der Pate der jetzigen Koalition ist Pater Tadeusz Rydzyk, Gründer und Direktor der Seelsorgestation. Jaros¬aw Kaczyºski, der Vorsitzende der Regierungspartei, hat das erst Anfang Mai wieder bestätigt, als er im Stil von George W. Bush postulierte, nur die »Feinde der Freiheit« könnten sich gegen den Sender stellen. Zu diesen »Feinden« rechnet er offenbar den Vatikan. Der hatte seit Ende vergangenen Jahres mit zwei Weckrufen vor Radio Maryjas Antisemitismus und Einmischung in die Politik gewarnt. Doch zweimal verleugneten nationalkatholische Politiker und konservative Bischöfe ihren römischen Oberhirten. Nun, zu Himmelfahrt, kommt Benedikt XVI. zu seiner ersten Pilgerreise in das Land, aus dem sein Vorgänger stammte. Achtmal hatte Johannes Paul II. seine Heimat besucht, ihr – bildlich gesprochen – über das rote Meer des Sozialismus hinweggeholfen und sie in das demokratische Europa geführt. Den polnischen Katholizismus allerdings konnte auch er nicht aus seiner vor-konziliaristischen Befangenheit befreien. Seit das Land mit Karol Wojty¬a seine einzige Integrationsfigur verloren hat, spaltet der Gegensatz zwischen dynamischer Modernisierung und heilsgeschichtlichen Mythen die Gesellschaft immer krasser. In dieser Lage wird die Reise des deutschen Papstes nach Polen zur größten Herausforderung der bisherigen Amtszeit. Vor dem Besuch wird in der Heimat seines Vorgängers unverblümt von der Spaltung zwischen der weltoffenen Kirche von Krakau und der fundamentalistischen »Kirche von Thorn« (Toruº) gesprochen – womit nicht eigentlich die Stadt an der Weichsel gemeint ist, sondern das von dort sendende Radio Maryja. Dabei war dieser Sender ursprünglich nur ein Zufallsprodukt der Wende von 1989 gewesen. 1991 hatte die katholische Kirche vom Staat das Recht erhalten, in jeder Diözese Ätherfrequenzen kostenlos zu nutzen. Die meisten Bischöfe waren darauf nicht eingestellt. Sie überließen das Präsent einem unbekannten Prediger des Redemptoristenordens, der einst als Seelsorger in der bayerischen Gemeinde Oberstaufen gewirkt hatte. Für Pater Tadeusz Rydzyk war es das Geschenk des Himmels. Er ließ ein Haus im Landsitzstil bauen, umgab es mit alabasterfarbenen Marienstatuen, zog einen Sendemast hoch, dessen rote Signallichter den Flugverkehr warnen, und grenzte das Gelände mit himmelblauen Eisenstäben gegen die Umwelt ab. Priester pflanzten Apfelbäumchen, obwohl sie nun über die mächtige Antenne verkündeten, dass Polen vielleicht schon morgen der Untergang drohe im Sündenpfuhl der westlichen Libertinage. Kardinalprimas Józef Glemp weihte 1993 die neue Satellitenanlage des Senders ein. In seinen Broschüren konnte Radio Maryja mit den Worten Johannes Paul II. werben: »Täglich danke ich Gott, dass in Polen eine solche Station existiert.« Den Hörern im Ausland bot die Station ein Konto auf der Vatikanbank an. Aus ethischer Sicht überzogen die Kreuzzügler von Thorn das Konto in Rom allerdings schon vor Jahren. So belehrten sie ihr Millionenpublikum über das Zweite Vatikanische Konzil: Es sei ein Blendwerk der Freimaurer, mithin des Teufels gewesen. Dabei ist Rydzyk äußerlich alles andere als ein Savonarola, eher ein Genießertyp mit leicht völleri-

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Papst Benedikt XVI. reist in die Heimat seines Vorgängers. Hier sind Kirche und Gesellschaft tief gespalten. Nationalkatholiken und der religiöse Sender Radio Maryja attackieren den Vatikan Von Christian Schmidt-Häuer

schen Zügen, der gut und gerne ins Ausland reist. Derzeit ermittelt gerade die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen der Veruntreuung von Millionen Z¬oty. Wenn er schon einmal einen deutschen Besucher empfängt, führt er ihn auch in seine Privatkapelle. In ihr steht – mit elektronischer Warnanlage gesichert – eine Marienstatue aus Deutschland. Schon ihretwegen, versichert der Funkhausdirektor, könne er nichts gegen die Deutschen haben. Aus seinem Imperium schallt es anders. Zur »Familie« von Radio Maryja, das zehn Prozent der Bevölkerung erreicht, gehören inzwischen auch der TV-Sender Trwam (»Ich halte stand«) und die rechtsextreme Zeitung Nasz Dziennik. Als Kaderschmiede betreibt der umtriebige Pater zusätzlich eine Journalistenschule mit 300 Eleven, die er selbst auswählt. Nach dem Wahlsieg der PiS bedankten sich die neuen Minister vor den Mikrofonen des Senders. Premier Kasimierz Marcinkiewicz verkündete in Rydzyks Studio bereits Teile seines Programms, bevor er es dem Parlament präsentierte. Der reformerische Flügel der polnischen Bischofskonferenz, dem Radio Maryja ein Dorn im Auge ist, erhielt Anfang November vergangenen Jahres Unterstützung vom Vatikan. Benedikt empfing eine Delegation des Episkopats und mahnte an, dass auch katholische Medien die »Autonomie der politischen Sphäre« achten müssten. Doch unbeeindruckt davon, vermittelten konservative Bischöfe und Pater Rydzyk Anfang Februar den Stabilitätspakt im Parlament zwischen Kaczyºskis Partei PiS und zwei extrem populistischen Parteien. Auch die Angriffe auf die Juden gingen weiter. Ende März richtete der päpstliche Nuntius Erzbischof Kowalczyk die »ernste Warnung und Einladung« des Vatikans an die Bischofskonferenz und den Redemptoristenorden, sich endlich mit entschiedenen Schritten gegen die Zumutungen zu wehren.

Der katholische Sender bedient die ländlichen Verlierer seelsorgerisch

Papst Benedikt XVI. in Rom

Der Macher von Radio Maryja: Priester Tadeusz Rydzyk

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Wieder reagierten die Häretiker von Thorn schneller. Am 11. April, sechs Wochen vor dem Papstbesuch, griffen sie Benedikt XVI. direkt an und unterstellten, dass die nationale Herkunft des Heiligen Vaters seine Amtsführung beeinträchtige. Der Religionsphilosoph Bogus¬aw Wolniewicz, Mitglied des Ethikrates von Radio Maryja, wendete sich in Nasz Dziennik an die »Familie« und äußerte den Verdacht, »dass diejenigen, die euch bedrängen, ausnutzen, dass Benedikt ein Deutscher ist … Niemand auf der Welt fürchtet so wie die Deutschen, ein Antisemit genannt zu werden«. Deshalb sei es Benedikt kaum möglich, diejenigen in seiner Umgebung zu bremsen, die den Sender nur attackierten, weil er sich nicht an das ungeschriebene Gesetz halte, dass man über Juden »nur Gutes« verbreiten dürfe. Wie sind Spaltung und Lähmung der Bischofskonferenz, aber auch die frühere, lange währende Geduld Roms mit Rydzyk zu erklären? Zum einen bindet Radio Maryja einige Millionen Gläubige. Seelsorgerisch trifft der Sender wie kein anderer die Gemütslage der ländlichen Verlierer im Staat mit der größten Arbeitslosigkeit innerhalb der EU, die verbittert mit ansehen mussten, wie Brüsseler Beamte und Warschauer Elitenklüngel ihren Lebensraum abwickelten. Zum anderen gewöhnten sich die polnischen Bischöfe in fast drei Jahrzehnten daran, dass ihr Papst Karol Wojty¬a alle Entscheidungen für sie übernahm. Sie folgten damit auch der Tradition, dass in den Zeiten der Aufteilungen und Umbrüche des so oft geprüften Landes der Primas der polnischen Kirche als Interrex agierte. Nicht zufällig ließ Bismarck während des unseligen Kulturkampfes

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den damaligen Kardinalprimas festsetzen. Karol Wojty¬a wurde 1978 mit der Wahl zum Papst zum eigentlichen Landesvater. Sein Triumphzug durch Polen 1979 gab die Impulse für die Gründung der ersten freien Gewerkschaft Solidarno™ƒ, die das Sowjetsystem aushöhlte. Der Papst hielt aber auch den Ökumenischen Dialog aufrecht. Er war es, der Europa mit seinem Hirtenbrief das polnische Jawort gab, nachdem sich der Episkopat vor dem EU-Referendum 2003 auffällig zurückgehalten hatte. Doch der Seelsorger Polens wirkte in der eigenen Kirche nicht als Reformer. Er erlöste den theologisch doktrinären, politisch rechten Nationalkatholizismus nicht aus seiner historischen Befangenheit. »Die Bischöfe, die Johannes Paul bestellt hat, sind keine spirituellen Führer des Landes geworden«, sagt der Soziologe Pawel Spiewak, Parlamentsabgeordneter der Bürgerplattform(PO). Deshalb ist Europas christlichste Nation nach dem Tod Johannes Pauls II. vor einem Jahr politisch und kirchlich führungslos. Schon 2004 bemerkte der Publizist Adam Szostkiewicz prophetisch: »Es graust vor dem Gedanken, was wäre, wenn nicht Karol Wojty¬a die Kirche lenkte.« Das lässt sich jetzt an der politischen Führung in Warschau besichtigen. Es war noch vor dem Wahlsieg der Brüder Kaczyºski, als Polens Abgeordnete ihre Parlamentsfächer eines Tages in eine Art Babyklappe verwandelt sahen. Sie fanden darin vier Wochen alte Embryos aus Plastik. Mit dieser Einlage demonstrierte die rechtsklerikale Liga der polnischen Familien (LPR), angeführt vom 33-jährigen Historiker und Lehrer Roman Giertych, gegen Abtreibungen. Zugleich aber hatte der antideutsche Liga-Chef keine Skrupel, sich auf Demos zu zeigen, bei denen die Mitglieder der von ihm gegründeten Allpolnischen Jugend »Homos ins Gas« skandierten. Seit dem 5. Mai ist dieser Roman Giertych Polens Erziehungsminister und einer der beiden Vizepremiers. Der andere neu ernannte stellvertretende Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister ist mehrfach vorbestraft: Andrzej Lepper, Führer der populistischen Bauernpartei Samoobrona, Ex-Boxer und Ex-Genosse, gelernter Schweinezüchter und charismatischer Rabauke, der seine Anhänger in den neunziger Jahren mit Landfriedensbruch und Prügelorgien gegen die EU revoltieren ließ. Das sind die beiden Koalitionspartner von Jaros¬aw Kaczyºskis Regierungspartei. Alle hehren Ansprüche, Polen durch eine IV. Republik moralisch zu erneuern, von allen Sünden des Kommunismus und der Korruption zu erlösen, sind mit dem 5. Mai über Bord gegangen. Mehrere Minister, darunter der Chef des Außenamtes, verließen das schlingernde Schiff aus Protest. Zum Glück bilden die 39 Millionen Polen zwei Gesellschaften. Nicht nur, dass die Kaczyºskis zwar den ländlichen Osten und Süden, Masowien und die armen Grenzgebiete zur Ukraine, gewannen, die Liberalen aber die Stimmen der städtischen Regionen an der Grenze zu Deutschland, an der Ostsee, in Schlesien, Pommern und Danzig bekamen. Die polnische Gesellschaft ist darüber hinaus schon immer ausgesprochen autonom gewesen, wie Stanis¬awa Golinowska, Ökonomie-Professorin an Krakaus Jagiellonen-Universität betont: »Während die Wahlbeteiligung dramatisch absinkt, engagieren sich die Menschen auf der kommunalen Ebene und in der lokalen Selbstverwaltung immer eifriger.« Und Professor Andrzej Rychard, einer der gesellschaftlichen Vordenker an der Akademie der Wissenschaften, bekräftigt: »Auf den Frontseiten der Zeitungen lesen wir nur über Graben- und Glaubenskämpfe. Dahinter aber beginnt eine andere Welt.« Sie wird dem Papst hoffentlich nicht verborgen bleiben.

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Verwildert, verlottert, verludert

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Viele europäische Staaten haben ein Problem mit ihrer Unterschichtenjugend. Was tun gegen die Verwahrlosung? Von Jürgen Krönig und Werner A. Perger »Feral Kids« nennt die Polizei in Großbritannien Jugendliche, die ohne Kontrolle der Eltern aufwachsen

Illustration: Besiana Bandilli für DIE ZEIT

üde Jugendliche, schwierige Schulen, hohe Gewaltbereitschaft: Nicht nur in Deutschland schlagen sich Lehrer, Sozialarbeiter und Behörden damit herum. Klagen über einen Verfall gemeinsamer Wertvorstellungen und eine Verrohung der Umgangsformen gibt es in allen westeuropäischen Gesellschaften. Und überall versuchen Regierungen – mit vielfältigen Methoden und unterschiedlichem Erfolg – gegenzusteuern, mit aufwändigen Kampagnen und moralischen Appellen, mit schärferen Gesetzen und härterem Durchgreifen (»null Toleranz«). Respektlosigkeit im Umgang, antisoziales Verhalten, Verrohung in der Sprache und eine niedrige Gewaltschwelle im Alltag sind in Großbritannien weit verbreitete Phänomene – und nicht nur

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ethnischer Natur. Zum Beispiel Southend-on-Sea östlich von London. Dort nahmen Pöbeleien und Aggressionen jugendlicher Rabauken derart überhand, dass Bürger zur Selbsthilfe schritten. Linda Martin, eine 56-jährige Hausfrau, gründete zusammen mit anderen Frauen die Mum’s Army, eine Partei, die es sich zum Ziel gesetzt hat, staatliche Maßnahmen gegen die »Seuche antisozialen Verhaltens« durchzusetzen. Linda Martin will der Politik Beine machen, die Regierung soll dafür sorgen, dass der öffentliche Raum auch in den Vororten für ältere Menschen und Frauen wieder sicher wird. Tony Blair hat darauf zwar inzwischen mit einer »Respektkampagne« reagiert. Zu ihr gehören

Ausgangssperren für außer Rand und Band geratene Teenager und so genannte antisocial behaviour orders, also zum Beispiel das Verbot, sich auf bestimmten Straßen oder Plätzen herumzutreiben. Doch den Bürgerinnen von Southend-on-Sea reicht das nicht, denn nach wie vor sind viele Problemviertel für Frauen, Kranke und Alte zu gefährlich: Spätestens nach Einbruch der Dunkelheit sind die Straßen fest in der Hand der feral kids. So nennt die Polizei die außerhalb jeder elterlichen Kontrolle heranwachsenden »verwilderten« Jugendlichen, die ihre Gesichter vor den Überwachungskameras unter ihren hoods (Kapuzen) verbergen und für nichts und niemand Respekt haben. Sie hängen in Gruppen vor Fast-Food-Restaurants herum, betrinken sich, pöbeln Passanten an, schmeißen Stei-

ne auf vorbeifahrende Autos und werden rasch handgreiflich. Die Polizei kriegt sie nicht in den Griff. Entweder findet sie keine Zeugen, oder die Täter sind zu jung, um vor Gericht zu kommen. Ein Teufelskreis, den Linda Martins Mum’s Army durchbrechen möchte. Im Vergleich dazu ist das skandinavische Musterland Schweden eine Oase. Aber nicht ganz. Problemzonen gibt es auch hier, trotz Demokratieunterricht, Konflikttraining und großer Erfolge bei der »Vermittlung sozialer Kompetenz«, von der schwedische Bildungspolitiker berichten. Doch aus Malmö kommen andere Nachrichten. Da geschah soeben Ähnliches wie an der Rütlischule in Berlin-Neukölln: In einem Stadtteil der südschwedischen Industriestadt mit über neunzig Prozent Immigranten und hoher Arbeitslosigkeit kapitulierte eine Grundschule, die HermodsdalSchule, vor der Gewalt, die aus dem umliegenden Ghetto auf den Schulbetrieb übergegriffen hatte. Von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, schloss die Schulleitung den Lehrbetrieb in den drei obersten Schulstufen, also für die 13- bis 15-Jährigen. Das war angesichts der sonst relativ idyllischen Verhältnisse im Königreich ein Eklat. Aber war es ein »Einzelfall«? Immerhin hatte schon ein halbes Jahr vor diesem Ereignis in Malmö eine der bekannteren Politikerinnen Schwedens, Nalin Pekgul, Kurdin, gläubige Muslimin und Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenvereinigung, Schlagzeilen gemacht, als sie mit ihrer Familie demonstrativ aus dem Stockholmer Vorort Tensta wegzog. Dort, in dem ebenfalls von Immigranten geprägten Wohnviertel, befindet sich zwar eine Schule, die offiziellen Gästen aus dem Ausland gerne als Exempel für gelungene staatliche Integrationsbemühungen vorgeführt wird. Doch die Atmosphäre in Tensta ist geprägt von Einflüssen islamisch-fundamentalistischer Gruppen, und die Gewalt im Viertel hat zugenommen. Nach einer Schießerei in der Nähe ihres Hauses beschloss Nalin Pekgul, den Wohnort zu wechseln. Sie wollte ihren achtjährigen Sohn weder islamistischen Einflüsterungen noch den Gefahren der Straße aussetzen. Noch deutlicher sind die Fehlentwicklungen in den Niederlanden. Dort sind die so genannten schwarzen Schulen mit ihren häufig mehr als neunzig Prozent Einwandererkindern spätestens seit der Wählerrevolte, die der später ermordete Populist Pim Fortuyn vor vier Jahren ausgelöst hatte, ein zentrales öffentliches Thema. Im vergangenen Jahr lieferte der Bestseller der Journalistin Margalith Kleijwegt über das pädagogische Vakuum in den Einwanderervierteln (Onzichtbare Ouders – Unsichtbare Eltern) Einsichten, denen sich die niederländische Gesellschaft bis dahin verschlossen hatte.

Integration wird schwierig, wenn die Eltern als Erzieher ausfallen Ein Jahr lang hatte die Journalistin der Wochenzeitung De Tijd eine »schwarze Klasse« begleitet. In der Zeit bekam sie, trotz aller Schwierigkeiten, auch Kontakt zu den Müttern der Schüler, die meisten von ihnen aus Marokko, mit wenig Kenntnissen der holländischen Wirklichkeit, ganz zu schweigen von der Sprache. Das Fehlen elterlicher pädagogischer Kompetenz als Integrationshindernis Nummer eins ist die Hauptbotschaft der Fallstudie. Es waren aber nicht die Erziehungslücken im Zuwanderermilieu, die den konservativen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende vor zwei Jahren veranlasst hatten, eine Art Anstands- und Wertedebatte anzuzetteln. Vielmehr hatte sich gerade unter den lange als tolerant und duldsam verklärten Holländern ein Unbehagen über den Niedergang der Umgangsformen ausgebreitet. Es häuften sich Berichte über Gewalt in den Schulen, über den Verfall öffentlicher Räume, über Vernachlässigung und Vandalismus. Eine »Beschavingsoffensief«, eine Offensive für mehr Kultur und Anstand im bürgerlichen Zusammenleben kam in Gang, Kommunen, Schulen, Krankenhäuser, auch Taxigesellschaften beteiligten sich. Balkenende sprang auf diesen Zug auf, war allerdings nicht sehr erfolgreich.

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»Er hat nicht verstanden, was die Ursachen sind«, sagt der Publizist Paul Scheffer, dessen Essay über Hollands »multikulturelles Drama« die Integrations- und damit indirekt die Wertedebatte vorbereitet hatte. Den Kindern – und den Erwachsenen – einfach die guten alten Werte einer verklärten »Ära vor 1968« zu predigen sei lächerlich, schrieb Scheffer. Die Auswirkungen der Globalisierung, des Leistungs- und Flexibilisierungsdrucks auf Nachbarschaften, auf Heimatverbundenheit, sozialen Zusammenhalt und das Gefühl der Zusammengehörigkeit ließen sich nicht wegpredigen. Von der Moraloffensive der Regierung ist denn auch keine Rede mehr. Einzelne absurde Auswüchse auf kommunaler Ebene wie die Anordnung, in der Öffentlichkeit nur noch Niederländisch zu sprechen, haben dazu beigetragen.

Das Leben in vielen Familien kreist um Fertignahrung und Fernsehen Tony Blairs Respektkampagne ist im Vergleich wirksamer, trotz der Widerstände im eigenen Lager. Auch in Großbritannien geht es nicht zuletzt um die Frage, ob den Kindern überhaupt noch hinreichend moralische Werte vermittelt werden. Und wieweit Erziehungsmängel die Ursache für die sozialen Krisen seien. Viele Kinder wachsen in Haushalten der neets auf, das aktuelle britische Fachkürzel für die Unterschicht: no employment, no education, no training. Ohne Arbeit, oft nicht zu beschäftigen aufgrund mangelnder Ausbildung – das ist eine Unterschicht, die permanent vom Staat lebt und verwahrlost. Ihr Milieu ist geprägt vom Zusammenbruch der Familien, von Drogen und Kleinkriminalität. Im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen wächst sie am schnellsten. Und ihre rüden Verhaltensformen greifen immer stärker um sich. Es wird geflucht, geschrien, das Leben kreist um Fertignahrung und Fernsehen (freilich nicht das Programm der BBC). Mahlzeiten aus frischen Zutaten sind unbekannt. Erziehung ebenso. Die Eltern sind hilflos, weil sie in ähnlichen Verhältnissen aufwuchsen. Sie bedürfen daher dringend der Hilfe. Das Problem ist längst erkannt, aber was tun? Noch jeder Vorschlag, jede Initiative der NewLabour-Regierung löste erbitterte Kontroversen aus. Ob sie nun »Bürgerschaftsunterricht« an Schulen anordnete, das Straffähigkeitsalter herabsetzte, gesundes Essen anmahnte und Süßigkeitenautomaten in Schulen verbieten ließ – prompt sprachen die Kritiker vom nanny state, von Blairs autoritärem Bevormundungsstaat. Erfahrungen mit strikteren Regeln für den öffentlichen Raum geben dem Premier jedoch offenkundig Recht. Als Blue Water, ein riesiges Shopping-Center in Südengland, Blairs Vorschlägen für eine Null-Toleranz-Strategie folgte, das Herumlungern untersagte und Kapuzenträger vom Betreten der Anlage ausschloss, hagelte es Kritik. Das Einkaufszentrum aber verbuchte nach dem Verbot der hoods einen Anstieg der Besucherzahlen um 40 Prozent und ein Ende der Kleinkriminalität. Dennoch sind die Verbote und Strafen gegen jugendliche Vandalen, Ladendiebe, Rowdys und aggressive Familien, die im Extremfall aus Sozialwohnungen ausgewiesen werden können, politisch weiterhin umstritten. Linke und Liberale werfen Blair autoritäres Gebaren vor, und Bürger wie Linda Martin bemängeln, dass die Maßnahmen bisher zu wenig gebracht hätten. Womöglich sind private Aktionen manchmal wirkungsvoller als gut gemeinte staatliche Initiativen. Das jedenfalls zeigt der Erfolg von Jamie Oliver, dem populären jungen Fernsehkoch. In einer RealityShow des Fernsehens ließ er die Nation erschaudern angesichts der garstigen Kost, die den Jugendlichen in den Schulen als Mittagessen zugemutet wird – turkey twizzlers zum Beispiel, maschinell gewonnenes Restefleisch vom Truthahn. Jamie Oliver sorgte für einen anderen Speiseplan. Nachdem die Kinder über mehrere Wochen frisches Gemüse, Salat und Obst genossen hatten, konnten die Lehrer, wie sie selbst erstaunt berichten, nachmittags wieder vernünftigen Unterricht geben. Verhaltensstörungen waren wie weggeblasen. Und viele Schüler brauchten nicht mehr jene asthma boosts, Sprühstöße gegen Atemnotanfälle. An britischen Schulen gehören sie sonst zur Grundversorgung.

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Illustration: Besiana Bandilli für DIE ZEIT

Schüler 2006: uniformen erwünscht – oder doch lieber bauchfreie Tops?

Ruf nach der Supernanny Schuluniform,Vätermonate, Deutschpflicht: Rechte wie Linke setzen wieder auf den erzieherischen Staat Von Jörg Lau

in neues Leitbild zeichnet sich in den Debatten dieser Tage ab. Deutschland streitet über Elterngeld und Vätermonate, über das Antidiskriminierungsgesetz, Integrationskurse, Leitkultur, Schuluniformen, Kindergartenpflicht und Wertegipfel. Die Utopie eines erzieherischen Staates treibt die gesellschaftspolitische Fantasie um. Ein Grund für die Konjunktur der symbolischen Politik liegt auf der Hand: Der Staat kann nicht mehr alle gesellschaftlichen Wunden mit Geld zupflastern. Die neue Neigung zum Normativen hat unter anderem damit zu tun, dass sie recht kostengünstig ist. Es gibt aber auch sachliche Gründe für die Renaissance der Moralpolitik. In weiten Teilen der Gesellschaft fehlt ein Minimalkonsens darüber, was das Land zusammenhält und welche Regeln gelten. Er muss neu ausgehandelt werden – mit den Eingewanderten, die sich nicht wie erhofft selbstverständlich hier beheimatet haben, und mit einer einheimischen Unterschicht, die sich in ihren Lebensgewohnheiten zusehends vom Mainstream der Gesellschaft entkoppelt. Zwei Beispiele: Zwei Mädchen erscheinen an einer Bonner Gesamtschule ganzkörperverhüllt in der Burka zum Unterricht. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries ergreift die Gelegenheit und fordert Schuluniformen zur sozialen und religiösen »Konfliktvermeidung«. Dass die Schule das Burka-Problem längst durch pragmatisches Durchgreifen gelöst hat, interessiert niemanden mehr. Man debattiert über Einheitskleidung für Schüler als probates Mittel gegen Sozialneid, Markenterror, islamische Kopftücher und bauchfreie Tops. Der Streit um die Deutschpflicht an einer Berliner Realschule folgte dem gleichen Muster. Die Schule hatte nach langer Debatte Deutsch auf dem Pausenhof vorgeschrieben, weil das multiethnische Schulleben ohne gemeinsame Verkehrssprache immer wieder in Schlägereien endete. Kaum war der Fall bekannt, schlugen Politiker vor, das Modell flächendeckend zu verordnen. Die Schule fühlte sich missverstanden: Ihre demokratisch erarbeitete Regel verkam in der Debatte zu einer obrigkeitsstaatlichen Drohgeste. Das Eskalationsschema ist immer das Gleiche. Ein Missstand schafft es in die Schlagzeilen, eine Debatte geht los – und führt alsbald zum Ruf nach schärferen Gesetzen und neuen Vorschriften für alle. Dabei zieht Staatsversagen paradoxerweise noch jedes Mal die Forderung nach mehr Staat nach sich. Auf schlechte Schulergebnisse ausländischer Kinder folgt schnurstracks die Forderung einer allgemeinen Kindergartenpflicht. Und wenn wir schon dabei sind: Warum dann nicht gleich auch die Schulpflicht ab fünf Jahren? Am besten in einer Einheitsschule für alle, mindestens aber Ganztagsschule, damit das soziale Lernen in der Gruppe sich in den späten Nachmittag hinein erstrecken kann. Was tun mit jenen versagenden Eltern von Problemkindern, die für die Lehrer oft nicht erreichbar sind? Solche Eltern, schlägt die Berliner FDP-Abgeordnete Mieke Senftleben vor, müssten selbst in Erziehungskurse gesteckt werden. Die Teilnahmepflicht sei nötigenfalls durch Bußgelder oder Sozialhilfekürzungen durchzusetzen. So stark ist der Drang zum erzieherischen Staat, dass auch der organisierte Liberalismus nicht abseits stehen möchte.

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Die Ministerin vereinnahmt die Kirchen, die lassen es geschehen Die politische Fantasie entzündet sich nicht mehr an Leitbegriffen wie Freiheit, Bürgergesellschaft und Eigenverantwortung. Stattdessen stehen Gleichheit, Staatsintervention und Autorität wieder hoch im Kurs. Es ist nicht schwer, die Gründe dafür zu verstehen: Das Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft ist angesichts von Integrationsproblemen, Bildungsversagen, Jugendgewalt, Massenarbeitslosigkeit und Überalterung nachhaltig erschüttert. An die Stelle der Staatsfeindschaft, die alles dem Individuum und dem Markt überantworten wollte, tritt eine Staatsgläubigkeit, der allzu schnell immer neue Gesetze und Sanktionen einfallen. Die neue Distanzlosigkeit zwischen Staat und Gesellschaft ist ein überparteiliches Phänomen,

wie die zunehmenden linken und rechten Regulierungsversuche auf dem Markt der Werte zeigen. Der neokonservative »Wertegipfel« der Familienministerin war ein Versuch, die Kirchen staatlicherseits zu vereinnahmen. Die Kirchen – froh, dass sie überhaupt einmal wieder gefragt waren – ließen es geschehen. Das linke Pendant dazu kann man in dem Versuch des Berliner Regierungschefs Klaus Wowereits erkennen, den Religionsunterricht durch einen bekenntnisfreien Ethikunterricht zu ersetzen. In beiden Fällen ermächtigt sich der Staat, auf dem Markt der Werteanbieter zu intervenieren. Im ersten Fall nimmt er christliche Werte in ungebührlicher Weise für sich in Anspruch. Im zweiten Fall verdrängt der Staat die christlichen Kirchen aus den Schulen in dem anmaßenden Glauben, selbst die bessere Wertevermittlung leisten zu können. Solche Einmischung des Staates in Wertefragen ist ein Zeichen der tiefen Verunsicherung, die Linke wie Rechte erfasst hat. Die Steuerungsfantasien der Konservativen konzentrieren sich auf die Einwanderer, die sie mit immer neuen Tests, Kursen und Sanktionen auf Kurs bringen wollen. Die Sozialdemokraten haben mit dem Antidiskriminierungsgesetz – ursprünglich eine grüne Passion – die ganze Gesellschaft, vor allem aber die minderheitenfreundliche Regulierung des Geschäftslebens im Visier. Der abgeschriebene Staat feiert ein unverhofftes Comeback als ideelle Gesamtgouvernante, die mit harter Hand gegen unliebsames Verhalten, rückständiges Denken und überkommene Lebensmodelle vorgehen soll: der Staat als Supernanny.

ziert, sondern ernst genommen werden. Es geht bei der Wiederentdeckung der Werte nicht um eine Restauration, sondern um freiwillige Selbstfestlegung. Den Verteidigern des erzieherischen Staates geht es um das Gute schlechthin, das Gemeinwohl. Eben hier liegt aber das Problem: Schuluniformen und Deutschpflicht funktionieren nur, wenn sie von denen gewünscht und beschlossen werden, die mit ihnen besser leben und lernen sollen. Sie können nur wirken, wenn bereits ein Einstellungswandel zu mehr Gemeinschaftssinn und mehr Bildungsbeflissenheit stattgefunden hat. Sie können ihn nicht von oben her ins Werk setzen. Das Antidiskrimierungsgesetz, das jetzt als »Allgemeines Gleichstellungsgesetz« umgesetzt werden soll, könnte sich für manche Gruppen, deren Rechte es zu stärken vorgibt, als Falle entpuppen. Es lädt

Benachteiligte dazu ein, sich nicht als selbstverantwortliches Individuum zu begreifen, sondern als Teil eines Opfer-Kollektivs, dem als solchem übel mitgespielt wird. Das Gleichstellungsgesetz teilt Rechte nach Gruppen zu. Es begreift die Gesellschaft nicht vom Individuum her, sondern als eine Ansammlung von Kollektiven, die sich gegenseitig Respekt schulden und mit den Mitteln des Rechts ihre jeweiligen Gruppenidentitäten und -sensibilitäten verteidigen. Gerade für Migranten könnte sich dieses Denken als eine Sackgasse erweisen. Denn ihre Integration scheitert nicht an mangelnder Anerkennung als Türke oder Inder – sondern daran, dass es hierzulande so schwer ist, aus der Herkunftsgruppe in die Mehrheitsgesellschaft aufzusteigen. Was am Nanny-Staat iritiert, lässt sich nicht in die Scheinalternative »Mehr Staat oder weniger Staat«

Stoiber will »Popetown« zensieren, die Islamisten klatschen Beifall Im Zeichen des erzieherischen Staates entstehen merkwürdige Bündnisse. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland zum Beispiel wirbt engagiert für eine harte Linie bei den Integrationskursen für Zuwanderer, wie sie auch die Hardliner in der Union verlangen. Damit will man die »obligatorische Behandlung des Themas Homosexualität in Einbürgerungskursen« gewährleisten. Eine seltsame Wende: Mehr als ein Jahrhundert hat die Schwulenbewegung gegen den Paragrafen 175 und also für die Nichtintervention des Staates in das Privatleben von Homosexuellen gekämpft. Jetzt nimmt man umstandslos den Staat für die eigene Sache in Beschlag – ausgerechnet im Bündnis mit jenen, die das Thema der Homosexuellenrechte erst für sich entdeckt haben, als sie merkten, dass man damit konservative Muslime ordentlich zwiebeln kann. Genau wie die Schwulen entdecken auch die Islamisten den Charme des Nanny-Staates. Als kürzlich der bayerische Ministerpräsident das Verbot der Papstsatire Popetown forderte, sprang ihm der ultrakonservative Islamrat zur Seite und äußerte Verständnis für die Zensurwünsche: Jetzt merkt ihr mal, wie wir uns zu Zeiten des Karikaturenstreits gefühlt haben! Weil der erzieherische Staat neue Allianzen quer zu den politischen Lagern schafft, trifft er kaum auf Kritik: Dass die Integrationskurse nicht nur die Demokratieresistenz, sondern auch das traditionalistische Geschlechterbild der Migranten abbauen sollen, ist Konsens in der Großen Koalition. Und wenn demnächst mittels Elterngeld und dem sanften Zwang der Vätermonate die Wickelzurückhaltung der deutschen Männer bekämpft wird, dann wird ein feministisches Projekt von einer wertkonservativen Familienministerin ins Werk gesetzt. Vereinzelt wird zwar gemurrt. Doch wenn die Herren Söder und Ramsauer von der CSU im Namen der Wahlfreiheit gegen die Vätermonate agitieren, beschleicht einen der Verdacht, dass es in Wahrheit doch um die Verteidigung der traditionellen Männerrolle geht und die liberalen Floskeln nur vorgeschoben sind. Der neue Hang zum Nanny-Staat verdient ernsthafte Kritik. Es reicht dabei allerdings nicht, sich auf das liberale Dogma staatlicher Nichteinmischung zurückzuziehen und Ideologiekritik zu betreiben. Das Wunschbild vom intervenierenden Staat ist bei aller Panik eine Reaktion auf reale Probleme. Und auch die zugrunde liegende neue Sehnsucht nach Bindung und Gemeinschaft, nach Verbindlichkeit und Werten sollte nicht einfach als Rückkehr in die fünfziger Jahre denun-

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pressen. Der Nanny-Staat empfiehlt sich als Kur für die Selbstzerstörungstendenzen der liberalen Gesellschaft, doch in Wahrheit ist er Teil der Krankheit. Es geht um Grundsätzlicheres als das Pro und Contra zu einzelnen Maßnahmen. Auch wer für Schuluniformen, für Integrationskurse, für Deutsch auf dem Schulhof und für mehr Männer am Wickeltisch ist, wer sein Kind gerne mit fünf einschulen lassen will und die Ganztagsschule schätzt, hat Grund, die Neigung zum erzieherischen Staat zu fürchten. Der allzuständige Gouvernantenstaat ist nämlich eine süße Versuchung für die Große Koalition, die einstweilen ohne Alternative und ohne Opposition regiert. Man wird sie auch daran messen, ob sie dieser Versuchung widersteht. Audio a www.zeit.de/audio

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»Deutschland wird Weltmeister« Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) über den Kampf gegen polnische Hooligans in Brandenburgs Wäldern und die Aussichten der deutschen Fußball-Elf

Wolfgang Schäuble ist als Innenminister auch für den Sport und damit für die Fußball-WM zuständig. Er ärgert sich über Staatsanwälte, die wegen verschenkter Tickets gegen Politiker und Wirtschaftsbosse ermitteln: »Da wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen«

zu üben. Im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger Otto Schily, der das eher diskret gehandhabt hat, scheinen Sie die Bevölkerung eher auf Terror denn auf Fußball einstimmen zu wollen. Schäuble: Das ist natürlich Unsinn. Ich habe mit meinem Vorgänger darüber gar nicht gesprochen. Wir machen es eben in dieser Form. Auf einen Unglücksfall vorbereitet zu sein, das heißt: üben. Die Menschen sollen ruhig wissen, dass diese potenzielle Gefährdung besteht. Das hat mit Panikmache nichts zu tun. Je besser man vorbereitet ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man nicht hysterisch reagiert, wenn etwas passiert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Gelassenheit der New Yorker, mit der sie auf den 11. September reagiert haben. Das heißt aber nicht, dass wir zwei Tage vor Eröffnung der WM noch mal eine große Evakuierungsübung veranstalten … ZEIT: … gewissermaßen statt der großen GalaParty von André Heller … Schäuble: … ich glaube, noch kein Ereignis ist so vorbereitet gewesen. Und wir vergessen nicht, dass bei allem der Fußball im Vordergrund steht. ZEIT: Wenn wider Erwarten doch der Ernstfall eintreten sollte, wer gibt das Kommando zur Räumung eines Stadions, Fifa-Präsident Blatter oder der deutsche Innenminister? Schäuble: Das wird auf alle Fälle einvernehmlich geschehen. Aber das werde ich jetzt nicht ausbreiten. Wir sind vorbereitet. ZEIT: Wie es heißt, befürchten die Sicherheitsbehörden in Deutschland vor allem gewaltbereite Hooligans aus Polen. Ein Gerücht? Schäuble: Bisher schien die Bedrohung durch Hooligans immer eher aus dem westlichen Teil Europas zu kommen. Inzwischen wissen wir, dass zum Beispiel die polnische Hooligan-Szene organisiert und gewaltbereit ist. Das ist ein relativ neues Phänomen. ZEIT: Woher wissen Sie das? Schäuble: Wir haben die Szene seit langem unter Beobachtung. Länder- und Bundespolizei arbeiten mit den polnischen Behörden eng zusammen. ZEIT: Bewegt sich die Polizei auch in den Wäldern Brandenburgs, in denen sich deutsche und polnische Fans zu Probekämpfen getroffen haben sollen? Schäuble: Gehen Sie davon aus. ZEIT: So weit der Innenminister. Wie bereitet sich der Sportminister auf das Geschehen in den Stadien vor? Durch Lektüre des Kicker? Oder abends bei den Aufzeichnungen der Spiele aus den europäischen Ligen? Schäuble: Meine Vorbereitung begann mit dem Film Das Wunder von Bern. Großartig. Auch den Film über die Legende Günter Netzer habe ich kürzlich zur Einstimmung angesehen. Weitere Vorbereitungen gibt es nicht.

ZEIT: Als Fan und Sportminister werden Sie während der WM, wie auch die Bundeskanzlerin, bei einigen Spielen im Stadion sein. Fürchten Sie Pfiffe? Schäuble: Ich kann die Fans verstehen, wenn sie pfeifen, weil sie annehmen, Politiker nutzen den Fußball zur Selbstdarstellung. ZEIT: Ein unberechtigter Vorwurf? Schäuble: Im Falle der Kanzlerin ist der Vorwurf unberechtigt, und was mich betrifft, auch. Doch es gibt auch andere, weniger ruhmreiche Beispiele. ZEIT: Können Sie das präzisieren? Schäuble: Natürlich nicht. ZEIT: Meinen Sie etwa Merkels Amtsvorgänger? Schäuble: Im Gegenteil, Gerhard Schröder nehme ich seine Fußballbegeisterung ab. Es gibt Männer, die werden von den Fußballstadien magisch angezogen, weil sie selber Fußball gespielt haben. Ich duze mich mit Franz Müntefering. Warum? Weil wir zusammen Fußball gespielt haben, in der Mannschaft des Deutschen Bundestages. ZEIT: Können Sie das Spiel von Müntefering beschreiben? War er eher ein Techniker oder ein Grobmotoriker? Schäuble: Also, der Franz Müntefering, ich mag ihn ja. Aber er hat ein bisschen so gespielt, wie er auch sonst ist. Er war eher Hacki Wimmer als Günter Netzer. ZEIT: Verstehen wir nicht, können Sie da etwas deutlicher werden? Schäuble: Sie verstehen offenbar nichts von Fußball. ZEIT: Im Moment nicht. Schäuble: Dann will ich es Ihnen erklären: Müntefering war eher Arbeiter wie Wimmer als ein Genie wie Netzer. ZEIT: Apropos Müntefering. Könnte Sie ein Autogramm von Ronaldinho interessieren? Schäuble: Ich sammle keine Autogramme mehr. Von Fritz Walter hatte ich eines. Das war für mich das Größte. ZEIT: Das Größte? Schäuble: Ich habe ihn bewundert. Beim Endspiel 1974 in München habe ich dann neben ihm auf der Tribüne gesessen, mit Pelé und Uwe Seeler. Das werde ich nie vergessen. Jahre später, als ich nach dem Attentat im Krankenhaus lag, hat er mich angerufen. Uns verband eine Freundschaft. ZEIT: Männer auf einer Fußballtribüne, Politiker – wird viel geredet oder eher wenig? Schäuble: Wenig. ZEIT: Auch über Politik? Schäuble: Allenfalls in der Pause. Wenn mich aber, während ein Spiel läuft, jemand auf das Zuwanderungsgesetz anspricht, kann ich sehr ungehalten werden. ZEIT: Sie kommentieren selber vor sich hin, zeigen Emotionen? Schäuble: Das tue ich, manchmal überrascht das die Kollegen. 1988, bei der Europameisterschaft in Deutschland, gab es ein Spiel der deutschen Mannschaft irgendwo in Nordrhein-Westfalen. Neben mir saß Johannes Rau, damals dort Ministerpräsident. Als ich dann anfing, lauthals Stimmung zu machen, um unsere Mannschaft anzufeuern, hat er mich ganz irritiert angeschaut. Ich habe ihm dann gesagt: »Herr Rau, Sie können hier nicht einfach nur so herumsitzen. Wir müssen arbeiten, wir müssen dafür sorgen, dass diese Mannschaft vorankommt.« Er hat sich köstlich amüsiert. ZEIT: Herr Schäuble, würden Sie sich von den WM-Sponsoren wie EnBW oder adidas zum Besuch eines Spiels einladen lassen? Schäuble: Als Mitglied der Bundesregierung habe ich das Privileg, verpflichtet zu sein, Spiele zu besuchen.

nach dem Staatsanwalt ruft, der schießt mit Kanonen auf Spatzen. ZEIT: Herr Schäuble, in jedem Fall werden wir in den kommenden Wochen wieder viel PolitikProminenz in den Stadien sehen. Wie sehr sollte sich Politik mit dem Fußball gemein machen? Schäuble: Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass wir Politiker uns da eher zurückhalten sollen, was auch damit zu tun hat, dass die Menschen in Deutschland viel zu klug sind, um die Leistung von Politikern nach deren Nähe zum Fußball zu beurteilen. ZEIT: Als die Bundestagswahl noch kurz nach der WM in diesem Jahr stattfinden sollte, haben alle

Parteien, auch Ihre, alles versucht, das Ereignis für sich zu instrumentalisieren. Was versprachen sie sich davon? Schäuble: Ich habe immer davor gewarnt, auch meine eigene Partei, denn einige schienen fast zu hoffen, dass das deutsche Team schlecht abschneidet, damit Schröder als Kanzler Schwierigkeiten bekommt. 1998 haben wir im Übrigen die Bundestagswahl verloren, obwohl Helmut Kohl nach dem deutschen Sieg zuvor bei der Europameisterschaft den Bundestrainer Berti Vogts vor Begeisterung fast erdrückt hätte. ZEIT: Es heißt, der wahre Fan offenbare sich in der Not. Sollten die Deutschen die Weltmeister-

Foto [M]: Sean Gallup/gettyimages

DIE ZEIT: Herr Schäuble, bringen wir die Frage hinter uns: Wird Deutschland Weltmeister? Wolfgang Schäuble: Ich bin ein hoffnungsloser Optimist, was nicht immer einfach für mich war. Mein Vater war ganz anders. Er glaubte, wer den Erfolg beschreit, verhindert ihn. 1954 habe ich gewusst und es auch gesagt: Deutschland wird Weltmeister. Als die Ungarn dann im Finale 2 : 0 in Führung gegangen waren, da hat er mir, wir saßen beide vor dem Radio, eine Ohrfeige gegeben. Das tat er sonst nie, doch in dieser Situation war er total empört: Er machte mich und meinen Optimismus für diesen Rückstand verantwortlich. Ich habe ziemlich geweint. Trotzdem bin ich Optimist geblieben. ZEIT: Also: Deutschland wird Weltmeister? Schäuble: Natürlich, wer sonst? ZEIT: Brasilien, Argentinien, Italien oder die Niederlande, zum Beispiel. Schäuble: Denken Sie an die Weltmeisterschaft 2002. Das Finale war das einzige Spiel, in dem die Deutschen überzeugten. Ohne Oliver Kahn wären sie dort nie hingelangt. Und dann wurde Kahn zum tragischen Helden. Damals fehlte das letzte Glück, obwohl wir dieses Endspiel verdient gewonnen hätten. Vielleicht haben wir das Glück dieses Mal. ZEIT: Die Psyche eines Torwarts ist Ihnen vertraut? Schäuble: Ja, diese Figur fasziniert nicht nur mich. Doch nicht jedes verbreitete Klischee stimmt. Peter Handke zum Beispiel irrt, wenn er von der Angst des Torwarts beim Elfmeter schreibt. Nur der Schütze kennt in dieser Situation Angst, der Torwart nicht. Der kann nur gewinnen. ZEIT: Ihr Staatssekretär Hanning hat kürzlich erklärt: Man schießt auch einen Elfmeter besser, wenn man vorher geübt hat. Gemeint hat er die Notwendigkeit, auch Anti-Terror-Einsätze im Vorfeld der WM vor den Augen aller

»Ich kann verstehen, wenn Fans pfeifen, weil sie annehmen, dass die Politiker den Fußball zur Selbstdarstellung nutzen

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ZEIT: Das war nicht der Hintergrund der Frage. Schäuble: Die Sorge war ja, dass die Sponsoren, die die Plätze kaufen, diese Plätze dann nicht besetzen. Dass da Leute sitzen, das halte ich für wichtig. Jetzt wird unterstellt, dass Sponsoren Amtsträger und also auch Politiker durch Einladungen für ihre Interessen einspannen wollen. Um ehrlich zu sein, ich halte das für eine absurde Vorstellung. ZEIT: Weshalb? Schäuble: Es gibt in Deutschland eine Neigung, die Dinge zu übertreiben. Davon sind auch die Staatsanwaltschaften nicht frei. Jede Form der Korruption muss selbstverständlich mit aller Härte verfolgt werden, das gilt auch schon für den so genannten Anfangsverdacht. Aber ich sage auch: Wer wegen der Zahlung von ein paar Euro oder einer Einladung zum Fußball gleich

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schaft früh verlassen müssen: Wenn Jürgen Klinsmann der Sinn plötzlich nur noch nach Kalifornien steht, bringen Sie ihn dann zum Frankfurter Flughafen? Schäuble: Wie ich schon sagte, ist dies ja nur eine theoretische Möglichkeit. Aber wenn er das wünscht, wenn er so am Boden ist, dass er meines Trostes bedarf: Ja. DAS GESPRÄCH FÜHRTEN HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS UND MORITZ MÜLLER-WIRTH i Die Fußball-WM bei ZEIT online: www.zeit.de/fussball

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s recherchiert sich seltsam dieser Tage. »Woher weiß ich denn, dass Sie nicht auch einer von denen sind …«, fragt ein Bundestagsabgeordneter am Telefon zurück. »Ah, willst wohl dem BND was über mich berichten?«, scherzt ein Kollege von der Konkurrenz. Schöne neue Pressewelt: Bis zu neun Reporter von Zeitungen und Magazinen sollen sich dem Bundesnachrichtendienst als Zuträger für Informationen über den eigenen Kollegenkreis zur Verfügung gestellt haben. »Schillernde Persönlichkeiten« aus der Medienbranche hätten sich für »Unrechtsvereinbarungen« mit dem Auslandsgeheimdienst hergegeben, heißt es aus Regierungskreisen über den Bericht des ehemaligen Bundesrichters Gerhard Schäfer an das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) des Bundestages. Die meisten von ihnen sollen allerdings nicht Redakteure gewesen sein, sondern freie Mitarbeiter, die unter anderem für den stern, den Spiegel und Focus schrieben. Viel mehr waren es, und viel länger trieben sie ihre Geschäfte als bisher vermutet – von 1994 bis November 2005.

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Gemein mit den Geheimen Journalisten haben Journalisten ausspioniert – im Auftrag des BND. Geschichte eines Sündenfalls Von Jochen Bittner

Spitzel ist vielleicht nicht der passende Begriff für die betreffenden Journalisten. Denunzianten aus beruflichem Ehrgeiz trifft es vermutlich besser. Geheimdienstler und Journalisten – zwischen den beiden Berufsgruppen herrscht ein beinahe faustisches Verhältnis. Die Aussicht auf brisante Wissensschätze verführt manchen Schreiberling, sich gemein zu machen mit den Geheimen. Denn gegenüber Agenten funktioniert das journalistische Austauschgeschäft Information vs. Publizität nicht; anders als Politiker verspüren Schlapphüte keinen Drang, in der Zeitung zu stehen. Da müssen sich Journalisten schon was anderes ausdenken. Jubelberichterstattung im günstigsten Fall. Doch einige gingen offenbar auch so weit, ihre Seelen zu verkaufen. »Journalisten waren bereit, operativ für den Geheimdienst tätig zu werden«, sagt das PKG-Mitglied Wolfgang Neskovic (PDS) über den SchäferBericht. Wilhelm Dietl war einer von ihnen. Er arbeitete jahrelang als BND-U-Boot beim Focus, berichtet dessen Chefredakteur. Hier waren Journalisten Täter. Davon zu unterscheiden sind jene Fälle, in denen Journalisten Op-

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fer wurden. BND-Mitarbeiter sollen Redakteure tails aus seinen Akten zugesteuert. »Das hätte ich der Süddeutschen Zeitung, des sterns, des Spiegels selbst nie zusammengekriegt«, sagt Decker. »Die und der Berliner Zeitung zum Teil bis ins Privat- Geschichte haben die mir eigentlich erst fertig leben hinein nachgestellt haben – wohl aus Sor- gemacht.« Von dem Geschäft profitieren beide ge, die Reporter könnten »unkontrollierte Ab- Seiten: Decker bekam Exklusiv-Storys und die flüsse« orten, wie Indiskretionen aus BND-Mau- BNDler die Garantie, dass die Presse nicht mehr ern genannt werden. Auf Andreas Förster, Re- wusste als er. Denn das könnte ja peinliche Fradakteur der Berliner Zeitung, soll gar drei Jahre gen von der Amtsspitze nach sich ziehen. »Von da an lief’s«, berichtet der Ex-Focuslang ein Informant des BND aus Leipzig angesetzt gewesen sein. Der Spitzel rief den BND-kri- Mann. »Ich habe vom BND Material bekomtischen Reporter immer wieder in der Redaktion men. Ich habe allerdings nie Unterlagen mitnehan, um ihn »massiv« zu seinen Recherchen zu be- men dürfen, ich durfte nur lesen, in Kneipen.« Zu etwa drei oder vier Geschichten pro Jahr habe der fragen, wie sich Journalist Förster erinnert. Eine noch schlimmere Dimension haben al- BND ihm auf diese Weise verholfen, berichtet lerdings die neuesten Vorwürfe, die Förster ge- Decker. Irgendwann, sagt Decker, sei die Wut auf gen den BND erhebt: Der Nachrichtendienst den redaktionsinternen Rivalen Hufelschulte gehabe bis in die jüngste Vergangenheit hinein Te- wachsen. Decker nahm – angeblich von sich aus lefonate von Reportern abhören lassen – was ein – Kontakt zu Volker Foertsch auf, dem Leiter der eklatanter Verfassungsbruch wäre. »Wenn es zum Abteilung 5 (Innere Sicherheit und SpionageabBeispiel Hinweise darauf gab, dass ein Journalist wehr) beim BND, um Hufelschultes Vertraueinen internen Vorgang des Dienstes recher- ensposition zu zerstören. »Es war nicht die feine chierte, wurde auch sein Telefonanschluss über- Art, aber ich war halt so sauer. Ich wollte Hufelwacht, um Informationen über mögliche Quel- schulte jammern sehen, weil er keine Kontakte len zu erlangen«, zitiert Förster einen namentlich mehr bekommt«, so Decker gegenüber der ZEIT. »Es lief am Anfang eher schlecht, Foertsch nicht genannten BND-Beamten. Die Pressestelle des Bundesnachrichtendienstes hat die Mel- war skeptisch, berichtet Decker. »Foertsch hat dung umgehend dementiert. Auch im Schäfer- mich, glaube ich, nur einmal angerufen, da haBericht des PKG sollen sich keine Hinweise auf ben wir uns auf einer Autobahnraststätte bei Wiesbaden getroffen. Er kam gerade aus Bonn, technische Überwachungen finden. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass der von einem Treffen mit Schmidbauer.« Bernd Schmidbauer war damals GeheimBND eine Wahrheit dementiert. Und auch den dienstkoordinator unter Helmut Kohl. aktuellen Skandal brachten im UrTrotz des Kontakts mit Foertsch besprung Presseberichte ans Tageslicht. hauptet er, vom Geschmuse des Organisatorisch zu verantworten BND mit Journalisten nichts gegehabt hätte die Lauschangriffe wusst zu haben. Bizarrerweise der damalige BND-Präsident saß der CDU-Mann bis Anfang August Hanning (1998 bis dieser Woche selbst im PKG. 2005). Er ist heute StaatsseNun entschloss er sich, das Amt kretär im Innenministerium. »ruhen« zu lassen. – Ein reichlich »Nach allem, was wir heute zurückhaltender und später Zug, wissen, halte ich es für ausgebedenkt man, dass Schmidbauer schlossen, dass unter Hanning irder politisch Verantwortliche für die gendetwas in Richtung Journalisten gesamte Affäre sein könnte. gelaufen ist«, sagte der damalige GeheimDer Focus-Mann Decker verwandelt sich in eidienstkoordinator und heutige BND-Chef Ernst Uhrlau der ZEIT im November vergangenen Jah- nen Verräter. Er berichtet dem BND über Ausres. Da war gerade der Nukleus der heutigen Af- landsreisen seines Kollegen, über geplante Artikel, färe bekannt geworden – ein BND-Observati- über ein Geschenk, das Hufelschulte einem BKAonsteam hatte den Buchautor Erich-Schmidt- Fahnder gemacht habe – alles in der Hoffnung, Eenboom und den Focus-Redakteur Josef Hufel- der BND sei an diesen Informationen interessiert, schulte in den neunziger Jahren bis ins Privatle- um mit ihrer Hilfe »undichte«, plauderhafte Mitben hinein beschattet. Schon jetzt steht fest, dass arbeiter im Sicherheitsapparat ausfindig zu maUhrlau irrte. Bloß: Was genau war das »Irgend- chen. Doch der BND-Mann Foertsch habe sich etwas«, das unter Hanning in Richtung Journa- wenig elektrisiert gezeigt von den Insider-Berichten, erinnert sich Deckert. »Wenn ich Hufellisten lief? Kollegen-Bespitzelungen, sicher, sie zählen zu schulte sagte, hat der nur gelacht.« Was Decker nicht wusste: In der Focus-Redak»operativen« Sauereien. Aber wo genau beginnt die unmoralische Kooperation mit Nachrichten- tion saß längst ein Maulwurf des BND. Seit Audienstlern? Wo endet der unverfängliche Aus- gust 1982 führte der Nachrichtendienst den Pautausch unter Aufdeckern und Whistleblowern? Ab schalisten Dietl als »nachrichtendienstliche Verwann sind Journalisten der verlängerte Arm der bindung«, wie der Focus mittlerweile erfahren hat. Geheimdienste? Seit dem 11. September 2001 Laut Schäfer-Bericht kassierte Dietl über 600 000 steigt die Nachfrage nach »internen, streng ver- Mark Honorar für diverse Berichte an den Getraulichen Dossiers« als vermeintliche Gütesiegel auf Presseberichten. Reporter rangeln um die spärlichen Zugänge zu den Masterminds des BND. Ansagt der Reporter zu den BND-Beamten. »Wir müssen mal dererseits stehen auch die eine andere Grundlage finden für unsere Zusammenarbeit. Sicherheitsbehörden unter Jetzt bin ich mal am Drücker!«. So können sie laufen, die enormem Erfolgsdruck. »Lecks« können für AgenGeschäfte zwischen Presse und Nachrichtendienst ten lebensgefährlich sein – neue Erkenntnisse hingegen die Karriere befördern. Und warum nicht heimdienst. Den Großteil des Agentenlohns bekam er offenbar für Informationen aus den Länmal bei »Freund Presse« anklopfen? Wer sich umhört, dem berichten Journalis- dern, die er bereiste: Pakistan, Afghanistan, dem ten-Kollegen schnell von »Antestversuchen« Nahen Osten. Der Bayer erhielt zunächst den durch die Sicherheitsszene. Da ist der Reporter, Decknamen »Dali«, später »Schweiger«. »Bezahlt wurde nur er, kein anderer Journader gefragt wird, ob er nicht einen Aussteiger aus der Islamistenszene »vermitteln« könne. Da ist list«, beteuert man in Geheimdienstkreisen geder Kollege, der am Ende eines langen Hinter- genüber der ZEIT. Denn: »Man wollte ihn unter grundgesprächs gefragt wird, ob er auch genug Kontrolle haben.« Erwin Decker behauptet, der BND habe über verdiene in seiner Redaktion. Schmeichelhafte Vertrauensbeweise, einerseits. Massive Angriffe den Undercover-Journalisten Dietl laufend Beauf die Neutralität der Presse, andererseits. Nicht richte in die Focus-Redaktion eingespeist, die anschließend im Blatt erschienen seien. »Pervers« jeder widersteht solch charmantem Drängen. Erwin Decker zum Beispiel. Er hat sich auf nennt das sogar der Denunziant. Ob sein Blatt im ein oder anderen Fall durch zahlreiche Handel mit dem BND eingelassen. Jetzt steht er als schwarzes Schaf im Schäfer-Be- Veröffentlichungen unwissentlich BND-Interesricht. »Ich muss mich jetzt wohl mit Bosch mel- sen gefördert hat, will Focus-Chefredakteur Helden«, sagt Decker am Satellitentelefon aus dem mut Markwort nicht kommentieren. Es dauerte Irak. »Bosch« war der Deckname, den Beamte jedenfalls bis 2004, bis Dietl als journalistischdes BND dem Journalisten Anfang der neunzi- geheimdienstlicher Doppelagent bei dem ger Jahre verpassten. Damals arbeitete Decker als Münchner Magazin aufflog. Nach dem Fall von Redakteur beim Focus, Spezialgebiet Sicherheits- Bagdad, so Markwort, sei ihm irakisches Gepolitik. Heute tourt der 51-Jährige mit einem heimdienstmaterial zugespielt worden. Darin Campingbus durch den Nordirak, ausgestattet seien wörtliche Passagen aus einem vertraulichen mit Stromgenerator und High-Tech-Handy. Als Gespräch zwischen ihm und Wilhelm Dietl ziKriegs- und Krisenreporter berichtete Decker tiert worden. Niemand sonst hätte davon wissen unter anderem für den Tagesspiegel, das Handels- können. Markwort stellt den Mitarbeiter zur blatt und die Frankfurter Rundschau. Aus reiner Rede – und legt ihm die Kündigung vor. »Der Rach- und Eifersucht, wie er heute eingesteht, Mann hat mich jahrelang getäuscht und reingehabe er ab 1994 seinen Redaktionskollegen Josef legt«, so Markwort zur ZEIT. »Es hieß immer, er kennt sich aus im Nahen Osten, deshalb haben Hufelschulte beim BND angeschwärzt. Alles begann, als Decker Anfang der neunzi- wir ihn eingestellt.« – Jetzt dürfte klar sein, warger Jahre Focus-Korrespondent in Frankfurt am um er der Mann war, der so viel wusste. Wilhelm Dietl klagt gegen die Kündigung Main wird und über Organisierte Kriminalität und Geldwäsche berichten will. Es gelingt ihm, durch den Focus. Er behauptet, nie im Sold des Kontakt zu BND-Leuten in den zuständigen Ab- BND gestanden zu haben. Für eine Stellungnahteilungen aufzubauen. Doch die, schildert er, be- me war er nicht zu erreichen. Das Parlamentarische Kontrollgremium will ginnen erst zu reden, als Decker auch ihnen Hilden Schäfer-Bericht nun veröffentlichen. Zuvor fe anbietet. »Das Vertrauen war erst da, als ich eine Ge- sollen die Betroffenen noch Gelegenheit zum schichte bringen wollte, von denen die noch »rechtlichen Gehör« erhalten. Doch den Schanichts wussten. Es ging um Geldwäsche im Ca- den, den sie angerichtet haben, können sie nicht sino von Monaco. Da waren die komplett baff. mehr gutmachen. Vor einer Woche durfte sich Sie haben gesagt: Können wir mal reden? Da noch paranoid wähnen, wer glaubte, als Journahabe ich gesagt: Passt auf Leute, wir müssen mal list von den Geheimen beäugt zu werden. Heueine andere Grundlage finden für unsere Zu- te muss er sich naiv fühlen. Schon deshalb ist die Pressefreiheit beschädigt. sammenarbeit. Jetzt bin ich mal am Drücker.« Decker liefert den BND-Beamten vor Abdruck der Geschichten seine Rechercheergebnis- i Weitere Informationen im Internet: se. Im Gegenzug habe der Dienst fehlende Dewww.zeit.de/terrorist

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Der nächste, bitte! Carlo Wahrmann bei der Arbeit

Fotos: Werner Bartsch für DIE ZEIT

Gleiswärter an der Endstation Zu Carlo Wahrmann kommen Leute, die nicht mehr weiterwissen. Meist kommen sie zu spät. Er ist Schuldenberater Von Jana Simon Berlin rau E. hat keine Versicherungen, sie geht nie ins Kino, Sport treibt sie nicht. Sie meidet Dinge, die Geld kosten. Frau E. lebt in Berlin-Mitte, dort, wo Angela Merkel wohnt und junge Menschen am Vormittag Latte Macchiato trinken. Frau E. war schon lange nicht mehr in einem Café. Sie sagt, das mache nichts, bleibe sie eben zu Hause, sehe fern. Frau E. führt ein Leben als Zuschauerin. Sie ist 50, trägt ein weites Sweatshirt über ihrem schmalen Körper. Aus einer Plastiktüte von Kaisers zieht sie eine Akte. Carlo Wahrmann beobachtet sie. Es ist der Augenblick, in dem sich die Menschen entscheiden, mit ihm über ihr Geld, über ihre Schulden zu sprechen. Meist ist er der Erste, dem sie sich offenbaren, und meist kommen sie zu spät. »Mein Konto ist zu«, sagt Frau E. »Seit wann?«, fragt Wahrmann. »Oktober, glaube ich.« – »Da haben sie lange gewartet.« – »Ich hatte Bandscheibenvorfall, Migräne, Lungenentzündung …« Carlo Wahrmann kennt die Geschichten, sie ähneln sich oft. »Was haben Sie für ein Einkommen?«, fragt Wahrmann. »443,62 Euro Witwenrente«, antwortet Frau E. Ihr Lebenspartner sei arbeitslos. Er soll von September an Hartz IV bekommen. Gas, Strom, Telefon, Miete könnten sie nicht mehr zahlen. Und Frau E. hat noch alte Schulden ihres verstorbenen Mannes übernommen. »Haben Sie noch mehr Schulden?«, fragt Wahrmann. »Au weia, reicht das nicht?«, fragt Frau E. zurück. Früher hat sie in einer Kneipe als Köchin gearbeitet, jetzt ist sie krank und fühlt sich überfordert. Manchmal geht sie Flaschen sammeln. Wahrmann addiert die Zahlen.

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12 000 Euro Schulden. »Wenn man nichts hat, ist das viel«, sagt er. Er schlägt Frau E. das private Insolvenzverfahren vor. Das heißt, über sechs Jahre wird ein Insolvenzverwalter eingesetzt, der alles das pfändet, was pfändbar ist, und der Schuldner muss »jede angemessene Arbeit« annehmen. Nach sechs Jahren werden die Restschulden erlassen. Unter einem Einkommen von 990 Euro kann nichts gepfändet werden. »Sie haben nichts zu verlieren«, sagt Wahrmann zu Frau E. Sie schaut auf die Tischplatte, nickt. Seit 1999 gibt es das Gesetz zur privaten Insolvenz. Es ist für viele die einzige Chance, jemals wieder ohne Schulden zu leben. Wahrmann sagt zu Frau E., sie müsse beim Amtsgericht einen Antrag auf Freigabe ihres Kontos stellen. Sie schaut ihn an, verunsichert. »Ich kann nicht so gut mit denen reden«, sagt sie. »GEZ mache ich für sie«, sagt Wahrmann und schreibt ihr ein paar Dinge auf, die sie erledigen muss. Sie hält das Blatt ganz nah an ihr Gesicht. Zu Hause nimmt sie eine Lupe. Die Zuzahlung für eine neue Brille kann sie sich nicht leisten. Als sich die Tür hinter ihr schließt, sagt Wahrmann: »Dass die Gläubiger versuchen, über eine Kontopfändung noch ihre Rente abzugreifen, ist eine Sauerei.« Es klingt heftig. Wut verbietet er sich sonst. Er braucht Distanz. Carlo Wahrmann verschränkt die Arme vor der Brust, er ist 53, trägt Schwarz, seine dunklen Locken liegen wirr um den Kopf. Seit 17 Jahren ist er Schuldnerberater. Er war einer der Ersten in Berlin. Wahrmann weiß immer ganz gut, wie es den Deutschen gerade geht. Erst kamen die ehemaligen Internet-Millionäre, dann die gescheiterten IchAGs und nun viele Hartz-IV-Empfänger. Immer

mehr und immer jüngere Menschen sitzen ihm gegenüber. Um zu ihm zu gelangen, müssen sie vorher ein halbes Jahr warten. 3,1 Millionen Haushalte in Deutschland sind überschuldet, mehr als doppelt so viele wie 1993. Hauptursachen dafür sind Arbeitslosigkeit, sinkende Einkommen und Schicksalsschläge wie Krankheiten und Ehekrisen. »Viele verdienen inzwischen nicht mal fünf Euro die Stunde«, sagt Wahrmann. Auch sonst hat sich

Serie: Helden von heute (4) Sie verdienen wenig, doch ohne sie ginge nichts: Menschen, deren Beruf es ist, anderen Menschen zu helfen. In unserer Serie porträtierten wir zuletzt eine Hamburger Altenpflegerin (Nr. 18/06), einen Landarzt aus Vorpommern (Nr. 19/06) und die Leiterin eines Jugendtreffs aus Frankfurt an der Oder (Nr. 20/06). In den kommenden Ausgaben stellen wir eine Kieler Ergotherapeutin vor, die schwerstbehinderte Kinder behandelt, und einen Strafvollzugsbeamten aus Cloppenburg

einiges verändert. Wahrmann nennt es Bewusstseinswandel. Er hat seine erste eigene Wohnung mit Möbeln vom Sperrmüll eingerichtet. Heute gibt es für alles Kredite. Konsum ist möglich, immer. Statussymbole sind wichtig: Küchen, Fernseher, Autos. Manche haben schon mit 16 Jahren 8000 Euro Schulden durch nicht bezahlte Handyrechnungen.

Auch Wahrmann hat Druck. Er braucht mindestens 100 »Kontakte« im Monat. Die Beratungsstelle wird von der Caritas und dem Berliner Senat betrieben. Wahrmann hat lange in Kreuzberg gearbeitet, seit vier Jahren ist er in Mitte. Nun sitzen oft Schauspieler, Politiker und Journalisten auf der anderen Seite des Tisches. Er erinnert sich an einen Jung-Star, der in einer Fernsehserie mitspielte. Als er aus der Sendung flog, hatte er 80 000 Euro Schulden und keine Ausbildung. »Der war praktisch lebensunfähig.« Wahrmann riet ihm, aus seinem Loft auszuziehen. Danach hat er ihn nicht mehr wiedergesehen. Seine Vorschläge zur Lebensveränderung kommen oft nicht gut an. Im Beratungszimmer wartet der nächste Klient, ein junger Mann, 23 Jahre alt, neben ihm wacht eine ältere Frau. »Ich bin die Mutter, ich fass das mal kurz zusammen«, sagt sie zu Wahrmann. Viele Schuldner bringen Mütter oder Freundinnen mit. Sie sind gefürchtet, manchmal schreien sie am Telefon oder auf dem Flur. Wahrmann muss lächeln, die Mutter redet weiter. Ihr Sohn habe Miet- und Telefonschulden, der Zwangsvollstrecker habe sich auch angekündigt. »Das Kind hat nicht Bescheid gesagt.« Der Sohn schweigt, Wahrmann liest den Vollstreckungsbescheid. »Wenn Rechtsanwaltskosten darauf sind, dürfen nicht auch noch Inkassokosten berechnet werden. Das ist illegal«, sagt er. Die Mutter: »Es gibt da noch ein anderes Problem: seine Kifferei.« Der Sohn sieht auf seine Knie. »Vor Ihnen sitzt einer, der auch in der Drogenszene drin war. Man kann da rauskommen«, sagt Wahrmann. »Wie viel geben sie dafür aus?« – »300 Euro im Monat.« Er verdient mit einem Minijob um die 700 Euro. Die Mutter hat eine halbe Stelle und muss auch ihre Tochter unterstützen, sie kann ihm nicht helfen. Das Studium hat er abgebrochen. »Schade, er ist hoch intelligent«, sagt sie. Als die beiden gegangen sind, sagt Wahrmann: »Der Junge hatte stark gerötete Augen, wenn die Mutter nicht dabei gewesen wäre, hätte ich noch härter nachgefragt.« Wahrmann sollte einmal den Laden seines Vaters übernehmen; er hat eine Kaufmannslehre in einem Feinkostgeschäft gemacht und wurde stellvertretender Filialleiter in einem Edeka-Markt. Die Langeweile bekämpfte er mit Drogen. »Wenn ich gewusst hätte, dass man Heroin auch inhalieren kann, säße ich heute nicht hier.« Wahrmann lächelt. Er führte ein Leben, in dem nichts mehr zusammenpasste. Am Tag besuchte er eine Betriebswirtschaftsschulung für Filialleiter, von dort rauschte er in die Tiefgarage zum Auto, fuhr los und verkaufte LSD-Trips. Sein erster Gläubiger war ein Dealer. Wahrmann kaufte in den siebziger Jahren 500 Gramm Haschisch auf Kredit, die Polizei erwischte ihn, und er hatte plötzlich 2500 Mark Schulden. Wahrmann kennt dieses Gefühl, wenn sich die Welt zum schmalen Tunnel verengt, niemand da, mit dem man reden könnte. Wahrmann nahm einen Trebegänger bei sich auf, kümmerte sich um ihn. Das war die Wende. »Das Soziale, Menschliche lag mir näher als Geld verdienen.« 1976 zog er nach Berlin, begann eine Sozialarbeiterausbildung. Es war auch eine Flucht aus der Drogenszene. Zuerst arbeitete er mit Haftentlassenen. »Das war Elendsverwaltung«, sagt er.

" SCHULDNERBERATUNG IN ZAHLEN

Der Bedarf wächst In Deutschland gibt es 1096 Schuldenberatungsstellen, ihre Kapazitäten reichen nur für 12 Prozent der verschuldeten Haushalte. Dabei ist die Zahl der privaten Insolvenzen Anfang 2006 im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gestiegen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung fordert deshalb eine Vereinfachung des Verbraucherinsolvenzverfahrens, das zu bürokratisch sei. Außerdem müssten Jugendliche in der Schule mehr über den Umgang mit Geld lernen. Das Bundesjustizministerium arbeitet unterdessen an einer Reform des Insolvenzrechts, die das Entschuldungsverfahren zulasten der Schuldner vereinfachen könnte. J. S.

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»Solange Leute Schulden haben, kannst du Sozialarbeit in die Tonne treten.« Im Dezember 1989 übernahm er die Schuldnerberatung im Sozialamt Kreuzberg. Er wohnte auch in dem Bezirk, und so folgten ihm Ratsuchende manchmal bis ins Schwimmbad. In Mitte kennen ihn nicht so viele. Wahrmann steht auf, geht zu seinem Computer, flucht, er ist wieder einmal abgestürzt. Er wartet auf eine Klientin, mit der er den Antrag auf Eröffnung des privaten Insolvenzverfahrens ausfüllen will. Frau K. ist klein, ihre blonden Haare trägt sie sorgfältig hochgesteckt, schwarze Spangen halten die Frisur. Sie ist Diplom-Philosophin. Ihr Abstieg begann mit einem Zwölffingerdarmdurchbruch und mehreren missglückten Operationen. Dadurch verlor sie ihren Job an der Universität. Frau K. führte ein Verfahren gegen die Klinik, die Richter entschieden gegen sie. Nun kamen die Rechnungen der Anwälte. Frau K. ist 62, sie ist sich sicher, dass sie keine Stelle mehr bekommen wird. Wahrmann bereitet das Antragsformular vor, es ist 42 Seiten lang. Vor zwei Jahren lief Frau K. durch Zufall an der Beratungsstelle vorbei. Zu dem Zeitpunkt hatte sie schon lange keine Gas-, Telefon- oder Stromrechnung mehr bezahlt, sich bemüht, die Mahnungen zu vergessen. Nach den Operationen war sie in eine billigere Wohnung gezogen, für die Renovierung hatte sie einen Kredit aufgenommen. Eine neuer Arbeitsvertrag wurde nicht verlängert, Frau K. konnte die Raten nicht mehr zahlen. Wahrmann war der Erste, dem sie ihre Not offenbarte. »Ich habe mir meine Schulden selbst übel genommen, dachte, das ist ein Makel, ehrenrührig.« Sie sieht zu Wahrmann, er habe sie damals getröstet. Wahrmann lächelt ein wenig peinlich berührt. Schulden sind wie ein Leben im Minus, im Negativen. Bis in die privaten Beziehungen hinein wirken sie zersetzend. Frau K. hatte sich auch von ihrer Tochter Geld geborgt. Wenn Frau K. sich jetzt ein Buch kauft, sagt die Tochter: »Du kannst es dir ja leisten.« Schuldner haben ihr Recht auf Genuss verwirkt. Wahrmann sagt: »Auch Bürgschaften aus Liebe sind selten geworden.« Vertrauen ist etwas für Dumme. Wahrmann steckt den Antrag in einen Briefumschlag. Frau K. bedankt sich. »Das ist mein Job, dafür werde ich bezahlt«, sagt Wahrmann. Manchmal scheint es, als müsse er sich mit Gewalt gegen zu viel Nähe wehren. Er verschränkt dann die Arme vor der Brust, seine Sprache wird technisch. Er behält auch nie die Originalpapiere seiner Klienten, immer nur die Kopien. »Es sind nicht meine Schulden, sondern deren.« Er muss sich schützen. Trotzdem mag er seine Arbeit: »Ich kann immer gute Nachrichten verkünden, erreiche Stundungen, Vergleiche, besänftige Gläubiger.« Hat sich sein Verhältnis zu Geld durch den Beruf verändert? Wahrmann nickt. Seine ältere Tochter gibt kaum Geld aus, aber die Kleine, die steigert bei eBay mit für Poster ihrer Lieblingsband. Da musste Wahrmann eingreifen. Er selbst führt ein Haushaltsbuch, was er auch allen Klienten empfiehlt. Er lebe etwas über seine Verhältnisse, sagt er. Für die letzte Reise mit der Familie nach Amerika nahm er einen Kredit bei der Bank auf. Carlo Wahrmann konnte nicht widerstehen.

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ngela Merkel fährt Ende der Woche nach China. Die Berliner hätten den Besuch lieber in den Herbst gelegt, aber die Chinesen wollten die neue deutsche Regierungschefin gern schneller bei sich sehen: Peking sollte nicht so viel länger warten als Washington und Moskau. Das zeigt Interesse, Respekt – und chinesisches Selbstbewusstsein. Es ist vollauf begründet: Beim Top-Krisenthema der internationalen Politik, dem Streit um das iranische Atomprogramm, braucht der Westen China nicht weniger als Russland. Die Bundeskanzlerin will ihre Gesprächspartner in Peking damit konfrontieren, dass Macht Verantwortung bedeutet, dass China sich nicht einfach von den Mullahs in Teheran oder vom brutalen Regime im Sudan Öl liefern lassen kann, und um Menschenrechte oder um die globale Sicherheit sollen sich lieber andere kümmern. Das ist Kritik, aber es steckt darin auch ein Bekenntnis zu den eigenen Grenzen, zur eigenen Schwäche: Wir im Westen schaffen es nicht mehr allein, die Last der Weltprobleme zu schultern. Gerhard Schröders China-Besuche waren Geschäftsreisen gewesen, Werbe- und Verkaufstouren für die deutsche Wirtschaft in einem boomenden Markt. Im Grunde waren sie unpolitisch, und auf eine paradoxe Weise war sogar der kontroverse Höhepunkt von Schröders ChinaPolitik unpolitisch: seine Forderung, dass die Europäische Union das Waffenembargo aufheben solle, das 1989 nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens verhängt worden war. An Geostrategie hatte er dabei nicht gedacht; er wird ehrlich überrascht gewesen sein, dass die Amerikaner, die Schutzmacht der Nichtchinesen in Asien, darin eine massive Provokation sahen. Doch das China des Jahres 2005 kann niemand mehr bloß als Wachstumsregion besuchen. Angela Merkel wird auch von einer Unternehmerdelegation begleitet, aber die Reise der Kanzlerin ist von vornherein die Antrittsvisite bei einer Weltmacht. Die Außenpolitik der Großen Koalition ist in der Welt bisher gut angekommen. Das Theatralische und Polarisierende der Vorgängerregierung ist verschwunden – Freundschaft mit Putin, Zerwürfnis mit Bush, Kampf um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Kanzlerin und Außenminister sind nüchterne Figuren, es fließt nicht mehr so viel Kraft ins Wichtigsein, die Politik wirkt irgendwie erleichtert und entlastet. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit, eigentlich vom ersten Tag an, hat die Regierung Normalität und Balance in der deutschen Diplomatie wiederhergestellt, die Amerikaner versöhnt, ohne

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die Russen zu verprellen, die Franzosen etwas auf Distanz geschoben und die Briten etwas näher herangezogen. Bei den Wirtschafts- und Sozialreformen mögen Bescheidenheit und »kleine Schritte« einen Mangel an Ehrgeiz zeigen, in den internationalen Beziehungen sind Alltäglichkeit und ein bisschen Langeweile erst einmal ganz gut. Außenpolitik muss nicht interessant sein. Trotzdem genügt es auf Dauer kaum, nicht Gerhard Schröder zu sein. Die Rückkehr zu Balance, Normalität, Vernunft ist bloß eine negative Qualität, noch keine Idee, kein politischer Wille. Zumal die Zeiten nicht »normal« sind: mit Amerika auf dem Weg vom Machtrausch in die Depression, mit einem von Irak über Iran bis zur palästinensischen Hamas brandgefährlichen Nahen Osten, mit den weltpolitisch unerprobten neuen Giganten in Asien. Dazu eine Europäische Union, die nicht weiß, für wie tot sie den in Frankreich und in den Niederlanden abgelehnten Verfassungsvertrag erklären soll. Genau weiß man allerdings, dass Chirac und Blair ihrem Ende nahe sind, dass im polnischen Kabinett immer bizarrere Gestalten Platz genommen haben, dass in Italien nach der anstößigen Regierung Berlusconi eine schwache Regierung Prodi droht.

päerin zu gelten, wie die polnischen oder baltischen Amerikafreunde: aufgewachsen unter kommunistischer Tyrannei und daher eine Verbündete im globalen Kreuzzug für die Freiheit. Wahrscheinlich ist das ein Missverständnis – für das in Washington unter Diktaturverdacht stehende Russland hat Angela Merkel viele gute Worte eingelegt. Doch wie sie am Ende zu der amerikanischen Weltanschauungs- und Regimewechsel-Politik steht, ist undeutlich.

Einsame Spitze.Weil die EU-Partner schwach sind, erscheint die Kanzlerin stark

Wir sind nicht immun gegen den Anti-Europa-Affekt

Merkel gilt bei Bush als prowestliche, antitotalitäre Mitteleuropäerin Guter Stil und Professionalität ziehen sich in dieser Lage wie eine ziemlich dünne Kruste über das globale Chaos. Die Verhandlungskünste der Deutschen in Sachen Iran sind imponierend, von der Kanzlerin über den Außenminister bis zu seinen Beamten waren sie mitentscheidend dafür, dass die Vereinigten Staaten einstweilen die Strategie der Europäer mittragen: alles tun, damit Russen und Chinesen bei der Stange bleiben. Gleich dahinter beginnen offene Fragen. Dass die Amerikaner mit den Iranern nicht direkt reden wollen und ihnen grundsätzlich nicht trauen, liegt letztlich daran, dass das Teheraner Regime in ihren Augen keine Legitimität besitzt, dass die Mullahs für sie Outcasts sind und bleiben. Bush ist angeschlagen, und manche seiner Berater mag der Mut verlassen haben, aber der Präsident selbst hat seine Leitphilosophie weltweiter Demokratie-Verbreitung sicher nicht aufgegeben. Was ist die deutsche Position dazu? Bei Außenminister Steinmeier ist ziemlich klar, dass er den Missionsidealismus für abwegig hält, sein Modell ist die Entspannungspolitik: Man kann und muss sich auch über Systemgrenzen hinweg arrangieren. Die Kanzlerin scheint bei Bush als typisch antitotalitäre, prowestliche Mitteleuro-

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Foto [M]: Peer Grim/dpa

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Eine gewisse Undeutlichkeit ist keine schlechte Diplomatie – warum den Freiheitsapostel Bush mit Bekenntnissen zur Realpolitik brüskieren, wenn er sich doch in der Praxis zur Zusammenarbeit mit Putin bekehren lässt? Es kann aber auch zu viel werden mit der Vorsicht und mit dem Vermeiden von Festlegungen. In der vergangenen Woche hat Angela Merkel eine sehr inhaltsarme Regierungserklärung zu Europa abgegeben. Man versteht sofort, warum sie sich jetzt nicht exponieren und keine konkreten Vorschläge zur Wiederbelebung des komatösen EU-Verfassungsvertrags machen wollte. Bevor die Franzosen im kommenden Mai einen neuen Präsidenten gewählt haben, geht in der EU nichts, jedenfalls nichts Großes. Dass die anderen europäischen Regierungen so schwach dastehen, konnte am Anfang noch wie eine Inspirations- und Führungschance für die Deutschen wirken; jetzt spürt man schon mehr die Hilflosigkeit, die aus der Einsamkeit kommt. Es war EU-politisch nicht verkehrt, es war ganz logisch, in dieser Lage mehr oder weniger nichts zu sagen. Europapolitisch war es trotzdem falsch. Die Kanzlerin scheint durchaus zu wissen, wie sehr das ganze Projekt auf der Kippe steht, sie hat davon gesprochen, dass eine »Neubegründung« des europäischen Unternehmens nötig sei. Es tickt hier eine Akzeptanz-Zeitbombe, es rumort ein Tiefenfrust über Entgrenzung und verschärften Wettbewerb, der viel brisanter ist als die offiziellen Brüsseler Probleme mit dem ungewissen Schicksal des Verfassungsvertrags. Die Bundesrepublik ist längst nicht mehr immun gegen den antieuropäischen Affekt, und es wäre die dringendste innenpolitische Aufgabe der deutschen Außenpolitik, ein Europa-Bild auf der Höhe der Zeit zu entwerfen. Das kann auch geschehen, wenn in der EU-Politik wenig läuft. Von Peking und Shanghai aus, wo Angela Merkel jetzt hinfährt, sieht man ganz klar, dass wir uns unter Kolossen wie China, Indien, Russland oder den USA nur zusammen, als Europäer, behaupten können.

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Bulgarien und Rumänien bekommen von der EU-Kommission miserable Noten – trotzdem sollten sie bald zur Union gehören

Die Bewohner Montenegros stimmen über ihre Unabhängigkeit von Serbien ab Von Tobias Kuhlmann

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viƒs, wandte er sich 1997 von diesem ab. Weil er für Demokratie war, sagen seine Unterstützer; weil er nicht aufs falsche Pferd setzen wollte, sagen seine Gegner. So widerwillig, wie er 2003 seine Unterschrift unter »Solanias« Geburtsurkunde gesetzt hat, so forsch betreibt er seitdem die Abspaltung. Für das Wohl des Volkes, sagt er, denn Serbien bremse sein Land. Für seinen eigenen Nutzen, sagen seine Kritiker. Denn zumindest eins bringt die Souveränität mit sich: Immunität für Djukanoviƒ – bei angeblichen

keiner so genau. Sollten am Ende die Separatisten ihre Fahne schwenken – eine solche hat Montenegro bereits –, könnte es erst recht kompliziert werden. Kann ein Kleinstaat überleben, wenn Serbien sich schmollend abwenden sollte wie angedroht? Arztbesuche oder ein Studium beim Nachbarn könnten sich viele Montenegriner dann nicht mehr leisten. Auch für Serbien wären die Folgen einer Abspaltung gravierend, weil die Albaner im Kosovo dann ein Argument mehr für die Unabhängigkeit hätten.

Die EU und Südosteuropa POLEN

UNGARN RUMÄNIEN

BOSNIEN HERZE- SCHWEIZ GOWINA

TSCHECHISCHE REPUBLIK

ÖSTERREICH

Montenegro

MOLDAWIEN

UNGARN

SLOWENIEN

MAKEDONIEN

UKRAINE

SLOWAKISCHE REPUBLIK

RUMÄNIEN

ITALIEN KROATIEN

BOSNIEN HERZEGOWINA SERBIEN UND MONTENEGRO

ALBANIEN

Schwarzes Meer BULGARIEN

ITALIEN MAKEDONIEN EU-Mitgliedsländer

ALBANIEN

Beitrittsländer Prekäre Länder

TÜRKEI GRIECHENLAND ZEIT-Grafik

Verwicklungen in den Zigarettenschmuggel zweifellos ein Vorteil. Wie die Bilanz am Ende für sein Land und Serbien aussieht, ist weniger klar. Der bisherige Staatsverband war eine Farce, nicht einmal auf eine einheitliche Währung oder Zolltarife konnten sich die beiden Republiken einigen. Auch ohne Unabhängigkeit scheint ein »Weiter so« ausgeschlossen. Nur was sich ändern ließe, weiß

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Eine Sechs für Sofia

Spaltpilz auf dem Balkan as serbische Publikum beim Eurovision Song Contest Mitte März zweifelte nicht eine Sekunde. Dass gerade eine montenegrinische Band den Vorentscheid im Staatsverband Serbien und Montenegro gewonnen hatte, konnte nur auf Manipulation zurückgehen. Statt eine Zugabe zu spielen, musste die Boy-Group von der Bühne flüchten. Das Land zog seine Teilnahme zurück, der Skandal war perfekt. Das Finale am Samstag wird ohne Serbien-Montenegro stattfinden. Der Zeitpunkt ist Zufall, aber am gleichen Wochenende könnten die montenegrinischen Wähler in einem Unabhängigkeitsreferendum den Schlussakkord für den Staatsverband setzen. Für Serbien wäre das ein schwerer Schlag, zumal es derzeit genug Probleme hat: Die EU hat die gemeinsamen Gespräche unterbrochen, weil Serbien den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladiƒ nicht festgenommen hat. Die Kontrolle über das Kosovo hat Belgrad de facto bereits verloren. Anfang der Neunziger, als Montenegro schon einmal die Chance auf Unabhängigkeit hatte, wollten die meisten seiner Bürger nicht; 2003, als viele in die Unabhängigkeit wollten, konnten sie nicht mehr. Denn die EU unter ihrem Außenpolitik-Chef Javier Solana drückte das kleine Montenegro in die Union mit dem viel größeren Serbien – aus Angst vor Instabilität. »Solania« nennen viele Montenegriner das Doppelland nun zynisch. Doch ob sich »Solania« auflöst, ist ungewiss. Denn den Befürwortern der Unabhängigkeit stehen fast genauso viele Gegner gegenüber. Sprache und Kultur sind gleich, und bisher konnten viele nicht einmal sagen, ob sie nun Montenegriner, Serben oder beides sind. »Jetzt ist das Land tief gespalten«, sagt DuΔan Reljiƒ von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Rund ein Drittel der Bevölkerung in Montenegro sieht sich als serbisch und wird zum Großteil wohl gegen die Unabhängigkeit stimmen. Mehr als 40 Prozent bezeichnen sich als Montenegriner. Gemeinsam mit den Minderheiten werden sie wohl mehrheitlich für eine Abspaltung votieren. Der wichtigste Verfechter der Unabhängigkeit aber ist der Ministerpräsident selbst. War Milo Djukanoviƒ zunächst ein Zögling MiloΔe-

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Doch am meisten fürchten sich fast alle vor dem dritten Szenario, der »Grauzone«. Denn die Befürworter der Unabhängigkeit müssen mindestens 55 Prozent verbuchen. »Wenn das Ergebnis aber knapp darunter liegt, kann die Lage unkalkulierbar werden«, sagt Dejan Anastasijeviƒ vom Belgrader Magazin Vreme. Manche fürchten dann gar eine Spaltung des Kleinstaats Montenegro.

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Schwere Mängel im Justizapparat, arge Schwächen im Kampf gegen die Korruption. Das attestiert die Brüsseler EU-Kommission den Kandidaten Bulgarien und Rumänien in dieser Woche. Ist der Traum von der Aufnahme in den Club, die für den 1. Januar 2007 versprochen war, also zerstoben? Weit gefehlt. Kommissionspräsident José Manuel Barroso und sein zuständiger Kollege Olli Rehn halten im Prinzip am Datum fest. Es sei »unsere Pflicht, die beiden dann aufzunehmen«, meinte Rehn – »sobald die Bedingungen erfüllt sind«. Aber reicht die knappe Frist bis Jahresende ? Ein Blick ins Kleingedruckte der Fortschrittsberichte nährt Zweifel. Beispiel Rumänien: Die Tester aus dem Brüsseler Club bemängeln 90 Notverordnungen, die binnen sechs Monaten durchs Parlament gepeitscht wurden, »zum Schaden des Parlaments und der Transparenz des Gesetzgebungsprozesses«. Sie rügen etwa das Fehlen einer unabhängigen Behörde, die Vermögenserklärungen überprüfen könne, wie überhaupt Bukarest sich beim Kampf gegen die Korruption weiter anstrengen müsse. Nur »begrenzte Fortschritte« stellen die EU-Prüfer bei Missständen in Gefängnissen und bei Schutz und Eingliederung der Roma fest. Strenger noch die Noten für den Kandidaten Bulgarien. Im Zeugnis steht nachzulesen: »Nur begrenzte Fortschritte sowohl bei Qualität als auch bei Rechenschaft der Justiz«. Es gebe kaum Erfolge im Kampf gegen die Korruption auf den höheren und höchsten Rängen. Allenthalben hagelt es Fünfen und Sechsen für Sofia: Schlechte Resultate »bei der Untersuchung und Verfolgung von Netzwerken des organisierten Verbrechens«, »der Handel mit Neugeborenen wird zunehmend zum Problem«. Weiterhin komme es zur Misshandlung von Gefangenen, Einrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen seien überfüllt, »die Lebensbedingungen dort ärmlich«. Und das alles soll nicht genügen, den Kandidaten erst einmal tüchtig nachsitzen, ja sitzen bleiben zu lassen? Die Kommission hätte das den Staats- und Regierungschefs empfehlen können. So weit ging sie nicht, weil jenes Datum des 1. 1. 2007 in den Beitrittsverträgen vom April 2005 leichtsinnig festgeschrieben wurde und diese Verträge neben den beiden künftigen Mitgliedern inzwischen auch die meisten Altmitglieder

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ratifiziert haben. Die Verträge lassen allenfalls einen Aufschub um ein Jahr zu, für eine Reform an Haupt und Gliedern wohl noch immer zu wenig. Ausgehandelt haben derart verkorkste Regeln und Daten die Regierungschefs – und nicht »Brüssel«, das nun richten soll, was kaum noch zu richten ist. Freilich, unleugbar sind neben den erschreckenden Mängeln auch die erfolgreichen Mühen der Kandidaten, die eigenen Sitten und Gesetze den Usancen im Club anzupassen. In BrüsANZEIGE

sel wird das Entsetzen durch eine historische Erfahrung gemildert: Diese Europäische Union weiß um ihren zivilisatorischen Charme, der einst auf die vormaligen Diktaturen des Mittelmeerraumes und jüngst auf die zehn ehemals kommunistischen Kandidaten so unwiderstehlich wirkte. Bisher hat sich noch jeder Kandidat ins Zeug gelegt. Das wird auch bei Bulgarien und Rumänien nicht anders sein. Irgendwie. Joachim Fritz-Vannahme

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»Sollen sie nur kommen!« Foto: Behrouz Mehri/AFP

Irans ultrakonservatives Regime stimmt das Land auf Wirtschaftssanktionen ein Von Matthias Nass

Frauen in Teheran. Die Machthaber geben den Druck des Auslands nach innen weiter

Teheran er Regen der Vortage hat den Abendhimmel klar gewaschen. Glitzernd liegt uns Teheran zu Füßen. 14 Millionen? 16 Millionen? Niemand weiß genau, wie viele Menschen in Irans Hauptstadt leben. Von hier oben betrachtet, von den Ausläufern des Elburs-Gebirges im Norden der Stadt, wo das Außenministerium gern seine Gäste bewirtet, ist Teheran ein endloses Lichtermeer, durch das sich gleißend die Bänder der Stadtautobahnen ziehen. Könnten hier schon bald amerikanische Bomben einschlagen? Daran glaubt niemand an diesem Abend. Die Stimmung ist gelöst, als der Vize-Außenminister für den kommenden Tag eine »große Überraschung« ankündigt – für jenen Tag, an dem sich in New York die Außenminister Amerikas, Englands, Frankreichs, Russlands, Chinas und Deutschlands treffen werden. Nein, er will sein Geheimnis nicht preisgeben, man werde es in wenigen Stunden ja erfahren. Aber sein Schmunzeln deutet Genugtuung an. Haben womöglich die Russen die Einheitsfront mit dem Westen im Streit um das iranische Nuklearprogramm aufgekündigt? Falsch, hören wir am nächsten Morgen, Irans Präsident Mahmud Ahmadineschad hat George W. Bush einen Brief geschrieben. Wobei das die Sache vielleicht nicht richtig trifft. Er hat dem Amerikaner ein 18 Seiten langes, religiös auftrumpfendes Pamphlet überreichen lassen, in dem er Bush (»Man hat mir gesagt, dass Euer Exzellenz den Lehren Jesu – Friede sei mit ihm – folgt«) ein Sündenregister vorhält, das von den gequälten Gefangenen in Guantánamo bis zur Unterdrückung Palästinas durch das »Phänomen Israel« reicht. Nur vom Streit um Irans atomare Ambitionen ist nicht die Rede. Der Muslim Ahmadineschad liest dem Christen Bush die Leviten, herausfordernd, von Herrscher zu Herrscher. »Der Tag wird kommen, an dem sich alle Menschen vor dem Gericht des Allmächtigen versammeln, auf dass ihre Taten geprüft werden.« Nein, dies ist nicht nur ein Brief an den amerikanischen Präsidenten, es ist auch eine Botschaft an die Welt. Hier spricht eine der alten Zivilisationen, eine der großen Glaubensgemeinschaften zu euch, sagt diese Botschaft. Täuscht euch nicht: Wir sind stark, wir lassen uns nicht unter Druck setzen. Ihr werdet euch an uns die Finger verbrennen. Am selben Tag, an dem Ahmadineschads Brief in Washington eintrifft, verlangt in Teheran ein hochrangiger Vertreter des Regimes vom Westen »Gleichheit und Gerechtigkeit« im Umgang mit seinem Land. »Seit dem Sieg der Islamischen Revolution in Iran sehen wir ein Erwachen der islamischen Welt«, sagt er seinen europäischen Gästen. »Ein Viertel der Menschen auf dieser Welt akzeptiert nicht mehr, dass der Westen allein entscheidet.«

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»Ahmadineschad wird acht Jahre lang bleiben« Es ist dieser hohe Ton, der den Atomkonflikt mit Iran so gefährlich auflädt. Wer dieser Tage Teheran besucht, entdeckt kein Zeichen für ein Einlenken. Im Gegenteil. Je größer der Druck, desto entschlossener unser Widerstand, sagen die Vertreter der Regierung. Und jene, die gestern noch, unter den Präsidenten Rafsandschani und Chatami, an der Macht waren, warnen vor Illusionen: Ahmadineschad sitze fest im Sattel. Sechstausend Führungspositionen seien in der Regierung neu besetzt worden, vom Minister bis hinunter zum Abteilungsleiter. Ist es eigentlich noch richtig, vom »MullahRegime« zu sprechen? Gewiss, über Parlament, Regierung und Präsident amtiert als oberste Instanz noch immer der geistliche Führer, Ajatollah Ali Chamenei; er hat das letzte Wort (wie er dieser Tage bewies, als er die Entscheidung Ahmadineschads revidierte, auch Frauen sollten sich künftig Fußballspiele im Stadion ansehen dürfen). Aber nicht mehr die Geistlichen sind die wichtigsten Stützen der Regierung, sondern die Revolutionsgarden und die Milizen. »Linke Sozialrevolutionäre« gäben heute den Ton an, sagt ein ausländischer Beobachter. Iraner, die unter dem moderaten Präsidenten Chatami hohe Pos-

ten bekleideten und nun kalt gestellt sind, sprechen gar von »Mob-Politik«. »Gehen Sie davon aus, dass Ahmadineschad acht Jahre lang im Amt bleiben wird«, ist in Teheran zu hören. Zwei volle Wahlperioden – keine angenehmen Aussichten angesichts des Zynismus, mit dem er ein ums andere Mal den Holocaust leugnet und Israel sein Existenzrecht bestreitet, wie auch angesichts der Aggressivität, mit der er das »Recht« Irans auf die Nutzung der Kernenergie einfordert. Niemand mag daran glauben, dass es ihm um eine friedliche Nutzung geht. Gerade wieder haben Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Spuren von hochangereichertem Uran gefunden, das man allein zur Waffenproduktion verwenden kann, nicht aber zum Betreiben eines Kernkraftwerks. Gibt es also doch das geheime atomare »Parallelprogramm« unter Kontrolle der Revolutionsgarden, von dessen Existenz die Israelis überzeugt sind?

veröffentlichen, in der sie die Aussetzung der UranAnreicherung fordert; schon der Besitz dieser Erklärung ist illegal. »Für Intellektuelle sind dies gefährliche Zeiten«, sagt ein Universitätsprofessor, der nicht genannt werden will. Iranische Gesprächspartner, die unter dem moderaten Präsidenten Chatami die Sache der Islamischen Republik verteidigten, nennen die Politik Ahmadineschads eine »Rebellion«. Unfähig, einfältig und weltfremd, lautet ihr Urteil. Kopfschüttelnd erzählen sie, dass in diesem Jahr die Uhren nicht auf die Sommerzeit umgestellt wurden, weil dann die Gläubigen ihre Gebete nicht zur richtigen Stunde hätten sprechen können; dass sich durch die Sommerzeit Stromkosten von 300 Millionen Dollar einsparen ließen, hat die Regierung nicht interessiert.

»Ignorieren Sie ihn einfach«, seufzt auf einer Konferenz der Tischnachbar, als ein Sprecher der Regierung über das Lakaientum der Europäer gegenüber Amerika lamentiert. Bekehrungseifer und Größenwahn fließen in seiner Suada zusammen. Ähnlich beim Chefredakteur von Hamshahri – jener Zeitung im Besitz des Teheraner Stadtrats, die als Antwort auf die dänischen Mohammed-Karikaturen einen Karikaturistenwettbewerb zum Holocaust ausgeschrieben hatte. »Man sollte sich daran gewöhnen, dass die Iraner auf Druck nicht reagieren werden«, schwadroniert er. Es sei nämlich so, dass viele Länder sich vor der Politik Washingtons nur deshalb fürchteten, »weil sie nicht wissen, wie schwach die Amerikaner und wie stark wir sind. Sollen sie nur kommen!« Kommen werden die Amerikaner so rasch nicht. Ihr Druck

Seit Jahresbeginn gibt es keine Bankkredite mehr Achtzehn Jahre lang hat Iran die IAEA hinters Licht geführt; wer soll dem Land jetzt noch trauen? Anders als im Fall Irak sind sich Amerikaner und Europäer diesmal einig – sehr zur Verblüffung iranischer Regierungsvertreter, die im Gespräch immer wieder eine »selbstständigere« europäische Außenpolitik anmahnen. Aber gerade hat Angela Merkel in Washington wieder bekräftigt, Iran dürfe »auf gar keinen Fall« in den Besitz von Kernwaffen kommen. Was sie von George W. Bush unterscheidet? Dem Amerikaner geht es wie ihr um die Nichtverbreitung von Kernwaffen; aber er verliert auch das Fernziel eines Regimewechsels nicht aus den Augen. Der Wunsch der Europäer, aber auch vieler Demokraten und mancher Republikaner zu Hause, er möge doch das direkte Gespräch mit den Machthabern in Teheran suchen, ihnen vielleicht sogar eine Art Sicherheitsgarantie für den Fall aussprechen, dass diese ihre Atompläne aufgäben, dieser Wunsch stößt bei ihm auf taube Ohren. Dennoch, diesmal wird sich der Westen so leicht nicht auseinander dividieren lassen. Die Franzosen treten härter auf als die Amerikaner. Tony Blair hat gerade seinen Außenminister Jack Straw gefeuert, der Überlegungen zu einem militärischen Eingreifen in Iran schlicht »verrückt« genannt hatte. Und der Bundesregierung bleibt gar keine andere Wahl, als dem Holocaust-Leugner Ahmadineschad mit Härte zu begegnen. Da aber auch Iran nicht einlenken wird, dürfte der Konflikt eskalieren. In Teheran rechnen alle mit Sanktionen. Und so könnten deren einzelne Stufen aussehen, beginnend mit gezielten Nadelstichen gegen das Regime, so genannten smart sanctions: Zunächst treten Reisebeschränkungen für das Führungspersonal der Islamischen Republik in Kraft; dann werden die iranischen Guthaben im Ausland eingefroren; schließlich wird der Handel ausgesetzt, werden Investitionen in Iran verboten. »In Wahrheit sind die Sanktionen doch schon seit Monaten in Kraft«, sagt ein iranischer Journalist. Seit Jahresbeginn gebe es praktisch keine Bankkredite für Geschäfte mit Iran mehr. Reiche Iraner haben Milliarden ins Ausland geschafft, vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate sind das Ziel der Kapitalflucht. »Die Regierung bereitet das Land auf schwere Zeiten vor«, sagt ein Politikwissenschaftler; schon jetzt gebe es Pläne, in der zweiten Jahreshälfte das Benzin zu rationieren. Natürlich wird das Regime den Druck nach innen weitergeben. »Einen Teil des Preises werden diejenigen zahlen, die für mehr Freiheit und Demokratie eintreten«, sagt eine europäische Diplomatin, »das sieht man jetzt schon.« So wurde vor wenigen Tagen der Philosoph Ramin Jahanbegloo verhaftet, der führende westliche Intellektuelle nach Teheran geholt hat (ZEIT Nr. 20/06). Auf das Büro der eben erst gegründeten kritischen Zeitung Etemad e Melli wurde ein nächtlicher Brandanschlag verübt. Der Oppositionsgruppe Musharakat (PartizipationsFront) wird eine Zeitungslizenz verweigert. Die Partei von Mohammed Resa Chatami, Bruder des Ex-Präsidenten, darf ihre Erklärung nicht

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allerdings wird zunehmen. Die Europäer wollen mit politischen und wirtschaftlichen »Anreizen« noch einmal versuchen, Iran zum Nachgeben zu bewegen. Bei einem Misserfolg werden sie eine Resolution im Sicherheitsrat einbringen, die nach Kapitel VII der UN-Charta Sanktionen androht. Ahmadineschad, so scheint es, sieht dem gleichmütig entgegen. Jenen Iranern, die die Welt kennen, macht dieser Mann Angst. Die Lage werde sich zuspitzen, fürchten sie. Als Antwort auf Sanktionen könnte Iran aus der Internationalen Atomenergiebehörde austreten und den Atomwaffensperrvertrag aufkündigen. »Nordkorea-Szenario« heißt das in Teheran. »Es steht auf Messers Schneide«, gibt einer dem Besucher mit auf den Weg. Gerade ist er seines Postens enthoben worden.

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Brüll-Show in Paris In Frankreich tobt die »Clearstream«-Affäre, bei der Premier de Villepin mit Geheimdiensten seinen Parteichef Sarkozy verfolgt haben soll, der aus seiner Opferrolle wiederum willkommenes politisches Kapital schlägt. Derweil rätseln viele Franzosen, welcher Aufführung sie da eigentlich beiwohnen: einer antiken Tragödie aus schuldlosen Verstrickungen oder eher einem Shakespeare-Drama voller Königsmörder? Weit gefehlt: Es ist eine Art Reality-TV, eine Mischung aus Brüll-Show und ContainerExperiment, bei der sich Kandidatenzwist in Verunglimpfungen entlädt. Wie bei einem öffentlich übertragenen Scheidungsprozess liegen sich die Nummer eins und Nummer zwei der Regierung in den Haaren. Beide möchten möglichst schuldlos aus der Mesalliance herausgehen und ein besseres Leben beginnen. Denn 2007 wird gewählt, und jeder träumt vom Neuanfang. Doch weil Hass und Misstrauen so groß sind, wagt keiner den ersten Schritt. Eigentlich handelt es sich eher um eine Mini-Affäre, die allein kaum das Gewicht hätte, ein Land politisch fast lahm zu legen. Doch aufgebauscht durch den internen Profilierungskampf, durchbricht, ganz wie im Reality-TV, die Tyrannei der persönlichen Leidenschaften jede öffentliche Schamschwelle. Jetzt müsste der Staatspräsident aus der Kulisse treten und den Kandidatenkrieg um seine Nachfolge damit beenden, dass er seine beiden ersten Männer an die Luft setzt. Doch Mitspieler, die aus dem Container fliegen, gibt es leider nur im Fernsehen. Und im Übrigen würde es nichts daran ändern, dass Chirac, sollte er es wagen, noch einmal zu kandidieren, bei den nächsten Wahlen 2007 selbst fällig wäre. Michael Mönninger

Foto [M]: Laura J. Gardner/AP

Frankreichs Politiker spielen ihren Skandal als »Reality-TV«

Gang nach Canossa. Vor Studenten der Liberty University, einer Hochburg der Evangelikalen im Bundesstaat Virginia, muss John McCain um Zustimmung buhlen

Der Mann nach Bush ? John McCain, moderater Republikaner, will ins Weiße Haus. Sein größter Gegner ist die christliche Rechte Von Thomas Kleine-Brockhoff

Lynchburg, Virginia s ist dieses irritierende Bild, das sich einprägen wird. Wie der Senator neben dem Prediger auf der Bühne steht, John McCain neben Jerry Falwell. Freundlich miteinander plaudernd, als sei nie etwas geschehen. Als hätte Falwell den Star der moderaten Republikaner nie des »Verrats« an der konservativen Sache bezichtigt. Als hätte McCain den Altmeister der christlichen Rechten nie einen »teuflischen Einfluss« auf die Republikanische Partei zugeschrieben. Vergeben? Vergessen? Nun also beugt sich John McCain nieder und lässt sich von seinem Erzfeind Jerry Falwell eine weiße Schärpe umhängen, als Zeichen der Ehrendoktorwürde, die er soeben wegen seiner »Ver-

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dienste um die Verbreitung konservativer Ideen« erhalten hat. Denn Falwell ist nicht nur ein berühmter Fernsehprediger, sondern auch Präsident einer Universität, der Liberty University. Mehr als 20 000 Gottesfürchtige studieren an Amerikas größter religiöser Hochschule. Heute werden die frisch Graduierten verabschiedet, und deshalb sind Eltern zu Tausenden in die Basketball-Halle geeilt. »Jerry! Jerry!«-Rufe füllen die Arena. Falwell ist hier ein Held, der sich Amerikas moralischem Niedergang entgegenstemmt und deshalb kämpft gegen Abtreibung, Schwulenehe, Stammzellforschung und wie all die gesellschaftszersetzenden Phänome auch heißen mögen. Viele finden es bis heute richtig, dass der Gründer der Moral Majority im Terroranschlag vom September

2001 eine gerechte Himmelsstrafe für eine sündige Nation erkannte. Von Pastor Jerry erleuchtet, darf nun wieder ein Jahrgang seiner Jünger hinaustreten in ein Leben im Namen der Mission. »Halleluja«, jauchzt der Hochschulchor, es naht der Höhepunkt der Feierlichkeiten, die Rede des Senators. Manchmal kann man sich Politik gar nicht vordergründig genug vorstellen. Es ist nämlich ganz einfach: Senator McCain befindet sich mitten in einem Präsidentschaftswahlkampf, der offiziell noch gar nicht begonnen hat, und muss als Erstes seine rechte Flanke sichern. Während sich der hässliche Herbst der Präsidentschaft Bush noch 1000 Tage hinziehen wird, stellen sich im Hintergrund schon die Kandidaten für die Nachfolge auf. Gegenwärtig deutet alles auf einen Kampf der Titanen hin: Hillary Clinton gegen John McCain. Dabei haben die beiden Favoriten unterschiedliche Herausforderungen zu meistern. Clinton muss nicht ihre Partei fürchten, sondern die Wähler. Für McCain ist es umgekehrt. Ihn verehren nicht nur moderate Republikaner, sondern auch die Wechselwähler der Mitte, die fast jede Wahl entscheiden. McCain steht in ihren Augen für Geradlinigkeit und die moralische Rehabilitation der Supermacht. »Das Gewissen der Nation« nannte man ihn, den ehemaligen Kriegsgefangenen und Folteropfer des Vietcong, als der sich ausdrücklich gegen seinen Präsidenten und dessen Aufweichung des Folterverbots wandte. Bloß muss der Senator aus Arizona zuerst die Nominierung seiner Partei gewinnen – und der kann er sich keineswegs sicher sein. Denn hier übt die Minderheit der Rechts-Religiösen entscheidenden Einfluss aus. McCain muss also mindestens dafür sorgen, dass sie stillhalten und ihn nicht aktiv bekämpfen. Deshalb die Versöhnungsshow von Lynchburg.

Vor sechs Jahren hat er schon einmal verloren – gegen Bush Der Senator tritt ans Rednerpult. Er trägt einen schlichten schwarzen Talar. Verhaltener Applaus begrüßt ihn. Wird er versuchen, die Herzen zu gewinnen, indem er sich in den Dienst von Glauben, Ehe und Familie stellt? McCain wittert die Gefahr und weicht aus. »Dienst am Vaterland« ist stattdessen sein Thema. Er spricht wie der Präsident, der er erst noch werden möchte. Eine schöne Sonntagsrede, wie es scheint. Doch als McCain fordert, einander in der Politik »nicht wie Feinde, sondern wie Landsleute« zu behandeln, wird der Hintersinn deutlich. Es ist ein Appell in eigener Sache. Soll heißen: Bitte nicht wieder John McCain zerstören. Ganz still ist es in der Arena geworden. Vor sechs Jahren nahm John McCain erstmals Anlauf aufs Weiße Haus. Er war ein arrivierter Senator aus Arizona und schien doch einer dieser chancenlosen Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaft zu sein. Er redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war, vertrat Ansichten wider die Partei-Orthodoxie, riss Witze und verdiente sich den Ehrennamen »Citizen McCain«. Die Linksliberalen erkoren ihn zu ihrem Lieblingsrechten. Endlos stand er Reportern zur Verfügung und wurde so zu deren Liebling. »Meine Basis« nannte McCain die Medien. Bei der ersten Vorwahl in New Hampshire legte er einen sensationellen Sieg vor und demütigte den Kandidaten des ParteiEstablishments, einen Mann namens George W. Bush. Doch das Imperium schlug zurück. Die nächste Vorwahl fand in South Carolina statt, einer Hochburg der religiösen Rechten. Bush entschloss sich in der Not zum Strategiewechsel: Er biederte sich bei den Rechts-Christen an und versprach ihnen eine wertkonservative Agenda. Zugleich begann eine Schmutzkampagne gegen John McCain. Aus vorsorglich anonymen Quellen sickerte das Gerücht, John McCain sei psychisch instabil – eine Folge seiner Kriegsgefangenschaft im »Hanoi Hilton«, einem Foltergefängnis des Vietcong. Zugleich trat Kandidat Bush mit einem Kriegskameraden McCains auf, der behauptete, McCain habe nach dem Vietnamkrieg die Veteranen im

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Stich gelassen. Gegen die Verleumdungen konnte McCain sich nicht wehren und verlor – South Carolina und die Präsidentschaft. Dem siegreichen Bush rief er hinterher, er solle »sich schämen« für seine Kampagne. Für die Formulierung vom »teuflischen Einfluss« des Fernsehpredigers Falwell musste er sich entschuldigen. Noch heute hallt der Satz nach.

McCain geht, das Kammerorchester spielt »Never give up« Nach der Niederlage ging McCain gegen den neuen Präsidenten in Stellung. Eine Art Kalter Krieg begann. Es dauerte Jahre und bedurfte der Fühlungnahme von Emissären, bis Bush und McCain wieder zusammenfanden. Vom Machtverlust bedroht, fragte der Präsident 2004, ob McCain ihm helfen könne, wiedergewählt zu werden. Als McCain endlich neben Bush auf eine Bühne trat, griff Bush zu und umarmte den arglosen Senator aus Arizona mit Klammergriff. Denn McCain, der Geradlinige, konnte Bush jene Glaubwürdigkeit leihen, die der Präsident im Geflecht der Halbwahrheiten rund um den Irakkrieg verloren hatte. Für McCain war es der Beginn des Comebacks. Langsam drang er selbst vor ins Partei-Establishment. Jetzt muss er noch dem gottgefälligen Teil der Basis gefallen. Zur Vorbereitung seines Auftritts in Lynchburg hat er in jedes Mikrofon gesagt, er sei »kein liberaler Republikaner«, auch »kein moderater Republikaner«, sondern »ein konservativer Republikaner«. Und diese Volte soll man ihm abnehmen? Einem Mann, der öffentlich damit geflirtet hat, die Partei zu wechseln? Und erst die politischen Positionen: Er will das Abtreibungsrecht nicht verändern, kämpft gegen Treibhausgase, gegen freien Waffenverkauf, gegen Spendenmillionen in der Politik, für Stammzellforschung, für Legalisierung gesetzwidriger Einwanderer. Das alles vertritt also ein »konservativer Republikaner«? Kommentar der linksliberalen New Republic: »Geradezu lachhaft.« So wird John McCains Auftritt in Lynchburg zum Eiertanz. Christen seien geübt darin zu vergeben, hat Jerry Falwell bereits erklärt. Versöhnen will sich auch McCain, darüber aber nicht zum Instrument der religiösen Rechten werden. Drum lässt er die moralinsauren Lieblingsthemen der Gottesfürchtigen einfach weg. Sein Kapital bleibt die Glaubwürdigkeit und sein Ruf als »American hero«. Jedermann kennt inzwischen die Geschichte seiner Kriegsgefangenschaft, in der er trotz Folter das Angebot der Freilassung ausschlug, solange nicht alle anderen amerikanischen Gefangenen ANZEIGE

freikämen. In der Politik gilt er als »straight talker«, als einer, der sagt, wie es ist – ohne die Wortgirlanden und ohne die Verklärungen, die das Weiße Haus tagtäglich verbreitet. Nur solange er als ehrliche Haut gilt, kann es für das republikanische Problem in Washington eine republikanische Lösung geben. Doch mit dem Besuch in Lynchburg beginnt McCain zu taktieren – und das könnte seine Reputation ankratzen. Als »großen Amerikaner« hat Pastor Falwell den Redner eingeführt. Der bedankt sich mit einer patriotischen Rede, die niemandem wehtut. Am Schluss bleibt der Applaus so verhalten wie zu Beginn. Schnell tritt Senator McCain ab. Der unerklärte Kandidat eilt zum nächsten Auftritt seines unerklärten Wahlkampfes. Das Kammerorchester spielt Never give up.

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SachsenAnhalt

Z UM B E I S P I E L BadenWürttemberg

Illustrationen: Cony Theis für DIE ZEIT; Foto [M]: Klaus Franke (r.)

Alle schauten weg Der Täter ein Mann, das Opfer eine Frau – in Deutschland heißt so etwas »Familiendrama«. Ein Fall aus Sachsen-Anhalt Von Florian Klenk »Weil er in seiner Ehre verletzt war«, so die Staatsanwältin, hat Joachim B. getötet

Magdeburg m Nachmittag des 17. November hatte er ihr zum letzten Mal aufgelauert. Diesmal vor dem Kindergarten in Schönebeck. Er nahm ihr das Handy weg und kontrollierte, wen sie angerufen hatte. Dann hörten Passanten Hilfeschreie. Er kniete auf ihr und stach ihr mit einem Messer sechsmal ins Gesicht. Die Kosmetikerin Nicole K. richtete sich auf, presste die Hand an ihre Wunden. Doch das Blut, so erinnert sich eine Zeugin, »spritzte so schnell heraus, dass sie keine Chance hatte«. Der Täter, so die Staatsanwältin, »tötete, weil er sich in seiner Ehre verletzt sah«. Er habe nicht akzeptieren wollen, dass »sie nicht sein Eigentum war, sondern selbstständige Entscheidungen traf«. So ein Pädoyer klingt vertraut dieser Tage. Doch die Medien berichteten nur in Randspalten über den Prozess, der vergangene Woche am Landgericht Magdeburg begann. Es war ja auch kein archaisches Familiengericht, das die Hinrichtung einer selbstbewussten Frau zur Ehrenrettung beschloss. Und der Mann, der die Mutter seines Sohnes tötete, war kein Mitglied der »Parallelgesellschaft«, sondern der deutsche Fensterputzer Joachim B. Die Anwältin der als Nebenklägerin auftretenden Hinterbliebenen sagt: »Nach außen hin war das eine normale deutsche Familie, so wie hunderttausend andere auch.« Stalking, permanente Nachstellung, wie Nicole K. sie bis zum Tag ihres Todes erdulden musste, ist Teil der deutschen Normalität. 800 000 Opfer traf es im Lauf der letzten fünf Jahre. Vergangenen Donnerstag, während in Magdeburg eine Staatsanwältin die Anklage verlas, brachte in Ber-

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lin Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) endlich ihr Anti-Stalking-Gesetz im Bundestag ein. Bis zu zehn Jahre Haft drohen künftig in Fällen »extremer Belästigung« oder bei »Gefahr für Leib und Leben der Opfer«. Solche Extremfälle sind nicht selten. Jedes fünfte Stalking-Opfer, ergab eine Studie der TU Darmstadt, erleidet massive Gewalttaten. Gewöhnlich ist in den Medien dann von »Ehedramen« die Rede. Auch das Ehedrama gehört zur deutschen Normalität. Einige Meldungen aus den vergangenen Tagen: Erftstadt: Arzt erschießt Frau, Kind und sich selbst. Saarbrücken: Eine Rentnerin springt vom Balkon, weil ihr Mann auf sie schießt. Erlangen: Ein Mann lauert seiner Exfrau auf, schießt auf sie. Kempten: Er stach sie tot.

Der Täter war harmlos sagt ein Zeuge. »Nur einmal griff sie ihm ins Messer« Ein Nachbar des Angeklagten tritt in den Zeugenstand, ehemaliger Hausmeister, »Beruf: HartzIV-Empfänger«, wie er sagt. »Ein richtiger Kumpel« sei der Joachim gewesen, vielleicht ein wenig eifersüchtig, das schon. Aber gewalttätig? »Nee, der nicht.« Ja, »einmal hat sie ihm ins Messer gegriffen«. Ein anderes Mal, so berichtet eine Freundin der Ermordeten, »hat sie mir erzählt, dass er sie im Auto in der Elbe versenken wollte«. Sie versuchte aus dem Wagen zu springen. Und die Möbel hatte er immer wieder zertrümmert – »aber nur wenn er eins über den Durst trank«. Haben sie das angezeigt? »Nee«, sagt die Zeugin, »das nicht.« Man saß lieber abends gemütlich zusammen, in der Straße der Jugend. Und nächtens, so erzählt es

der Hausmeister, »nahm sie den Kleinen zu sich ins Bett, damit er sie in Ruhe lässt«. Joachim B. war in der Nachbarschaft als notorischer Stalker bekannt. Zugleich galt er als unbescholtener Mann, obwohl er auch seine vorherigen Freundinnen mit dem Tod bedroht hatte. Als eine von ihnen sich an die Polizei wandte, fiel die Geldstrafe für den Täter so niedrig aus, dass sie in keinem Strafregister aufschien. Jetzt sitzt Joachim B. als Mörder auf der Anklagebank, und drei Beamtinnen der Magdeburger Polizei schreiben im Zuschauerraum mit. »Werden solche Opfer von der Polizei zu wenig ernst genommen?«, fragt die Kriminalistin Dorit Rothmann. Es scheint so. Nach diesem und einem weiteren Frauenmord in Schönebeck reifte im Magdeburger Innenministerium der Plan für ein Modellvorhaben. In Zukunft müssen die örtlichen Kommissariate alle Fälle von Belästigung einer zentralen Stalking-Stelle melden – auch wenn noch keine Straftat vorliegt. Dann müssen sich die Täter eine »Gefährdungsansprache« anhören, während den Opfern psychosoziale Beratung zuteil wird, damit sie sich im Gestrüpp des Gewaltschutzgesetzes zurechtfinden und vor Gericht nicht länger aus Angst schweigen. Stundenlang könnten die Magdeburger Polizeibeamtinnen vom Wüten eifersüchtiger Männern erzählen. »Immer wieder stoßen wir auf dieses Besitzdenken, das seine Wurzeln wohl irgendwo im Alten Testament hat«, sagt die Polizeijuristin Marita Kieler, die eine Dissertation über Sexualdelikte geschrieben hat. So mancher Psychoterror klingt zunächst harmlos. Da legt einer ständig Rosen aufs Autodach der Verflossenen und treibt sie damit in Panikattacken. Ein anderer terrorisiert mit Schweige-

anrufen – und die Polizei schickt das Opfer fort, weil das nicht strafbar ist. Zurzeit betreuen die Polizistinnen eine Frau, die nach Sachsen-Anhalt fliehen musste, wie die Polizeipsychologin Ursula Mürke erzählt. »Wir haben alle ihre Spuren verwischt, sogar ihre Konten aufgelöst. Es ist, als ob sie im Zeugenschutzprogramm leben müsste.«

Verfolgte Ehefrauen müssen die Haft ihrer Männer bezahlen Auch Mürke sieht strukturelle Probleme. Noch können sich Stalking-Opfer gegen die Täter fast nur zivilrechtlich wehren, auf eigenes finanzielles Risiko. Widersetzen sich Stalker den Anordnungen der Polizei, ist es Sache der Opfer, Sanktionen einzufordern. »Wenn die Täter die Ordnungsstrafen nicht bezahlen und ins Gefängnis wandern«, sagt Kriminalistin Rothmann, »müssen die Ehefrauen sogar die Kosten für Haft übernehmen.« Zwei Drittel der Stalking-Opfer, ergab die Darmstädter Studie, fühlen sich von der Polizei nicht ernst genommen. »Sie kommen zehnmal zu uns, und zehnmal kriegen die Täter keine Sanktion. Irgendwann warten die Frauen dann nur noch darauf, abgestochen zu werden«, sagt Mürke. In Zukunft soll die Polizei wachsamer sein. Der Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium sieht eine »Deeskalationshaft« für Stalker vor. Außerdem sollen Polizisten besser geschult werden, damit sie Belästigungen richtig einzuschätzen lernen, anstatt hilfesuchende Opfer abzuwimmeln. Der Prozess gegen Joachim B. wurde vertagt. »Vielleicht«, sagt Mürke, »hätten wir auch ihm helfen können.«

»Nachts die Vorstädte meiden« Rechte Gewalttäter ruinieren den Ruf Berlins. Drei Wochen vor der WM gelten selbst Vorzeigeviertel nicht mehr als sicher Von Christoph Seils Berlin nfang der Woche sah sich Berlins Innensenator zu einer Klarstellung gedrängt. »Es gibt in der Stadt keine No-go-Areas«, erklärte Erhart Körting. Die meisten Berliner mögen das für selbstverständlich halten. Jenseits der Bundesgrenzen aber sieht man das anders. Drei Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft stellt Deutschlands Hauptstadt mit einer Mischung aus Empörung und Entsetzen fest, wie sehr die gewalttätige rechte Szene ihrem Ruf geschadet hat. »Meide die östlichen Vorstädte, wenn du schwul oder nicht deutsch aussiehst«, heißt es in einem bekannten britischen Reiseführer. »Bei Nacht ist es in den Vorstädten, vor allem den östlichen Vorstädten Lichtenberg und Marzahn, ratsam, vorsichtig zu sein«, erfahren die Leser eines amerikanischen Ratgebers. Sogar das amerikanische Außenministerium hält warnende Worte über rechtsextreme Gewalttäter im deutschen Osten für nötig. Vor dem Prenzlauer Berg hat bislang noch niemand gewarnt. Im Gegenteil, bislang gehörte ein Besuch in dem quirligen Stadtteil im Osten des Zentrums zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers. Und jetzt das! Ein schwer verletzter Italiener, genau dort, wo sich bei Tag und bei Nacht das kulturbeflissene, tolerante und weltoffene Berlin amüsiert! Drei kahle Muskelmänner hätten ihn als »Scheißausländer« beschimpft und mit einer Eisenstange oder einem Baseballschläger zusammengeschlagen, berichtete der 30-Jährige Gianni C. der Polizei. Einige Aspekte der Tat erscheinen rätselhaft – vor allem der Umstand, dass es für eine so brutale Gewalttat in einer auch des Nachts belebten Gegend keine Zeugen gibt und offenkundig auch das schwer verletzte humpelnde Opfer stundenlang von niemandem bemerkt wurde. Noch ermittelt die Polizei, doch die Aufregung ist groß. Italienische Zeitungen schlugen schon »Rassismus-Alarm« (La Stampa). Was immer die Ermittlungen ergeben, der Vorfall wirft ein Licht auf das zweite Gesicht des Vorzeigestadtteils Prenzlauer Berg. Und da zeigt sich: Berlins Problem sind nicht nur vermeintlich oder wirklich gefährliche Gegenden, es ist die zunehmende soziale Spaltung der Stadt. Un-

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weit der angesagten Clubs, der Designergeschäfte und Luxusdachgeschosse wuchern Arbeitslosigkeit und Altersarmut, gammeln marode Wohnungen und perspektivlose Jugendliche, wächst eine neue Unterschicht. Rund 400 Millionen Euro Subventionen hat Berlin in den vergangenen 15 Jahren in den mondänen Süden des Prenzlauer Bergs investiert. Derweil verkommen ehemals intakte Wohngebiete, etwa die Plattenbauten nördlich des S-Bahn-Ringes, wo der einst begehrte DDRStandard längst veraltet ist, ebenso wie Teile der »Grünen Stadt«, wo manche Wohnung seit 1930 nicht modernisiert worden ist. Wer es sich leisten kann, ist hier längst weggezogen. »Wir haben viel Geld in die Sanierung der maroden Altbauten gesteckt«, sagt der Vorsteher der Bezirksverordneten-Versammlung, JensHolger Kirchner (Grüne). »Für andere Gebiete fehlt jetzt das Geld.« Vor zwei Jahren veröffentlichte das Land Berlin zuletzt seinen Sozialstrukturatlas. Danach genießt der Süden des Prenzlauer Bergs das höchste Prestige in der gesamten Stadt, gleichzeitig konkurrieren andere Viertel mit den schlagzeilenträchtigen Problemzonen in Neukölln, nur ohne Ausländer. Ein Ausländerproblem hat der Prenzlauer Berg auch, freilich eines ganz eigener Art. In der Thälmann-Siedlung gibt es Wohnblöcke, da hält es sogar die Wohnungsbaugesellschaft für nötig, dunkelhäutigen Einwanderern in deren eigenem Interesse vom Zuzug abzuraten. Es gibt rechte Devotionalienläden und rechte Kneipen. Schon wird die Szene selbstbewusster, sie besucht Bürgerforen und sprengt Veranstaltungen. Mehrfach demonstrierten Neonazis in dem Stadtteil. Sie haben die soziale Frage entdeckt, fordern »mehr Gerechtigkeit für deutsche Jugendliche« und versuchen, die Weltbürger im südlichen Prenzlauer Berg zu provozieren. »Der Lack ist sehr dünn«, sagt Jens-Holger Kirchner. Ausländerfeindliche Übergriffe können da nicht überraschen. Ende vergangenen Jahres verprügelten zwei Jugendliche auf der Schönhauser Allee einen dunkelhäutigen Amerikaner. Nur machte der Vorfall keine Schlagzeilen, bis zur Fußball-WM waren es ja noch etliche Monate.

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A. B. Der »Bild«-Mitarbeiter beschaffte das Foto eines Mordopfers TÜBINGEN

eit Marcels Tod haben mancherlei Ereignisse das Millionenpublikum der Bild-Zeitung erschüttert – die Nacktfotos von Britt Reinecke zum Beispiel, und der Schwächeanfall der als »Hoppel-Heide« verhöhnten Ex-Ministerpräsidentin Heide Simonis. Marcel, der zehnjährige Junge aus Tübingen, den ägyptische Terroristen vor einem Monat ermordeten, geriet da schnell in Vergessenheit. Nur ein Detail ist noch zu klären: Wie kam eigentlich Marcels Foto auf die Titelseite der Bild-Zeitung, ohne Einwilligung seiner Mutter? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die eine stammt vom Anwalt jenes Bild-Mitarbeiters B., der das Foto beschaffte. Dieser habe bei seinen Bemühungen um das Bild des Opfers »stets darauf hingewiesen, dass er Mitarbeiter der Bild-Zeitung ist«. Die andere Antwort stammt von drei Tübingern, die sich demnach wohl gegen Bild verschworen haben. Der Bruder eines Mitschülers von Marcel erinnert sich daran, dass B. ihn um ein Foto des Opfers gebeten und sich dabei als Mitarbeiter der örtlichen Lokalzeitung ausgegeben habe, des Schwäbischen Tagblatts. Der Vater dieses Jungen wiederum, der auf dessen Anruf hin aus dem Büro nach Hause eilte, sagt, B. habe sich als Mitarbeiter des »Springer-Verlags, Welt« vorgestellt. Schließlich war da noch die Familie eines anderen Mitschülers, bei der Bild schließlich fündig wurde. Dessen Mutter gewann im Gespräch mit B. den Eindruck, er bemühe sich auf Bitten von Marcels Klassenlehrerin um das Foto. Tags darauf erfuhren einige Tübinger Kinder am Kiosk vom Tod eines Klassenkameraden. Was folgte, war bei diesem Stand der Dinge wohl unvermeidlich: Polizei vor der Schule, Polizei bei der Beerdigung, Medienleute am Flughafen, als die Mutter des toten Jungen, die den Anschlag überlebte, nach Hause kam. Ist das zu kritisieren? B.s Anwalt ist der Ansicht, die Vorwürfe gegen seinen Mandanten entbehrten »jeglicher sachlicher Grundlage«. Und was sagt man bei Bild dazu? Man gehe davon aus, dass die eigenen Recherchen »insgesamt korrekt verlaufen sind«. Christiane Hoyer

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IN DER ZEIT

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CDU Norbert Röttgen – Abgang eines

63 Frank Fischer »Danzig«

33 Medizin Ein neues Antibiotikum

Hoffnungsträgers VON BERND ULRICH Polen Polens Kreuzzug Erziehung Was Großbritannien, Schweden und die Niederlande gegen die Verwahrlosung ihrer Jugendlichen tun VON JÜRGEN KRÖNIG UND WERNER A.PERGER a

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POLITIK 2

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DIE ZEIT

VON HARRO ALBRECHT

a Süchte Wie Abhängigkeit erlernt wird – und wie man sie wieder los wird VON ULRICH SCHNABEL

35 Radikalentzug für Alkoholkranke

Felix Tretter sucht nach der Formel gegen die Sucht VON MARIEKE DEGEN 37 Ökoautos 5000 Kilometer mit einem Liter Sprit VON KLAUS JACOB 38 Psychoanalyse Freud in der Türkei

Elterngeld und Schuluniformen

Wie viel staatliche Intervention ist erwünscht? VON JÖRG LAU Fußball-WM Gespräch mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble BND Wie Journalisten und Geheimdienst Hand in Hand arbeiteten

VON VAMIK VOLKAN

Freud in Afrika

Alfred Kohler »Columbus und seine Zeit« VON MIRJAM ZIMMER 64 Sachbuch Norbert Bolz »Die Helden der Familie« VON SUSANNE MAYER Alexander Masters »Das kurze Leben des Stuart Shorter« VON ELISABETH WEHRMANN Wolfgang Ullrich »Bilder auf Weltreise« VON WILHELM TRAPP 65 Manfred Osten »Die Kunst, Fehler zu machen« VON GABRIELE KILLERT Gerhard Schulze »Die Sünde« 66 Peter Zadek »My Way«, »Die heißen Jahre« VON PETER KÜMMEL

VON TOBIE NATHAN

LEBEN

VON JOCHEN BITTNER

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40 ZEIT Kinder-Edition

Helden von heute (4)

Der Schuldenberater Carlo Wahrmann Außenpolitik Angela Merkel reist nach

Polens Kreuzzug

private Medien kämpfen um Meinungsfreiheit VON GEORG BLUME

VON CHRISTIAN SCHMIDT-HÄUER

Benedikt XVI. reist in das Land seines Vorgängers, wo Kirche und Gesellschaft tief gespalten sind. Nationalkatholiken um den antisemitischen Sender Maryja kritisieren sogar den Papst. Und die Regierung der Zwillinge Kaczyński steht hinter ihnen POLITIK SEITE 3

Foto: Tobias Gerber/Bilderberg

15 China Internet-Journalisten und

stadt wiederhaben. Ein Gegenvorschlag des Schriftstellers ANDREAS MAIER a Zeitgeschichte Streit um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte 42 Kulturpolitik Gespräch mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier 43 Ägypten Reise durch ein religiöses Land VON HILAL SEZGIN 44 Hörbuch Sophie Rois liest Gertrud Kolmars »Susanna« VON WILHELM TRAPP DVD Fünf Variationen des Horrorfilms »Die Fliege« VON SABINE HORST

FREIER MITARBEITER BND

13 LÄNDERSPIEGEL

DOSSIER

WIRTSCHAFT 21 Ärztestreik Was die Mediziner

verschweigen

Der Herr der Karten

VON ELISABETH NIEJAHR

DGB Der Gewerkschaftsbund und sein

Chef – eine missverstandene Macht VON KOLJA RUDZIO

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bedrohen das Internet 24 Altana Die Pharmasparte sucht Anschluss VON CERSTIN GAMMELIN Coca-Cola Der Kauf von Apollinaris soll für ein gesundes Image zeugen

1541 schuf Gerhard Mercator sein Meisterstück: Den größten Globus, den die Welt bis dahin gesehen hatte. In der Epoche der Entdeckungen und Glaubenskriege entwarf er mit seinen Globen und Atlanten unser Bild der Welt. Er war nicht bloß ein Kartograf, sondern ein Menschheitslehrer ZEITLÄUFTE S. 102

VON MARCUS ROHWETTER

25 Öffentliche Finanzen Warum steigt die

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VON JOHANNES SCHWEIKLE

30 Was bewegt … Albert Frère, der

Bertelsmann an die Börse zwingen will? VON JOSÉ-ALAIN FRALON 31 Baukredite Finanzierungsvermittler sparen Zeit und Geld VON C. HUS UND O. WITTROCK

32 Finanzinvestoren Die Heuschrecken

verlieren ihren Schrecken

VON ARNE STORN

Abb.: Damen/ Kultur- und Stadthistorisches Museum Duisburg

ZEIT i ONLINE Fußball-WM 2006 Tägliche Berichterstattung aus den Trainingslagern der Nationalmannschaft, über alle Teams des Turniers und das große WM-Tippspiel www.zeit.de/wm2006 Googleblog »Don’t be evil« lautet das inoffizielle Motto des Internet-Unternehmens Google. Unser Weblog beobachtet die Suchmaschine www.zeit.de/googleblog

Fußball

Nr. 21 DIE ZEIT

VON CHRISTOPH DRÖSSER

70 Bewerbung Wie McKinsey sich eine

»Elite« bastelt

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50 Klassiker der Modernen Musik

76 78

deutsche Trompeter VON KONRAD HEIDKAMP 52 Klassik Die Pianistin Ragna Schirmer spielt Schumann-Raritäten 53 Jonathan Nott, die Dirigentenentdeckung aus Bayreuth VON MIRKO WEBER Pop Die französische Band Phoenix 54 Kurzkritiken Elisabeth Leonskaja; György Kurtág; The Racenteurs; Feldneun; Die Goldenen Zitronen

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79 Spielen 80

60 Fünf Jugendromane 61 Politisches Buch Andreas Wirsching

»Abschied vom Provisorium 1982–1990« VON EDGAR WOLFRUM 62 Edward T. O’Donnell »Der Ausflug« Volker Perthes »Orientalische Promenaden« VON HEINZ HALM

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Traum Ray Davies, Musiker

REISEN 81 USA New Orleans feiert sein

Jazz-Festival

VON CHRISTOPH DIECKMANN

83 Jakobsweg In Badeschlappen durch

die Pyrenäen

VON HAPE KERKELING

84 Ausstellung Die Welt durch’s Fernrohr 85 Montenegro Die Hoteliers hoffen auf

bessere Zeiten

VON STEFANIE FLAMM

CHANCEN 89 Hochschule Ein Gespräch mit Merith

Niehuss, der ersten Präsidentin der Bundeswehruniversität München 90 Gefragt Schiffbauer dringend gesucht Schule Die Chancen von Einwandererkindern in 17 Staaten VON ARNFRID SCHENK

ZEITLÄUFTE 102 Globalisierung Der Herr der Karten

RUBRIKEN

Sohn« VON IRIS RADISCH José Saramago »Die Stadt der Sehenden« VON EVELYN FINGER M. Blecher »Vernarbte Herzen« Louis Auchincloss »Die Manhattan Monologe« VON KLAUS HARPPRECHT Jan Faktor »Schornstein« Norbert Zähringer »Als ich schlief«

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McDonald’s-Kritiker Eric Schlosser Italien Skandal bei Juventus Turin Ausländer Ein junger Mann aus Beirut soll in die Türkei abgeschoben werden Prozess Zwei Anti-Mafia-Kämpfer mordeten für die Mafia Siebeck WM-Städte im Test, Teil 3 Autotest Mercedes Benz S 500 VON JÖRG LAU

LITERATUR 56

VON JULIA FRIEDRICHS

72 Fast Food Interview mit dem

Kraftwerk: Die Menschmaschine Quasthoff hört Donny Hathaways Live-Album VON THOMAS QUASTHOFF 45 Theater Der Tiroler Händl Klaus ist der Dramatiker dieser Saison Tanz Pina Bauschs »Vollmond« 46 Kino Christoph Hochhäuslers »Falscher Bekenner« VON BIRGIT GLOMBITZA Fernsehen Gerd Bucerius zum 100. Geburtstag VON MARKUS KRÄMER 49 Kunst Renzo Pianos Anbau an die Morgan Library in New York Deutschland – England Fußball, Schönheit und Liebe VON ELENA LAPPIN

55 Belletristik Denis Johnson »Jesus’

Abb.: Katharina Langer für ZEIT online

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Steuerquote und fällt die Staatsquote? ZDF Der Fall Kerner VON GÖTZ HAMANN Airbus Nachbesserungen beim A350 EADS Ein Topmanager im Skandalsumpf VON MICHAEL MÖNNINGER Enron Die Exchefs erwarten ihr Urteil VON THOMAS FISCHERMANN Urheberrecht Ein neues Gesetz bevorzugt die Industrie VON STEFAN KREMPL Sport Zwei von drei Fußbällen werden in Pakistan produziert

69 Heuschnupfen 13 Wahrheiten

51 Jazz Till Brönner, der berühmteste

Spams Unerwünschte Mails

Martenstein Ost- und Westsicht

68 Wochenschau

MUSIK

VON RALF-PETER MÄRTIN

22 Streit vor dem großen Kongress 23

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41 Architektur Frankfurt will seine Alt-

China VON JAN ROSS 10 EU Schlechte Noten für Bulgarien und Rumänien VON JOACHIM FRITZ-VANNAHME Balkan Montenegro stimmt über seine Unabhängigkeit ab VON TOBIAS KUHLMANN 11 Iran Das Land bereitet sich auf Sanktionen vor VON MATTHIAS NASS 12 USA John McCain will Nachfolger von Bush werden VON THOMAS KLEINE-BROCKHOFF Sachsen-Anhalt Mord an der Ehefrau – ein Allerweltsverbrechen vor Gericht Berlin Warum Ausländer Teile Berlins meiden sollten VON CHRISTOPH SEILS Bremen Ein anonymer Insider kritisiert die Landesverwaltung VON SILKE HELLWIG

Jens Lehmann

FEUILLETON

VON JANA SIMON

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67 WM 2006 Ein Gespräch mit Torhüter

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2 Worte der Woche 20 Leserbriefe 32 Macher und Märkte 37

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Stimmt’s?/Erforscht und erfunden

49 Das Letzte/Impressum 50 Kunstmarkt

ANZEIGEN 19 46 74 77 90

Sidestep Museen und Galerien Spielpläne Kennen lernen und heiraten Bildungsangebote/Stellenmarkt

Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio

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DIE ZEIT

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»Jeder, der im Netz schreibt, muss

DOSSIER

aufpassen, dass er keine verbotenen Wörter benutzt. Meine Freundin liebt mich, weil ich mutig bin

«

WANG XIAOSHAN, 39, einer der schreibenden Stars des Internet mit Millionenpublikum

Die neuen Kulturrevolutionäre Chinas Internet-Journalisten und private Medienunternehmer liefern sich einen rasanten Kampf mit der Kommunistischen Partei um Meinungsfreiheit. Bundeskanzlerin Angela Merkel will bei ihrem Staatsbesuch in der kommenden Woche zwei der populärsten Rebellen treffen VON GEORG BLUME

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itten in China, auf einem schummrigen Nachtmarkt des Städtchens Fuyang in der Bauernprovinz Anhui, bleibt das Taxi in einer Menschentraube stecken. Im Halbdunkel wird die Tür aufgestoßen, ein Mann ruft: »Komm raus! Wir gehen zu Fuß weiter.« Es ist Li Xinde bei der Arbeit. Li, 46 Jahre, in seiner Jugend Marinetaucher und Opernsänger, gilt als Chinas bekanntester Enthüllungsjournalist. Er ist Einzelgänger. Alle Medien in China werden von der Partei zensiert. Doch alles, was Li schreibt, steht unzensiert auf seinen Blogs im Internet. Im Moment, hier in Fuyang, ist er einem flüchtigen Schokoladenfabrikbesitzer auf der Spur. Li trägt eine braune Kunstlederjacke, über der er eine schwarze Laptop-Tasche des Computerherstellers Lenovo geschultert hat. Mühsam bahnt er sich einen Weg zwischen Pfannkuchen- und Ananasverkäufern, die hier so arm sind, dass sie ihre Ware für ein paar Pfennige ohne Pause von Sonnenaufgang bis Mitternacht anbieten. Hinter den Markthütten stehen sechsgeschossige Wohnhäuser – schnelle Betonbauten der letzten Jahre, wie sie heute jede chinesische Provinzstadt füllen. Er steuert auf ein älteres Hotel zu. Es ist elf Uhr abends. Er hat für sein Interview ein Zimmer für sechs Euro die Nacht gemietet und führt nun durch schnapsdunstige Gästeräume zu einer kaum beleuchteten Hintertreppe. Nach ein paar Stufen dreht er sich um und fragt grinsend: »Man muss für diese Arbeit Mut haben, nicht wahr?« Li kokettiert mit seinem für chinesische Verhältnisse ungewöhnlichen Berufsethos. Noch recherchieren hier nur wenige Journalisten wie er auf eigene Faust. Für gefährlich hält Li seine Arbeit trotzdem nicht. Gefährlich sei es in der Kulturrevolution der siebziger Jahre gewesen, als er und seine Familie während einer Überschwemmung fast verhungerten. Tagelang seien sie im Bett wie mit einem Boot durch die Wohnung gerudert und hätten maoistische Revolutionslieder gesungen,

nur zu essen hätten sie nichts gehabt. Li lacht schallend. Die Hotelflure sind leer. Er dreht den Schlüssel zum Zimmer Nummer 3011 um. Es ist verwohnt, aber sauber. Er macht es sich bequem. Stellt einen Stuhl vor ein Bett, gießt eine Instantnudelsuppe auf, öffnet eine Bierflasche, steckt sich eine Zigarette an. Dann geht er mit seinem Wireless-Laptop online, auf seinen Blog. Das ist bei ihm wie eine Sucht. Er muss die meiste Zeit online sein. Dann kann er zuhören, wie sein Laptop fast im Minutentakt klingelt – immer dann, wenn wieder jemand eine neue Nachricht auf seinem Blog hinterlässt. So spürt der Einzelgänger, dass er auch im tiefsten Provinznest nicht allein ist, sondern verbunden mit Millionen anderer Blogger. Auf die Idee brachte ihn vor drei Jahren ein befreundeter Staatsanwalt. Statt den Zeitungsredaktionen hinterherzulaufen, die Rücksicht auf die Zensur nehmen müssten, solle er doch frei im Internet publizieren. Der Staatsanwalt schenkte ihm einen Laptop, und am 1. Oktober 2003 öffnete Li seine erste Webpage. Plötzlich befand er sich in einem virtuellen Netz mit Staatsanwälten, Richtern, Polizisten, die ihm bei seiner Arbeit halfen. Zugleich begann der Kampf gegen einen neuen Feind: die Internet-Zensur. Lis wechselnde Websites wurden in immer schnellerem Takt von den Behörden geschlossen. Doch dann ergaben sich mit den Blogs neue Möglichkeiten.

Ein nächtliches Treffen mit einem Unternehmer auf der Flucht Heute veröffentlicht Li seine Berichte auf bis zu 50 Blogs gleichzeitig. Einflussreiche Freunde übernehmen die Berichte auf ihre eigenen Blogs. Das reicht, um ihn bei Justiz und Medien bekannt zu machen wie einen bunten Hund. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mit dem Ding so berühmt werde«, sagt Li und streichelt den Laptop. Gegen Mitternacht klingelt sein Handy.

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Kurz darauf klopft es an der Tür des Hotelzimmers. Es ist der Schokoladenfabrikant. Er trägt einen Schnurrbart und eine goldene Uhr und ist von Haus aus einfacher Bauer. Wie viele hat er sich mühsam hochgearbeitet, eine kleine Fabrik gegründet, doch nun sitzt er in der Tinte. Sein Haftbefehl ist 270 Tage alt. Seitdem hält er sich versteckt, steht seine Fabrik still, nur weil er sich in einem harmlosen Nachbarschaftsstreit mit dem Cousin der mächtigen Staatsanwältin von Fuyang anlegte. Verzweifelt erzählt der flüchtige Mann seine Geschichte: Die Staatsanwältin sei die Ehefrau des Polizeichefs von Fuyang. »Wenn ich verhaftet werde, prügeln mich dessen Leute zu Tode.« Währenddessen schaut Li ungerührt auf seinen Laptop. Er will hier keine Freundschaften schließen und dem Mann keine falschen Hoffnungen machen. Sein Interesse an dem Fall gilt dem Fuyanger Parteibetrieb. Der gilt als zutiefst korrupt. Doch Genaues zu erfahren ist schwierig. Li ist es trotzdem gelungen. Fünfzehn KP-Kader seien in den letzten Jahren in Fuyang verhaftet worden, darunter die drei letzten Gerichtspräsidenten des Ortes, erklärt er das Ergebnis seiner Recherchen. »Die Justiz in Fuyang ist außer Kontrolle«, sagt Li. Der Mann auf der Flucht hört ergeben zu, als erfahre er von diesen Dingen zum ersten Mal. Er ist ein typischer Provinzbürger: klug genug, um zu wissen, dass ihm Unrecht geschieht. Tapfer und hartnäckig genug, um auf den Rat lokaler Journalisten hin zweimal bei Li Xinde in Peking vorzusprechen. Doch völlig ahnungslos, was seine Gegner und ihre politischen Machenschaften betrifft. Schließlich aber hat Li auch gute Nachrichten für ihn: Er habe den zuständigen Stadtteil-Bürgermeister von Fuyang gesprochen, und dieser KP-Kader habe sich als zugänglich erwiesen und Probleme bei Polizei und Staatsanwaltschaft eingeräumt. »Seit ich weiß, dass Sie über meinen Fall schreiben werden, fühle ich mich sicherer«, verabschiedet sich der Schokoladenfabrikbesitzer höflich. Li entgegnet nüchtern: »Vergessen Sie nicht, dass die Justiz in

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China immer mächtiger ist als die Medien.« Ist sie das wirklich? In 90 Prozent der Fälle, über die Li Xinde seit Oktober 2003 berichtete, reagierten die KP-Behörden positiv. Lis Enthüllungsgeschichten zwangen den Vizebürgermeister der Großstadt Jining zum Rücktritt, beförderten korrupte Geburtenkontrolleure ins Gefängnis und führten zu Revisionen von Gerichtsurteilen. Pulitzer-Preisträger Nicholas Kristof machte Li auch im Ausland bekannt. Er hat schon Recht, wenn er sich bei seinen Recherchen heute auf sicherer Seite sieht. Seine Festnahme würde im chinesischen Internet wie in der internationalen Presse einen Skandal auslösen, an dem Peking nicht gelegen sein kann.

Der chinesische Heinrich Heine des Internet-Zeitalters Lis noch vor Jahren undenkbarer Erfolg deutet auf eine schleichende Revolution im Einparteienstaat. Langsam, aber sicher verliert die mächtige KP ihr seit über einem halben Jahrhundert hart verteidigtes Meinungsmonopol. Vom chinesischen Bürgerkrieg der vierziger Jahre bis zur blutigen Niederschlagung der demokratischen Studentenrevolte von 1989 rang die Partei jede oppositionelle Stimme im Land nieder. Politische Dissidenten werden bis heute festgesetzt und ins Exil vertrieben, religiöse Sekten wie Falun Gong verboten und verfolgt. Doch seit der Jahrhundertwende hat es das Regime mit einer rapide steigenden Zahl frei publizierender Netzbürger und einem boomenden kommerziellen Medienbetrieb zu tun. Ein Kampf um die Meinungsfreiheit von historischer Bedeutung ist entbrannt, wie er an die Zeit Fürst Metternichs erinnert, der im deutschen Vormärz mit allen Mitteln das Aufkommen einer freien Presse zu verhindern suchte. Damals war in Deutschland die Presse das neue, revolutionäre Medium, das trotz Zensur die Grenzen der Fürstentümer überwand. Heute entfaltet in China das Internet eine vergleichbar revolutionäre Wirkung,

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indem es trotz Internet-Zensur das parteiliche Medienmonopol unterläuft. Unzählige chinesische Blogger, Journalisten, Schriftsteller und Medienunternehmer erkämpfen im Internet täglich ein neues Stück Meinungsfreiheit. Sie agieren dabei nicht selten genauso geschickt wie einst der deutsche Dichter Heinrich Heine, dessen Kunst darin bestand, seine republikanischen Botschaften in der unter Fürst Metternich streng zensierten Augsburger Allgemeinen zu veröffentlichen. Wang Xiaoshan, Jahrgang 1967, ist so ein chinesischer Heine-Typ. Der ehemalige Feuilletonchef der Neuen Pekinger Zeitung ist einer der Stars der neuen chinesischen Schreib- und Kommunikationskultur im Internet. Und wie damals Heine muss er für seine intellektuelle Unabhängigkeit täglich und unter Opfern kämpfen. Eines dieser Opfer ist sein Lebensstandard. Er verabredet sich vor seiner Haustür. Er wohnt in einem heruntergekommenen Gebäude der Pekinger Tsinghua-Universität. Rund um die Universität aber entsteht das nagelneue Pekinger Medienviertel, beziehen Chinas große Internet-Firmen ihre gläsernen Bürotürme. In Sichtweite seiner Wohnung steht ein neues Zentrum für Nanotechnologie, das vielen Forschern im Westen als Beispiel für Chinas bedrohliche wissenschaftliche Aufholjagd gilt. Aber Wang interessiert sich überhaupt nicht für Nanotechnologie. Er trägt Jeans der chinesischen Marke Yantai und ein bunt kariertes Hemd – auf sein Äußeres legt er keinen Wert. Er schläft wenig. Gewöhnlich schreibt er bis drei Uhr nachts und geht früh um neun die paar Schritte an der zukünftigen chinesischen Google-Zentrale vorbei in seine neue Redaktion bei einem führenden Internet-Portal. Dabei ist er kein reines Arbeitstier. Frauen und Essen beschäftigen ihn viel, wie an diesem 1.-Mai-Feiertag. Im Arm hält er eine junge Frau, die eine hellblaue Handtasche mit Snoopy-Emblem trägt. Fortsetzung auf Seite 16

Foto: Katharina Hesse für DIE ZEIT/www.katharinahesse.com

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»Die Regierung hat nicht die Absicht, die Meinungsfreiheit zu erweitern, aber ihre Fähigkeit, sie einzuschränken, lässt nach Fotos: Katharina Hesse für DIE ZEIT/www.katharinahesse.com

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Liu Di publiziert als »TITANMAUS« politische Kommentare im Internet und saß dafür 13 Monate in Haft

… Kulturrevolutionäre Fortsetzung von Seite 15 »Sie liebt mich, weil ich mutig bin«, sagt Wang und schaut ihr in die Augen. Er wählt ein vornehmes Lokal auf dem Campus. Er bestellt traditionelle Pekinger Küche. Auch während des Essens raucht er Kette. Er spricht leise, in kurzen Sätzen, kein Wort zu viel, aber mit der Direktheit eines Revolutionärs. Er sagt: »Wir kämpfen alle gegen die Zensur der Partei.« Und meint damit Chinas junge Medienleute. Sämtliche Kollegen in den Pekinger Redaktionen. Demokratie kommt in China später, aber für Meinungsfreiheit, glaubt Wang, sei die Zeit reif. Und dass er sich am richtigen Ort befinde. Unter den wichtigsten Pekinger Meinungsmachern. Er würde das nie so schreiben. Er kennt die Gesetze der Zensur. Trotz seines immensen Schreibpensums als Internet-Journalist, Blogger und Buchautor verlässt Wang nie die Bahn des Erlaubten. Er zügelt seine Feder wie ein Jockey sein Rennpferd – bei vollem Tempo. An diesem Maifeiertagsmorgen hat er sich bereits über die Heuchelei der Parteimedien ergossen, die einen Popsänger in der südchinesischen Stadt Shenzhen zum wohltätigen Spender für die Armen stilisieren. »Statt zur Scham über die Armut zu mahnen, werden moralische Vorbilder politisiert und zum

Stolz der Regierung erhoben«, ätzt Wang in seiner Blog-Kolumne. Das ist gerade noch erlaubt. Sein Stil ist präzis, sein Urteil gnadenlos, sein Humor schwarz. Seine Bücher schildern den dekadenten Pekinger Gesellschaftsalltag. Täglich schalten sich zwischen 3000 und 4000 Leser auf seinem Blog ein. Als er im Januar seine Stellung als Feuilletonchef der Neuen Pekinger Zeitung kündigte, waren es Zehntausende. Damals berichteten auch westliche Medien über die Vorfälle bei Wangs ehemaliger Zeitung. Die Partei ließ dort im Dezember die Chefredaktion austauschen, daraufhin streikten vorübergehend einige Journalisten, unter ihnen Wang. Der Journalistenstreik war in der Geschichte der Volksrepublik einmalig. Als Wang neben anderen wenig später kündigte, galt er im Westen als Opfer der Zensur. Nur er selbst sah das schon damals anders. Der neue, kommerzielle Medienbetrieb brauche Leute wie ihn, prophezeite er seinen Freunden. Tatsächlich fiel Wang die Treppe hinauf. Heute arbeitet er direkt unter dem Chefredakteur seines Internet-Portals. Zuständig für Literatur. Den Namen des Portals will Wang nicht genannt wissen, denn er spreche mit einer ausländischen Zeitung nur für sich selbst. Doch lässt er keinen Zweifel an der Bedeutung seiner neuen Aufgabe: 20 Millionen Leser, die über 200 Millionen Seitenzugriffe tätigen, zähle sein Portal täglich. Die Chefs der drei großen Internetportale seien für ihn heute die einflussreichsten Männer Chinas, sagt Wang.

Aber stehen nicht gerade die chinesischen Internet-Firmen unter strenger Zensur? Im Westen wird scharf kritisiert, dass sich selbst westliche InternetRiesen wie Microsoft, Yahoo und Google den chinesischen Zensurgesetzen unterwerfen. Vorstandsmitglieder dieser Firmen mussten im Februar vor Kongressabgeordneten in Washington erscheinen und wurden mit Nazi-Kollaborateuren verglichen. »Verächtlich« nennt auch Wang das Verhalten der westlichen Firmen. Sie verstießen gegen ihre eigenen Prinzipien, meint er in Anspielung auf das GoogleMotto »Do no evil!«. Doch in China gälten andere Gesetze. Hier hätten die Firmen keine andere Wahl, als mit der Zensur flexibel umzugehen.

Etwa 50 000 Internetpolizisten durchsuchen ständig das Netz Er nennt ein Beispiel. Er selbst musste gerade umgerechnet 100 Euro Strafgebühr an seine InternetFirma für seinen Bericht über die von den Parteibehörden im Januar eingestellte Wochenzeitung Bingdian zahlen. Zuvor zahlte die Firma umgerechnet 5000 Euro Strafgebühr an die Behörden, weil die Partei jede Erwähnung des eingestellten Blattes verboten hatte. Doch weder Wang noch seinen Chef stört der Vorfall. »Weitermachen und das Mögliche tun« lautet ihre Devise. Ein weiterer Grund, warum Wang der westliche Streit um den Zensurkniefall von Google & Co. eher

kalt lässt, ist praktisch-wirtschaftlicher Art: Er benutzt die Portale der westlicheN Firmen mit Ausnahme der Google-Suchmaschine nur selten. Unabhängig davon, ob sie sich der Zensur unterwerfen oder nicht, seien die westlichen InternetFirmen in China wirtschaftlich chancenlos, meint Wang. Man habe sich schon zu sehr an Baidu, Sohu und Sina an Stelle von Google, Yahoo und Microsoft gewöhnt. Gleichwohl gibt es für Wang in Zensurfragen nichts zu beschönigen. Er weiß wohl, dass die Zahl der chinesischen Internet-Polizisten im Westen auf bis zu 50 000 geschätzt wird. Niemand kann ihre Zahl verifizieren. Ihre Aufgabe ist es, parteikritische Websites zu blockieren, Kommentare zu löschen und Internet-Nutzer festzusetzen, die Staatsgeheimnisse verraten oder zu Protesten aufrufen. Ununterbrochen macht sich ihre Präsenz im Netz bemerkbar. Jeder Eintrag in eines der zahlreichen Online-Foren, die sein Portal anbiete, werde heute zensiert, klagt Wang. Tatsächlich sind die früher lebhaften Debatten in den Foren im Zuge der Verfeinerung der digitalen Zensurmethoden spürbar verflacht. Neben den üblichen sensiblen Wörter wie »freies Tibet« oder »Tiananmen-Revolte« werden nun auch ständig wechselnde Begriffe wie die Namen aktueller Krisenorte in China, über die nicht berichtet werden soll, systematisch herausgefiltert. Schreibt ein normalerweise unbehelligter Autor ein kritisches Stück, kann es sein, dass sein Name für Wochen auf dem Index steht. Auch E-Mails sind längst nicht mehr sicher vor dem Zugriff der Zensoren. Wer aber irgendwo im Netz oder per Mail über ein unerwünschtes Thema schreibt, muss – außer dass sein Text gelöscht wird – mit einem Anruf der Behörden rechnen. In den meisten Fällen wird dem Autor dann ohne Begründung mitgeteilt, dass seine Meinungsäußerung untersagt sei. »Jeder, der im Netz schreibt, muss genau aufpassen, dass er die Schriftzeichen für verbotene Wörter nicht nebeneinander schreibt, auch dann nicht, wenn die Zeichen in seinem Text eine ganz andere Bedeutung haben«, erklärt Wang die Tücken der chinesischen Sprache unter den Bedingungen der Internet-Zensur. Lästig sei das schon. Aber einschüchternd? »Die Chinesen haben heute keine Angst mehr, ihre Meinung zu sagen«, glaubt Wang. Zwei Kräfte seien stärker als die Zensur. Erstens: Der wirtschaftliche Boom von Internet und Medien, der dafür sorge, dass auch diejenigen, die erwischt werden oder für ihre Meinung gar Haftstrafen verbüßen, hinterher wieder eine Stimme und einen Job bekämen. »Früher gab es ohne die kommunistische Einheit kein Überleben.« Zweitens: Die Schnelligkeit des vernetzten Medien-, Blog-, Mail- und SMS-Betriebs. Die Zensur laufe den Ereignissen immer hinterher. Hier liegt für Wang auch die Macht seines Portals: Nachrichten an 20 Millionen weiterzugeben, bevor sie die Zensur erfassen kann. Wangs Optimismus wird im Westen nur selten geteilt. Die Partei hat die Oberhand betitelte das Londoner Wirtschaftsmagazin Economist kürzlich einen Bericht über das chinesische Internet. Den Westen empört sich zu Recht, dass die KP den technologisch ausgetüfteltsten Zensurapparat der menschlichen Geschichte aufbaut. Amerikanische Unternehmen wie Cisco liefern dafür hochwertige Software und erwecken damit den Eindruck, die Zensur sei unumgehbar.

Es schockiert ebenso, wenn in China mehr Journalisten als in jedem anderen Land der Welt für ihre Meinungsäußerungen im Gefängnis sitzen. Laut Reporter ohne Grenzen liegt ihre Zahl bei rund sechzig Häftlingen. Und es erregt zusätzlichen Anstoß, wenn ein Internet-Konzern wie Yahoo wiederholt bei der Verhaftung von Internet-Dissidenten mit der chinesischen Polizei kooperiert. Aus westlicher Sicht entsteht dann der Eindruck, die kommunistische Zensur sei allmächtig. Welcher westliche Journalist mag sich noch vorstellen, für seine Arbeit eine Gefängnisstrafe zu riskieren? Welcher Internet-Nutzer im Westen will sich ausmalen, dass jede seiner Mails von Detektoren der Zensur bearbeitet wird? Wo das systematisch geschieht, herrscht aus der aufgeklärten westlichen Sicht düstere Diktatur. Punktum. Da endet bei uns die Diskussion. Durchaus zu Recht. In China aber beginnt die Diskussion an diesem Punkt. Was ist gute, was schlechte Zensur? Wo beugt man sich ihr aus Einsicht in die politischen Zwänge des Riesenreichs, wo bekämpft man sie? Mit welchen Meinungseinschränkungen lässt sich leben, mit welchen nicht? Leute wie Li Xinde und Wang Xiaoshan geben heute jeden Tag neue Antworten auf diese Fragen. Und sie sind nur zwei von Millionen, die sich in China heute unter widrigsten Bedingungen im Internet freischreiben.

Der chinesische Bill Gates trägt neuerdings sein Haar länger Zwei der herausragenden Akteure im Kampf um die Meinungsfreiheit in China stehen kommende Woche auf dem Empfangsplan von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Peking. Während ihres ersten Staatsbesuchs in China will sie das Autorenpaar Chen Guidi und Wu Chuntao begrüßen, das derzeit in der Provinz Hunan Rechtsverletzungen gegen Bauern recherchiert. Chen und Wu erhielten 2004 den Reportagepreis Lettre Ulysses Award für ihren von den KPBehörden inzwischen verbotenen Bestseller Untersuchung zur Lage der chinesischen Bauern (ZEIT Nr. 42/04). Vor Merkel hatte sich schon Bundeskanzler Gerhard Schröder während seines PekingBesuchs im Dezember 2003 mit dem von der Zensur geplagten Schriftsteller Xu Xing und der ebenfalls bedrängten Schriftstellerin Mian Mian zusammengesetzt. Den Autoren helfen solche Treffen mit westlichen Politikern, weil sie die um Vermeidung von Aufsehen bemühten Zensurbehörden zur Zurückhaltung zwingen. Doch sind das Einzelfälle. Entscheidenden Einfluss auf den innerchinesischen Streit um Meinungsfreiheit kann die westliche Politik derzeit nicht ausüben. Den haben andere – allen voran Chinas Internet-Magnaten. Die Leute, die Wang Xiaoshan heute für die einflussreichsten der Volksrepublik hält, weil sie finanziell unabhängige Privatunternehmer sind und die populärsten Kommunikationsmedien kontrollieren. Charles Zhang Chaoyang, der 41-jährige Gründer und CEO des führenden Internet-Portals Sohu, ist der mächtigste unter ihnen. Kein anderer hat in den letzten Jahren so oft die Titelseiten chinesischer Magazine geschmückt. Keinen anderen nennen sie in China »unseren Bill Gates«. Kein anderer hat ein so professionelles und weitreichendes Nachrichten- und Informationsangebot in seinem Portal aufgebaut. Kein anderer

Kleine chinesische Mediengeschichte Ein Jahr nach der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas erscheint die Parteizeitung »Xiang Dao« (Der Wegweiser) zum ersten Mal

13. Sept.

1922

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Erster Internet-Anschluss in China beim Forschungsinstitut für Hochenergiephysik der Chinesischen Wissenschaftsakademie

15. Juni

2. Sept.

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März

1948

1958

1989

1993

Gründung der heute größten Parteizeitung »Renmin Ribao« (Volkszeitung)

Nr. 21 DIE ZEIT

Der erste Fernsehsender Beijing TV (heute CCTV) geht auf Sendung

Schließung der »World Economic Herald«, einer Zeitung in Shanghai, wegen Unterstützung der Demokratiebewegung. Chefredakteur Qin Benli stirbt unter Hausarrest

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Das führende chinesische Internet-Portal sohu.com öffnet seine Tore. Das »TIME«Magazin wählt Gründer Charles Zhang 2003 zu einem der 15 »Global Tech Gurus«

1994 Das Propagandaministerium der KP setzt die Zensurabteilung ein

Aug.

Jan.

1996

1996

Gründung der Guangzhou Daily Group, des ersten privaten Zeitungskonzerns in China

Nr. 21

18. Mai 2006

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DIE ZEIT Nr. 21

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»Für diese Arbeit muss man Mut haben, nicht wahr? Vergessen Sie nicht, dass die Justiz in China immer mächtiger ist als die Medien

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Chinas bekanntester ENTHÜLLUNGSJOURNALIST Li Xinde, 46, war Marinetaucher und Opernsänger

besitzt so viele Aktienanteile und damit Macht in seinem Unternehmen. Man redet Charles wie zu seinen Studienzeiten in Harvard mit seinem westlichen Vornamen an. Mit einem Vermögen von 159 Millionen Dollar zählt er zu den 200 reichsten Chinesen. Seit kurzem hat er eine neue Gewohnheit: Er stellt nach der Begrüßung sein Handy ab. Auch seine Haare sind länger geworden. Ohne Eile holt er an einem Sonntagnachmittag im Hyatt-Hotel Kaffee in Pappbechern vom Selbstbedienungstresen und stellt dazu Apfelkuchen auf den Tisch. Das Hotel ist Teil von Pekings luxuriösestem Einkaufs- und Bürokomplex schräg gegenüber dem zentralen Tiananmen-Platz. Während der Maifeiertage wehen über dem Hotel die gleichen roten KP-Fahnen wie über dem Platz. Charles lässt sich an einem Bistrotisch nieder, legt sein Jackett ab und ein Knie über die Stuhllehne. Im blauen Seidenhemd und Bluejeans wirkt er stressfrei und ausgeruht. Vielleicht auch deshalb, weil alle Welt schreibt, dass sein Unternehmen gesund und zukunftsträchtig sei. Nach Veröffentlichung der Quartalsergebnisse im April legte die Sohu-Aktie in New York 8,4 Prozent zu. Das Unternehmen ist heute fast eine Milliarde Dollar wert – ein privates Medienimperium, wie es vor wenigen Jahren in China noch unvorstellbar war. Man kann Charles in der Regel alles fragen. Er weiß und akzeptiert, dass westliche Reporter keine falschen Rücksichten nehmen. Er war einmal vollkommen amerikanisiert. Damals erlebte er in Harvard die Gründerzeit des Internet. Er teilte die Euphorie, der immer auch demokratische Spurenelemente innewohnten. Ist er nun wieder vollkommen sinisiert? Wir fragen den chinesischen Bill Gates, was er von KP-Chef Hu Jintaos jüngstem Besuch im Haus des echten Gates in den USA hielt.

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Wer hat da wem Respekt gezollt? Fragen nach dem Parteichef sind in China immer kitzlig. Niemand darf ihn kritisieren oder auch nur unterbewerten. Charles überlegt. Dann sagt er, natürlich habe Hu Gates seinen Respekt erwiesen und nicht umgekehrt. Hus erfreuliche Geste habe auch seiner Firma gegolten und allen, die mit neuen Technologien Wohlstand schaffen. Das sei heute Chinas Konzept: weg vom Kopieren und reinem Produzieren, hin zur kreativen Entwicklung eigener Technologien. Eine ausgewogene Antwort: Sie ist inhaltlich parteikonform und unterstreicht zugleich sein unabhängiges Standing gegenüber der Regierung. Doch welche Rolle spielt in alldem die Meinungsfreiheit?

Der erste chinesische Blog erscheint: blogchina.com

Die Internet-Autorin Liu Di (»Edelstahlmaus«) wird verhaftet und erst 13 Monate später wieder freigelassen

Charles hat sich auf das Thema vorbereitet. Er wolle nicht über richtig und falsch reden, wie man das im Westen bevorzuge. Er wolle das chinesische System einer Balance zwischen Meinungsfreiheit und Zensur erklären. Im Westen entspräche das Prinzip uneingeschränkter Meinungsfreiheit einer politischen Kultur von Freiheit, Individualismus und Christentum. In China dagegen ständen die Kommunisten in der alten politischen Kultur des Konfuzianismus. »Es gibt in China keine kommunistische Regierung mehr, sondern nur noch eine konfuzianische. Diese Erkenntnis allein würde im Westen viele Missverständnisse beseitigen.«

Die Zensur als Ergebnis einer chinesischen Suche nach Balance? Die konfuzianische Kultur erklärt er mit drei Prinzipien: Respekt vor der Autorität des Staates, Verpflichtung der Regierung gegenüber dem Volk und gemeinsame Suche nach einer gesellschaftlichen Balance. Er sagt das auf die Art, wie Amerikaner ihr System erklären: Freedom and democracy! Wer’s nicht versteht, ist dumm. Das Internet, fährt Charles fort, habe die alte konfuzianische Kultur modernisiert und jedem Individuum das Recht zur Meinungsäußerung gegeben. »Heute hat jeder Chinese durch das Internet so viel mehr Informationen und Wertvorstellungen als früher. Die Chinesen sind klügere Menschen geworden, einschließlich ihrer Regierungsbeamten«, sagt Charles und folgert: »Wenn diese Beamten nun sagen, die Freiheit im Internet gehe zu weit, dann verdient das Respekt. Dann führen wir mit ihnen eine Diskussion auf sehr hohem Niveau.« Ist Zensur in China etwa kein diktatorischer Befehl von oben? »Nein, Zensur erfolgt als Ergebnis eines chinesischen Verhandlungsprozesses und der Suche nach Balance«, antwortet Charles. In welchem Land lebt dieser Mann? Sucht da einer nach Selbstlegitimation im autoritären Einparteienstaat? Oder hat er nur Internet-Guru Nicholas Negroponte, der in Harvard sein Professor war, gegen Konfuzius ausgetauscht? Aber Charles spricht mit viel innerer Überzeugung. Vielleicht hat er ja wirklich den Einfluss gewonnen, den ihm Wang Xiaoshan unterstellt. Vielleicht treibt er in China mehr an als KP-Chef Hu. Und Charles weiß, wovon er spricht. Als kommissarischer Chefredakteur von Sohu ist er derzeit auch für die Inhalte seines Portals verantwortlich und führt die Zensurgespräche. Er hat gerade wochenlang über den erlaubten Inhalt von OnlineSpielen verhandelt. »Kinder verbringen damit zu viel Zeit, Eltern sind empört, also kamen die Beamten des zuständigen Ministeriums zu mir und redeten und redeten. Er war ermüdend, ich hatte keine Zeit, aber es war konstruktiv, und wir fanden einen guten Mittelweg.« Charles’ konfuzianischen Mittelweg gehen neuerdings auch 500 Studenten der Pädagogischen Universität in Shanghai in einer Freiwilligenaktion. Sie nehmen an der KP-Initiative »Lasst den Wind eines zivilisierten Internet wehen« teil und betreiben wöchentlich mehrere Stunden lang Selbstzensur im Netz. Sie loggen sich auf die Websites ihrer Universität ein und versuchen die Online-Diskussionen so zu moderieren, dass radikale Töne gar nicht erst auftauchen. Geschieht das doch, melden sie die Vorfälle der Universitätsleitung. Dennoch sehen sich diese Freiwilligen nicht als Handlanger der Parteizensur. Man wolle nicht kontrollieren, sondern vermeiden, dass auf den

Entlassung des Chefredakteurs der »Xin Jing Bao« (Neue Pekinger Zeitung) und seines Stellvertreters. Ein Drittel der Redakteure tritt in Streik

Schließung der parteieigenen Wochenzeitung »Bingdian«, Wiedereröffnung nach Entlassung des Chefredakteurs und seines Stellvertreters

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Chinesische Printmedien gehen zum ersten Mal in Übersee an die Börse, z. B. der Zeitungsverlag ynet.com in Hongkong

111 Millionen Chinesen sind online. China ist nach den USA die zweitgrößte InternetGemeinde der Welt

Er verweist auf einen Aufmacher seines Portals vom April unter dem Titel Wasserverschmutzung und Krebs. Erstmals beleuchtet der Sohu-Bericht für die chinesische Öffentlichkeit das skandalöse Schicksal des Krebsdorfes Huangmengying in der Provinz Henan, wo ein bekanntes Staatsunternehmen das Trinkwasser so verseucht, dass bereits Hunderte von Bauern an Krebs erkrankten. Jeder Machthabende in China sei heute gezwungen, die Gesetze zu respektieren – andernfalls werde man ihn bloßzustellen, definiert Charles seine konfuzianische Verlegermoral. Wer das im korrupten KP-Staat als Drohung versteht, hat es wohl richtig verstanden. Die Waffe, mit der Charles Zhang droht, ist das immer noch neue, in seinen Varianten unausgeschöpfte Medium: 111 Millionen Internet-Nutzer, weniger nur als die USA, zählt China heute. Von ihnen verfügt bereits die Hälfte über einen Breitbandanschluss. Chinesische Suchmaschinen registrieren 360 Millionen Anfragen pro Tag. Langsam beginnt das Internet in China jene demokratischen Versprechen einzulösen, die ihm seit seiner Erfindung nachgesagt werden. »Je mehr wir uns miteinander vernetzen, desto mehr werden die Wertvorstellungen eines Staates

Veröffentlichung des »Self-discipline Agreement for China Internet Industry« für eine »saubere Umwelt« im Netz

Aug.

Google in den USA kann eine Woche lang von China aus nicht mehr angewählt werden

Websites schlechte Dinge passieren wie etwa die antijapanischen Kampagnen im vergangenen Jahr, sagen die Studenten. Sohu-Chef Charles Zhang wäre begeistert. Der Internet-Mäzen steht keineswegs außerhalb der Kritik. Ihm werden durchaus Profitgier und die Kollaboration mit den Zensurbehörden vorgeworfen. »Charles Zhang ist ein Kapitalist, dem der Profit das wichtigste ist«, sagt der Journalist Li Datong. »Charles Zhang findet an den 4000 Jahren chinesischer Kulturgeschichte plötzlich alles gut. Geld macht dumm«, höhnt der Schriftsteller Xu Xing über seinen Neokonfuzianismus. Doch so mögen einst auch die Advokaten des Vormärz über den damals mächtigsten deutschen Verleger geschimpft haben. Der Chef der Augsburger Allgemeinen, der »Napoleon der Verleger« Johann Friedrich Cotta, stand damals zwischen Heine und Metternich – so wie Chinas Bill Gates heute zwischen der KP und dem Internet-Genie Wang Xiaoshan steht. Und so wenig wie man sich damals um die Unabhängigkeit Cottas sorgen musste, so wenig muss man heute womöglich an der Standfestigkeit Charles Zhangs zweifeln. Geht es um Katastrophen, Korruption, Umweltschäden, Gerichtsprozesse, sagt Charles: »Alles wird berichtet.«

Google eröffnet seine chinesische Suchmaschine und unterwirft sich den Zensurbestimmungen

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oder einer Nation den Werten größerer und kleinerer elektronischer Gemeinschaften weichen«, prophezeite Nicholas Negroponte schon Mitte der neunziger Jahre. Nirgendwo aber scheint sich seine Vorhersage heute so rasant zu verwirklichen wie in China. Die geballte nationalstaatliche Medienmacht der KP wird hier in immer schnellerem Tempo von größeren und kleineren elektronischen Gemeinschaften unterlaufen. Das zeitgemäße Mittel dafür sind die Blogs. Westliche Medienwissenschaftler sehen in diesen untereinander vernetzten Tagebüchern des virtuellen Citoyens den Beginn einer neuen Ära partizipatorischer Medien und das Ende der Dominanz der Massenmedien. Das mag für die Mehrheit im Westen noch utopisch klingen – in China aber, begünstigt durch die Langeweile in den zensierten Massenmedien, schreitet die Blog-Revolution scheinbar unaufhaltsam voran. Innerhalb von nur zwei Jahren ist eine neue Meinungsmacht entstanden – viel schneller als in den meisten westlichen Ländern. Ende 2005 erreichte die Zahl der Blogs in China 36,8 MillioFortsetzung auf Seite 18

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Fortsetzung von Seite 17 nen. Das entspricht einem Blog pro 35 Einwohner. Darunter die mit privaten Fotos und Abbildungen selbst ausgewählter Kunstwerke ansprechend aufgemachten Blogs von Li Xinde, Wang Xiaoshan und Charles Zhang. Ende dieses Jahres soll die Zahl der Blogs in China 60 Millionen, Ende 2007 sogar schon 100 Millionen erreichen, prophezeit das offizielle chinesische »Medien-Weißbuch«. In Deutschland zählte man 2005 gerade einmal 300 000 Blogs, einen Blog ANZEIGE

Bücher von Johannes Dornseiff Tractatus absolutus Selbstaufklärung des Denkens Aus der Erfahrung, daß sich alles von ihm Gedachte immer wieder zerdenken ließ, hat der Verfasser einen Standpunkt gewonnen („Ist etwas zu sagen? – An sich ist nichts zu sagen“), von dem aus diese zunächst anstößige Erfahrung verständlich ist und alles bisherige Denken – zunächst nur das eigene Denken des Verfassers, dann aber auch das aller Anderen – als naiv erscheint. Dieser Standpunkt ist zugleich eine neue und vielleicht letzte Stufe eines historischen Weges, der mit der frühgriechischen Philosophie (Vorsokratik) beginnt. Während der Kern des Tractatus sozusagen ungegenständlich ist, werden in den weiteren Verzweigungen alle klassischen Gegenstände des Denkens – Raum, Existenz, Begriff, Welt, Ding, subjektiv-objektiv, Ich, Moral u. a. – in der gehörigen Ordnung entwickelt und dargestellt. Leinen, 896 Seiten, Euro 29.00 ISBN 3-8280-1099-7 Frieling-Verlag, Berlin

Recht und Rache Der Rechtsanspruch auf Wiederverletzung Nachdem er die Fundamente „gefühltes/zu fühlendes Recht“ und „gerechter/berechtigter Anspruch“ gelegt hat, geht der Verfasser den letzteren Schritt für Schritt durch, vom Rechtsanspruch auf den gleichen Anteil bis zum Rechtsanspruch auf Wiederverletzung. Hier erörtert und widerlegt er zunächst den Ausgleich durch gleiche Wiederverletzung, dann die Einwände gegen die Wiederverletzung überhaupt („unvernünftig“, „unmoralisch“). Im Anhang geht es um konkretere Themen wie Strafunmündigkeit, Selbstjustiz, Resozialisierung und Todesstrafe. „Der Grundgedanke dieser Schrift ist, daß Recht und Rache zusammenhängen und daß dies nicht gegen das Recht, sondern für die Rache spricht.“ Leinen, 250 Seiten, Euro 14.00 ISBN 3-8280-1964-1 Frieling-Verlag, Berlin Auszüge unter www.johannesdornseiff.de Leserzuschriften an den Autor bitte nach Lüttringhauser Straße 2, 42897 Remscheid

pro 273 Einwohner. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich mit dieser neuen Publikationsform die freie öffentliche Rede in der Volksrepublik. Gegen eine solche Textmasse aber ist die kommunistische Internet-Polizei machtlos. Nur die Überschriften der Blogs fallen bislang unregelmäßig unter die Zensur.

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»Es gibt in China keine

»Ich sehe viele

kommunistische Regierung mehr, nur eine konfuzianische. Diese Einsicht würde westliche Missverständnisse beseitigen

lebendige Typen in den Redaktionen junger Zeitungen, die wissen, wie eine unabhängige Presse funktioniert

Charles Zhang Chaoyang, 41, Chef des INTERNET-PORTALS Sohu – Nummer eins der neuen Medienmagnaten

LI DATONG, der im Januar entlassene streitlustige Chefredakteur der Pekinger Parteizeitung »Bingdian«

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… Kulturrevolutionäre

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Kaum ein anderer ist davon so begeistert wie Li Datong, der im Januar geschasste Chefredakteur der parteieigenen Pekinger Wochenzeitung Bingdian. »30 Millionen Blogs, und jeder verkündet seine Botschaft!«, freut sich Li, als wäre das bereits der Sieg über die Zensur. Er ist ein großer, gut aussehender Charmeur. Das sagen jedenfalls chinesische Frauen. Er trägt ein helles Jackett über schwarzen Jeans und ausgelatschten Camel-Halbschuhen und schreibt jetzt ein Tagebuch über seine Jugend als Hirte in der Inneren Mongolei. Seine Liebe zur Natur hat ihn über vieles hinweggerettet. Sein Urteil ist das eines Überlebenden nach 27 Jahren redaktionellen Meinungskampfs innerhalb der Partei. 1979 trat er der Parteizeitung bei. Li Datong ist die Symbolfigur eines aufrichtigen Parteijournalismus in China. Das 53-jährige KPMitglied zählte bis zu seinem Amtsverlust zu den bekanntesten Zeitungsjournalisten des Landes. Er organisierte während der demokratischen Studentenrevolte 1989 den Widerstand der Journalisten gegen die offizielle Berichterstattung. Sein Parteiblatt exponierte die sozialen Probleme im Land, bemühte sich um eine positive Neubewertung der Demokratie Taiwans und verlangte zuletzt Korrekturen in parteikonformen Schulbüchern, die Chinas Geschichte verfälschen. Das ging den Zensurbehörden zu weit. Inmitten eines Sturms der Entrüstung inner- und außerhalb Chinas ließ das Propagandaamt der Partei Li in eine Forschungsabteilung seiner Zeitung abschieben. Man wähnt ihn deshalb einige Monate danach niedergeschlagen und bedrückt. Was macht einer, der jahrelang hohe Parteiamtswürden genießt und dessen Name dann plötzlich unter den Zensurindex fällt? Doch Li sieht die Ereignisse heute mit anderen Augen. Das Kapitel Printjournalismus ist für ihn abgehakt. Er schaut nicht zurück. Kaum hat er sich an einer teuren Pekinger Hotelbar in der Nähe seiner alten Zeitungsredaktion niedergelassen, eine Cola-Dose geöffnet und eine Zigarette angesteckt, ist er schon bei den Details neuester virtueller Publikationsstrategien. Täglich sammle er beim Bloggen neue Erfahrungen, meint Li. Wie man etwa durch die Technik kleiner Schriftzeichen-Veränderungen auch sensible Begriffe verwenden könne, die normalerweise die Aufmerksamkeit der Zensoren auf sich zögen. Und wie sich diese veränderten Wörter rasend schnell unter Bloggern einbürgerten, bevor sie von der Zensur entdeckt würden, nur um anschließend wieder in neuer Form im Netz aufzutauchen. Die Blogger erfinden quasi ihre eigene, nicht aufspürbare Sprache. Viel spannender erscheint Li dieser neue virtuelle Meinungskampf – verglichen mit dem, was er in seinen 27 Jahren als KP-Redakteur erlebte. Er

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erzählt vom Zensuralltag der etablierten Parteimedien. Zu Beginn jeder Woche werden die Chefredakteure beim Propagandaamt der Partei vorstellig. Das Amt gehört nicht zum Regierungsapparat und untersteht direkt dem Politbüro der Partei. Es ist die oberste Zensurinstanz des Landes und setzt die politischen Richtlinien für den aktuellen Medienbetrieb. Jede Woche unterrichtet es die Chefredakteure mit einem »Pressekommentar«, einem meist zwei bis drei Seiten langen Dokument, das die Überschreitungen der Zensurvorschriften der vorausgegangenen Woche festhält. Bei wichtigen Vergehen wird im Dokument der Vermerk »Politbüro« hinzugefügt – ein Hinweis, dass die Parteispitze den Vorwurf zur Kenntnis genommen hat. Journalisten, die das Dokument erwähnt, werden nicht unmittelbar bestraft, erhalten jedoch »schwarze Punkte«. Über zehn solcher Punkte im Jahr bringen einen Jounalisten in Gefahr, versetzt zu werden oder seinen Job zu verlieren. Li Datong erhielt im letzten Jahr zwölf Punkte. Entscheidend für seine Absetzung war ein »Pressekommentar« mit einer Dokumentennummer über der Zahl 8000 und dem Vermerk »Politbüro«. Man möge nur den bürokratischen Aufwand bedenken, bemerkt Li: Mehr als 8000 Zensurschriften seit dem Jahr 1994, als man den heutigen Zensurprozess einführte.

Ab zehn Zensurpunkten wird man versetzt oder verliert den Job Im Propagandaamt werden den Chefredakteuren außerdem die parteigesetzten Themen der Woche mündlich mitgeteilt. Sie sollen den Schwerpunkt der Berichterstattung bilden. Zu Diskussionen kommt es nicht. »Kein Chefredakteur wagt das«, sagt Li. Doch beschreibe er damit nur das Zensursystem für die großen Parteizeitungen und den streng kontrollierten Fernseh- und Radioapparat. Deren triste Realität dürfe nicht über die laut Li insgesamt »epochalen Veränderungen« in der chinesischen Medienlandschaft hinwegtäuschen. Gemeint ist der Einzug der Privatwirtschaft ins Mediengeschäft. Ein Charles Zhang lässt sich nicht ins Propagandaamt zitieren. Und nicht nur für die Internet-Portale, auch für weite Teile des in den vergangenen Jahren neu entstandenen kommerziellen Medienbetriebs funktioniert das Zensursystem nur noch mit großen Einschränkungen. Viele neue, privat finanzierte Medien wie die so genannten Metropolzeitungen haben den Ton der Berichterstattung grundlegend geändert. Wer etwa die flott aufgemachte Neue Pekinger Zeitung in der Hand hält, merkt sofort den Unterschied: Sie erscheint in einem dicken Bund von täglich 50 bis 90 Seiten mit großen Titelspalten und vielen Anzeigen. Das führende KP-Blatt Volkszei-

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tung bietet dagegen täglich meist nur 16 dünn bedruckte Seiten. Die neuen Kommerzblätter, wenngleich weiterhin zu großen Teilen im Staatsbesitz, ignorieren die Parteipolitik und die vom Propagandaamt vorgegebenen Themen, so gut es geht. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Katastrophenberichte, Alltagsthemen und Unterhaltung. Das bringt die nötigen hohen Auflagen, um Gewinne zu erzielen – und fördert einen lockeren, zensurfernen Journalismus. Statt wie die Parteipresse jeden KP-Mann als »Genossen« zu bezeichnen, werden in den Kommerzblättern KP-Leute distanziert als »Regierungsbeamte« vorgeführt. Li nennt das Fortschritt. »Ich sehe viele lebendige Typen in den Redaktionen junger Zeitungen, die wissen, wie eine unabhängige Presse funktioniert.« Zu diesen lebendigen Typen zählte vor ein paar Jahren auch Liu Di. Die Tochter eines Pekinger Journalisten erschrieb sich im Alter von 21 Jahren einen Namen als bissig-ironische politische Kommentatorin in den damals noch weitgehend unzensierten Foren des Internet. »Sprecht einmal 24 Stunden lang die Wahrheit!« – »Geht auf die Straße und lehrt die Lenin-Theorie!« Mit solchen Frechheiten wurde Liu berühmt. Sie zeichnete mit dem Decknamen »Edelstahlmaus«, sie galt als journalistisches Naturtalent – bis die Sicherheitspolizei ihr eine Falle stellte. Ein Beamter gab sich ihr gegenüber als Gründer einer neuen demokratischen Partei aus und überredete sie zum Mitmachen. Daraufhin ließ man sie wegen verbotener Parteigründung festnehmen. Über ein Jahr, viel länger, als vom Gesetz erlaubt, von November 2002 bis Dezember 2003 verbrachte Liu in Untersuchungshaft. Sie galt als Chinas erste inhaftierte Internet-Dissidentin. Nicht zuletzt die Berliner Regierung setzte sich in Peking für ihre Freilassung ein. Was nichts daran ändert, dass ihr die Sicherheitspolizei auch heute noch auf Schritt und Tritt folgt. »Nichts ärgert mich so sehr wie diese Polizisten in meinem Haus, die mitkommen, wo immer ich hingehe«, klagt die heute 25-jährige Diplompsychologin. Sie ist eine kleine, unauffällige Person. Sie trägt eine rosa Schiebermütze über einer bis zum Hals zugezogenen hellbauen Sportjacke. Sie wohnt in einem östlichen Randbezirk Pekings, in einem vom Staub und Sand der vielen neuen Apartmenthaus-Baustellen verdreckten Viertel. Für ein Treffen hat sie die Anonymität des Starbucks-Cafés in ihrem Stadtteil gewählt. Es sind kaum Gäste da. Zumindest hier fühlt sie sich bei einem Vanille-Milchshake unbeobachtet. Haft und Verfolgung haben aus der »Edelstahlmaus« das weltweit prominenteste Opfer der chinesischen Internet-Zensur gemacht. Doch ihre Berühmheit nutzt Liu wenig. Sie scheut die Jobsuche, weil sie die Beschatter auf ihren Fersen weiß.

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Sie zögert, ins Ausland zu gehen, weil sie Angst hat, von den Behörden nicht wieder ins Land zurückgelassen zu werden. Sie kämpft mit Gesundheitsproblemen, die aus ihrer Zeit im Gefängnis herrühren. Würde sie verzweifeln, wer hätte nicht Mitleid mit ihr! Umso erstaunlicher ist Lius nüchterne Lageeinschätzung. »Die Regierung hat nicht die Absicht, die Meinungsfreiheit zu erweitern«, urteilt sie, »aber ihre Fähigkeit, freie Meinungsäußerungen einzuschränken, lässt nach.« Dabei misst sie die Meinungsfreiheit an den Ausdrucksmöglichkeiten für das ausdrücklich Verbotene, an der Freiheit zur direkten Kritik an der Partei. Während ihrer Haft fragten sich manche westlichen Medien, warum die Kommunistische Partei ausgerechnet eine so junge, scheinbar harmlose Studentin festnehmen ließ. Doch Liu ist eine hoch intelligente Person und weiß genau, was sie will. Um Parteikritik zu äußern, sucht sie heute neue Wege. Sie leitet eine Reihe parteikritischer InternetForen, deren Server sich im Ausland befinden und die deshalb für die Internet-Polizei schwerer zu zensieren sind. Sie schreibt ihren Blog auf einer Website, die sensible Wörter automatisch beim Tippen filtert. So erkennt sie schon beim Schreiben, welche Wörter umformuliert werden müssen, und tut es auf eine Art, die die Textbotschaft nicht verfälscht. Ob sie bei alldem keine Angst habe, wieder verhaftet zu werden?

Die »Stahlmaus« schreibt weiter, trotz Verhaftung – nun als »Titanmaus« »Nein. Meine Verhaftung war ein Trick. Das Schreiben selbst ist nicht gefährlich«, glaubt Liu. Sie spielt auf das Recht zur freien Meinungsäußerung an, das die chinesische Verfassung im Prinzip garantiert. Die Verhaftungen so genannter Internet-Dissidenten erfolgen deshalb immer unter dem Vorwand eines konkreten Gesetzesbruchs. Bei Liu Di war das die angebliche Parteigründung. In anderen Fällen ist es der angebliche Verrat von Staatsgeheimnissen, wobei es sich einfach nur um die Versendung eines alten, harmlosen Parteidokuments per E-Mail handeln kann. Die Gratwanderung der Autoren liegt darin, solche Vorwände zu vermeiden. Und Liu Di ist sich sicher, dass sie diese Kunst des virtuellen Schattenboxens inzwischen beherrscht. Sie habe Stil und Auffassungen nicht geändert. Nur schreibe sie jetzt unter einem neuen Decknamen. »Titanmaus«. Titan ist noch härter als Edelstahl. Sie will damit ausdrücken, dass die Verfolgung ihren Widerstand gestärkt habe. Liu Di leidet an den Folgen ihrer Haft, aber sie hat ihre Stimme nicht verloren. Dank dem Internet und dank ihrem Bedürfnis nach Meinungsfreiheit.

Fotos [M]:China Photos/Getty Images; Katharina Hesse für DIE ZEIT/www.katharinahesse.com (re.)

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LESERBRIEFE

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»Multikulti« erlebe ich jeden Tag

Ist doch prima Adam Soboczynski: »Humboldt, adieu!,« ZEIT NR. 19

Elisabeth von Thadden fragt, wer ein Ausländer sei. Ich bin nach 35 Jahren in Deutschland immer noch einer, einer von denjenigen, die gar nicht mehr als Ausländer wahrgenommen werden. Etliche von uns sind mit einem deutschen Partner oder einer deutschen Partnerin verheiratet und haben Kinder, die zwei Sprachen sprechen und durch die unterschiedliche Abstammung der Eltern zwei Pässe besitzen: Euro- und Weltbürger/innen des 21. Jahrhunderts. Die deutsche Geschichte, Kultur und Politik ist uns vertraut wie die unseres Ursprungslandes. Wir übernehmen alle staatsbürgerlichen Pflichten geborener Deutsche. Nur mitbestimmen dürfen wir nicht, das allgemeine Wahlrecht ist uns verwehrt. Dieses demokratische Grundrecht erwerben wir erst mit der deutschen Staatsbürgerschaft. Diese wiederum wird uns erst gewährt, wenn wir auf die unserer Geburt verzichten. Welchen Schaden fürchtet der deutsche Staat, dass er nicht bereit ist, Bürgern und Bürgerinnen wie uns die doppelte Staatsbürgerschaft zu ermöglichen und uns damit voll zu integrieren? JOHN STEVENS, BAD MÜNSTEREIFEL

Ich bin Sohn einer »koreanischen« (?) Mutter, die seit über 30 Jahren den deutschen Pass besitzt, hier lebt und als Krankenschwester arbeitet, und eines »gebürtigen« Deutschen. Für mich, meinen Bruder und all unsere Bekannten mit demselben Herkunftshintergrund tauchte Integration weder als Problem, geschweige denn als Frage auf. Im Gegenteil! Die meisten »von uns«, sei es in der Schule, in Kunst und Kultur oder inzwischen im Studium, gehören zu den Erfolgreichsten. Nun musste ich erstaunt feststellen, dass ich in einer von Ihnen abgedruckten Statistik als »gefühlter Ausländer« geführt werde. Beschreibt das eine gesellschaftliche Einstellung? Oder postuliert das Statistische Bundesamt beziehungsweise die ZEIT (»eigene Berechnungen«), dass Deutsche wie ich uns trotz der Tatsache, dass wir nie woanders gelebt haben, als Ausländer fühlen sollen? Beides wäre durchaus bedenklich und würde einige haarsträubende Auswüchse

der derzeitigen Einwanderungsdebatte erklären. Was außer dem deutschen Pass und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben definiert denn heute Deutschsein? Blonde Haare und blaue Augen? Ich studiere an einer deutschen Musikhochschule, die Bildungsanstalt mit der wohl internationalsten Studentenschaft. Warum funktioniert hier das Nebeneinander von Russen, Ukrainern, Koreanern, Japanern, Chinesen, Griechen, Türken und all der anderen Nationalitäten inklusive der Deutschen?! Der einfache Grund dafür ist, dass sich alle stillschweigend auf einen Wertekanon geeinigt haben, der vor allem Fleiß, Disziplin und Zuverlässigkeit beinhaltet. Man wird nach seiner Leistung und Persönlichkeit bewertet und wahrgenommen und nicht nach seiner Herkunft. »Multikulti«, in diesem Land totgesagt, bevor es richtig versucht wurde, ist möglich, das darf ich jeden Tag erleben! Und ganz im Gegensatz zu dem Gros der deutschen Hochschullandschaft gehören die hiesigen Musikhochschulen zur internationalen Spitze und ziehen die internationale Musikerelite auf und an. Deutschland darf die Chance auf das »beste aus jedem Topf« nicht leichtsinnig vertun. Eine der essenziellen Zutaten hierfür sind die richtigen Rahmenbedingungen, vor allem für integrationswillige und hoch qualifizierte Einwanderer. Sollte es in den nächsten Jahren nicht gelingen, sie zu schaffen, wird dieses wunderbare Land immer weiter ins untere Mittelfeld abdriften. SIMON BODE, HANNOVER

»Die Wahrheit über die Ausländer« enthält viele wichtige Informationen in einer neuen, nüchternen Sprache, die nicht mehr von der alten Political Correctness überwölbt wird. Doch es fehlen auch einige alte und neue Wahrheiten über die Lebenssituation von Ausländern und Deutschen, die zu einer redlichen Sicht der Dinge dazugehören und die man nicht mehr, nicht wieder verschweigen darf, wenn man nicht wieder neue Aggressionspotenziale erzeugen will. Diese Wahrheiten sind ambivalent und betreffen vor allem die typisch deutsche Sicht auf das Fremde, die Sprachsituation und auch die Deutschen selbst.

1. Deutschland erlebt die massive und nachhaltige Anwesenheit relativ vieler Ethnien und Kulturen historisch verspätet, einschlägig vorbelastet, geistig unvorbereitet und zeitlich – im Vergleich zu anderen Regionen – erheblich beschleunigt. Deshalb wurden die Ausländer als Fremde in den 40 Jahren seit ’68 lange ideologisch mystifiziert, zum Beispiel durch politische Tabuisierung, pseudoliberale Xenophilie, Multikulti oder Ausländerfeindlichkeit. Letztendlich mögen die Ausländer dem kollektiven Unbewussten der Deutschen womöglich auch als Projektionsfläche für ihre Vergangenheitsbewältigung gedient haben. Nach der Dekonstruktion einer historisch ohnehin schwach ausgebildeten Identität erhalten die Deutschen nun aber über die Großgruppe der Ausländer die historisch einzigartige Chance eines mentalen Quantensprungs: nämlich in der Symbiose allmählich eine flexible, weltoffene, internationale Art einer neuen Identität auszubilden, die sich in der jüngsten Generation schon andeutet. Diese Chance ist jetzt. Dadurch haben die Deutschen anderen Nationen etwas voraus und können eine bedeutende Vorreiterrolle für die Zukunft Europas übernehmen. 2. Die Deutschen (wie auch immer nun definiert) sollen den Mut haben, über dies alles selbst zu reden, zu handeln und zu urteilen – und endlich anfangen, den Prozess verantwortlich mitzusteuern. Noch immer ist es so, dass Publikationen über das Deutsche und die Deutschen hauptsächlich von außerhalb kommen, noch immer überlässt die Literatur das Ausländerthema schamhaft den Ausländerdeutschen. PROF. UWE HINRICHS, UNIVERSITÄT LEIPZIG

Ich bin erstaunt. Bisher kannte ich die ZEIT als kritisches Medium, zweifelnd, meinungsbildend. Selten hatte man jedoch als Leser das Gefühl, die Autoren haben die allgemeingültige Wahrheit gepachtet. Doch nun groß auf Seite 1: »Die Wahrheit über Ausländer«, dann folgen Kurzberichte, Statistiken. Ist die ZEIT denn verrückt geworden? Das erinnert an Fakten, Fakten, Fakten. Aber ich möchte informiert werden, nicht zugemüllt mit Statistiken, und Kurzartikeln. JOSEF BOSCH, STUTTGART

Abb.: AKG

»Die Wahrheit über Ausländer« – Beiträge und Statistiken, ZEIT NR. 19

LORELEY – ein Gemälde von F. Marternsteig (1852/53)

… da habe ich geweint

INGEBORG ROMOSCHAN, STUDENTIN, MÜNCHEN

Freud, Heine und die Wirklichkeit: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, ZEIT NR. 19

Die Betrachtung von Heines Loreley ist wertvoll. Mir, dem in Mainz geborenen, rheinischen Juden, der jetzt in Kalifornien lebt, einem entkommenen Opfer von Sachsenhausen, sind Ursprung und Sinn des Gedichtes von unmittelbarer, lebendiger Bedeutung. Nur ein tief romantischer, rheinischer Jude konnte es geschrieben haben – als Metapher. Zu Heines Zeit, wie auch heute noch, kämpfte die kleine Zahl der deutschen Juden im schmalen Kahn gegen die Wellen, die ihrer Anerkennung als gleichwertige Menschen entgegentobten. Heine hatte es gefühlt und erlebt. Der deutsche Rhein, Heines Fluss, war dem Romantiker Symbol. Die Sonne über dem Strom war für die Juden bereits im Untergehen. Auf dem Gipfel des Berges, im Son-

nenlicht, saß Deutschland, die goldene Jungfrau, im goldenen Haar, und sang vom herrlichen Abend und schöneren Morgen. Der Schiffer sehnte sich nach ihr, nach einem Wort der Ermutigung. Gebannt schaute der Jude nach oben. Würde er vergessen, den schwachen Kahn durch die Wellen zu steuern? Dann würde der Kahn zerschellen, der Jude ertrinken, die Jungfrau weiter singen. So kam es. Das »Märchen« war Wahrheit, uralt war es ebenfalls für Juden, der Dichter sah es erneut voraus. Seit Jahrzehnten lehre ich jeden Sommer in Deutschland und versuche, der Verständigung zu dienen. Als ich im vergangenen Jahr an der Loreley vorbeifuhr, habe ich geweint. RABBINER PROFESSOR LEO TREPP UNIVERSITÄT MAINZ

Im Interesse Deutschlands und des Rests der Welt

Wo bleibt das Menschenrecht auf Wärme?

Robert von Heusinger: »Merkel, die Merkantilistin«, ZEIT NR. 19

Hans Schuh: »Das Ende der Gemütlichkeit«, ZEIT NR. 19

Robert von Heusinger kritisiert – gestützt auf eine französische Studie – die zurückhaltende Lohnpolitik und die angebotsorientierte Reformpolitik in Deutschland. Dass Arbeitskosten und Steuerbelastung in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig sind, beweist neben den hohen Arbeitsplatzverlusten in der Industrie (rund 800 000) Stellen zwischen 1995 und 2005 der enorme Aderlass des Handwerks von 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Gleichzeitig ist die Schattenwirtschaft auf circa 360 Milliarden Euro angewachsen. Wie erklärt das Herr von Heusinger? Würde Deutschland von einer markt-

wirtschaftlich orientierten Reformpolitik Abstand nehmen und stattdessen eine – wie vom Autor empfohlen – nachfrageorientierte Politik via gesteigerter Umverteilung betreiben, würde die Kostenbelastung deutscher Unternehmen zunehmen, mit der Konsequenz, dass die Arbeitslosigkeit weiter anstiege. Die Aussage von Heusingers, dass die geplante moderate Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung, finanziert durch die kräftige Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen erhöhe, ist ein Schlag ins Gesicht all jener Branchen, die auf die Binnennachfrage angewiesen sind. Im Interesse

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Deutschlands und des Rests der Welt ist die Bundesregierung gut beraten, die Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft zu forcieren. Denn wächst hierzulande die Wirtschaft und entstehen neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, steigt die Nachfrage – auch nach Importen. Diese Aussage gilt für jede Nation. PROF. WOLFGANG SCHULHOFF, PRÄSIDENT DER HANDWERKSKAMMER DÜSSELDORF

Beilagenhinweis Unserer heutigen Ausgabe liegen in Teilauflagen Prospekte folgender Firmen bei: natur media GmbH, 70771 Leinfelden-Echterdingen; Rheingau Musik Festival GmbH, 65375 Oestrich-Winkel; Süddeutsche Zeitung GmbH, 80331 München

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Gibt es denn kein Grundrecht auf Wärme? Mit meinen 600 Euro netto kann ich mir vieles nicht leisten. Ein Auto vermisse ich nicht. Ein preiswerter Urlaub ist nur alle zwei Jahre drin. Nicht so schlimm. Aber wenn ich mir meine drei Raummeter Scheitholz für den Ofen habe kaufen können, dann gibt mir das für die sechs, sieben kalten Monate des Jahres Sicherheit – mein Menschenrecht auf Wärme. Abhängig vom Preisdiktat eines Energiekonzerns könnte ich mein Leben nicht mehr selbst finanzieren. Ich würde zum Sozialfall – wahrschein-

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Glänzender Artikel. Chapeau! Der Zwiespalt vieler wird anschaulich – im wehmütigen »Humboldt, adieu!« und in der Mitteilung am Schluss: Das Schloss im Park für die Verwaltung, für die Professoren die Baracken ante muros. Für die Langzeitfolgen werden Politiker, Bürokraten und Betriebswirte, die heute die Bildungsreform konzipieren, ohne vom Wesen der Wissenschaft etwas verstanden zu haben, nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Wen kümmert’s, wenn dafür eine ganze Wissenschaftler-Generation verheizt wird und das Heer der Privatdozenten als Investitionsruine gleich mit? Es ist traurig, dass durch Evaluationsfetischismus, Judifikationsehrgeiz, Ökonomisierbarkeitsillusion und Utilitarismusgebot ausgerechnet diejenigen demotiviert werden, die (notwendige!) Reformen vernünftig und unbürokratisch gestalten und für die Nachfolgenden zur Blüte bringen müssten. Sie werden stattdessen mit Erlassen und Formularen und Fragebögen und Berichtsanforderungen erstickt, bis ihnen die Luft und die Lust ausgehen. Aber wehrt sich einer? Keine Zeit … PROF. ERNEST W. B. HESS-LÜTTICH UNIVERSITÄT BERN, INSTITUT F. GERMANISTIK

lich mit all den gesundheitlichen Folgen, die das, auch statistisch nachgewiesen, hat. Außerdem würde ich sagen, Sterben ist nicht gleich Sterben. Ich jedenfalls riskiere es lieber, durch selbst verursachten Feinstaub in Wärme dahinzuscheiden als wegen einer fatalen Abhängigkeit von OligarchenKonzernen in einer eisigen Bude zu krepieren. Mein Holzhändler kommt vielleicht zu meiner Beerdigung. Die Oligarchen werden nicht mit einer Wimper zucken. ANDREAS KOTHE, BRAUNSCHWEIG

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Mit der Bemerkung des Autors, die Reformen seien in ihren Grundzügen ebenso sinnvoll wie traurig, bin ich nicht ganz einverstanden. Warum »traurig«? Weil sie »den Abschied von einer bundesrepublikanischen Sorglosigkeit, fernab des globalisierten Wettbewerbs« markieren? Die Welt verändert sich rapide, warum also nicht auch die deutsche Universität? Vor zweieinhalb Jahren war ich an einer US-amerikanischen Universität. Von zu Hause kamen oft verzweifelte E-Mails von Freunden, die sich schrecklich wegen der Einführung von Studiengebühren aufgeregt haben. Ich musste lächeln. Mir fällt das Geld leider auch nicht vom Himmel, trotzdem bin ich der Ansicht, dass Studiengebühren notwendig sind. Es gibt ein amerikanisches Sprichwort, das besagt: You get what you pay for. In Deutschland hat man bisher nichts bezahlen müssen. Was man davon hatte, kann man auch im Artikel von Soboczynski lesen: überfüllte Hörsäle, fast keine Betreuung durch die Professoren, Studienabbrecher oder Langzeitstudenten, Orientierungslosigkeit. Was ist falsch an einem mehr praxisbezogenen Studium, an Klausuren und Hausarbeiten, an kürzeren Studienzeiten?

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Berichtigung Leserbrief: »Verharmlost«, ZEIT NR. 19

Auf Seite 24 druckten wir einen Leserbrief von Dr. Christel Happach-Kasan zum Thema »20 Jahre Tschernobyl«. Dabei ist uns ein Fehler unterlaufen. Frau Happach-Kasan gehört nicht der CDU-Fraktion im Bundestag an, sondern ist Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion für nachwachsende Rohstoffe und ländliche Räume. DZ

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Die Enteignung

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ihres geistigen Eigentums fürchten Kreative, wenn die Pläne zur Renovierung des Urheberrechts wahr werden Von Stefan Krempl Seite 28

Der unehrliche Streik Was die Ärzte verschweigen Selten war ein Streik gleichzeitig so berechtigt und so unfair wie der Ausstand der Krankenhausärzte, der diese Woche einen neuen Höhepunkt erreicht. Er ist berechtigt, weil Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Klinikärzte tatsächlich unzumutbar sind. Er ist unfair, weil der Streik vor allem die Patienten trifft. Geschädigt werden die Kranken von heute – Tumorpatienten etwa, deren Operationen als »verschiebbar« gelten. Er trifft aber auch Patienten von morgen, weil die Millionenverluste, die den Krankenhäusern durch den Streik entstanden sind, durch Einsparungen ausgeglichen werden dürften. Zudem sind die Streikenden gegenüber der Öffentlichkeit nicht ehrlich: Die jungen Mediziner, die auf die Straße ziehen, klagen über ihre Arbeitszeiten, über 48-Stunden-Dienste und Übermüdung, was ihnen viel Mitgefühl einbringt. Tatsächlich sind einige über ihre Arbeitszeiten aber gar nicht so unglücklich. Aus zwei Gründen können gerade junge Krankenhausärzte mit der Situation oft ganz gut leben: Erstens gibt es Zulagen für Nachtschichten und Überstunden. Zweitens müssen sie eine vorgeschriebene Zahl an Operationen vorweisen, um aufsteigen zu können. Mancher möchte das schnell hinter sich bringen, notfalls auch mit 20-Stunden-Schichten. Bloß sagt das keiner laut. Es wäre ehrlicher, nur über Geld zu reden. Die Arbeitszeiten in den Krankenhäusern hätten zwar längst strenger geregelt werden müssen – wie bei Busfahrern, Lastwagenfahrern oder in anderen Berufen, an denen Menschenleben hängen. Dass dies versäumt wurde, liegt aber nicht allein an der Politik – es liegt auch an den Ärzten selbst. ELISABETH NIEJAHR

Die unbekannte Macht

Der Deutsche Gewerkschaftsbund gewinnt wieder an Einfluss – seinem Chef hört sogar die CSU-Basis zu VON KOLJA RUDZIO

Foto [Ausschnitt]: Hans-Christian Plambeck/laif

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evor der Gast aus der Hauptstadt ans Mikro darf, spielt erst einmal die Blaskapelle. Sie spielt den Defiliermarsch, der jedes Mal erklingt, wenn ein hochrangiger Politiker der CSU in eine bayerische Festhalle einzieht. Doch jetzt sitzt hier oben auf der blumengeschmückten Bühne, direkt vor den Musikern in Lederhosen, ein Mitglied der SPD: Michael Sommer, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Bad Aibling, ein kleiner Kurort in Oberbayern. Landrat Max Gimple (CSU) will den 1. Mai feiern. Dazu hat er früher schon Angela Merkel in den Ort geholt, Hans-Olaf Henkel, Roman Herzog und Friedrich Merz. In diesem Jahr ist Deutschlands oberster Gewerkschafter dran – »der Erste, der wirklich etwas mit dem 1. Mai zu tun hat«, wie Michael Sommer scherzt. Im Saal sitzen rund 200 lokale Honoratioren, die meisten davon Anhänger der CSU. Sie wollen sich ein Bild machen von dem Mann, den sie nur »polternd bei Sabine Christiansen« kennen, wie der Landrat zur Begrüßung sagt. Sie wollen den Mann sehen, der »den acht anderen Einzelgewerkschaften die Richtung vorgibt«, wie Bürgermeister Felix Schwaller meint. Es wird einige Überraschungen geben an diesem Abend. Am Ende wird ein verdutzter Landrat feststellen, dass es drei verschiedene Michael Sommers gibt. Und aufmerksame Zuhörer werden einen kleinen Eindruck davon bekommen, was der DGB und sein Chef tatsächlich vermögen – und was nicht. Seit vier Jahren steht Michael Sommer an der Spitze der Gewerkschaften. In der kommenden Woche tritt der 54-Jährige zur Wiederwahl an

– auf dem DGB-Bundeskongress in Berlin, dieser fast eine Woche dauernden Mammutveranstaltung, zu der die Kanzlerin kommt, der Bundespräsident und Spitzenpolitiker aller Parteien außer der FDP. Im Vordergrund des Medieninteresses wird die Frage stehen, ob es Krach gibt und Sommers Stellvertreterin Ursula EngelenKefer noch einmal kandidiert (siehe nächste Seite). Tatsächlich wird aber die ganze Riege der obersten Interessenvertreter von knapp sieben Millionen Gewerkschaftsmitgliedern neu gewählt. Ein Verband, der mehr Menschen vertritt als jede deutsche Partei, ordnet seine Spitze neu. Und hinter alldem geht es in Berlin um die wichtigste aller Fragen: Was kann und was will der DGB bewegen? Denn obwohl der Einfluss des DGB auf die Politik so groß ist wie lange nicht, obwohl sich gerade Sommer der schwarzroten Regierung in einigen Punkten näher fühlt als zuletzt Rot-Grün, obwohl der DGB also wirkliche Macht zu haben scheint, ist er gleichzeitig gewaltig unter Druck. In Wahrheit ergeht es beiden ähnlich, dem Chef wie seiner Organisation: Sie sind stark und schwach zugleich. Im Gewerkschaftshaus in Rosenheim, ein paar Kilometer von Bad Aibling entfernt, lässt sich der örtliche IG-Metall-Chef mit Sommer ablichten, und der DGB-Kreisvorsitzende aus der Nachbarregion reist eigens an. (»Ich brauche ein Foto für meine Homepage, damit die Leute mich ernst nehmen.«) Doch er verpasst Sommer. Der wird zu dieser Zeit schon bei einer Werksbesichtigung fotografiert, erst für die Firmen-PR, dann für den Betriebsrat, später am Abend beim Landrat wird man den Gewerkschaftsboss sogar um Autogramme bitten. Es sind die Riten der Macht.

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Bloß wird der reale Einfluss des DGB-Chefs meist an ganz falscher Stelle vermutet. Der verbreitetste Irrtum zeigt sich beim Redaktionsbesuch des Oberbayerischen Volksblatts in Rosenheim. »Wir möchten mit Ihnen über mehrere Themen sprechen«, sagt der Chefredakteur, »natürlich auch über den Tarifabschluss in der Metallindustrie.« Sommer wirft grinsend ein: »Zumal ich mich so oft zu Tarifabschlüssen äußere.« Dem Redaktionschef entgeht die Ironie, er lacht und sagt: »Ja, natürlich, das können wir ja jeden Tag nachlesen.« Größer könnte das Missverständnis kaum sein. Der DGB-Chef darf sich gar nicht zu Tarifabschlüssen äußern. All das, was öffentlich am meisten Aufsehen erregt und auch Gewerkschaftsmitglieder am stärksten bewegt – Arbeitskämpfe mit Streiks und Trillerpfeifen –, ist für ihn tabu. Tarifabschlüsse handeln die Einzelgewerkschaften aus, die IG Metall, die IG BAU oder ver.di. Der DGB hat da nichts zu suchen. Seine wahre Bedeutung liegt woanders. Zum einen vertritt der Dachverband die Gewerkschaften in unzähligen Selbstverwaltungsorganen – bei den örtlichen Agenturen für Arbeit, bei Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern. Ein Großteil der etwa 800 DGB-Funktionäre in den über das Land verstreuten Gewerkschaftshäusern versieht – zumeist unbemerkt von der Öffentlichkeit – in diesen grauen Gremien ihren Dienst. Der Einfluss, den sie dort ausüben, ist kaum zu überschauen. Nur selten gerät diese Arbeit in den Fokus der Öffentlichkeit, so wie beim Skandal um falsche Vermittlungszahlen bei der Bundesanstalt für Arbeit, als

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MICHAEL SOMMER, Chef des DGB

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Die unbekannte Macht Fortsetzung von Seite 21 sich DGB-Vize Engelen-Kefer für ihre Vorstandstätigkeit in der Behörde rechtfertigen musste. Zum anderen fungiert der DGB für die Gewerkschaften als politisches Sprachrohr. Die Betonung liegt allerdings auf »Rohr«. Hineingesprochen wird von Jürgen Peters, Frank Bsirske und den anderen Chefs der Einzelgewerkschaften, herausdringen darf nur, was nicht der gemeinsamen Beschlusslage widerspricht. Sommer, Engelen-Kefer und die anderen geschäftsführenden Vorstände des DGB können Initiativen starten, moderieren und eigene Akzente setzen, aber in Kernfragen keine gänzlich abweichenden Positionen vertreten. Die Machtverhältnisse sind eindeutig: Der DGB selbst hat nur acht Mitglieder, nämlich die verschiedenen Einzelgewerkschaften. Diese dagegen, ver.di oder die IG Metall, zählen Millionen Mitglieder – das sind die Truppen, die sich für Arbeitskämpfe oder Mai-Demonstrationen mobilisieren lassen, das ist die Basis, die das Geld in den Gewerkschaftsapparat einspeist. Wenn der DGB sich zu Wort meldet, dann klingen daher immer die Stimmen von Peters oder Bsirske mit. Ob sie gehört werden, hängt allerdings davon ab, wie der DGB sie orchestriert. Als 2005 noch unter Rot-Grün über gesetzliche Mindestlöhne diskutiert wurde, erstarb die Debatte schnell – nicht zuletzt, weil sich die Gewerkschaften uneinig waren, ob sie nun staatliche Eingriffe bei den Löhnen wollen oder nicht. Das Thema beschäftigt Sommer immer noch, auch unterwegs in Rosenheim. Der DGB-Chef sitzt gerade in seinem mobilen Büro – ein verlän-

Foto: Werner Schüring

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enn alles läuft wie vorgesehen, dann steigt Ingrid Sehrbrock, seit sieben Jahren Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB, am kommenden Dienstag rasant auf. Gleich um zwei Etagen. Im DGB-Haus am Hackeschen Markt in Berlin sind nicht nur die Zuständigkeiten der Vorstandsmitglieder fein säuberlich aufgeteilt, sondern auch die dazugehörigen Stockwerke. Sehrbrock, für die Themen Jugend, Bildung und öffentlicher Dienst verantwortlich, beherrscht die dritte Etage – am Dienstag könnte sie die fünfte übernehmen. Dort regiert bisher noch DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer. Weiter oben residiert allein Vorstandschef Michael Sommer. Wie gesagt: So könnte der Aufstieg aussehen, wenn alles nach Plan ginge. Doch sicher vermag das vor Beginn des DGB-Bundeskongresses in der kommenden Woche niemand zu sagen. Auf dem alle vier Jahre stattfindenden Kongress wird die DGB-Spitze neu gewählt, außerdem beraten 400 Delegierte über rund 140 Anträge zur Gewerkschaftspolitik. Fast eine Woche dauert das gewerkschaftliche Großereignis. Die größte Aufmerksamkeit dürften die Vorstandswahlen am Dienstag erregen. Vor allem, weil

gerter Audi A8 mit zwei Alukoffern voller Akten im Kofferraum und einem Fahrer, der den Spitznamen »Schumi« trägt –, als die Nachricht hereinkommt, dass der mühsam gefundene Kompromiss zum Thema Mindestlohn schon wieder wackelt. Michael Sommer greift zum Telefon. Das ist typisch für seine Arbeit: Während die Chefs der Einzelgewerkschaften lautstark auf Kundgebungen die Massen dirigieren, bleibt Sommer das leise Wirken im Hintergrund. Bsirske, Peters oder Schmoldt haben ihr Megafon – Sommer sein Motorola-Handy. Als er auflegt, hat er wenigstens das völlige Auseinanderbrechen der Reihen verhindert. Aber: Die Einigung zum Mindestlohn, die auch ein Thema auf dem DGB-Kongress sein wird, bleibt ohne Zustimmung der Chemiegewerkschaft.

Die mächtigsten Gewerkschafter des Landes unter sich Seit dem vergangenen Jahr treffen sich die Vorsitzenden der acht Einzelgewerkschaften und DGBChef Sommer regelmäßig zu Klausurgesprächen im kleinsten Kreis. Ohne Mitarbeiter, ohne Protokollpflicht und ohne Zwang, Vorschläge mit allen Verästelungen des Apparates umständlich abzustimmen. Selbst die Vizechefs sind von diesem Zirkel ausgeschlossen. Im Vordergrund soll die Arbeit an gemeinsamen Projekten stehen, wie zum Beispiel einem neuen »Arbeitsklima-Index«, den der DGB veröffentlichen will, oder dem von Sommer angestoßenen Konzept für eine »neue Finanzarchitektur« des Sozialstaates. Aber in den Chefgesprächen lassen sich auch ganz vertraulich heikle Personalien und aufkeimende Konflikte behandeln. Inhaltlich ist bei alldem bisher wenig herausgekommen – hinter der vielbeschworenen neuen

Was will diese Frau? Am kommenden Dienstag wählt der DGB einen neuen Bundesvorstand. Noch pokert Ursula Engelen-Kefer

DGB-VIZE Ursula Engelen-Kefer

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»Finanzarchitektur« steht noch immer kein gemeinsam getragenes Konzept. Sommer plädiert schon seit langem dafür, Sozialleistungen stärker über Steuern statt über Abgaben auf die Löhne zu finanzieren, doch welche Steuern das sein könnten, darüber ist man sich innerhalb der Gewerkschaften uneins. Im vergangenen Herbst sagte Sommer, die Bundestagswahl habe die gemeinsame Arbeit am Sozialstaatskonzept aufgehalten, jetzt heißt es, man werde erst nach dem Kongress daran weiterarbeiten können. Gebracht haben die Klausurgespräche der Chefs vor allem etwas für den Umgang miteinander – trotz aller Differenzen sind größere Konflikte und Bosheiten in den vergangenen eineinhalb Jahren ausgeblieben. Das erleichtert die Kommunikation nach außen: Sommers häufige Telefonate mit Franz Müntefering ebenso wie das regelmäßige Frühstück mit Ronald Pofalla im Berliner Opernpalais. Sommer betont gern, wie gut er sich mit dem CDU-Generalsekretär versteht – die SPD soll nicht glauben, sie biete den Gewerkschaften ihren einzigen Zugang zur Macht. Nach wie vor spielt der DGB seine Themen zwar auch über Gremien wie den SPD-Gewerkschaftsrat, in dem das Parteipräsidium und Gewerkschaftschefs mit SPD-Parteibuch zusammenhocken, um ihre Gemeinsamkeiten auszuloten. Aber in den vergangenen Monaten, heißt es aus der DGB-Spitze, sei man aus den Reihen der CDU oft besser über die Meinungsbildung in der Großen Koalition informiert worden als von der SPD. Stärker als je zuvor wollen die Gewerkschaften mehrgleisig fahren. Wenn auf dem DGB-Kongress in der kommenden Woche das Personaltableau so beschlossen wird, wie es die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften ausgekungelt haben, dann rückt

das CDU-Mitglied Ingrid Sehrbrock vom einfachen Vorstandsposten an die Vizeposition im Gewerkschaftsbund. Und dann zieht mit Annelie Buntenbach von der IG BAU erstmals eine Grüne in den Geschäftsführenden Bundesvorstand ein. Mittelfristig wäre auch denkbar, dass ein Mitglied der neuen Linkspartei ein DGB-Amt übernimmt, schließlich deckt sich die Programmatik keiner anderen Partei so deutlich mit vielen gewerkschaftlichen Positionen. Doch derzeit finden die Arbeitnehmerlobbyisten in der schwarz-roten Koalition ungeahntes Gehör. Der Kündigungsschutz wird wegen des Widerstands der Gewerkschaften nicht ernsthaft gelockert, von gesetzlichen Öffnungsklauseln für Tarifverträge spricht so gut wie niemand mehr, umso mehr dagegen von den staatlichen Mindestlöhnen, wie sie sieben der acht DGB-Gewerkschaften fordern. Selbst im tiefschwarzen Rosenheim stößt DGB-Chef Michael Sommer auf offene Ohren. Und Sommer, der ein Amt innehat, in dem er nicht viel zu sagen hat, aber unendlich viel reden muss, weiß das zu nutzen.

Als er am Abend in der Bad Aiblinger Festhalle nach mehreren Grußworten endlich ans Mikrofon tritt (»Durch Grußworte fällt in Deutschland mehr Arbeitszeit aus als durch Streiks«, lautet ein Spruch Sommers), herrscht gespannte Stille. Mit gedämpfter Stimme beginnt der DGB-Vorsitzende zu reden. Er spricht über das Motto der Gewerkschaften zum 1. Mai, über die Würde. Er fragt, was die Gesellschaft zusammenhält, und berichtet von

Berliner Bezirken, in denen die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent liegt, von Jugendlichen, die keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben, und von Menschen, die zu Löhnen arbeiten, von denen sie nicht leben können. »Was müssen diese Menschen empfinden?«, fragt er im Ton eines Pastors. Im Saal kommt das an, es ist still wie in der Kirche. Nur an wenigen Stellen unterbricht kräftiger Applaus die predigtähnliche Ansprache. Den Beifall bekommt Sommer dafür, dass er den Kündigungsschutz verteidigt, die Rente mit 67 ablehnt und vorschlägt, Subventionen zurückzufordern, wenn Unternehmen Jobs verlagern. So weit sind CSU und DGB in einigen Punkten gar nicht voneinander entfernt. Rund eine Stunde lang spricht Sommer, nur mit ein paar Stichwörtern vor sich – druckreif, gefühlvoll, eindringlich. Dass er oft Formulierungen benutzt wie »Wir könnten darüber nachdenken …«, »Wir müssen uns fragen …«, »Wir sollten darüber reden …« stößt niemandem auf. Es zeigt, dass die Gewerkschaften zu vielen Fragen längst keine einheitliche, fertige Antwort haben. Aber das kann ja auch sympathisch sein. Am Ende erhält der Gewerkschaftsführer einen langen Beifall, und Gastgeber Max Gimple erklärt sichtlich beeindruckt, er habe heute gelernt, dass es drei verschiedene Michael Sommers gebe. Den Kämpfer in der Talkshow, den charmanten, unterhaltsamen Sommer, der ihm im Vorgespräch zu dem Empfang begegnet sei, und schließlich einen sehr nachdenklichen Sommer, der diese beachtliche Rede gehalten habe. Zum Schluss spielt wieder die Blaskapelle. Und der DGB-Kreisvorsitzende aus der Nachbargemeinde, der Sommer hinterhergefahren war, bekommt endlich das heiß ersehnte Foto mit dem großen Vorsitzenden.

nicht klar ist, ob Engelen-Kefer, eines der bekanntesten Gesichter der Gewerkschaftsszene, noch einmal kandidiert. Im Wahlvorschlag, den die Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften bereits Ende Januar beschlossen haben, steht sie nicht. Die 62-Jährige soll aus Altersgründen ausscheiden. Ihren Posten als DGB-Vize würde Sehrbrock übernehmen, ihren Aufgabenbereich – die Sozialpolitik – könnte Annelie Buntenbach von der IG BAU bekommen. Die gelernte Geschichtslehrerin, die dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac angehört, leitet seit 2002 die Abteilung Sozialpolitik der Baugewerkschaft. Definitiv ausscheiden wird der schwer kranke Heinz Putzhammer, ein Experte für Tarif- und Wirtschaftspolitik. Für ihn soll Claus Matecki, der Bürochef des IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters, nachrücken. So das offizielle Personaltableau. Schon kurz nach dessen Verkündung irritierte Engelen-Kefer die Gewerkschaftsbosse jedoch mit verklausulierten Bemerkungen, nach denen sie keine Kampfkandidatur anstrebe, jedoch weiter sozialpolitisch tätig sein wolle – und verschiedene Kandidaten bei einer Wahl ja auch demokratisch seien. In der DGB-Zentrale sorgt seither vor allem ein Szenario für Unruhe: Sollte Ingrid Sehrbrock im

ersten Wahlgang durchfallen, könnte sich EngelenKefer zur Kandidatur auffordern lassen und dann eben doch wieder antreten. Viele Gewerkschaftsfunktionäre schätzen die Erfolgschancen von Engelen-Kefer nur als gering ein. Denn große Überraschungen auf dem Bundeskongress sind selten, die Versammlung wird meist nicht von unberechenbaren Vertretern der Gewerkschaftsbasis dominiert. Viele Einzelgewerkschaften schicken als Delegierte ihre Vorstände (die meist auch die Liste der Abgesandten absegnen), andere hochrangige Funktionäre und altgediente Ehrenamtliche. »Dass die ihre eigenen Vorsitzenden blamieren, indem sie Engelen-Kefer durchsetzen, ist sehr unwahrscheinlich«, sagt ein Beteiligter, der für eine Einzelgewerkschaft den Kongress vorbereitet. Ein anderer sieht nur in den Vertretern von ver.di einen gewissen Unsicherheitsfaktor. »Die Frage ist: Hat Bsirske seinen Laden im Griff?« Immerhin sei die Wahl geheim. Hinter der Personalie steht kein erkennbarer Richtungsstreit. Engelen-Kefer, die Mitglied im Parteivorstand der SPD und im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit ist, steht zwar besonders für den traditionellen Sozialstaat mit sei-

nen großen, über Abgaben finanzierten Apparaten, an deren Verwaltung Arbeitnehmervertreter beteiligt sind. Aber ein Grundsatzkonflikt mit ihren Gegnern lässt sich daraus kaum konstruieren. Zu verschieden sind die politischen Grundlinien etwa von Chemiegewerkschaftschef Hubertus Schmoldt, ver.di-Chef Frank Bsirske oder IG-Metall-Boss Jürgen Peters, die sich allesamt von Engelen-Kefer abgewandt haben. Auch die Kandidaten für die neue Aufgabenverteilung im DGB repräsentieren keineswegs einen einheitlichen Richtungswechsel: Sehrbrock ist CDU-Mitglied, Matecki gehört der SPD an, und Buntenbach zählt zum linken Flügel der Grünen. Vereinzelt wird Ursula Engelen-Kefer vorgeworfen, sie habe sich im DGB wie ein »Platzhirsch« verhalten und klammere sich an bürokratische Strukturen. Andere sind der Meinung, ihr fehle die richtige Ausstrahlung für die Medien. Von allen Seiten anerkannt werden allerdings die ausgezeichneten Fachkenntnisse der promovierten Volkswirtin. Eine Nachfolgerin dürfte es daher nicht leicht haben, ihren Platz einzunehmen. Selbst wenn am Dienstag alles nach Plan läuft. KOLJA RUDZIO

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»Grußworte kosten mehr Arbeitszeit in Deutschland als Streiks«

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Fotos [M]: von links, Liesa Johannssen/photothek.net; Thomas Köhler/photothek.net; Uta Rademacher

MICHAEL SOMMER REDET auf BDI-Chef Michael Thumann ein (links), schaut der Kanzlerin in die Augen (Mitte) und scherzt mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt

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Die Herren der Cyber-Zombies Unerwünschte Werbung bedroht die Entwicklung des Internet. Die Firma Blue Security wollte dem ein Ende bereiten – und wurde zum Opfer der Mafia

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m späten Nachmittag des 2. Mai merkten die Techniker der israelischen Internet-Firma Blue Security zum ersten Mal, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Mit einem Schlag konnten nur noch Internet-Benutzer aus Israel ihre Web-Seite www. bluesecurity.com erreichen. Der Rest der Welt starrte auf einen leeren Bildschirm. Eine InternetAttacke hatte begonnen, doch damals wussten die Techniker noch nicht, dass sie der Anfang eines regelrechten Cyber-Kriegs war, der in den kommenden Wochen an den Fundamenten des Internet rütteln und die kleine Firma in den Ruin treiben würde. Erst recht konnten Zehntausende Blue-Security-Kunden in aller Welt nicht ahnen, dass sie zu Teilnehmern einer Geschichte voller Geheimagenten, Mafiosi, Meister-Hacker und geheimnisvoller Verschwörer geworden waren, die genauso gut einem Roman von John le Carré hätten entspringen können. Blue Security war keine alltägliche InternetFirma. Der Unternehmer Eran Reshef, ein ehemaliger Geheimagent der israelischen Armee, hatte sich schon in den neunziger Jahren als Experte für Computersicherheit selbstständig gemacht. Als er im Jahr 2004 in Herzliya seine jüngste Firma ins Leben rief, glaubte er, ein wirksames System gegen ein eskalierendes Problem des Internet gefunden zu haben: So genannte Spam-Mails, unerwünschte Werbesendungen, die mit Angeboten für Rolex-Uhren, Penisverlängerungen oder Beruhigungsmittel die elektronischen Eingangskörbe der Computer in aller Welt überfluten.

Die Spammer sollten mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden Blue Security, so lautete Reshefs Plan, würde zurückschießen. Die Kunden der Firma luden ein kleines, kostenloses Programm auf ihre Computer, und wenn sie fortan eine Spam-E-Mail erhielten, wurden die Spammer ihrerseits mit Bitten um Unterlass belästigt. Erst sanft, dann am Ende mit einer ganzen Flut. Manche Internet-Experten geißelten dieses Verfahren als »Lynchjustiz« und fanden die Sache genauso unethisch wie die Werbesendungen selbst. Doch Blue Security fand namhafte Investoren aus dem Silicon Valley, und spätestens im Frühjahr 2006 konnte Blue Security Erfolge verbuchen. Sechs der etwa zehn weltweit größten Spam-Organisationen erklärten sich genervt bereit, Blue-Security-Kunden künftig nicht mehr zu belästigen. Blue Security half ihnen dabei und stellte eine – verschlüsselte – Liste all ihrer Kunden bereit. Doch nicht alle Spammer mochten sich dem Waffenstillstand anschließen. Im April kündigte eine Gruppe Vergeltung an, deren Drohungen man gewöhnlich ernst nimmt: die russische Mafia. Die meisten Computernutzer merken seit Jahren, dass die Zahl unerwünschter Werbesendungen in ihren elektronischen Briefkästen zunimmt. Meist haben sie keine Ahnung, wer ihnen diese Post schickt. »Der Spam-Versand ist heute definitiv in weiten Teilen organisierte Kriminalität«, sagt Markus Hippeli, Sicherheitsexperte bei der Berliner IT-Beratungsfirma Pingbar. Acht von zehn versandten E-Mails, schätzen Sicherheitsfirmen, seien inzwischen Spam. Obwohl nur ein winziger Bruchteil der Empfänger solcher E-Mails »anbeißt«, gilt die Sache als Milliardengeschäft. Schließlich kostet es in Zeiten der elektronischen Post sehr wenig, Millionen von Werbesendungen zu verschicken. Dieses dunkle Geschäft ist – wie es sich in Zeiten der Globalisierung gehört – stark arbeitsteilig organisiert. Am Anfang der Kette stehen die eigentlichen E-Mail-Versender, die etwa Beruhigungs- oder Potenzmittel feilzubieten haben, Pornografie oder Glücksspiel, dubiose Aktientipps oder raubkopierte Software. Weil die meisten Internet-Firmen den Massenversand anrüchiger Werbepost blockieren, wenden sie sich heute oft an Kriminelle in Amerika, Russland oder China, die so genannte Botnetze und Computer-Zombies in der Hand haben. Das sind Netzwerke Hunderter, Tausender oder Zehntausender Computer in

aller Welt, die zwar Privatleuten gehören, aber von Hackern mit Computerviren oder trojanischen Pferden infiziert wurden. So gehorchen die »Zombies« nun ihren kriminellen Herren, die etwa nach Herzenslust E-Mails verschicken können. Zu stoppen ist das kaum, und die wahre Quelle ist ebenfalls nicht auszumachen. Manche E-Mails versuchen, ihren Empfängern Kreditkarteninformationen oder persönliche Daten für einen Identitätsdiebstahl zu entlocken. Andere enthalten selber wiederum Computerviren, sodass der Kreislauf von vorn beginnt. So ist es kein Wunder, dass heute kriminelle Banden hinter den meisten Spam-Werbesendungen stecken. Sie haben die Amateure der Frühzeit längst verdrängt. »Wenn Sie ein Spammer oder Programmierer schädlicher Software sind – früher oder später klopft die Mafia an Ihre Tür«, hat Eugene Kaspersky einmal gesagt, der Chef der Antivirus-Firma Kaspersky Lab in Moskau. Anfang Mai klopfte die Mafia auch an die Türen von Blue Security in Herzliya – virtuell. Ein russischer Spammer namens PharmaMaster, der in Computer-Sicherheitskreisen als Mitglied einer russischen Mafiaorganisation bezeichnet wird, kündigte sich den Angestellten in einer knappen Textmitteilung an. Er werde die Firma lahm legen. »Gott, ich liebe diesen Krieg«, schrieb er. Das war am 2. Mai um 13.42 Uhr Londoner Zeit. Von nun an ging alles Schlag auf Schlag. Die Blue-Security-Server, die in guten Zeiten elektronische Protestschreiben an Spammer verschickten, standen nun selber unter Beschuss. Tausende oder gar Zehntausende infizierter »Computer-Zombies« in aller Welt, die von den Spammern gewöhnlich für ihren E-Mail-Versand benutzt wurden, waren offenbar für eine tagelange Attacke umgerüstet worden. Auch die Internet-Seite von Blue Security blieb unerreichbar, wobei Firmengründer Reshef vermutete, es handele sich um eine besonders sinistre Art des Angriffs. Der Mafia-Hacker habe offenbar seine Kontakte zu Technikern bei einer großen Internet-Firma genutzt, um die Web-Seite ganz und gar aus dem Netz verschwinden zu lassen. So oder so: Als Blue Security schließlich etwas ungeschickt die Besucher ihrer blockierten WebSeite auf das schwarze Brett einer anderen Firma umlenkte und dort eine »Mitteilung an unsere Kunden« veröffentlichte, ließ PharmaMaster auch deren Web-Seiten untergehen. Die Blue-Security-Kundschaft erhielt derweil eindeutige Drohbriefe aus Russland. Sie würden »20- bis 40mal so viel Spams bekommen« wie normal. Der Spammer hatte einen Weg gefunden, die Hunderttausende von E-Mail-Adressen zu ermitteln, die angeblich »bombensicher« verschlüsselt bei Blue Security lagen. »Diese Leute waren auf Rache aus«, sagt Bruce Schneier, ein prominenter amerikanischer Sicherheitsberater. Am Ende wurde der Angriff so massiv, dass der Chef des großen Server-Betreibers Tucows mitten in der Nacht in Israel anrief und berichtete, dass »dieser russische Spammer« inzwischen »das halbe Netz in Kanada außer Betrieb gesetzt« habe. Tucows setzte seinen Kunden Blue Security auf die Straße. Einige der größten Internet-Firmen der Welt winkten ebenfalls dankend ab. Zwei Wochen lang ging das Katz-und-Maus-Spiel zwischen PharmaMaster und Blue Security weiter. Mal war die Web-Seite erreichbar, mal nicht, und die

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Funktionen zum Abwehren von Spam schaltete die Firma nie wieder ein. »Tut mir leid, dass 9000 Computer-Server wegen Ihrer Firma außer Betrieb sind«, kam eine neue Textnachricht aus Russland. »Und weiter viel Glück.« »Die Situation drohte einen Bürgerkrieg im Cyberspace auszulösen«, sagt Peter Swire, ein Jurist an der Ohio State University, der zahlreiche Fachaufsätze über Sicherheit im Internet veröffentlicht hat und auch als Berater von Blue Security fungierte. Aber wirklich ein Bürgerkrieg? Und nicht nur ein Scharmützel zwischen einer kriminellen Organisation in Russland und einer kleinen Sicherheitsfirma in Israel? »Das Modell von Blue Security erwies sich offenbar als wirksam in der Bekämpfung von Spam«, sagt Swire. »Und die Antwort der Spammer zeigt, dass wir über Computersicherheit und Cyberterrorismus von Grund auf neu nachdenken sollten.«

Schon nach zehn Minuten im Internet kann ein Windows-PC infiziert sein Tatsächlich gilt die Flut unerwünschter Werbesendungen heute unter Internet-Strategen als eine der wesentlichen Bedrohungen für eine »Next Economy«, den erneuten Aufstieg der Internet-Wirtschaft. »Spam ist die Geißel der E-Mail«, hatte schon Vint Cerf bemerkt, einer der Urväter des Internet. Manche Sicherheitsfirmen haben Berechnungen veröffentlicht, nach denen Spam-EMails in aller Welt zehn Milliarden Dollar monatlich kosten – in Form von Zeitverschwendung in Büros, Mehrkosten für die EDV-Abteilung, Ausfälle durch infizierte Computer. Doch seriös lassen sich solche Zahlen kaum ermitteln. Auch Microsoft-Chef Bill Gates, der sich selber die »am häufigsten gespammte Person der Welt« nennt, geißelte vor zwei Jahren beim Weltwirtschaftsforum in Davos die Spammer, weil sie Produktivitätsgewinne bei der Arbeit mit E-Mail zunichte machten und mit ihren Betrügereien das Vertrauen der Ver-

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VON THOMAS FISCHERMANN

braucher unterwanderten. »Binnen zweier Jahre«, sagte er damals, wolle er Spam »zu einem Ding der Vergangenheit machen.« Das hat nicht geklappt. Stattdessen wächst die Zahl der Werbesendungen, und neuerdings stehen sogar Mobiltelefone unter Attacke. AntivirenHersteller machen heute ein lukratives Zusatzgeschäft mit Filtern gegen Spam, die mal besser, mal schlechter funktionieren. Manche schlagen einen grundsätzlichen Umbau des Internet und der EMail vor: eine neue Welt, in der sich jeder Absender einwandfrei ausweisen muss oder in der jeder Versand einer E-Mail Geld kostet. Dann würde sich das Spam-Geschäft auch für die Mafia nicht mehr rechnen. Eine Fülle versprengter Initiativen ist entstanden. Besonders originell geht die nichtkommerzielle Londoner Organisation Spamhaus gegen die Werbesender vor: Sie sammelt Internet-Adressen, persönliche Daten und gar die Fotos bekannter Massen-E-MailVersender (www.spamhaus.org). Der exzentrische Gründer der Gruppe, Steve Linford, lebt auf einem Hausboot auf der Themse und erhält nach eigenem Bekunden regelmäßig Todesdrohungen von organisierten Spammer-Banden. Was mit einem pikanten Aspekt seiner Arbeit zu tun haben mag: »Wir machen einen Teil unserer Informationen Gesetzeshütern in aller Welt zugänglich«, sagt der SpamhausSprecher John Reid. Doch obwohl immer wieder einzelne Spammer gefasst und verurteilt werden, hat auch dieser Weg bislang kaum Erfolge gebracht. In Spam-Problemländern wie Russland und China kümmern sich Gesetzeshüter kaum um das Problem. Nicht mal in den USA ist der Spam-Versand wesentlich zurückgegangen, obwohl Präsident George W. Bush im Jahr 2003 ein AntiSpam-Gesetz unterschrieb. Beweise lösen sich im Internet schnell in Datenstaub auf, die Fahnder tun sich schwer, professionelle Geldwäscherbanden verwischen die Spuren der Zahlungsströme. Die New Yorker Sicherheitsfirma MessageLabs berichtet, dass sie jeden

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Tag zehn neue Computerprogramme entdecke, die darauf abgerichtet seien, in Rechner einzudringen und sie zu Computer-Zombies im Dienste der SpammerBanden zu machen. Im Durchschnitt betrage die Lebensdauer eines ungeschützten Windows-Computers im freien Internet weniger als zehn Minuten, berichtete im vergangenen Jahr die deutsche Forschungsgruppe Honeynet Project & Research Alliance: »In dieser kurzen Zeit ist er erfolgreich von einem schädlichen Programm infiziert.« – »Es bleibt ein Hase-und-IgelRennen«, sagt Christoph Hardy, Sicherheitsexperte bei der IT-Sicherheitsfirma Sophos. Blue Security jedenfalls hat den Kampf aufgegeben. Das Unternehmen teilte am Dienstag mit, dass es seinen Krieg gegen Spams einstellen werde. »Es ist das einzig Verantwortliche, das wir tun können«, sagte der zerknirschte Firmengründer Eran Reshef. »Dieser Gegner hatte zu viel Geld im Rücken und keine moralischen oder rechtlichen Grenzen. Hätten wir weitergekämpft, hätte er womöglich jeden einzelnen unserer Kunden attackiert und das Internet zum Zusammenbruch gebracht.« So hat der Computer-Krimi um Blue Security, ganz anders als ein John-le-Carré-Roman, vorerst ein stilles Ende gefunden. Für Eric Benhamou bleibt bei der Sache eine bittere Ironie. Der Chairman der Informationstechnik-Riesen 3com und Palm, der einen Großteil des Startgeldes für Blue Security organisiert hatte, war schließlich »überzeugt, dass Blue Security einen erfolgversprechenden Weg gefunden hatte, der Spam-Flut im Internet etwas entgegenzusetzen«. Doch die Kräfteverhältnisse hatte die Firma kräftig unterschätzt. »Diese Techniken müssten im Rahmen einer Regierung oder eines großen multinationalen Konzerns zum Einsatz kommen«, sagt Benhamou. »Darauf sollten wir jetzt hoffen.« Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/computer Audio a www. zeit.de/audio

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Abb.[M]: Apollinaris/Coca-Cola

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Ein Konzern wird zerlegt

Mit dem Kauf des Mineralwassers Apollinaris will sich Coca-Cola ein besseres Image zulegen VON MARCUS ROHWETTER

Das Pharma- und Chemieunternehmen Altana sucht einen Partner für seine Pillensparte. Schwierig, wenn bald das wichtigste Patent ausläuft. Muss die Mehrheitseignerin aussteigen? VON CERSTIN GAMMELIN

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ie Stimmung in der Belegschaft? Kein Kommentar. Wie viel Zeit bleibt zum Verhandeln? Kein Kommentar. Thomas Gauly schweigt. Gerade hat der Kommunikationschef und Generalbevollmächtigte des Chemie- und Pharmakonzerns Altana seine Abteilung bei den bundesdeutschen PR Report Awards zur Auszeichnung »bestes PR Team des Jahres« geführt. Dem Team sei es gelungen, die Konzern-Reputation bei Journalisten und Analysten zu steigern, honorierte die Jury. Jetzt beansprucht der Kommunikationsprofi die Lizenz zum Schweigen. Gauly muss verhindern, dass öffentliche Unruhe das Tun seines Chefs stört. Nikolaus Schweickardt verhandelt über 8800 Arbeitsplätze und geschätzte sieben bis acht Milliarden Euro Unternehmenswert. Es geht um die Zukunft eines wichtigen Teils des Industrie-Imperiums der Unternehmerfamilie Quandt – und um die Pharmaforschung in Deutschland.

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In den Werken am Bodensee wächst die Nervosität Die Konzernholding am Pilgerhain von Bad Homburg liegt direkt neben der Zentrale der Quandts. Das Taxi lädt Besucher unter dem sanft geschwungenen Vordach ab, leuchtend begrenzt ein Rapsfeld das Anwesen mit den Bungalows aus graubraunem Stein. Die helle Empfangshalle ist mit dezent gerahmten Gräsern, Skulpturen aus Holz und überdimensionalen Apfelzweigen auf Leinwand geschmückt. »Unsere Wurzeln liegen in Deutschland«, sagt Altana-Chef Schweickardt gern. Die Zukunft wahrscheinlich nicht. Der Vorstandsvorsitzende dürfte seinen Patriotismus in den nächsten Wochen dem Diktat des Marktes opfern. Denn der mit 3,3 Milliarden Euro Jahresumsatz viertgrößte Pharmakonzern Deutschlands kann sich im weltweiten Wettbewerb der Pharmagiganten nicht mehr allein behaupten. Da hilft es auch nichts, dass Altana mehrheitlich Susanne Klatten gehört, der Tochter des verstorbenen Großindustriellen Herbert Quandt. Die Erben Quandts halten auch seit langem das dominierende Aktienpaket am Münchner Autohersteller BMW. Per Rettungsaktion will Schweickardt die Struktur einer börsennotierten Holding für die Chemie- und die Pharmasparte auflösen und beide Töchter »im Laufe des Jahres 2006 verselbstständigen«. Das neue Chemieunternehmen, durch den Kauf des Pigmente- und Druckfarbenproduzenten Eckart auf »kritische Börsenmasse« vergrößert, soll im Herbst an die Börse gebracht werden – unter Obhut der Deutschen Bank. Das Pharmageschäft, mit 2,4 Milliarden Foto[M]: Frank Leonhardt/dpa

er größte Limonadenproduzent der Cola vor wenigen Wochen einer Initiative an, die Welt ist um ein Mineralwasser reicher. den Verkauf kalorienhaltiger Getränke an amerikaWenn das Kartellamt zustimmt, nischen Schulen unterbinden will. Mit dabei sind auch die Konkurrenten PepsiCo und kommt bald auch Apollinaris Cadbury Schweppes, die allesamt aus dem Hause Coca-Cola. Für den ihre gesunden Seiten entdecken. AnBrausekonzern aus Atlanta ist die Neufang Mai sagte Don Knauss, der Präerwerbung zunächst nur eine weitere sident von Coca-Cola Nordamerika, von knapp 400 Marken, die er entweder Schulen seien »ein einzigartiges Umselbst besitzt oder in Lizenz herstellt. feld – eines, in dem sich die Ziele unAllerdings passt der Kauf des Wassers seres Unternehmens decken mit deauch zu einer sich ändernden Firmenstranen der Alliance for a Healthier Genetegie – und zwar aus zwei Gründen. ration«. Hinter dieser Allianz für eine Erstens: Als Getränk ist Coca-Cola gesündere Generation steht unter anein Symbol für erfolgreiche globale derem die Stiftung des ehemaligen Markenführung. So gut wie überall auf US-Präsidenten Bill Clinton, der dem Planeten ist die braune Limonade sich schon seit längerem für bessere zu kaufen, die Zeitschrift Businessweek Ernährung einsetzt. schätzt den Wert des Markennamens Doch nicht allein das ex-präsidiauf mehr als 67 Milliarden Dollar. ale Engagement dürfte den Anstoß Damit wäre Coca-Cola die wertfür den Sinneswandel gegeben havollste Marke der Welt, noch vor ben – purer Selbsterhaltungstrieb Microsoft und IBM. Es gibt den steckt ebenso dahinter. »VerbrauSoftdrink in groß, mittel und cheranwälte drohen mit Geklein, mit und ohne Koffein, richtsverfahren«, heißt es im gezuckert oder mit Süßstoff, aktuellen Geschäftsbericht des in Bechern, Dosen und FlaKonzerns. Die Anwälte werschen – solchen aus Glas und fen der Industrie allzu aggressolchen aus Plastik. Auf sive Vermarktung von SoftDeutsch: Viel mehr neue Vadrinks an Schulen vor. rianten sind nicht drin, und Coca-Cola will offenbar wenn der Getränkekonzern eine ähnliche Prozesswelle weiter wachsen will, muss er verhindern, wie sie in den künftig mehr bieten als bloß neunziger Jahren die USseinen klebrigen Klassiker. Tabakindustrie traf. WeZweitens: Die kaloriengen diverser Gesundhaltige Brause, die der ameriheitsschäden mussten kanische Apotheker John S. die Zigarettenhersteller Pemberton vor 120 Jahren damals viele Milliarden erfand und die einst als ArzDollar Schadensersatz neimittel galt, ist heute auch zahlen. zum Symbol für die schädEine Diskussion um lichen Folgen von übermäßigesunde Ernährung gibt gem Konsum geworden. Die es auch in Deutschland. Konzernspitze der CocaInsofern ist der Kauf Cola Company hat das längst von Apollinaris der Vererkannt. Im aktuellen Gesuch, hierzulande ein schäftsbericht wird die »DisGeschäft aufzubauen, kussion über Fettleibigkeit« das nicht zu sehr auf Lisogar als einer der bedeutendsmonade basiert. Der ten Risikofaktoren für das UnMineralwassermarkt ternehmen genannt, da sie erlebte zuletzt einen »die Nachfrage nach einigen Boom, der an Cocaunserer Produkte beeinträchCola vorbeiging; mit tigen« könnte. Verbraucher Bonaqa besaß man leund Regierungen würden diglich ein preiswertes angesichts der gesundheitTafelwasser ohne großes lichen Folgen schlechter ErRenommee. Apollinaris nährung zunehmend senhingegen ist eine teure sibler, »besonders wenn es und angesehene Marke, um Kinder und Jugendliche die häufig in Restaurants geht«. serviert wird. Noch wichIn seinem Heimatmarkt tiger aber ist das MineralUSA bekommt der Getränkewasser für den Getränkekonzern bereits die Folgen zu spüren. Mehr oder weniger Weil GESUNDE ERNÄHRUNG weltweit konzern, weil ihm etwas ein Thema ist, geht Cola ins Wasser fehlt: Kalorien. freiwillig schloss sich Coca-

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Umsatz das wichtigste Standbein des Konzerns, will Schweickardt mit den Investmentbänkern von Goldman Sachs einem strategischen Partner öffnen. »Wir suchen eine Firma, die international aufgestellt ist und an innovativen Medikamenten forscht.« Doch wer will ein Unternehmen, das die jährlich zweistelligen Zuwachsraten einem einzigen Medikament verdankt? Altanas Labore haben 1994 das stärkste patentgeschützte Medikament aus hiesiger Forschung, das MagenDarm-Mittel Pantoprazol, kurz Panto, hervorgebracht und damit einen wahren Umsatzrausch ausgelöst. Panto steuerte 2005 fast 60 Prozent zum weltweiten Pharma- und damit mehr als 40 Prozent zum Konzernumsatz bei. Allerdings: Nach Ablauf des Patentschutzes 2009/2010 wird die Forschungs-Pipeline – trotz aussichtsreicher Ansätze in der Atemwegstherapie mit den Medikamenten Alvesco und Daxas sowie dem Magenmittel Soraprazan – wohl kein adäquates Nachfolgepräparat ausspucken. Schweickardt kündigt seit Sommer 2005 an, in die »absehbare Lücke« eine Milliarde Euro für Lizenzkäufe, Akquisitionen und strategische Allianzen zu investieren – allein, dem Wort ist bislang noch keine entscheidende Tat gefolgt. Das Geld werde nicht fließen, bevor Altana Pharma unter der Haube ist, pro-

Susanne Klatten, die Mehrheitsaktionärin der Altana, steht vor der schwierigen Entscheidung, ob sie nach der Neustrukturierung des Konzerns noch das unternehmerische Erbe ihres Vaters fortführen soll

phezeit ein Analyst, der angesichts der »heißen Verhandlungsphase« anonym bleiben will. Jeder Interessent bewerte Zukäufe entsprechend des eigenen Portfolios. Passe der Neuerwerb nicht ins Konzept, könne »eine Milliarde Euro schnell auf zweihundert Millionen schmelzen«. Hinter den lamellengeschützten Fenstern der Holding hat Schweickardt Ende Januar »intensive Gespräche« mit Interessenten aufgenommen. Viel Zeit zum Verhandeln hat er nicht mehr. Finanzielle Gründe sprechen dafür, die Zukunft der Pharmasparte vor dem Börsengang der Chemieschwester zu klären. »Gebühren in mehrstelliger Millionenhöhe« spare der Konzern, lasse er die Chemiesparte allein unter dem Mantel der Holding an der Börse listen – statt zusätzlich zur Pharmaschwester, sagt ein Börsianer. Noch mehr Entscheidungsdruck schafft die Stimmung im Konzern. In den Unternehmensstandorten Singen und Konstanz sind die Arbeitnehmer verständlicherweise nervös. Altana zählt mit seinen Produktionsstätten und Forschungs-

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laboren zu den größten Arbeitgebern der Bodenseeregion. Die seit Monaten anhaltende Angst um die Zukunft durchsetzt das öffentliche Leben. Buchhändler und Taxifahrer berichten von Freunden und Familienangehörigen, die nach neuen Jobs suchen. Besonders heikel ist, dass die Aussicht auf Umzugskartons auch den kreativen Forschergeist hemmt. »Spitzenforscher kommen oder bleiben nicht in Unternehmen, in denen zwölf Monate Unsicherheit über die Zukunft herrscht«, sagt ein Investmentbanker. »Kein Kommentar«, sagt Gauly.

Seit den vierziger Jahren haben die Quandts das Sagen Wenn sich Susanne Klatten aus dem Pharmageschäft zurückzieht, würde ein Kapitel deutscher Industriegeschichte geschlossen. Ihr Großvater, der deutsche Industriekapitän Günther Quandt, übernahm im Juni 1941 die pharmazeutisch ausgerichteten Byk-Gulden-Werke in Oranienburg – Grundstein für das heutige Geschäft. Sohn Herbert gründete 1977 die Altana-Gruppe als Mix aus der Produktion von Kindernahrung, Chemie, Pharma und Kosmetik und vererbte sie seiner Tochter Susanne aus dritter Ehe. Schweickardt, der Altana seit 1990 vorsteht, konzentrierte sich auf Chemie und Pharma. Mit der Sprunginnovation Panto löste er einen Renditerausch aus. Und die Zukunft? »Stark steigende Forschungskosten, kürzere Vermarktungszeiten für patentgeschützte Medikamente, milliardenschwere Rückrufrisiken«, kurz, die laut Schweickardt »signifikant veränderten strategischen Rahmenbedingungen für das ethische Pharmageschäft«, dürften Klatten dazu bewogen haben, von der bisherigen Eigenständigkeit abzurücken und die Öffnung des Pharmageschäftes mitzutragen. Würde sie notfalls tatsächlich ihre Position als Mehrheitsaktionärin aufgeben oder sogar ihre Anteile komplett verkaufen? Klattens Entscheidung hängt wohl vom Verhandlungsergebnis ab. Gewinnt Schweickardt den Traumpartner aus Übersee, das Biotech-Unternehmen aus Japan oder den USA mit innovativen Produkten? Einen Konzern, der die Forschung am Bodensee ankurbelt und gleichzeitig vom starken Altanta-Vertriebsnetz, insbesondere in Europa, profitiert? Analysten zufolge könnte eine derartige Aussicht Klatten zum Bleiben bewegen. Sollte Schweickardt allerdings an europäische Pharmariesen wie Novartis oder Boehringer-Ingelheim verkaufen müssen, zulasten der hiesigen Labore, dann dürfte die 43-Jährige ihr Erbe verkaufen. Schließlich bleibt Plan C. Trotz eines entsprechenden Dementis durch den Vorstandschef (»den Verkauf an einen Finanzinvestor schließe ich aus«) halten Börsianer diese Option für denkbar. »Pharmafirmen als strategische Investoren passen besser zu uns«, ließ sich Schweickardt auf der Hauptversammlung am 2. Mai jede Hintertür offen. Und Kommunikationschef Gauly? Verweist kommentarlos auf die Worte seines Chefs.

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1999 2000 22,5 22,7 2007* 2008* 2009* 2010* 2001 21,1 21,1 21,1 21,2 21,1 2002 2003 20,6 20,4 2004 2005 2006* 20,3 20,0 20,1

Von nun an wieder aufwärts Entwicklung der volkswirtschaftlichen Steuerquote

Steuereinnahmen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts * Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung ZEIT-Grafik/Quelle: BMF

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s scheint paradox: Die Steuerquote steigt, gleichzeitig sinkt aber der Anteil an der Wirtschaftsleistung, den der Staat für seine Zwecke beansprucht. Mit seiner Klage, dass sich mit der gegenwärtigen Steuerquote von 20 Prozent »kein moderner Sozialstaat finanzieren« lasse, hat der SPD-Vorsitzende Kurt Beck die neue Debatte über Rolle und Grenzen des Staates ausgelöst. Die einen, vor allem linke Politiker und Gewerkschafter, glauben, der Staat sei finanziell so ausgezehrt, dass er seine Aufgaben nicht erfüllen könne. Die anderen, insbesondere liberale Politiker, Wissenschaftler oder auch die Deutsche Bundesbank, meinen, der Staat sei zu fett und müsse sparen, damit die Wirtschaft mehr Dynamik entfalten könne. Mehr als die Steuerquote sagt die Staatsquote darüber aus, wie stark sich der Staat in das Wirtschaftsgeschehen einmischt. Ob der Staat Forschung fördert, Geld für Bildung oder Straßen oder Familien ausgibt, sein Personal bezahlt oder Renten und Pensionen überweist – die Staatsquote misst die Summe aller Ausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung im Verhältnis zur gesamtwirtschaftlichen Leistung, dem Bruttoinlandsprodukt. Nach der deutschen Vereinigung stieg die Staatsquote, die in den sechziger Jahren noch weit unter 40 Prozent betragen hatte, spürbar und erreichte 1996 den Rekordwert von 49,3 Prozent. Seit 2003 geht sie wieder kontinuierlich zurück. Trotz der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007, die der Bundestag am Freitag dieser Woche beschließen soll, wird sie sich nach der Prognose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute auch im nächsten Jahr vermindern, auf 44,9 Prozent. Der Grund: Die Staatsausgaben werden wie in den vergangenen Jahren weniger wachsen als das Sozialprodukt insgesamt; der Staat will mit den Mehreinnahmen seine Haushaltsdefizite abbauen. Gibt es eine optimale Staatsquote? Nach Auf- Warum der Steueranteil steigt – fassung des Wirtschaftswissenschaftlers Charles Blankart lässt sich das kräftigste Wirtschafts- und der Staatsanteil sinkt wachstum bei einer Quote von 35 Prozent erzie- VON WILFRIED HERZ

Quote für den Staat

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len – wie in den USA oder in Irland. Andererseits aber erreichen skandinavische Länder, allen voran Dänemark, mit Staatsquoten von über 50 Prozent bei Wirtschaftswachstum und Beschäftigung deutlich bessere Ergebnisse als Deutschland. Das Problem: Die Staatsquote berücksichtigt nur die Summe der Ausgaben, nicht aber die Verwendung – ob damit beispielsweise Konsum oder Investitionen finanziert werden. Außerdem lässt sie außer Acht, mit welchen Gesetzen und Regeln der Staat in die Wirtschaft eingreift. Auch die volkswirtschaftliche Steuerquote misst lediglich den Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt. Doch wer die Steuern zahlt, wie stark Spitzen- und Durchschnittsverdiener, Arbeitnehmer und Unternehmen belastet werden, ob privater Verbrauch oder Einkommen stärker besteuert werden, inwieweit der Fiskus auf Erbschaften oder Vermögen zugreift – geht an ihr vorbei. Vor allem wegen der rot-grünen Steuerreformen ist die Steuerquote in der Finanzstatistik 2004 auf den historisch niedrigsten Stand von 20,0 Prozent gesunken. Gleichzeitig drückt aber auch die Massenarbeitslosigkeit die Quote nach unten: Wer keine Arbeit und deshalb kein Einkommen hat, zahlt keine Lohn- und Einkommensteuer. Doch der Trend kehrt sich um – wegen der Anhebung der Mehrwertsteuer, aber auch, weil die schwarz-rote Koalition Steuerausnahmen wie die Pendlerpauschale, den Sparerfreibetrag oder die Eigenheimzulage kürzt. Die Reichensteuer steigert die Quote in bescheidenem Maß ebenfalls. Derzeit ist in Deutschland diese Kennzahl im europäischen Vergleich – mit Ausnahme der Slowakei – noch am niedrigsten. Im internationalen Wettbewerb um Arbeitsplätze ist jedoch die Abgabenquote von weitaus größerer Bedeutung als die Steuerquote. Die Abgabenquote berücksichtigt nicht nur die Steuern, sondern auch die Summe aller gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung insgesamt. Und dabei liegt Deutschland mit einem Wert von 36,8 Prozent (2004) im europäischen Mittelfeld.

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ZWISCHENRUF

Was ARD und ZDF aus der Kerner-Affäre lernen sollten Johannes B. Kerner will in diesen Tagen mit Thomas Bellut, dem Programmdirektor des ZDF, zusammenkommen, um ein gut geprobtes Stück zu geben. Reue im Öffentlich-Rechtlichen werden sie es später nennen. Auch der Text ist kein Geheimnis. Umstrittene Werbekampagnen wie die von Kerner für Air Berlin zum Börsengang soll es in Zukunft nicht mehr geben. Danach allerdings wird umgeschaltet – ins reale öffentlich-rechtliche Leben. Im Wesentlichen wollen die beiden nämlich abstimmen, wie Kerners neuer Vertrag aussieht. Wozu gehört, was dort über Nebenjobs steht, ohne die Freiheit des Moderators einzuschränken. Dass er beim Zweiten bleibt und weiter Reklame machen darf, steht außer Frage. Zu tief sitzt beim ZDF die Überzeugung, dass man ihn halten will und muss. Genau in diesem Wollen und Müssen liegt das Verstörende der »Affäre Kerner«. Es gehört zu einem großen Ganzen, genauer gesagt zum selbstzerstörerischen Umgang der Öffentlich-Rechtlichen mit Werbung. Kerners ZDF-Verträge entstehen aus dem gleichen Geist wie der Schleichwerbeskandal in der ARD, das Sponsoring beinahe jeder Sendung und die ständige Eigenwerbung in den Nachrichten. So sicher wie das Wetter die Tagesschau beendet, so selbstverständlich kündigt ihr Sprecher sonntags an, worüber Sabine Christiansen eineinhalb Stunden später reden lässt. Der Sicherheit halber noch einmal als Frage: Ist das eine Nachricht? In jedem dieser Fälle geht es um eine Vermischung von öffentlich-rechtlichem Programm, Image oder Glaubwürdigkeit mit Werbung. Derweil nennen die jeweils Verantwortlichen ihre faktische oder gefühlte Grenzüberschreitung gerne »Realismus« oder »Wirklichkeit« oder »eine Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit«. ZDF und ARD wollen Johannes B. Kerner und Reinhold Beckmann, der für die Versicherung WWK wirbt, halten, weil sie populär sind. Und man glaubt offenbar, dass man den Moderatoren beinahe jede Freiheit geben muss, weil es »der Markt« so verlange. Andernfalls seien sie morgen bei den Privaten. Das koste Quote und das die Legitimation des Öffentlich-Rechtlichen. Doch schon die

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Grundlage dieses Gedankens ist unbewiesen. Wer sagt, dass Kerner ins Privat-TV zurückwill? In dem öffentlich-rechtlichen Fatalismus steckt außerdem eine immense zerstörerische Kraft. Um es an Kerner einmal zu beschreiben: Anstoß hätte schon erregen müssen, dass er überhaupt wirbt. Denn er ist ein Aushängeschild des ZDF. Mithin verkörpert er die Glaubwürdigkeit des Senders und damit des ganzen Systems. Genau deshalb ist er ja von Bonaqua und von Air Berlin verpflichtet worden. Im Mineralwasser soll die dem ZDF zugeschriebene Qualität nachschmecken, und die Fluglinie brauchte dringend etwas Volkstümliches, gemischt mit einem Hauch von Rentenpapier. Umgekehrt entfalten die Werbeverträge eben auch ihre Wirkung auf den Sender. Erstens setzen sie die Glaubwürdigkeit des Senders aufs Spiel, weil Bonaqua zum Coca-Cola-Konzern gehört, der wiederum Hauptsponsor der Fußball-WM ist, über die Kerner beim ZDF kritisch berichten soll. Zweitens senden die Werbeverträge ein Signal nach innen. ZDF-Verantwortliche unterstützen achselzuckend, wenn auch bedauernd, die Vermischung von Werbung und Programm. Was das für die öffentlich-rechtliche Kultur bedeutet, ist frei nach Charles Darwin einfach zu erklären. Das Gebaren von Kerner ist offensichtlich besonders nützlich fürs Überleben im Fernsehdschungel und Ausweis von Stärke. Damit wird jener Reflex nutzlos, der bei so etwas vor zwanzig Jahren noch eine Abwehr ausgelöst hätte. Ein Reflex aber, der nicht fürs Überleben gebraucht wird, degeneriert. Was die einen als evolutionäre »Anpassung« beschreiben, trägt also de facto zum Aussterben des öffentlich-rechltichen Selbstverständnisses bei. Deshalb brauchen ARD und ZDF eine Debatte über Werbefreiheit und angemessene Gagen für Kerner und Co. aus Gebührengeld. Wann, wenn nicht jetzt? Medienkonzentration und ausländische Investoren führen vor Augen, wie wichtig ein starkes, unabhängiges Öffentlich-Rechtliches wäre. Doch was sagt es über ARD und ZDF aus, wenn sie nicht einmal diese perfekte Gelegenheit ergreifen, um ein strategisches Signal zu setzen. Nach innen und nach außen. GÖTZ HAMANN

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Darf es etwas breiter sein? AIRBUS A350

Zweikämpfe Konkurrenzmodelle von Airbus und Boeing Bei den Airlines im Dienst (300 – 400 Passagiere) Airbus A340 Zahl der Triebwerke

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Listenpreis* in Millionen Dollar

Boeing 777 Zahl der Triebwerke

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Listenpreis* in Millionen Dollar

In der Entwicklung (200 – 300 Passagiere) Airbus A350 Zahl der Triebwerke Listenpreis* in Millionen Dollar

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Fotos: Airbus S.A.S; Boeing Company

Bestellungen

Boeing 787 Zahl der Triebwerke Listenpreis* in Millionen Dollar Bestellungen * Durchschnitt, variiert nach Ausstattung ZEIT-Grafik/Quelle: Airbus, Boeing

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Bei Airbus bahnt sich eine aufwändige Revision des Langstreckenjets A350 an

VON JENS FLOTTAU

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ellen Modellen A330 und A340 und benötigt womöglich auch eine neue Montagehalle. Die Revision des Programmes kostet zudem Zeit. 2010 – zwei Jahre nach Boeings Hoffungsträger 787 – sollte der A350 eigentlich erstmals ausgeliefert werden. Mit den ganzen Änderungen dürfte es erst 2012 so weit sein. Dafür soll das Flugzeug deutlich besser werden als die Modelle der Konkurrenz. Fachpublikationen glauben bereits zu wissen, dass die größte der neuen A350Versionen 20 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen werde als die Boeing 777-300ER – der größte zweimotorige Jet aus Seattle. Entscheiden muss die Sache letztlich AirbusChef Gustav Humbert, der 2005 den Vorstandsvorsitz von Noël Forgeard übernommen hat, nachdem der gemeinsam mit dem Deutschen Thomas Enders in die Führung des Mutterkonzerns EADS aufrückte. Die Konstellation bekommt intern eine besonders brisante Note: Die aktuelle A350Planung hat noch Forgeard zu verantworten. Würde sie Humbert nun über den Haufen werfen, wäre das der wohl bestmögliche Schritt seiner Emanzipation. In seiner früheren Funktion als Chief Operating Officer unter Forgeard war Humbert mehr mit dem Tagesgeschäft als mit den strategischen Planungen befasst. Der A350 bietet ihm nun die Gelegenheit, etwas gegen seinen Ruf zu tun, ein Mann ohne große Visionen zu sein. Bislang versuchte Humbert das Thema A350 öffentlich eher herunterzuspielen. Hinter den Kulissen scheint es aber durchaus hektische Aktivitäten zu geben. Ende April soll Humbert in geheimer Mission kurz nach Singapur gejettet sein, um den wichtigen Kunden Singapore Airlines (SIA) von einer Entscheidung für das Konkurrenzmodell 787 von Boeing abzuhalten. Eine kleine Atempause scheint er sich immerhin verschafft zu haben, denn SIA wartet offenbar erst auf die neuen Entwürfe aus Toulouse, bevor eine definitive Entscheidung fällt.

s sieht so aus, als würde Airbus bald noch einmal ganz tief in die Tasche greifen müssen. Zwar sind es vorläufig nur Indizien, die man in diesen Tagen in Toulouse, Moskau, Singapur oder Dubai finden kann, aber die deuten alle in die gleiche Richtung: Es geht darum, dass der geplante mittelgroße Langstreckenflieger A350 nochmals gründlich überarbeitet wird. Der A350 sollte von 2010 an die Lücke zwischen den Kurzstrecken-Airbus-Jets und dem Riesenvogel A380 füllen. Singapore Airlines etwa hat in der vergangenen Woche eine lange erwartete Entscheidung über eine neue Langstreckenflotte verschoben. Aeroflot sollte ebenfalls längst bekannt gegeben haben, ob die Airline sich künftig von Airbus oder Boeing beliefern lässt. In Dubai schimpft Emirates weiter über das bisherige Airbus-Angebot. Und in der Zentrale des Flugzeugbauers in Toulouse heißt es, man arbeite gemeinsam mit den Kunden an neuen Ideen. Entschieden sei aber noch nichts. Sollte Airbus den bisherigen Entwurf für das Langstreckenmodell A350 tatsächlich zurückziehen und ein praktisch komplett neues Flugzeug vorstellen, wäre das eine Sensation. Aber: Noch nie zuvor haben sich die Kunden in der frühen Entwicklungsphase eines Flugzeuges so sehr über dessen Defizite beschwert wie beim A350. Noch nie hat ein Hersteller nach dem offiziellen Programmstart und fast 200 verkauften Maschinen ein Projekt wieder eintüten müssen. Und mittlerweile sind so viele Details nach außen gedrungen, dass Airbus kaum mehr eine andere Wahl bleibt. Den Stein ins Rollen gebracht hat im Frühjahr Steve Udvar-Hazy, Chef des mächtigen Leasingunternehmens ILFC. Hazy, wie er in der Branche kurz genannt wird, hatte bei 393 einem Kongress gemäkelt, beim A350 verwende Airbus zu wenig neue Technologien. Das Flugzeug sei zu langsam, der Rumpf zu schmal, die Betriebskosten zu hoch. Wenn Air-

bus sich nicht mit einem Marktanteil von 20 Prozent zufrieden geben wolle, dann seien zusätzliche Investitionen von vier Milliarden Dollar angesagt – für einen breiteren Rumpf, neue Tragflächen und stärkere Triebwerke. Für Airbus gerieten die Aussagen Hazys zum PR-Desaster. Schließlich ist ILFC der mit Abstand wichtigste Kunde und hat als Leasingunternehmen einen hervorragenden Überblick darüber, was die Airlines abnehmen und was nicht. Die Probleme von Airbus erstrecken sich aber nicht nur auf den geplanten A350, sondern auch auf das derzeitige viermotorige Langstreckenmodell A340. Selbst die neuesten und größten Versionen haben sich im vergangenen Jahr kaum mehr verkauft. Die A340Reihe ist auf vier Triebwerke ausgelegt. Vier Motoren verbrauchen jedoch mehr Sprit als zwei. In Zeiten eher niedriger Treibstoffpreise kein großes Problem. Doch seit sich der Kerosinpreis in den vergangenen beiden Jahren verdoppelt hat, konnte Boeing mit seiner zweimotorigen 777 den Wettbewerbsvorteil in diesem Segment fast uneinholbar ausbauen. Da nützt es den Europäern wenig, dass sie in den vergangenen Jahren den amerikanischen Erzrivalen bei den Auslieferungen aller Baureihen zusammen abhängen konnten. Im ersten Quartal 2006 stagnierten die Bestellungen bei Airbus, und Boeing konnte vorbeiziehen. Es wird also Zeit für den großen Wurf bei Airbus. Und wahrscheinlich steht der auch kurz bevor. Statt der bisher zwei Versionen soll der A350 künftig drei Varianten haben mit 250, 300 und 350 Sitzen – und wäre damit direkter Konkurrent von Boeing 787 und 777. Laut jüngster Spekulationen bekommt das Flugzeug genau das, was Hazy gefordert hat: neue Tragflächen, stärkere Triebwerke – und einen breiteren Rumpf. Vor allem Letzterer ginge ins Geld. Denn Airbus kann dann nicht mehr die gleichen Nietroboter und Montagestationen verwenden wie bei den aktu-

BOEING 787

Sündenbock gesucht Dunkle Rüstungsgeschäfte: EADSVize Gergorin gerät unter Beschuss

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as haben sechs französische Kriegsschiffe für Taiwan, der Führungskampf in der EADS-Chefetage, die aktuelle Pariser Staatsaffäre um manipulierte Geheimkonten und der Dauerverdacht gegen illegale Finanztransaktionen des deutsch-luxemburgischen Bankhauses Clearstream miteinander zu tun? Sehr viel, meint der ehemalige französische Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement: »Wer die jahrzehntelangen Unsitten in unserer Rüstungsindustrie kennt, für den sind diese Verwicklungen kein Mysterium.« Der 67 Jahre alte Chevènement, der 1991 aus Protest gegen den ersten Golfkrieg die Regierung Mitterrand verließ, mischt sich neuerdings energisch in die Geheimkontenaffäre ein: »Da werden Rechnung beglichen, die nicht politischer, sondern industrieller Natur sind.« Weil Chevènement selbst zu Unrecht verdächtigt wurde, von Konten und Schmiergeldern profitiert zu haben, will er jetzt Aufklärung: »Alle Welt redet von Chirac, de Villepin und Sarkozy – aber woher hatte Jean-Louis Gergorin die Kontenlisten?« Gergorin? Der 60 Jahre alte Chefstratege und Sicherheitsexperte, der 1984 vom Planungsstab des Außenministeriums zum Rüstungskonzern Matra wechselte, galt bislang als einer der brillantesten und originellsten Köpfe der französischen Industrie. Der kurzsichtige Mann mit dem störrischen Haarschopf heißt in Frankreich auch »Professor Tournesol«, benannt nach einer populären Tüftler-Figur aus den Tintin-Comics. Gergorin war in Paris die treibende Kraft hinter der Fusion der Luftfahrtkonzerne Matra-Aérospatiale (Frankreich), Dasa (Deutschland) und Casa (Spanien), die sich im Jahr 2000 in der Luftfahrt-Holding EADS zusammenschlossen. Doch seitdem er jüngst unter Verdacht geriet, in der aktuellen Affäre der Urheber von manipulierten Geheimkontenlisten zu sein, hat er sich von seinem Amt als EADS-Vize beurlauben lassen. Nun sehen viele Franzosen in der Räuberpistole um Rüstungsgeschäfte, Geheimdienste und politische Meucheleien erstmals einen roten Faden. Im Kern gehen die Verwicklungen auf den Bau von sechs französischen Fregatten für Taiwan 1991 zurück. Weil damals internationale Mittelsmänner rund 900 Millionen Euro Provisionen einstrichen, was allen Vertragsregeln widersprach, klagt die Regierung von Taiwan bis heute auf Rückzahlung. Seitdem zieht die Suche nach den Empfängern der Schmiergelder immer weitere Kreise. Niemand bezweifelt, dass der ehemalige Elite-Beamte Gergorin in echter Sorge um dunkle Machenschaften in der Fregatten-Affäre handelte. Seit 2003 hatte er Nachweise für »verdeckte internationale Finanzierungen« gesammelt. 2004 informierte er die Justizbehörden sowie den damaligen Außenminister de Villepin über Clearstream-Geheimkonten. Auch wenn Gergorin mittlerweile als »Paranoiker« verunglimpft wird, stand er mit seinen damaligen Befürchtungen nicht allein: dass mafiose Gruppen aus der französischen Rüstungsindustrie zusammen mit russischen Oligarchen im Waffengeschäft mitmischten. Doch weil auf den Kontenlisten zur Überführung der Dunkelmänner plötzlich auch französische Luftfahrt-Manager wie Politiker auftauchten, wurde die Wirtschaftsaffäre zum Politikskandal. Denn zur gleichen Zeit tobten zwei andere Machtkämpfe: Einmal ging es um die EADSSpitze, bei der Gergorin mit dem damaligen CoPräsidenten Philippe Camus gegen das Team von Noël Forgeard und seine rechte Hand Philippe Pelmas kämpfte. Die Tatsache, dass Leute aus dem Forgeard-Clan auf der Schmiergeldliste standen, gilt heute als Versuch, die Chancen Forgeards auf die EADS-Führung zu ruinieren; zwischenzeitlich kursierten gar Behauptungen, Gergorin habe im Auftrag der Deutschen gehandelt, um Forgeards Machtstreben in der binationalen EADS-Spitze zu bremsen. Aber auch der heutige Innenminister und Chef der Regierungspartei UMP, Nicolas Sarkozy, geriet von unbekannter Hand auf die Kontenliste. Und weil Gergorin ein Vertrauter von Premier de Villepin ist, vermuten jetzt viele, dass damit der parteiinterne Rivale Sarkozy demontiert werden sollte. Mittlerweile hat die Affäre mehr Windungen als ein Korkenzieher, und Gergorin kämpft erbittert dagegen an, als willkommener Sündenbock in industriellen wie politischen Diadochenkämpfen mißbraucht zu werden. Derweil wurden die Clearstream-Kontenlisten längst als Manipulation entlarvt, während jedoch die Ermittlungen in der Fregatten-Affäre weiterhin blockiert sind. Denn sämtliche Regierungen seit 1991 haben den Vorfall als sicherheitsempfindliches »Staatsgeheimnis« deklariert.

MICHAEL MÖNNINGER

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Zerschlagen, nicht zerstört Foto: Pat Sullivan/AP

In Houston endet der Prozess um die spektakuläre Pleite des Energieriesen Enron. Während die Exchefs ihr Urteil erwarten, lebt die Idee des Energiehandels weiter VON THOMAS FISCHERMANN

ENRONS EHEMALIGER VORSTANDSCHEF KENNETH LAY auf dem Weg zum Gericht

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ast könnte man meinen, es habe zwei Firmen namens Enron gegeben. In dieser Woche geht in Houston der Prozess um den Niedergang und Bankrott des ehemaligen Energieriesen zu Ende – jene spektakuläre Unternehmenspleite, die im Dezember 2001 die größte der amerikanischen Geschichte war, Enrons Buchprüfer Arthur Andersen mit in den Ruin riss und eine Flut strengerer Gesetze zur Unternehmensaufsicht nach sich zog. Doch wer sich in den vergangenen dreieinhalb Monaten im Houstoner District Court ein Bild über die Geschehnisse bei Enron verschaffen wollte, verließ den Gerichtssaal bisweilen recht verwirrt. War Enron nun, wie es die Staatsanwälte beschrieben, nichts als der Schauplatz eines Wirtschaftskrimis gewesen? Ein Hort geldgieriger Manager, die ihre Bücher fälschten, Schulden versteckten, Gewinne erfanden und Anleger an der Nase herumführten? Oder war Enron, wie es die angeklagten Ex-Chefs Kenneth Lay (64) und Jeffrey Skilling (52) beschrieben, ein Motor für Innovationen? Ein bis heute unterschätzter Erfinder neuer Technologien und Märkte, ein unschuldiges Opfer des Börsencrashs, der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Anleger »in eine Horde panischer Schafe« (so Lays Chefverteidiger Michael Ramsey) verwandelte?

»Natürlich ist aus dem Zusammenbruch viel gelernt worden«, sagt Brent Elbing. »Natürlich wird das Risiko im Energiehandel heute sehr viel besser überwacht als noch zu Enrons Zeiten.« Sagt es, stutzt und setzt nachdenklich hinzu: »Davon bin ich zumindest fest überzeugt.«

Die Erfinderin von Enron Online arbeitet heute für die Deutsche Bank Brent war früher bei Enron beschäftigt und heißt in Wirklichkeit anders. Der gebürtige Texaner und gelernte Petroleumingenieur war bei Enron in kürzester Zeit zum Händler für hoch komplizierte Finanzprodukte rings um den Handel mit Gas aufgestiegen. Nach der Unternehmenspleite, sagt er, habe es ihm keine großen Probleme bereitet, anderswo unterzukommen. Eine Reihe anderer Handelshäuser nahm ihn gerne, schätzte seine Qualifikationen und seine Arbeit bei Enron – bat ihn jedoch vor allem anfangs, diese Herkunft nach außen herunterzuspielen. So hat Brent, der heute 45 Jahre alt ist, noch eine andere Theorie über das »wahre« Enron als die Herrschaften im Gerichtssaal. »In gewisser Weise lebt Enron ja bis heute weiter«, sagt er. In einen makellosen Anzug und brandneue Schuhe gekleidet, hat er sich im New Yorker Bryant Park auf eine Parkbank ge-

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setzt; es ist 18.30 Uhr, Büroschluss in der »City«, in ein paar Minuten wird er noch bei einer Party vorbeischauen. »Bei einer der wichtigsten der Branche«, sagt er und deutet hinüber zur prächtigen New Yorker Stadtbibliothek, wo die Energiefirma IntercontinentalExchange heute die ganze Dachterrasse gemietet hat. Eine Versammlung wohl gekleideter Insider der Energiebranche, die sich Informationen, Klatsch und die nächsten Jobs zustecken. »Ohne Enron gäbe es diese ganze Branche nicht«, sagt Brent, und mit dieser Meinung steht er nicht allein. »Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass Enron zu seinen besten Zeiten ein hochgradig innovatives Unternehmen war«, sagt Steve Hanke, Ökonom an der Johns Hopkins University in Baltimore. Hanke hat sich mit der Enron-Pleite ausgiebig beschäftigt, und bis heute glaubt er, dass die Geschäftsideen der in Ungnade gefallenen Chefs Lay und Skilling mehr Genie denn Wahnsinn waren. »Enrons grundlegende Geschäftsstrategie war legitim und recht nützlich für den Markt und die Konsumenten«, sagt Hanke. Was heute wie eine gewagte Außenseitermeinung klingt, war vor dem Zusammenbruch Enrons weit verbreitet. Das Wirtschaftsmagazin Fortune wählte Enron sechsmal hintereinander zum »innovativsten Unternehmen Amerikas«. Die Harvard Business Re-

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view feierte die Helden aus Houston. Woran lag das? Statt wie herkömmliche Energiefirmen Öl, Gas oder elektrischen Strom herzustellen und zu verkaufen, wollte sich Enron nicht auf die eingefahrenen Methoden der Old Economy beschränken. Also baute das Unternehmen Handelssysteme für die ganze Branche auf, über die alle Wettbewerber ihr Öl, ihr Gas und ihren Strom vermarkten konnten. Anfangs ging das per Telefon, später über das Internet. So wurde Enron zum entscheidenden Knotenpunkt in einem System, in dem jeder seine überschüssigen Gasreserven oder Pipeline-Kapazitäten feilbieten konnte. Wenn etwa in Detroit wegen eines Kälteeinbruchs mehr Gas für die Heizungen benötigt wurde, konnten die örtlichen Gaswerke es dank Enron im fernen Calgary einkaufen und die nötigen Pipeline-Kapazitäten direkt dazu. Enron führte auch neue Finanzprodukte ein, sodass sich die Detroiter Gaswerke gleich gegen ähnliche Gasknappheiten in künftigen Jahren versichern konnten. Umgekehrt konnten sich Gasförderer wiederum gegen die mangelnde Nachfrage in einem warmen Winter versichern. Immer komplizierter wurden diese Geschäfte und die finanziellen Strukturen dahinter. Immer saftiger wurden die Margen, die Enron für seine Vermittlung verlangen konnte. »Solche Geschäfte waren früher entweder nicht möglich, oder sie wurden zwischen zwei Partnern geschlossen, die ihren Preis vergleichsweise willkürlich festsetzten«, sagt Stella Farrington, die Chefredakteurin der Branchenzeitschrift Energy Risk Magazine. »Seit Enron sind Hunderte von Partnern an einer solchen Preissetzung beteiligt. Es schuf deutlich mehr Transparenz am Markt.« Enrons Kritiker sahen das von Beginn an anderes und schimpften über den »Kasinokapitalismus«. Sie verwiesen auf die mehrstelligen Millionengehälter der Herren Skilling, Lay und vieler ihrer Angestellten. Der Energieexperte Robert McCullough aus Portland in Oregon vermutete, Enron habe die Preise nicht nur transparenter gemacht, sondern zugleich zum eigenen Nutzen nach oben manipuliert. Die kalifornischen Energiepreise zum Beispiel seien in dem Moment um 30 Prozent gefallen, als Enron das Handtuch warf. Ein Zeichen dafür, dass Enrons pfiffige Händler sie zuvor künstlich in die Höhe getrieben hatten? Nach Enrons Zusammenbruch wurde die Lieferung von Gas und Strom in Nordamerika nie wieder so organisiert wie zur Zeit der alten Monopole. Nach einer Schätzung des Marktforschungsinstituts Energy Insights aus Framingham in Massachusetts ist der Markt für den Handel mit Energieprodukten – den Enron für Gas und Strom überhaupt erst eingeführt hatte – in den vergangenen vier Jahren um 30 Prozent gewachsen. Die Branche boomt. Eine Fülle großer Wall-Street-Häuser ist in das Geschäft neu eingestiegen und hat hastig Teams spezialisierter Energiehändler zusammengekauft. Ganze Hedge-Fonds konzentrieren sich auf die Energiewirtschaft. An der University of Houston ist seit dem Enron-Kollaps ein Global Energy Management Institute entstanden, das fieberhaft Nachwuchskräfte für den Energiehandel ausbildet. Jahresgehälter für erfahrene ehemalige EnronLeute wie Brent Elbing liegen heute im Schnitt bei zweieinhalb Millionen Dollar. »Im Markt wissen sie inzwischen, dass die Enron-Leute gute Leute waren«, sagt Brent denn auch selber. »Alle meine Exkollegen im Handelssaal, von denen ich gehört habe, sind wunderbar untergekommen.« Er deutet mit der Hand in die Richtung eines Gebäudes der Deutschen Bank und sagt: »Sehen Sie das? Die haben im vergangenen Jahr Louise Kitchen eingestellt.« Kitchen, die Erfinderin der Enron-Handelsplattform Enron Online, ist dort jetzt die zweite Frau im Rohstoffhandel. »Alle großen Energieunternehmen haben ehemalige Enron-Leute in ihre führenden Positionen geholt«, sagt eine Londoner Personalberaterin, die sich auf die Energiebranche spezialisiert hat und überall auf der Welt nach talentierten Kräften sucht. »Alle wissen, dass Enron damals nur die Allerbesten eingestellt hatte.« Sagt es und fügt hinzu: »Einige mussten höchstens erst einmal ein bisschen gebremst werden, sie konnten die vergleichsweise extrem risikofreudige Kultur von

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Enron dann doch nicht gleich bei jedem neuen Arbeitgeber ausleben.« Eine harte Lehrwerkstatt war Enron sicherlich gewesen. Zu den Neuerungen, die Lay und Skilling ihrem Unternehmen verordneten, gehörte auch die erbarmungslose Auslese unter den Mitarbeitern. Aggressive Händler mit vielen gewinnversprechenden Einfällen und Mut zum Risiko wurden mit Bonuszahlungen in Millionenhöhe belohnt. Zweimal im Jahr musste hingegen jeder zehnte Mitarbeiter seine Sachen packen. Die am wenigsten »produktiven« (oder wohlgelittenen) Mitarbeiter wurden hinausgeworfen, um die Jagd nach Profiten zu schüren.

Größenwahnsinnige Projekte brachten den Niedergang Weil waghalsiges Spekulieren bei Enron so hoch im Kurs stand, dauerte es nicht lange, bis sich das Unternehmen verzettelte. Man investierte in englische Wasserwerke und ein indisches Kraftwerk, Geschäfte, die wohl nie eine Aussicht auf Gewinne boten. Enron engagierte sich in immer neuen, spekulativen Feldern, wollte wie mit Gas und Strom auch mit Wetterdaten, Internet-Kapazitäten, Papier handeln. Es kostete Milliarden – doch die frühen Erfolge ließen sich nicht wiederholen. Also begann irgendwer im Unternehmen – allen voran der Chefbuchhalter, doch wahrscheinlich auch die Firmenführung selbst – Buchführungsregeln zu verletzen. Wachsende Schuldenberge wurden in komplizierten Geflechten ausländischer Firmen versteckt, die kein Aktionär mehr nachvollziehen konnte. Umsätze wurden künstlich aufgeblasen, Gewinne ebenfalls. »Diese Aktionen zögerten den Niedergang Enrons nur hinaus«, sagt der Ökonom Hanke. »Die Ursache für den Zusammenbruch waren sie nicht.« Da ist er sich ausnahmsweise auch mit den meisten Kritikern Enrons einig. Der Untergang begann, als sich der Energieriese mit größenwahnsinnigen Projekten verspekulierte, seine Kosten und seinen Cash-Flow nicht mehr in den Griff bekam. Die Jury, die in dieser Woche ihre Beratungen über das Urteil über Kenneth Lay und Jeffrey Skilling beginnt, wird sich für die großen Fragen des Aufstiegs und Falls von Enron nur am Rande interessieren. Die Geschworenen müssen sich mit den konkreten Tricksereien befassen und entscheiANZEIGE

den, ob sich die Enron-Chefs mit ihren herbeigezauberten Gewinnen der letzten Jahre, den versteckten Schulden und dem Kollaps der Firma strafbar gemacht haben. Wussten sie von dem drohenden Zusammenbruch? Glaubten sie wirklich, dass Enron sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte? War Enron nur ein Wirtschaftsdrama oder doch ein Wirtschaftskrimi? »Bewusst gewählte Ignoranz«, hatte Richter Simeon Lake den Juroren am Montag mitgeteilt, sei jedenfalls als Verteidigung inakzeptabel. Andererseits müsse die Schuld »über jeden Zweifel hinaus« erwiesen sein. Auf den Ausgang des Verfahrens werden noch Wetten angenommen. Auf Web-Seiten wie tradesports.com stand es zum Wochenbeginn etwa 75 : 1, dass Lay und Skilling hinter Gitter müssen. Noch so eine Finanzmarktinnovation. i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/2006/21/enron

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keit verlegt wird«. Der BJV bleibe bei der Auffassung, dass die geplante Novelle »einseitig die Interessen der Verwerter und der Geräteindustrie berücksichtigt«. Der BJV ist mit seiner Kritik nicht allein. Auch andere Pressevereinigungen, Urhebervertreter und Verwertungsgesellschaften laufen gegen das Vorhaben der Bundesregierung Sturm. Kürzlich fanden die knapp 450 000 Mitglieder der VG Wort nicht den im Frühsommer gewöhnlich eintreffenden

Konkret wendet sich das von den Verwertungsgesellschaften vorangetriebene »Aktionsbündnis Urheber und Verlage«, dem auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), der Deutsche Journalisten-Verband (DJV), ver.di oder der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) angehören, gegen die von Zypries ins Spiel gebrachte Neufassung der Geräteabgabe. Künftig sollen sich die Hersteller und die Urhebervertreter anhand gesetzlicher Vorgaben selbst darüber einigen, welche Abgabensummen gezahlt werden. Für vergütungspflichtig erklärt der Gesetzesentwurf Produkte, die »nennenswert« zur Vervielfältigung genutzt werden. Die Obergrenze für Vergütungsansprüche soll fünf Prozent des Verkaufspreises eines Geräts nicht übersteigen. Schon allein die Koppelung der Vergütungssätze an den Verkaufspreis von Geräten wie CD-Brennern, für die Hersteller momentan pro Stück 7,21 Euro an die Verwertungsgesellschaften abführen, hält das Aktionsbündnis für »willkürlich und verfassungsrechtlich bedenklich«. Seine Mitglieder argwöhnen, dass die Urheberabgabe angesichts fallender Gerätepreise auf ein »minimales Niveau« absinken wird. Sie beklagen, dass die Verwertungsgesellschaften selbst »kosten- und zeitintensive empirische Studien zur tatsächlichen Gerätenutzung« in Auftrag geben müssten – und prophezeien langwierige Gerichtsverfahren. Dabei kommt laut dem Bündnis eine Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zu dem Schluss, dass Urheberrechtsabgaben gar keinen Einfluss auf den Digitalgeräte-Markt haben. Apple etwa verfolge für seinen iPod Nano in verschiedenen Ländern eine jeweils andere Preispolitik. Und obwohl in Deutschland eine Urheberrechtsabgabe gezahlt werde und in Großbritannien nicht, sei das Vorzeigeprodukt hierzulande im März sechs Euro günstiger gewesen als auf der Insel. Zypries und die Geräteindustrie sehen die Sache anders. Eine Pauschale, die höher als fünf Prozent

vom Kaufpreis etwa eines Druckers liegt, hält die Ministerin für »wettbewerbsschädigend«. Die technische Welt habe sich so verändert, dass sich die Konsumenten immer rascher wieder aktuellere Geräte kaufen und die Abgaben öfter anfallen. »Die neuen Regelungen sind ein Schritt zu einem

setzen sich für Regeln ein, die private Kopien erlauben, ohne Gefahr zu laufen, vor dem Kadi zu landen. Im Jahre 2003 hatte der Bundestag im so genannten 1. Korb noch die Möglichkeit beispielsweise einer zweiten Audio-CD fürs Auto eingeräumt. Doch versiegelt eine Plattenfirma eine CD mit einem

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Scheck mit Ausschüttungen aus den Einnahmen der pauschalen Urheberrechtsabgabe vor. Diese wird auf Kopiergeräte oder Speichermedien erhoben, von den Verwertungsgesellschaften wie der VG Wort eingesammelt und dann anhand eines speziellen Berechnungsschlüssels an die Kreativen verteilt. Allein die VG Wort konnte so 2005 mehr als 34 Millionen Euro im Interesse der Autoren einnehmen. Statt des Hinweises auf die Ausschüttung schickte sie ihren Klienten nun aber einen Brandbrief. Er warnt davor, dass die jährliche Vergütungsanweisung »in Zukunft äußerst mager ausfallen wird«.

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nfang Mai platzte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries der Kragen: Die SPD-Politikerin hatte Wind davon bekommen, dass sich zahlreiche besorgte Bürger per E-Mail an Bundestagsabgeordnete gewandt und kein gutes Haar am Vorschlag der Bundesregierung zur Reform des Urheberrechts gelassen hatten. Postwendend reagierte die Ministerin, die federführend für die Gesetzesnovelle verantwortlich ist. »Der Regierungsentwurf schafft einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen aller Beteiligten«, ließ sie sämtliche Parlamentarier in einem elektronisch versandten Brief wissen. An diesem Freitag wird nun über das umstrittene Paragrafenwerk im Bundesrat abgestimmt. Es regelt nicht nur das Vergütungssystem für Urheber neu. Mit dem Gesetz will Zypries auch das Kopieren von Texten, Bildern, Musik und Filmen auf digitale Speichermedien wie Festplatten, CD-Roms oder USB-Sticks festlegen. Als Initiator der Online-Kampagne gab sich der Bayerische Journalisten-Verband (BJV) zu erkennen. Man habe die 9000 Mitglieder aufgefordert, sich wegen der Pläne zur Urheberrechtsreform an ihre Abgeordneten zu wenden, verriet der Verbandsvorsitzende Wolfgang Stöckel. Er wertete die Reaktion der Ministerin als Erfolg, da die Diskussion über den Gesetzentwurf und seine Folgen nun »aus den Hinterzimmern der Experten in die Öffentlich-

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Im Zweife

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a rn u E Jo Da KR er, k sU i s AN rheb Mu EF . t T r errecht e i S wird renov N VO n e gehen auf die Barrikad

zeitgemäßen Urheberrecht«, stärkt Jörg Menno Harms, Vizepräsident des Branchenverbands Bitkom, der Genossin den Rücken. Er hätte es aber als »zukunftsweisender« empfunden, wenn die Regierung ausschließlich auf eine individuelle Vergütung der Urheber mit Hilfe von technischen Systemen zum digitalen Rechtekontrollmanagement (DRM) gesetzt hätte. Der Streit um die Vergütungspauschale ist nicht der einzige Zankapfel rund um die zweite Stufe der Anpassung des Urheberrechts an die neue digitale Welt. Insbesondere Verbraucherschützer und Grüne

»wirksamen« Kopierschutz, dürfen die Nutzer diese DRM-Technik nicht umgehen. Der Gesetzgeber hat das Knacken der Blockierblockaden für Privatkopien zwar nicht strafbar gemacht. Die jeweiligen Rechteinhaber können den Verbraucher aber zivilrechtlich auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch nehmen, wenn sie ihm das Vergehen nachweisen. Im nun diskutierten »2. Korb« der Reform sollte erörtert werden, inwiefern das Umgehen von DRMSystemen für rein private Zwecke künftig erlaubt wird. Dies sieht beispielsweise die Schweizer Regierung in ihrem Entwurf für eine Urheberrechtsrevi-

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sion vor. Einen vergleichbaren Vorstoß aber hat Zypries erst gar nicht unternommen. Um dennoch »die Schulhöfe nicht zu kriminalisieren«, macht sie sich dafür stark, das unerlaubte Naschen an geschützten Werken in Online-Tauschbörsen im privaten Bereich wenigstens straffrei zu stellen. Gleichwohl jedoch sollen Downloads aus »offensichtlich rechtswidrig hergestellten und öffentlich zugänglich gemachten Vorlagen« aus dem Internet gesetzeswidrig sein. Mit der schwammigen Formulierung ist etwa das Herunterladen eines Films aus einem File-SharingNetzwerk gemeint, der im Kino noch gar nicht gestartet ist. Theoretisch könnten Tauschbörsennutzer deshalb selbst im privaten Umfeld künftig mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Nur eines vermag das zu verhindern: Laut Strafprozessordung ist es Staatsanwälten möglich, von einer Verfolgung der Urheberrechtsverletzer abzusehen, wenn die Schuld des Täters gering ist und kein öffentliches Interesse an einer Bestrafung besteht. Die Ermittler hatten allerdings auf eine klare gesetzliche Unterfütterung ihrer Praxis gehofft, Verfahren gegen private File-Sharer oft einzustellen. Sie klagen über eine Überflutung mit Anzeigen von Rechtehaltern wie der Karlsruher Spielefirma Zuxxez Entertainment. Diese bedient sich des in der Schweiz niedergelassenen Anbieters Logistep, der die Netzadressen von auffällig werdenden Tauschbörsennutzern erfasst und an Anwaltskanzleien weiterleitet. Bis Anfang des Jahres sind auf diese Weise gut 40 000 Anzeigen gegen unbekannt wegen illegaler Kopien von Musik, Software und Computerspielen allein bei der Karlsruher Staatsanwaltschaft eingegangen. Nun »droht eine Kriminalisierung von Jugendlichen auch in Bagatellfällen sowie eine Überlastung der Strafverfolgungsbehörden«, fürchtet Edda Müller, Vorstand des Bundesverbands der Verbraucherzentralen. Sie sorgt sich vor allem wegen der gleichzeitigen Pläne des Justizministeriums, Rechteinhabern ein Auskunftsrecht gegenüber Internet-Providern einzuräumen und so den Zugriff auf persönliche Netzadressen von Internet-Nutzern zu erleichtern. Damit könne »eine Flutwelle von Abmahnungen mit erheblichen Anwaltskosten auf Eltern jugendlicher Internet-Nutzer zukommen«. Weiteren Ärger gibt es um die Kopierregeln für die Wissenschaft. Fachinformationsanbietern der Bibliotheken wie dem Lieferdienst subito droht laut dem Aktionsbündnis Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft das Aus. Diese dürfen dem Entwurf zufolge nur noch Zeitschriftenartikel und kleine Teile aus Büchern an Interessenten in Form einer grafischen Datei per E-Mail senden, falls Wissenschaftsverlage kein eigenes Online-Angebot zu angemessenen Konditionen machen. Zypries weist Forderungen nach einer Ausweitung der Bestimmung genauso zurück wie Wünsche, neben öffentlichen Bibliotheken, Museen und Archiven auch »Bildungseinrichtungen« allgemein die Einrichtung von Online-Leseplätzen zu gestatten. Verlegerverbände sprechen von einer »Enteignung« der Rechteinhaber. Immer mehr Forscher plädieren derweil gegen

die Übertragung traditioneller Verwertungsmodelle auf das Internet durch rechtliche und technische Sanktionen. Sie sehen die Zukunft vielmehr in neuen, kollaborativen Formen der Produktion von Ideen und Werken im Web. Als Beispiel nennen sie die von vielen Programmierern entwickelte »Open Source«-Software, die von Tausenden von Autoren verfasste OnlineEnzyklopädie Wikipedia und zahlreiche Blogs. Eine echte Neuausrichtung des Urheberrechts in der Wissensgesellschaft steht im Bundesjustizministerium aber nicht auf der Agenda. Zypries hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass es keinen Spielraum für Änderungen mehr gibt. Der Entwurf sei »bei fast jeder Streitfrage auf Kante genäht«. Gegenwind bläst ihr inzwischen auch aus ihrer eigenen Partei ins Gesicht. »Wir werden genau auf die Verbraucherrechte beim Urheberrecht achten«, verspricht ein Papier der Bundestagsfraktion aus der Feder des Parlamentariers Ulrich Kelber. Es sei etwa zu prüfen, »ob wir dem Urheberrecht nicht eine Urheberpflicht gegenüberstellen sollten«. Die SPD-Fraktion denkt dabei an eine »Verpflichtung, die Nutzung der erworbenen Inhalte technikneutral zu ermöglichen«. Eine entsprechende Interoperabilitätsklausel, die das Abspielen erworbener Mediendateien auf verschiedenen Systemen und Geräten ermöglichen soll, sieht der Entwurf für die französische Urheberrechtsnovelle vor. Zuvor hatte der forschungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Jörg Tauss, bereits Unmut über die seiner Meinung nach zu engen Klauseln zur wissenschaftlichen Informationsversorgung geäußert. Bevor sich die Abgeordneten vor der Sommerpause mit dem Entwurf näher beschäftigen können, muss aber noch der Bundesrat an diesem Freitag seine Stellungnahme abgeben. Die 24-seitigen Empfehlungen der Fachausschüsse laufen auf einen deutlichen Rüffel für die Regierung hinaus. Der Entwurf müsse den Erfordernissen der Einrichtungen in Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie dem Grundrecht auf Informationsfreiheit der Bürger »weit stärker als bisher Rechnung« tragen, heißt es in der Vorlage. Bei der Kappung der Vergütungspauschale wittern die Fachreferenten einen »enteignungsgleichen Eingriff« in die Rechte der schöpferisch Tätigen. Zypries könnte sich so genötigt fühlen, noch die ein oder andere »Klarstellung« an die Parlamentarier zu senden.

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29 Fotos: Oliver Soulas

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Näherinnen in SIALKOT, Arbeiter der Firma Talon Sports, Lager mit adidas-Bällen (von links nach rechts)

Bälle gut, alles gut In der pakistanischen Stadt Sialkot werden zwei Drittel aller Fußbälle hergestellt – dank internationalem Druck ohne Kinderarbeit

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eden Samstag prallen in diesem schmalen Raum Welten aufeinander. Der Boss des Nähzentrums von Forward Sports sitzt hinter seinem abgewetzten Schreibtisch und zahlt die Löhne aus. Für jeden genähten Fußball gibt es 41 Rupien, das sind rund 60 Cent. In einer Woche kommt ein Arbeiter auf gut 25 Euro. An der kahlen Wand hängt ein Poster von David Beckham. Der Superstar mit einem Jahreseinkommen von mehr als 20 Millionen Euro hält fünf Bälle in der Hand, so wie sie hier hergestellt werden, er lächelt auf die Näher herunter. »Soccer never felt better«, steht auf dem Plakat. Sialkot ist eine Kleinstadt im Nordosten Pakistans. Von hier stammen zwei Drittel aller weltweit produzierten Fußbälle. Im Jahr sind das rund 40 Millionen Stück, praktisch alle von Hand genäht. Nike und adidas, Puma und Diadora, alle Weltfirmen lassen hier fertigen. In der Region um Sialkot leben 2,9 Millionen Menschen, 35 000 arbeiten in der Fußballindustrie. Diese hat einen dramatischen Wandel erlebt: Vor zehn Jahren war Kinderarbeit an der Tagesordnung. Jetzt beschäftigen die Firmen nur noch Mitarbeiter, die älter sind als 15 Jahre. Forward Sports fertigt für adidas. In der Näherei im Dorf Motra sitzen 30 Mann auf niedrigen Schemeln, und alle machen den ganzen Tag die gleichen Handgriffe: zwei Nadeln gegenläufig durch die Löcher in den weißen Sechsecken schieben, den Faden um die breiten Lederringe an den Mittelfingern wickeln und die Naht stramm ziehen. Arme bewegen sich geschmeidig und lautlos, aus einem Radio kommt schmachtende Musik, an der Decke rühren Ventilatoren in der heißen Luft. Auf dem Betonboden liegen weiße Polyester-Fäden, hinten hat einer seine Armbanduhr neben seine nackten Füße auf die Bastmatte gelegt. Ein guter Arbeiter schafft sieben Bälle am Tag. Für jeden braucht er 750 Stiche, die letzten sind die schwierigsten: Die Nadel darf die Blase nicht verletzen. Die fertigen Bälle werden mit einem kleinen Kompressor aufgepumpt und kommen zur Qualitätskontrolle in die Zentrale. Oft holen Eselskarren die riesigen Säcke mit den Bällen ab, diese schweben dann wie unförmige weiße Wolken langsam über der staubigen Straße. Die Fußballproduktion in Sialkot hatte früher einen schlechten Ruf. Als die pakistanische Ministerpräsidentin Benasir Bhutto 1995 die Vereinigten Staaten besuchte, zeigten Menschenrechtler dort einen Dokumentarfilm über die Kinder im Punjab, die Bälle nähen mussten. »Noch in der Nacht rief mich mein Handelsagent aus den USA an«, erinnert sich Khawaja Zakauddin, »er war sehr aufgeregt.« Zakauddin ist 71 Jahre alt, seine Firma Capital Sports nähte schon Fußbälle, als diese noch aus braunem Leder waren. Dieses Handwerk reicht in Sialkot zurück bis in die Kolonialzeit, 1922 verliehen die Engländer dem Unternehmer Sayed Sahib den British Empire Export Award, weil er die Armee mit Fußbällen belieferte. Die Klügeren unter den Fabrikanten in Sialkot erkannten schnell, dass der Druck des Westens ihrer Industrie das Genick brechen könnte. »Es

war eine Forderung der Kunden, unsere Produktion transparent zu machen«, sagt Zakauddin. Die weitere Geschichte ist ein Musterbeispiel dafür, was Druck der Verbraucher in der globalisierten Wirtschaft bewirken kann. 1997 unterzeichnete die Handelskammer von Sialkot gemeinsam mit Unicef und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO das so genannte Atlanta-Abkommen. Darin verpflichteten sich die Beteiligten, die Kinderarbeit in der Fußballindustrie von Sialkot abzuschaffen. »Das taten wir nicht nur aus Großzügigkeit«, sagt Zakauddin nüchtern, »für unser Geschäft ging es ums Überleben.« Die Handelskammer beauftragte ihn, das Abkommen umzusetzen; die traditionelle Heimarbeit wurde reglementiert: Seither dürfen Firmen ihre Aufträge nur noch an registrierte Nähereien vergeben, in denen mindestens drei Personen beschäftigt sind. Die ILO bildete eine Kontrollkommission. Heute wählt ein Computer der Imac (Independent Monitoring Association for Child Labor) an jedem Morgen nach dem Zufallsprinzip die Nähereien aus, die an diesem Tag kontrolliert werden. Jeder Betrieb muss spätestens nach sechs Wochen wieder an die Reihe kommen, und damit niemand in Versuchung gerät, einen Kontrolleur zu bestechen, darf keiner zweimal hintereinander in dasselbe Nähzentrum. 97 Firmen lassen sich von der Imac kontrollieren. Sie stellen 95 Prozent der Exportproduktion her. Jeden Tag gehen zwölf Mitarbeiter der Imac mit Jeeps und Motorrädern auf Kontrollfahrt. Da im islamischen Pakistan das ganze Leben nach Geschlechtern getrennt ist, kontrollieren Frauen die Nähereien der Frauen, und die Männer sehen bei den Männern nach. Sie prüfen, ob die Liste mit den Stücklöhnen wie vorgeschrieben aushängt, ob jeder Näher mindestens 0,9 Quadratmeter Platz hat und ob im Betrieb ein Verbandkasten bereit liegt – auch wenn der manchmal nur zwei alte Mullbinden enthält.

Überwachung«, sagt adidas-Sprecherin Anne Putz. »Um die Kontrolle zu vereinfachen, arbeiten wir in Sialkot nur mit drei Firmen zusammen. Und jeder Ball bekommt eine Codenummer. So wird die Produktion transparent.« Zu Beginn ihrer Arbeit hat die Imac die Ursachen der Kinderarbeit untersucht. »Die Armut war nicht der Hauptgrund«, sagt Dogar. Für pakistanische Verhältnisse sind die Bauern im Punjab wohlhabend. Breite Flüsse bringen das Schmelzwasser des Himalaja in das Fünfstromland, Kanäle so breit wie Fußballfelder führen auch dann noch Wasser in Hülle und Fülle, wenn die Temperaturen weit über 40 Grad steigen. Schwarze Büffel werden zur Tränke geführt, der Weizen wächst, und die Bauern sind stolz darauf, dass sie den besten Basmati-Reis Pakistans anbauen. Das Bällenähen war seit Jahrzehnten ein gutes Zubrot, das man sich in Heimarbeit verdienen konnte. Das Pro-Kopf-Einkommen in der Region Sialkot ist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. »Für viele Eltern war

VON JOHANNES SCHWEIKLE

es einfacher, ihre Kinder zum Nähen als in die Schule zu schicken«, erläutert Dogar. »Sie sagten sich: Wenn mein Kind zehn Jahre in die Schule geht und dann keine gute Stelle findet, ist es für die Handarbeit verdorben.«

In der Schule lernen die Sechsjährigen jetzt Englisch In Chak Maluka ist es gelungen, dieses traditionelle Denken zu ändern. Chak Maluka ist eines der unzähligen kleinen Dörfer in der Nähe von Sialkot. Die Lehmziegelhäuser der 1100 Einwohner glucken eng zusammen, die Gassen sind so schmal, dass noch nicht einmal ein Eselskarren durchkommt. Gut die Hälfte der 125 Familien lebt vom Bällenähen, viele Väter waren nie in der Schule und haben nur dieses simple Handwerk gelernt. Vor 15 Jahren war Kinderarbeit hier noch so normal wie die rauchenden Schornsteine der Ziegeleien, heute gilt sie als unmoralisch.

Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt keine Aufträge mehr Wirkt ein Näher verdächtig jung, prüfen die Kontrolleure sein Geburtsdatum in der Akte. Im Jahr 2004 stieß die Imac bei mehr als 14 000 Kontrollen lediglich auf fünf Fälle von Kinderarbeit. In energischen Schreiben forderte die Imac die betreffenden Firmen auf, dies zu unterbinden. Mit Erfolg: Bei der nächsten unangekündigten Kontrolle waren diese Kinder nicht mehr in der Näherei. »Es kann schon sein, dass Sie in der Landwirtschaft Kinder beschäftigt finden. Oder bei den Firmen, die chirurgische Instrumente herstellen«, sagt Nasir Dogar, der Leiter der Imac, »aber in der Fußballindustrie wissen die Fabrikanten, dass wir sehr wachsam sind.« Die Sanktionen sind hart: Wer wiederholt Kinder beschäftigt, kommt auf die schwarze Liste. Und Weltfirmen wie adidas gehen nicht das Risiko ein, einen solchen Subunternehmer zu beschäftigen. »Wir haben in Pakistan neben der Imac noch unsere firmeninterne

" AUTOSELLER

Launische Käufer

Neuzulassungen Januar bis April 2006 Rang Modell

Stückzahl

gegenüber Vorjahreszeitraum

1

VW Golf/Jetta

70 591



2

VW Passat

38 465

+ 42,4

3

BMW 3er

36 855

+ 32,2

4

Opel Astra

33 432

– 19,8

5

Audi A4

31 086



6

Audi A3

24 560

+ 14,8

7

VW Polo

24 181

+ 12,4

8

VW Touran

24 162



7,4

9

Ford Focus

22 424



0,2

10

Mercedes A-Klasse

22 390

– 34,2

11

Audi A6

20 767

+ 24,2

12

BMW 1er

19 234

+

4,1

13

Ford Fiesta

19 044

+

5,0

14

Mercedes B-Klasse

19 002



15

Mercedes C-Klasse

18 056

– 32,5

ZEIT-Grafik/Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt

4,3

9,3

Nach dem guten Beginn im ersten Quartal ließen die Käufer die Autohändler im April im Stich. Im Vergleich zum April 2005 wurden 8,9 Prozent weniger Zulassungen fabrikneuer Pkw im Flensburger Kraftfahrtbundesamt registriert. Über die ersten vier Monate 2006 ergibt sich aber noch ein leichtes Plus von 1,2 Prozent. Besonders die Klientel der Oberklassekäufer hielt sich zurück, was auch zur Folge hatte, dass nach der Mercedes E-Klasse nun auch der 5er von BMW aus den Top 15 des ZEIT-Autosellers rutschte. Nur der Audi A6 stemmt sich hier erfolgreich gegen den Trend. Man darf gespannt sein, ob DaimlerChrysler mit seiner massiv beworbenen »neuen« E-Klasse wieder Boden gut macht. Ansonsten dominieren Kompaktwagen und Mittelklässler die Verkaufshitliste. Einen anhaltend positiven Trend verzeichnen weiterhin Geländewagen und preiswerte Kleinwagen wie etwa der VW Fox, der es in diesem Jahr schon auf mehr als 14 000 Zulassungen brachte. Noch aber hat es kein einzelnes Modell geschafft, in die Spitzengruppe der 15 meistverkauften Modelle hierzulande vorzudringen. DHL

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Ein staubiger Pfad führt zur Grundschule der Mädchen. Eine Backsteinmauer grenzt diese von den Melonenfeldern ab. Die Mädchen tragen hellblaue Uniformen und rote Schleifchen im Haar. Die zweite Klasse hat ihre Bänke im Hof aufgestellt, im Schatten eines mächtigen Baums. Die sechsjährigen Kinder lernen Englisch. Die älteren machen ein einfaches Experiment: Wie man dreckiges Wasser filtert. Die Früchte der Schulpolitik im Punjab zeigen sich rund um die beiden Klassenräume. Die pakistanische Musterprovinz stellt Schulbücher und Uniformen kostenlos, Bedürftige bekommen ein Stipendium. 1987 wurde diese Schule gebaut. »Da hatten wir nur 35 Schülerinnen«, sagt Direktorin Fakhra Anwar. Seitdem hat sich hier eine Menge geändert. Die Wände sind frisch getüncht, der Fußboden zementiert. Vor dem Gebäude steht ein Brunnen mit Handpumpe. Dank adidas und der Entwicklungsorganisation Sudhaar gibt es an der Mädchenschule von Chak Maluka mittlerweile sogar Strom. Und, was noch viel wichtiger ist: 90 Schülerinnen.

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Was bewegt …

Albert Frère? Der belgische Investor Albert Frère könnte den Medienkonzern Bertelsmann an die Börse zwingen. Billig einkaufen, teuer abstoßen – so hat es der Milliardär sein Leben lang gemacht VON JOSÉ-ALAIN FRALON

as gedenkt Albert Frère zu tun? Diese Frage hatte sich schon einmal gestellt, als der belgische Finanzier 1997 beschloss, in die Medienbranche zu investieren. Die Antwort kam prompt: Gemeinsam mit dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann gründete er die CLT-Ufa, die größte RundfunkGruppe Europas. Was gedenkt Albert Frère zu tun? Heute stellt sich diese Frage erneut. Denn vor fünf Jahren tauschte er seinen Anteil an der CLT-Ufa gegen 25 Prozent an Bertelsmann ein. Gleichzeitig handelte er aus, dass der Medienkonzern an die Börse gehen muss, wenn Frère seine Anteile dort verkaufen will. Am kommenden Montag ist Hauptversammlung bei Bertelsmann, der Tag, an dem Frère den Börsengang verlangen darf. Der Belgier könnte zwar auch direkt an den anderen Großaktionär – die Familie Mohn – verkaufen. Wenn er wollte. Aber noch lässt er die Mohns im Ungewissen, wie viele Milliarden Euro er für seinen Anteil verlangt. Der Geschäftsmann verspürt großes Vergnügen an solcher Geheimniskrämerei. Journalisten meidet er, es sei denn, er möchte einen von ihnen auf eine falsche Fährte setzen. So mancher Kommentator sah sich in den vergangenen Jahren schon düpiert, wenn er, von vermeintlich »guten Quellen« informiert, vorausgesagt hatte, der belgische Manager werde dieses oder jenes Geschäft abschließen. Wer diesen mysteriösen Herrn verstehen will, muss eines wissen: Albert Frère ist Geschäftsmann. Einer, der die ersten Millionen seines heute auf elf

Milliarden Euro geschätzten Vermögens verdient hat, in dem er Betonstahl nach Venezuela verkaufte. Frère wird am 4. Februar 1926 in Fontainel’évêque geboren, einer kleinen wallonischen Gemeinde nahe der Stadt Charleroi, die damals als eine der Hauptstädte des »schwarzen Landes« gilt. Die Region lebt von Kohlegruben und der Stahlindustrie. Lange kursierte das Gerücht, Albert Frère habe als Kind auf der Straße gelebt und sei mit dem Handkarren durch die Stadt gezogen, um Eisenwaren zu verkaufen. Doch die Wirklichkeit ist weniger romantisch: Seine Eltern waren Handwerker und stellten Nägel her. Als Albert vier Jahre alt ist, stirbt sein Vater, und die Mutter muss den vor sich hin kümmernden Betrieb allein führen. Er selbst wächst derweil zu einem mittelmäßigen Schüler heran, besonders schlecht ist er in Wirtschaftskunde. Doch dann nutzt Frère während des Koreakrieges im Jahr 1950 eine Chance, die sein Leben verändert. Die Stahlpreise steigen, und Stahl gibt es in seiner Heimatstadt Charleroi im Überfluss. Warum also nicht versuchen, ihn zu verkaufen? Mit ein paar Briefen und phänomenaler Dreistigkeit bietet Frère seine Ware weltweit an – und hat Glück. Der erste Auftrag kommt aus Venezuela. Mit diesem Geschäft wurde eine Maschine zum Geldmachen in Gang gesetzt, die er seither nicht wieder angehalten hat. Ihr wichtigstes Grundprinzip lautet: Alles steht und fällt mit dem Einkauf. Nur wer sich Ware günstig besorgt, ist ein guter Händler. Über diese Regel grübeln die Mitglieder der Familie Mohn bis heute. Frère muss nämlich den Eindruck

gehabt haben, dass er sehr billig bei Bertelsmann eingestiegen ist, weil er dabei sein zweites Grundprinzip außer Acht gelassen hat: niemals Geld in ein Unternehmen zu stecken, in dem er nicht das Sagen hat. »Kleiner Minderheitsaktionär: Kleiner Trottel! Großer Minderheitsaktionär: Großer Trottel!« lautet sein Credo schon seit Jahren. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob es ratsam war, von diesem Prinzip abzuweichen.

Lange weigert sich der belgische König, ihn in den Adelsstand zu erheben Eigentlich war es ebenjene Prinzipienfestigkeit, die Frères jahrzehntelang anhaltenden Erfolg kennzeichnet. Schritt für Schritt erhöht er in den fünfziger Jahren seinen Einfluss auf die belgische Stahlbranche. Die Stahlkrise in den Achtzigern übersteht er, weil er die gigantischen Verluste mit Milliarden-Hilfen des belgischen Staates und eines EU-Krisenfonds decken kann. Gleichzeitig handelt er gewinnbringend mit dem subventionierten Stahl. Lediglich Baudouin, damals König von Belgien, schätzt diese Art, sich aus öffentlichen Töpfen zu bedienen, überhaupt nicht und wird sich von daher zeitlebens weigern, Frère in den Adelsstand zu heben. Erst Baudouins Bruder und Nachfolger Albert II. hat diesbezüglich keine Skrupel mehr und macht Frère später zum Baron. Mit einem Paukenschlag verabschiedet sich Albert Frère schließlich aus der Branche: Am 17. Oktober 1983 verkauft er dem belgischen Staat seine Stahl-Handelsgesellschaft.

Die Taschen voller Geld, beschließt der Sohn eines Nagelhändlers nun, in die Finanzwelt einzusteigen. Seine Eintrittskarte dafür löst er mit einer Aktion, die einige ironisch einen »Überfall auf die Postkutsche« nennen. Albert Frère gehört zu einer Gruppe von Geschäftsleuten, die die Verstaatlichung der französischen Bank Paribas verhindern, die der damalige Staatspräsident François Mitterrand und seine sozialistische Regierung 1981 beschlossen hatten. Gemeinsam mit dem Management der Bank verschieben sie zentrale Funktionen der Bank in andere Länder. Die französischen Sozialisten sind außer sich vor Wut, weil die Verstaatlichung deswegen misslingt – während Albert Frère sich den Respekt der Finanzwelt verdient. In dieser Zeit entsteht auch die Freundschaft zwischen Albert Frère und dem Kanadier Paul Desmarais, eine Freundschaft, wie man sie selten in der »mitleidslosen« Geschäftswelt antrifft. Auch wenn sie sich optisch so sehr unterscheiden, der große, aufstrebende, aristokratisch anmutende Desmarais und der gestauchte, erdnahe, rundliche Frère – ihre Geschichten ähneln sich sehr. Hat dieser Mann aus Quebec nicht ebensowenig Talent für akademisches Lernen bewiesen? Den Grundstein für sein Vermögen hat er mit einem kleinen Transportunternehmen gelegt, das er für einen symbolischen Dollar gekauft hatte. In kurzer Zeit brachte er den Laden dann zum Laufen, kontrollierte bald den gesamten Busverkehr der Stadt Quebec und herrscht inzwischen ebenso über vielerlei Industriebeteiligungen. Die beiden Unternehmer schließen im Jahr 1990 einen ungewöhnlichen Pakt: Sie schaffen eine Holding, die wesentliche Teile von Frères Unternehmen und einen Teil der Investments von Desmarais zusammenführt. Damit besitzt der Mann aus Quebec die Hälfte des Geschäftsimperiums des Wallonen, kontrolliert aber weiterhin 80 Prozent seiner Beteiligungen allein. Diese Allianz sollte bedacht werden, wenn man über das Verhältnis zwischen Frère und Bertelsmann spricht, denn auch Desmarais hat Einfluss auf die anstehende Entscheidung. Trotz seines Alters waltet »Großvater« Frère noch immer voller Elan. Kürzlich ist er beispielsweise aus der Champagnerproduktion Taittinger ausgestiegen, um in die Gastrogruppe Flo einzusteigen, die unter anderem auch das berühmte Pariser Restaurant La Coupole betreibt. Zusammen mit Bernard Arnault kaufte er Cheval Blanc, eines der größten der Grand-Crus-Weingüter aus dem Bordeaux. Seine Anteile beim Versorger Suez und dem Mineralölkonzern Total gehören jenseits von Bertelsmann zu den wertvollsten Investments seiner Groupe Bruxelles Lambert. Obwohl er also im Zentrum des französischen und europäischen Kapitalismus steht, ist Albert Frère weitgehend unbekannt geblieben. Was aber treibt diesen Mann an? Abgesehen von seiner Leidenschaft für guten Wein ist keine Liebhaberei bekannt. Im Gegensatz zum Medienunternehmer und Politiker Silvio Berlusconi oder dem verstorbenen Fiat-Patriarchen Umberto Agnelli finanziert er keinen Fußballclub. Obwohl er einige Werke alter Meister besitzt, käme es ihm nie in den Sinn, es dem französischen Industriellen François Pinault gleichzutun und eine Stiftung für moderne Kunst zu gründen. Schon gar nicht

würde er, wie es der verstorbene, britische Milliardär Jimmy Goldsmith getan hat, in die Politik gehen. Und auch wenn man von ihm sagt, er stehe dem französischen Innenminister und Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy und den belgischen Liberalen nahe, hat er sich nie öffentlich zu weltpolitischen Themen geäußert. Er überlässt es anderen, darüber zu philosophieren, was gut oder schlecht für die Gesellschaft ist. Und große theoretische Debatten, die viele französische Unternehmer und Absolventen der Pariser Grandes Ecoles so lieben, langweilen ihn. Die Zurückhaltung, die er so umfassend ausstrahlt, schläfert seine Konkurrenten und Geschäftspartner oft ein. Zu schnell vertrauen sie diesem Mann ohne Ecken und Kanten, der aussieht wie ein Herr Jedermann. Zu spät begreifen sie, dass sie ihm auf den Leim gegangen sind. »Während die französischen Chefs reden, rechnet Albert Frère«, witzelte mal einer seiner Freunde. Ja, nicht einmal eine Zeitung würde der Medienunternehmer Albert Frère leiten wollen, und insofern hat er wirklich gar nichts von einem Citizen Kane, dem Medienmagnaten und Präsidentschaftskandidaten in Orson Welles’ gleichnamigem Film von 1941. Das Geld, das er in die Rundfunkgruppe CLT gesteckt hat, dient einzig und allein der Realisierung eines hervorragenden Geschäftes.

Trotz seiner 80 Jahre schafft er es, seine Mitarbeiter zu ermüden Manchmal werfen ihm seine Landsleute deshalb vor, er denke nur ans Geld und habe im Lauf der Jahre einige der schönsten belgischen Unternehmen, etwa die Mineralölfirma PetroFina, an die Franzosen verkauft. Doch dann antwortet der Mann aus Charleroi, der den leiernden Akzent seiner Heimat bis heute nicht abgelegt hat und der sich in seinen Büros wenige Kilometer von der »schwarzen Stadt« immer noch so wohl fühlt: Ihm sei es zu verdanken, dass überhaupt ein Belgier Einfluss auf die französische und internationale Finanzwelt habe. Noch immer ist der Mann, der in diesem Jahr seinen achtzigsten Geburtstag feierte, in der Lage, seine Mitarbeiter zu ermüden. Woher nimmt er seine Kraft? Ohne Zweifel spielt sein Talent, wie er sagt, »sich beim Arbeiten zu amüsieren und beim Amüsement zu arbeiten«, eine große Rolle. Geschäfte macht er gerne auf dem Golfplatz, in einem guten Restaurant oder in seinem Chalet in den französischen Alpen. Dort spielt er mit Millionen – und ganz im Gegensatz zu vielen anderen Finanziers ist es nicht das Geld fremder Leute. Das ist ihm wichtig. Als er noch in der Stahlbranche war, kanzelte er mal im örtlichen Dialekt einen Gewerkschaftsführer ab: »Tcholte bé m’fi, c’est m’galette à mi, dji fé c’qui d’j’vou avou.« – »Hör mal, mein Sohn, es ist mein Geld und ich mache damit, was ich will.« José-Alain Fralon ist Journalist bei der Zeitung »Le Monde« und Autor einer Biografie über Albert Frère

" Langer Weg nach Gütersloh Groupe Bruxelles Albert Frère wird 1926 im belgischen Fontaine-l‘Evêcque in der Lambert (Albert Frère) Montanindustrieregion um Charleroi geboren. Von 1943 an arbeitet er im Unternehmen seiner Eltern, Stimmanteile in Prozent das Nägel herstellt. 1954 kauft er ein Stahlwerk und begründet damit sein Metall-Imperium. 25,0 1981 steigt er bei der Groupe Bruxelles Lambert ein, sie wird zur Holdinggesellschaft für seine Beteiligungen. Mit Bertelsmann grün75,0 det er 1997 die Rundfunkgruppe CLT-UFA. Bertelsmann Verwaltungsgesellschaft mbH Später tauscht er seine Anteile gegen ein Viertel der Bertelsmann AG ein. 2006 drängt Frère auf einen Börsengang des Medienkonzerns

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ZEIT-Grafik

Foto: ISOPIX SPRL /action press; Skulptur »Le Poing« von César Baldaccini, © VG Bild-Kunst, Bonn 2006

Baron mit der eisernen Faust W

18. Mai 2006

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" DIE WELT IN ZAHLEN

Die Zinsdrücker

Zugriff Belastungen der deutschen Privathaushalte durch geplante Steuererhöhungen (in Millionen Euro)

Freie Immobilienfinanzierer vergleichen die Darlehensangebote der Geldinstitute. Weil sie die Anfragen bündeln, können sie ihren Kunden meist bessere Konditionen bieten als die Hausbank VON CHRISTOPH HUS UND OLAF WITTROCK

D

tieren werden vom Verdrängungswettbewerb vor allem die großen Online-Anbieter wie Interhyp und Dr. Klein. An kleineren Beratern, die in persönlichen Gesprächen oft auch Versicherungen und Geldanlagen verkaufen, werde der Boom dagegen weitgehend vorbeigehen, schätzt Schad. Interhyp und Co. wollen vor allem den etablierten Banken und Bausparkassen das Geschäft abnehmen. Wichtigstes Argument im Kampf um Kunden sind niedrige Zinsen. So vergleicht Interhyp die Angebote von 40 Banken und Spezialfinanzierern. »Unsere Klientel kommt dabei in den Genuss der aggressivsten Konditionen«, sagt Interhyp-Vorstand Haselsteiner. Das Vorgehen des Unternehmens ist so simpel wie effektiv: Interhyp hat Rahmenverträge mit mehreren Banken und fragt regelmäßig nach dem niedrigsten Zinssatz für größere Kundengruppen. Damit füttert der Anbieter seine Datenbank. Der Kunde bekommt dann das beste gerade verfügbare Angebot genannt und die Finanziers ein fertiges Paket bereits geprüfter Bau- und Kaufvorhaben. »Wir vermitteln den Banken große Kreditvolumina«, sagt Haselsteiner. »Im Gegenzug bekommen wir einen besonders günstigen Preis.«

Hat sich ein Kunde für einen Anbieter entschieden, unterschreibt er einen Kreditvertrag mit der gewünschten Bank, die Interhyp für die Vermittlerdienste eine Provision gibt. »Die Höhe ist abhängig vom Volumen. Sie beträgt je nach Bank etwa ein Prozent der Kreditsumme«, sagt Haselsteiner. Andere Anbieter vereinbaren mit allen Banken dieselbe feste Marge – ansonsten gleichen sich die Geschäftsmodelle weitgehend.

Die Kunden wollen niedrige Zinsen und Transparenz »Durch die Massenabwicklung zahlen Kunden über die großen Vermittler 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte weniger, als wenn sie selbst bei der Bank nach dem Kredit fragen würden«, sagt Klaus Fleischer, Professor für Finanz- und Bankwirtschaft an der Fachhochschule München. So liegen die Effektivzinsen bei 15 Jahren Festschreibung für ein Annuitäten-Darlehen zurzeit bei rund 4,5 Prozent – viele Hausbanken verlangen um die 4,9 Prozent. Im Auftrag von Interhyp, der Direktbank Ing-Diba und des Finanzdienstleisters MLP hat Fleischer untersucht, warum die unab-

Die Arbeitsweise der Berater ist ebenso simpel wie effektiv

Illustration: Peter M.Hoffmann/pmh@ popculture.de für DIE ZEIT

Die Kunden sparen dabei nicht nur Geld, sondern auch noch Zeit und Nerven: Früher mussten sie von einer Bank zur anderen laufen und selbst deren Angebote vergleichen. Die Ochsentour hat dank der neuen Angebote heute niemand mehr nötig: Per Internet übermitteln die potenziellen Kunden einfach ihre Daten an den Vermittler, per Telefon klären ausgebildete Berater dann weitere Fragen – und im Idealfall hat der Kunde eine halbe Stunde später ein konkretes Kreditangebot im E-Mail-Postfach. Kein Wunder, dass das Geschäft der Makler boomt: Dr. Klein etwa hat im vergangenen Jahr 60 neue Mitarbeiter eingestellt und beschäftigt nun 200 Personen. Im ersten Quartal dieses Jahres stieg der Vorsteuergewinn trotz weiterer Expansion um 34 Prozent. Und auch der Vermittler Planethome, als HypoVereinsbank-Tochter mittlerweile Teil der italienischen Unicredit-Gruppe, spürt den Boom: 2005 legte der Umsatz aus Finanzierungsgeschäften um 157 Prozent zu. Jetzt erwarten viele Branchenbeobachter einen baldigen Börsengang. Denn in den kommenden Jahren könnte der Marktanteil der Anbieter durchaus weiter wachsen, erwarten Experten. »Freie Vermittler machen heute bereits 30 Prozent des Neugeschäfts«, sagt Marcus Schad, Geschäftsführer des Analysehauses S.W.I. Finance in Hamburg, der jüngst das Angebot deutscher Immobilienfinanzierer miteinander verglichen hat. »In vier Jahren wird ihr Marktanteil auf 50 Prozent wachsen.« Profi-

Anhebung der Mehrwertsteuer

hängigen Vertriebe den Banken so schnell Marktanteile abnehmen. Sein Befund: Privathaushalte wollen bei der Baufinanzierung nicht nur günstige Preise. Kompetente Beratung, Fairness und Ehrlichkeit sind ihnen sogar noch wichtiger – und in allen Punkten erhielten die neuen Baufinanzierer bessere Noten als klassische Filialbanken. Die Gründe sieht Finanzwissenschaftler Fleischer in der Spezialisierung und neuen Vertriebswegen. »Internet und Telefon bieten in der Regel mehr Transparenz und aktuellere Information als ein Gespräch in der Filiale um die Ecke«, sagt Fleischer. »Und immer mehr Kunden goutieren solche gläsernen Geschäfte.« Auch Thomas Bieler, Finanzexperte der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, sind keine Probleme mit Online-Kreditvermittlern bekannt. »Wer ein Standardprodukt sucht, ist dort gut aufgehoben«, sagt Bieler. Nur bei schwierigen Voraussetzungen sei die Hausbank immer noch erste Adresse – zum Beispiel, wenn Bauherrn nur über äußerst wenig Eigenkapital verfügen. Trotz des Erfolgs mit dem Internet-Vertrieb wollen sich Anbieter nicht allein auf dieses Geschäft verlassen. So hat Interhyp inzwischen in fünf Städten Büros eröffnet, in denen sich Kunden beraten lassen können. Weitere sollen folgen. »Auf diesem Weg können wir noch viel mehr Kunden ansprechen«, sagt Haselsteiner. Auch der Lübecker Anbieter Dr. Klein unterhält über seine Tochtergesellschaft Freie Hypo rund 80 Büros in Deutschland. In den kommenden Jahren sollen noch 100 Geschäftsstellen unter der Marke Dr. Klein hinzukommen. Vorstandschef Klaus Kannen will damit Beratungskompetenz demonstrieren – bei Kunden, die sich eben nicht nur per Internet und Telefon beraten lassen wollen. Denn laut Kannen wandelt sich auch bei der konservativeren Klientel das Bewusstsein. »Kunden wollen ihre Immobilienfinanzierung nicht mehr vom Zufall leiten lassen, sondern wünschen sich einen professionellen Vergleich. Und sie ahnen, dass ihre Hausbank meist nicht das beste Angebot hat«, sagt Kannen. Bei den großen Vermittlern haben sie fast immer die Chance auf bessere Zinsen. Dabei sind Kunden gut beraten, die Offerten verschiedener Anbieter zu vergleichen – selbst wenn diese von freien Vermittlern stammen. Denn auch wenn die Zinsen bei Dr. Klein, Interhyp und Planethome nahezu identisch erscheinen, unterscheiden sich die Angebote oft doch in entscheidenden Details. »Man sollte die Leistungen genau miteinander vergleichen«, rät S.W.I.-Geschäftsführer Schad. »Nicht alle Verträge sehen zum Beispiel Sondertilgungsmöglichkeiten vor. Und auch der Bereitstellungszins ist oft unterschiedlich.« Der Münchner Finanzwirtschaftler Fleischer rät Kunden zudem, nur bei Spezialisten mit einem nennenswerten Marktanteil anzufragen. »Effiziente Abwicklung und Größe sind in dem Geschäft alles«, sagt Fleischer. »Der kleine Vermittler um die Ecke kommt da nicht mit.« Auf noch günstigere Zinsen als zurzeit dürfen Kunden in den kommenden Jahren im Übrigen trotz des scharfen Wettbewerbs zwischen Banken und Vermittlern kaum hoffen. »Die Zinsen sind schon heute sehr aggressiv«, sagt Dr.-Klein-Vorstand Kannen. Und zudem steigt das allgemeine Zinsniveau derzeit kräftig.

IMMOBILIENKREDITE

Darlehen für jeden Bedarf

Annuitätendarlehen. Das Annuitätendarlehen ist der Klassiker unter den Baukrediten. Dabei zahlen Kunden monatlich eine feste Rate an die Bank, die sich aus Zins und Tilgung zusammensetzt. Gewöhnlich wird die Rate so kalkuliert, dass der Kunde zusätzlich zum Zins jährlich ein bis drei Prozent der Kreditsumme tilgt. Das Annuitätendarlehen eignet sich besonders für Kreditnehmer, die ihr Haus oder ihre Wohnung selbst nutzen und sie

in regelmäßigen Raten abbezahlen wollen. Annuitätendarlehen gibt es mit verschiedenen Zinsbindungsfristen. Dabei handelt es sich um den Zeitraum, für den die Höhe der Zinsen im Kreditvertrag festgeschrieben ist. Üblich sind Fristen zwischen 5 und 20 Jahren. Grundsätzlich gilt: Je länger die Zinsbindungsfrist, desto höher ist der Zinssatz. Endfälliges Darlehen. Diese Kreditvariante heißt auch Festdarlehen. Kunden gleichen während der Laufzeit nur die anfallenden Zinsen aus, sodass die Kreditsumme unverändert bleibt. Am Ende der Laufzeit tilgt der Kreditnehmer dann das gesamte Darlehen auf einen Schlag. Wer sich für ein endfälliges Darlehen entscheidet, erhofft sich im Vergleich zur klassischen Variante normalerweise einen finanziellen Vorteil, wenn er Kapital spart, statt zu tilgen. Ist nämlich die

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Die Lohnerhöhungen reichen aller Voraussicht nach auch in diesem Jahr nicht, um nur die Inflation auszugleichen. Das heißt, allein durch die Geldentwertung sinkt die Kaufkraft der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Durch die geplanten Steuererhöhungen beziehungsweise Kürzungen von Vergünstigungen wird sich dieser Trend noch weiter verstärken. Und damit natürlich auch die Möglichkeit gerade von Klein-und Mittelverdienern eingeschränkt, ihre private Altersvorsorge zu verbessern. Die aber will die Große Koalition gerade auch stärken. Wie sie dieses Ziel trotz der massiven Steuererhöhungen verwirklichen will, bleibt bislang ihr Geheimnis.

19 405

Anhebung der Versicherungssteuer

1735

Reduzierung der Pendlerpauschale

1265

Senkung des Sparerfreibetrages

635

Begrenzung des Kindergeldes auf 370 das 25. Lebensjahr ZEIT-Grafik/Quelle: BMF/einblick

Fehlstart Wechsel aus der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung 2001 bis 2005 (in Millionen) insgesamt

2,3

davon durch Vermittlung

2,4

2,2

1,1

0,7

2001

0,6

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2003

teil bedenken: Sinken die Zinsen wider Erwarten, sind sie trotzdem verpflichtet, den Kredit zu den ursprünglich vereinbarten Konditionen in Anspruch zu nehmen.

Forward-Darlehen. Bei einem ForwardDarlehen handelt es sich um ein Annuitätendarlehen, dessen Kreditsumme nicht sofort abgerufen wird, sondern erst innerhalb der kommenden Jahre. So können sich Immobilienkäufer den heutigen Zinssatz für die Zukunft sichern. Das empfiehlt sich in Zeiten steigender Zinsen. Die Kredite kommen entweder bei einer anstehenden Umschuldung zum Einsatz, oder wenn ein Kunde für die nahe Zukunft den Kauf einer Immobilie plant, sich aber noch nicht für ein bestimmtes Objekt entschieden hat. Für Forward-Darlehen kassiert die Bank in der Regel einen Bereitstellungszins, bis der Kunde die Summe abruft. Kreditnehmer müssen einen Nach-

Bauspardarlehen. Schließen Bausparkassen mit ihren Kunden Sparverträge ab, handelt es sich um Bausparverträge. Während der ersten Jahre der Laufzeit zahlen Kunden hier Kapital ein, das mit einer niedrigen Rate verzinst wird. Ist ein bestimmter Anteil der vorher festgelegten Bausparsumme erreicht, stockt die Bausparkasse das angesparte Kapital bis zu diesem Betrag auf und vergibt die Summe als Darlehen. Diesen Vorgang nennen Banken Zuteilung. Mit dem Bausparvertrag können künftige Immobilienkäufer von der Arbeitnehmersparzulage und der Wohnungsbauprämie profitieren. Zudem ist auch hier der künftige Darlehenszins gesichert. CHH/WITT

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0,8

0,4 2004

2005

Was hat die Bundesagentur für Arbeit in jüngster Zeit nicht alles getan, um ihr Image zu verbessern: Das alte Logo »Bundesanstalt für Arbeit« wurde für viel Geld durch den neuen Namen ersetzt. Und Arbeitslose werden im Behördensprachgebrauch nicht mehr Arbeitslose, sondern Kunden genannt. Die werden dann auch sogar noch fein differenziert in Markt-, Beratungs- und Betreuungskunden. Doch all diese semantischen Neuerungen haben die Vermittlungsqualität der Bundesagentur offenbar nicht durchschlagend verbessert.

Aktien Entwicklung des Aktienindex Dow Jones in den vergangenen drei Monaten 12 000

11 500

11 000

10 500

10 000

FEBRUAR

MÄRZ

APRIL

MAI

Weltbörsen 1296

(+ 0,5 %)

Dax

5851

(+ 1,0 %)

(+ 0,7 %)

TecDax

703

(– 1,6 %)

Euro Stoxx 50 3730 (– 0,7 %)

Nasdaq

2234

(– 2,7 %)

S & P 500 Nikkei

16 158

Stand: 16. 5. 2006, 19.00 Uhr, 3-Monats-Änderungen

Tops und Flops Entwicklung der drei besten und schlechtesten nationalen Aktienmärkte der Schwellenländer in den vergangenen vier Wochen

MINUS

+ 10,2

Marokko

+ 8,3

Peru

+ 7,4

Philippinen

– 12,1

Ägypten

– 13,3

Kolumbien

– 13,6

Thailand

PLUS in Prozent

Zinsen Anlagedauer

Stand 15.05.06

Täglich verfügbare Anlage Termingeld (Zinsen) Finanzierungsschätze Bundesobligationen Serie 148 Bundesschatzbriefe Typ A Bundesschatzbriefe Typ B Sparbriefe (Zinsen) Börsennotierte öff. Anleihen Pfandbriefe

Hypothekenzinsen von Banken

Rendite auf das angelegte Kapital höher als der Zins für den Kredit, bedeutet das für den Immobilienkäufer ein lohnendes Geschäft.

2,6

2,3

ZEIT-Grafik/Quelle: BA/einblick

1 Monat 1 Jahr 5 Jahre 6 Jahre 7 Jahre 10 Jahre

i Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/finanzen

"

Wer eine Eigentumswohnung kaufen oder ein Haus bauen will, kann die fällige Summe nur selten sofort in voller Höhe bezahlen – er braucht einen Kredit. Banken und Bausparkassen bieten ihren Kunden verschiedene Möglichkeiten: Bei Annuitätendarlehen oder endfälligen Darlehen bekommen sie sofort die Kreditsumme ausgezahlt, mit Forward- und Bauspardarlehen können sie für die Zukunft vorsorgen.

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Globale Märkte WIRTSCHAFT 31

DIE ZEIT Nr. 21

ie Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr, die der Immobilienfinanzierer Interhyp im März präsentierte, enttäuschten die Anleger nicht. Um satte 125 Prozent steigerten die Münchner die Zahl der vermittelten Kredite. Das Finanzierungsvolumen schnellte im Vergleich zum Vorjahr sogar um 127 Prozent in die Höhe. Die Aktionäre des Börsenneulings, dessen Anteilsscheine seit dem vergangenen September öffentlich gehandelt werden, hatten mit einer solchen Rekordentwicklung offenbar gerechnet: Seit der Erstnotiz hat sich der Kurs des Papiers glatt verdoppelt – der Baukreditvermittler pendelt um die Marke von 100 Euro. Die imposanten Wachstumsraten verdankt Interhyp freilich auch einem für junge Unternehmen typischen Basiseffekt. Denn auf dem Markt für Immobilienkredite spielt die 1999 gegründete Gesellschaft noch in der zweiten Reihe. So vermittelten die Münchner ihren Kunden im vergangenen Jahr Kredite in Höhe von etwa drei Milliarden Euro. Damit kommt Interhyp gerade einmal auf einen Marktanteil von 2,1 Prozent. Gründer und Vorstand Robert Haselsteiner glaubt allerdings fest an eine schnelle Eroberung des Marktes. Denn sein Unternehmen stehe für »die Zukunft der privaten Baufinanzierung«. So großspurig das klingen mag – ganz unrecht hat Haselsteiner mit seinem Eigenlob wohl nicht. Anbieter wie die Interhyp und ihre wichtigsten Konkurrenten Dr. Klein und Planethome haben in den vergangenen Jahren den Markt für Immobilienfinanzierung revolutioniert. Ihr Geschäftsmodell: Sie vergleichen für interessierte Bauherren und Wohnungskäufer die Finanzierungsangebote und Konditionen mehrerer Banken. Weil sie als Makler besonders viele Anfragen bündeln können und so mit den Kreditgebern Mengenrabatte aushandeln, erzielen sie dabei besonders günstige Zinsen.

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0,50 - 4,00 1,00 - 3,00 3,00 3,83 3,62 3,82 3,10 - 4,30 4,07 - 4,24 3,98 - 4,22 Effektivzins

5 Jahre fest

4,07 - 5,35

10 Jahre fest

4,31 - 5,10

Konjunktur Kennziffern ausgewählter Länder Länder Angaben in Prozent

Deutschland Euroland USA Japan Österreich

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BIPWachstum

zum Vj.-Quartal

Arbeitslosenrate

Inflationsrate

1,4

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8,1

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4,7

3,4

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4,3

4,1

0,3

IV/05-IV/06

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2,7

4,9

1,1

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ZEIT-Grafik/Quelle: Datastream

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WIRTSCHAFT

18. Mai 2006

" MACHER & MÄRKTE Bahn: Gefährdet Es gibt neuen Widerstand gegen die Pläne von Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee und Bahn-Chef Hartmut Mehdorn zur Privatisierung der Deutschen Bahn. Nach der parteiübergreifenden Kritik im Verkehrsausschuss des Bundestages haben jetzt die einf lussreichen Haushaltsexperten der SPD Bedenken gegen den integrierten Börsengang angemeldet, bei dem Bahnbetrieb und Schienennetz zusammenblieben. SPD-Haushälter Klaas Hübner warnte vor »unkalkulierbaren Risiken« für den Bundeshaushalt. Nach einem Börsengang könnte die Bahn über ein »Erpressungspotenzial« gegenüber dem Bund verfügen, heißt es in einem Eckpunktepapier der Arbeitsgruppe Haushalt der SPD-Bundestagsfraktion. Benötige die Bahn künftig frisches Geld, um zum Ausbau ihrer Marktstellung weitere Transport- und Logistikunternehmen zu kaufen, böte sich »früher oder später der Weg über eine Kapitalerhöhung an«. Der Bund, der mindestens 51 Prozent der Anteile behält, müsste dann eine Kapitalerhöhung »in jedem Fall mitgehen«. Die SPD-Haushälter warnen zudem vor »gewaltigen Kosten« für den Bundesetat für den Fall, dass der Bund von der EU-Kommission oder per Gerichtsentscheid verpflichtet würde, später das Schienennetz doch noch aus dem integrierten Konzern heraus zu übernehmen. Außerdem verlangt die Arbeitsgruppe, dass der Bundestag vor seiner Entscheidung über den Börsengang darüber informiert wird, wie die Privatisierungserlöse zwischen Bund und Bahn aufgeteilt werden sollen. WHZ

Apotheker: Geschmiert Das neue Jahrbuch von Transparency International Deutschland liest sich wie ein Handbuch für Betrüger. Mehrere Milliarden Euro würden jährlich in den korrupten Kanälen des Gesundheitswesens verschwinden, sagte Gabriele Bojunga, Sprecherin der AG Gesundheit von Transparency, Anfang der Woche. Vor allem Arzneimittelhändler bereichern sich offenbar in großem Stil. So sollen etwa Medikamente, die als Spenden für Krisengebiete bestimmt waren, in neue Verpackungen gehüllt, in deutschen Apotheken gelandet sein. In einigen Fällen seien Arzneimittel bei den Herstellern sogar gezielt als Spenden angefordert worden, um sie dann mit falschen Chargennummern in Deutschland auszuliefern. Hier würden sie zu Preisen verkauft, die weit über dem internationalen Durchschnitt lägen. »Offenbar sind die Gewinnspannen bei Arzneimitteln weit größer, als die Pharmaindustrie Pharmafirmen umschmeicheln die Apotheken nicht immer mit legalen Mitteln

Foto: M. Hanke/Visum

uns glauben machen will«, so Bojunga. Sie fordert, Arzneimittelverpackungen fälschungssicher zu machen. Zudem sollte der Großhandel verpflichtet werden, nur bei Herstellern zu kaufen. »Und die Preise von Medikamenten müssen schon im Zulassungsverfahren festgelegt werden«, so die Transparency-Mitarbeiterin. Letztlich sei der strukturellen Korruption im deutschen Gesundheitswesen durch neue Gesetze jedoch nicht beizukommen, fürchtet Bojunga: »Es muss eine Kultur entstehen, die Korruption im Medizinbereich ächtet.« Viel Hoffnung besteht nicht. Gerade erst hat der

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MURSCHETZ

Bundestag Pharmafirmen verboten, Medikamente zu Marketingzwecken kostenlos an Apotheker abzugeben, die diese dann teuer weiterverkaufen. Und schon sei aus Kreisen der Arzneimittelhersteller zu hören, man wolle das Verbot umgehen, berichtet Peter Schönhöfer, Herausgeber des Arzneimittel-Telegramms. Wie, ist zwar noch nicht recht zu erkennen. Doch angeblich werden Apothekern große Summen für »Schaufensterwerbung« angeboten. KPM

Blackberry: Gefürchtet Große Freiheit oder schweres Joch – Geschäftsleute streiten über den Wert von Blackberrys. Das Marktforschungsinstitut AC Nielsen hat herausgefunden, dass die Briten ganz versessen sind auf die mobilen E-Mail-Empfänger, während sich die Franzosen dagegen wehren, ihr Büro mit nach Hause zu nehmen. 21 Prozent aller britischen Unternehmen, die noch keine Blackberrys einsetzen, wollen sie in diesem Jahr einführen. In Frankreich sind es dagegen nur fünf Prozent, in Deutschland neun. »Die Briten wollen ein mobiles Büro«, sagt Frank Martell, Chef von AC Nielsen Europa, »48 Prozent von ihnen glauben, dass sich mobile Internet-Technologie lohnt, im Rest von Europa sind es im Durchschnitt 26 Prozent.« Unterdessen hat der Blackberry eine eigene Sprache geprägt. Franzosen nennen ihn gern den »Crackberry«, weil er süchtig mache und und exzessives Getippe auf der Minitastatur zum hässlichen »Blackberry-Daumen« führe. Verbreitet ist nun das »Blackberry-Gebet«: den Kopf nach unten senken, um während einer Konferenz unter dem Tisch seine E-Mails zu beantworten. JFJ

BGH: Geschickt Besitzer von so genannten Schrottimmobilien haben beim XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs wieder einmal das Nachsehen gehabt. Das Urteil, das die Karlsruher Richter unter dem Vorsitzenden Gerd Nobbe am Dienstag verkündeten, war mit Spannung erwartet worden. Der Senat hatte nämlich darüber zu entscheiden, welche Rechtsfolgen es hat, wenn einem Banken bei einem Haustürgeschäft abgeschlossenen Darlehensvertrag zum Kauf einer Immobilie keine Widerrufsbelehrung erteilen. Der Europäischen Gerichtshof hat für diesen Fall aus Gründen des Verbraucherschutzes einen Schadensersatz durch die darlehensgebenden Kreditinstitute für angemessen gehalten. Deutsche Gerichte sind im Prinzip an diese Rechtsprechung gebunden. Doch der Nobbe-Senat, der als außerordentlich bankenfreundlich gilt, hat einen rechtlichen Trick angewandt, um die Grundsatzfrage, welche konkreten Konsequenzen zugunsten der Darlehensnehmer aus diesem Urteil zu ziehen sind, nicht entscheiden zu müssen. »Ob aus der unterbliebenen Widerrufsbelehrung ein Schadensersatz der Kläger folgen könnte«, haben die Richter nämlich offen gelassen. Die Begründung: Der Kaufvertrag in den entschiedenen Fällen sei vor der Unterzeichnung des Darlehnsvertrages erfolgt. Selbst eine korrekte Widerrufsbelehrung hätte die Käufer nicht mehr vor den wirtschaftlichen Risiken des Kaufes schützen können. Die Frage nach Schadensersatz wegen fehlender Widerrufsbelehrung stelle sich nicht, so die Botschaft der Richter. Damit müssen die Betroffenen und die unteren Gerichte weiter auf eine Klärung der wesentlichen Frage warten: ob Verbraucher, denen Vermittler mit Einverständnis der Banken überhöhte Darlehen aufgedrängt haben, diese mit Zins- und Zinseszins zurückzahlen müssen – auch wenn sie von ihrem Recht Gebrauch machen, den Vertrag nachträglich zu widerrufen. MHF

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Heuschrecken willkommen Deutschland profitiert von vielen Finanzinvestoren. Trotzdem müssen die sich Regeln unterwerfen

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ndenkbar. So hätte man vor einem Jahr betitelt, was derzeit geschieht. Vergangene Woche gingen Mitarbeiter von Märklin in Göppingen auf die Straße, weil einige Alteigentümer den Verkauf des Modellbahnbauers an einen Finanzinvestor – an eine »Heuschrecke«! – blockierten. Für die Beschäftigten von Märklin war der bereitstehende Käufer keine alles kahl fressende »Heuschrecke«. Er war ein Retter in größter Not. Wenige Tage zuvor hatte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos das Engagement internationaler Finanzinvestoren in Deutschland als »segensreich« bezeichnete. Ende April segnete der Bund den Verkauf von 4,5 Prozent der Deutschen Telekom an den US-Investor Blackstone ab. Undenkbar wäre dies vor einem Jahr gewesen, weil das Wort von den »Heuschrecken« die öffentliche Debatte beherrschte. In die Welt gesetzt hatte es der damalige SPD-Chef Franz Müntefering, getrieben vom Wahlkampf und vom Unbehagen über in Deutschland noch unbekannte Akteure des Kapitalismus. Die IG Metall hob die »Aussauger« auf den Titel ihres Monatsmagazins. Die Medien berichteten über den Armaturenhersteller Grohe, der unter neuen Besitzern vom Börsenkandidaten zum Krisenfall mutierte und, unter künstlich hohen Schulden ächzend, rund 1200 Stellen strich. Bei der Deutschen Börse wiederum stürzte der Hedge-Fonds TCI eigenmächtig den Vorstandsvorsitzenden Werner Seifert. Ein Jahr später ist der Wahlkampf längst vergessen. TCI ist noch immer Aktionär der Börse und hat seinen Anteil sogar ausgebaut. Die Investmentgesellschaft Lone Star hat der Gewerkschaftsholding BGAG, zu deren Hauptaktionären die IG Metall zählt, den Sanierungsfall AHBR abgenommen, ein anderer Investor die Immobiliengesellschaft Baubecon. Die Stadt Dresden sanierte sich durch den Verkauf kommunaler Wohnungen an einen Finanzinvestoren, Konzerne wie DaimlerChrysler oder KarstadtQuelle bewältigten ihre Krise mit Verkäufen unliebsamer Sparten an Private-Equity-Fonds. Was im Einzelfall die Doppelmoral so manches Kritikers offen legt, zeigt in der Summe, dass die Heuschrecken ihren Schrecken verloren haben. Finanzinvestoren werden zunehmend als das anerkannt, was sie sind: legitime Akteure des Kapitalmarkts. Aus Feinden werden zwar keine Freunde, aber Partner. Diese neue Gelassenheit ist ein Gewinn. Sie wird indes nur Bestand haben, wenn die Finanzinvestoren das Vertrauen nicht verspielen und die Politik ihnen angemessene Grenzen zieht.

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Die deutsche Wirtschaft kann auf Finanzinvestoren nicht verzichten. Sie kaufen, wenn keiner mehr kauft. Sie spielen in der Firmenfinanzierung die Rolle, die einst den Banken zukam und die diese heute nicht mehr spielen wollen. Sie kaufen Kreditinstituten faule Kredite ab, verhelfen ihnen wie auch Gewerkschaften und Kommunen zu neuem Geld. Sie stoßen in Lücken, die der Wandel der kreditfinanzierten deutschen Volkswirtschaft hin zu einer kapitalmarktbasierten gerissen hat. Finanzinvestoren stützen den Entsorger Sulo bei der Übernahme des Konkurrenten Cleanaway und finanzieren die Expansion von Auto-Teile-Unger. Das alles ist per se weder gut noch schlecht. Allein es sind Fakten. Dass Finanzinvestoren um ihr Image kämpfen, liegt an Fällen wie Grohe. Auch schadet es der Glaubwürdigkeit, wenn namhafte Vertreter diverse Male betonen, man engagiere sich in der Regel fünf bis

sieben Jahre, dann aber schon nach zwei oder drei Jahren aussteigen. Gleiches gilt für Fälle wie den Grünen Punkt, wo der vom Investor selbst kurz nach der Übernahme eingesetzte Vorstandschef binnen Jahresfrist wieder ausgetauscht wurde – kompetentes Wirken sieht anders aus. Und wenn die Branche den Veranstalter des europaweit wichtigsten Stelldicheins in Frankfurt am Main nicht überzeugt, mehr als nur eine Hand voll deutscher Journalisten zuzulassen, schürt das Vorwürfe der Geheimniskrämerei. Zu viel Verschwiegenheit lässt kein Vertrauen wachsen. Finanzinvestoren müssen sich der Diskussion stellen. Diskussionswürdig ist vor allem die von Exbörsenchef Seifert geäußerte Idee einer Mindesteigenkapitalquote für Unternehmen. Insbesondere PrivateEquity-Fonds finanzieren Firmenkäufe gern mit Krediten, die sie dann den Unternehmen aufladen. Hebelwirkung heißt das im Jargon: Je größer der Anteil des Fremdkapitals, desto größer im Erfolgsfall die Rendite auf das eingesetzte Eigenkapital. Weil die Banken, darunter auch deutsche, den Finanzinvestoren seit ein bis zwei Jahren das Geld hinterherwerfen,

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VON ARNE STORN

beträgt der Eigenkapitalanteil bei solchen Deals statt der sonst üblichen 30 oder 40 Prozent heute vielfach nur noch 10 oder 20 Prozent. Nun sind Schulden per se nichts Schlechtes und, gezielt eingesetzt, ein sinnvolles Element der Unternehmensstrategie. Doch wenn die Verschuldung zur Überschuldung wird, wenn die Firmen kaum mehr die Kredite bedienen, geschweige denn investieren können, schadet das der Wirtschaft. Bürden Finanzinvestoren den Unternehmen zudem noch während ihres Engagements neue Schulden auf, nur für die kleine Zahlung zwischendurch, für Ausschüttungen an die eigenen Geldgeber, dann bleibt wenig übrig vom gern gepriesenen Ideal – vom Investor, der eine Firma über Jahre ruhig steuert, neues Wachstum generiert und erst am Ende durch den Verkauf seinen Schnitt macht. Die Rechte der Aktionäre sind das eine, der Grundsatz, dass Unternehmen nicht durch übertriebenes financial engineering für kleinste Krisen anfällig werden dürfen, das andere. Eine Mindesteigenkapitalquote, wie es sie für Banken schon heute gibt, könnte helfen, beidem gerecht zu werden. Was Hedge-Fonds betrifft, so bedarf es vor allem mehr Transparenz. Spät, aber zu Recht plant jetzt das Bundesfinanzministerium, dass Investoren Beteiligungen an börsennotierten Unternehmen von 2007 an melden müssen, sobald diese drei Prozent überschreiten – bisher lag die Schwelle bei fünf Prozent. Ebenfalls sinnvoll wäre es, die Wahrnehmung der Stimmrechte einzuschränken, solange solche Investoren nicht ein Mindestmaß an Informationen über sich bereitstellen. HedgeFonds greifen teils massiv in die Strategie von Unternehmen ein, bleiben selbst aber oft im Dunkeln. Das nicht zu akzeptieren heißt noch lange nicht, den Kapitalmarkt abzulehnen. Es heißt, Spielregeln zu setzen und keiner blinden Begeisterung zu frönen. Bleibt die Öffentlichkeit. Sie sollte Finanzinvestoren weder pauschal bejubeln noch pauschal verdammen. Zum einen verhalten sich Konzerne oft nicht besser, zum anderen übersieht die allgemeine Aufregung noch immer zu gern die Feinheiten des Einzelfalls. Nicht länger nur an der Verschuldung, sondern vor allem an der Entwicklung von Umsatz, Gewinn und Beschäftigtenzahlen sollte man Finanzinvestoren messen. Und nicht mehr – Unterschiede verwischend, Sprache missbrauchend – alle als Heuschrecken oder Helden bezeichnen.

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Heiler und Imame Freud-Serie: In Afrika hat die Psychoanalyse einen schweren Stand. Und in der Türkei muss sie gegen die Religion ankämpfen Seite 38

Schlechte Zeiten für Bakterien Es gibt ein neues Antibiotikum, existiert auch ein Markt dafür?

Foto: Hardy Müller für DIE ZEIT

Foto: Thorsten Klapsch für DIE ZEIT

14 MILLIONEN Deutsche trinken zuviel Alkohol, über 4 Millionen sind nikotinsüchtig

In der selbst gebauten Falle Neue Studien zeigen, wie man sich in eine Sucht hineinmanövriert – und wie schwer es ist, wieder herauszufinden

D

as Paradies der Süchtigen liegt in Winston-Salem, North Carolina. Hier gibt es Kokain auf Tastendruck – und jeder nimmt sich, so viel er mag. Die Folgen kann man sich ausmalen: Einer nach dem anderen verfällt der Droge, bis am Ende die ganze Gesellschaft high ist. Der übliche Geschäftstrieb erlahmt, Kinder werden vernachlässigt, soziale Beziehungen verkümmern, selbst das Essen interessiert nicht mehr. Alle Gedanken kreisen nur noch um Koks. Und doch gibt es Unterschiede: Selbst im Rausch bildet sich die gesellschaftliche Hierarchie ab. Sozial Schwache greifen schneller und öfter zur Droge; sie vertragen deren Wirkung schlechter; und bei Versorgungsengpässen gieren sie stärker nach dem Suchtstoff als die Angehörigen der Oberschicht. Zwar verfällt auch die Elite dem Koks, doch ist sie dessen zerstörerischer Kraft weniger ausgeliefert. Zum Glück nahmen an dem Rauschexperiment des Drogenforschers Michael A. Nader nur Makaken-Affen teil. Der Pharmakologe von der Wake Forest University untersuchte in seinem Labor also eine eher einfache Gesellschaftshierarchie. Umso erstaunlicher aber ist, dass selbst in einer Affenhorde der Suchtverlauf vom Sozialstatus abhängt. Das Ergebnis, kürzlich vorgestellt im Fachblatt JAMA, steht exemplarisch für eine moderne Drogenforschung, die unser Verständnis der Suchtkrankheiten derzeit nachhaltig wandelt: Immer

mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass mitunter ganz andere Dinge für eine Abhängigkeit verantwortlich sind als nur die spezifische Wirksubstanz. Mal erweist sich der soziale Status als entscheidender Faktor, mal prägen Gene oder Lebenserfahrungen die Abhängigkeit. Mitunter hängt die Drogenwirkung auch einfach von äußeren Umständen ab: Im Vietnamkrieg experimentierte rund die Hälfte aller US-Soldaten mit Heroin; zwanzig Prozent wurden

Wo beginnt die Sucht? In Göttingen unterwerfen sich Alkoholiker der radikalsten Therapieform Vier Fragen für den Selbsttest: Sind Sie gefährdet – oder schon süchtig? Mit dem Turboentzug für Junkies wurde Felix Tretter bekannt. Jetzt sucht er nach der mathematischen Suchtformel

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körperlich abhängig; nach der Heimkehr blieb jedoch nur etwa ein Prozent an der Nadel hängen. Solche Beobachtungen haben – zusammen mit den Ergebnissen der Hirnforschung – zu einem tiefgreifenden Umdenken geführt: »Drogenabhängigkeit« gilt heute weder als Charakterschwäche (wie man vor 20 Jahren gern glaubte) noch als unausweichliche pharmakologische Reaktion des Körpers auf eine Substanz (wie naturwissenschaftlich den-

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VON ULRICH SCHNABEL

kenden Mediziner argumentierten). Sie ist vielmehr das Ergebnis eines Lernprozesses, der immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Nicht nur persönliche Konstitution und Geschichte bestimmen den Weg des Süchtigen in die Abhängigkeit, sondern auch seine sozialen Beziehungen, sein Umgang mit Stress und die gesellschaftliche Akzeptanz einer Droge (Grafik, Seite 34). »Sucht wird regelrecht erlernt – wie Klavierspielen«, sagt der Suchtforscher Falk Kiefer von der Universität Heidelberg, »auch wenn es viele unterschiedliche Gründe gibt, warum aus einer individuellen Anfälligkeit eine echte Sucht wird.« Kiefer, zugleich leitender Oberarzt an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim, ist mit allen Fällen von Drogensucht konfrontiert. Zu seiner Klientel gehören Alkoholiker, Medikamentenabhängige und Junkies ebenso wie Esssüchtige und notorische Glücksspieler. So unterschiedlich diese Süchte auch sind – Kiefer sieht bei allen dasselbe Grundmuster: »Die Sucht setzt im Gehirn an und verändert das körpereigene Belohnungssystem – bis der Abhängige aus dem Teufelskreis der Sucht keinen Ausweg mehr findet.« Ein besonderes Tabu umgibt dabei ausgerechnet die akzeptierteste Droge in Deutschland: den Alkohol. »90 Prozent der Alkoholabhängigen werden von unserem Suchthilfesystem nicht erreicht«, sagt

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Kiefer, »obwohl 70 Prozent von ihnen mit alkoholbedingten Folgeerkrankungen wie Hypertonie oder Gastritis zum Arzt gehen.« Offenbar scheuen sich selbst die Hausärzte, Alkoholiker(innen) auf ihr Leiden anzusprechen. Und im alljährlichen Drogen- und Suchtbericht stehen stets die illegalen Substanzen (Heroin, Kokain etc.) im Zentrum des Interesses. Doch was sind die akribisch aufgeführten 1326 Rauschgift-Toten gegenüber den rund 40 000 Menschen, die laut Schätzungen alljährlich am Alkohol und seinen Folgen sterben? Unmöglich, das öffentlich zu thematisieren. Schon gar nicht zur Fußballweltmeisterschaft. So plant die deutsche Suchtstiftung zwar eine große Alkohol-Aufklärungskampagne – aber erst für 2007. »In diesem Jahr, wenn die WM läuft, geht das nicht«, sagt der Suchtmediziner und stellvertretende Stiftungsvorsitzende Götz Mundle pragmatisch. Das liegt nicht nur an den Werbeeinnahmen, die die Fifa den Bierbrauern verdankt, sondern auch am Januskopf des Alkohols: Einerseits ist er ein Nervengift, andererseits verheißt er Entspannung und Geselligkeit. Er bringt Partys in Schwung und fördert die Inspiration. Aber wo verläuft die Grenze zwischen förderlichem und schädlichem Konsum? Höchstens eine grobe Orientierung vermitteln die offiziellen Angaben (Seite 35). Denn sie berückFortsetzung auf Seite 34

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Penicillin nahm der Infektion den Schrecken. Seine Entdeckung war eine der wichtigsten in der Geschichte der Medizin. Doch Bakterien lernen dazu, und immer neue Antibiotika müssen veraltete ersetzen. In den letzten Jahren haben die Krankheitserreger viel verlorenes Terrain zurückerobert. Resistenzen gegen Antibiotika nehmen zu. Darüber hinaus: Die Pharmaindustrie verliert die Entwicklerlust. Nach einer Studie der amerikanischen Food and Drug Administration ist die Zahl der Antibiotikazulassungen in den vergangenen zwanzig Jahren um 56 Prozent gesunken. Das kommt besonders den mutierten Varianten des Eiter-Erregers Staphylococcus aureus zupass. Mit immer neuen Winkelzügen entwischt dieser Keim fast allen pharmakologischen Angriffen und bedroht vor allem das Leben immungeschwächter Patienten – etwa auf Intensivstationen. Wie tröstlich, wenn jetzt amerikanische Wissenschaftler aus den Laboratorien von Merck & Co in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts Nature ein neues Antibiotikum vorstellen, das anders wirkt als alle schwächelnden Vorgänger. Sogar die resistenten Staphylokokken kann es überrumpeln. 250 000 Mikroorganismen testeten die Forscher auf ihre antibiotische Potenz. Aus einer südafrikanischen Bodenprobe isolierten sie schließlich Streptomyces platensis. Der Keim birgt eine Substanz, Platensimycin genannt, die gegen resistente Staphylokokken und Enterokokken wirkt und im Mausversuch sehr gut verträglich ist. Platensimycin stört die Fettsäureproduktion in den Bakterien und verhindert so den Aufbau der bakteriellen Zellmembran. Völlig neue Wirkmechanismen wie diesen entdecken die Wissenschaftler sehr selten. Bei den Antibiotika gelang das in den letzten vierzig Jahren ganze zwei Mal. Nun wächst die Hoffnung auf einen therapeutischen Befreiungsschlag gegen die grassierende Resistenz. Noch ist nicht sicher, ob auch Menschen die Substanz gut vertragen. Die Forscher können zudem noch nicht sagen, ob die Krankheitserreger auch gegen Platensimycin schnell Resistenzen bilden werden. Und doch weckt der Stoff große Erwartungen. Wäre da nicht eine weitere offene Frage: Kann man mit Antibiotika überhaupt genug Geld verdienen? Medikamente, die nur kurzfristig verabreicht werden müssen, sind in der Pharmaindustrie nicht sehr beliebt. Die Hersteller mögen Dauerbrenner wie Cholesterin- und Blutdrucksenker. Damit ein Antibiotikum sich überhaupt dauerhaft verkauft, sind die Ärzte angehalten, es sparsam einzusetzen. Einen Ausweg gäbe es: Verlängerte Patentlaufzeiten könnten die Unternehmen reizen, Substanzen wie Platensimycin weiter zu entwickeln. Damit produzieren sie kaum kurzfristige Verkaufsrenner – aber Lebensretter. Und die tun dann auch dem Image gut. HARRO ALBRECHT

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Der Weg in die Sucht Genetische Ausstattung

Vater

Soziale Prägung Kindheitserlebnisse etc.

Mutter

DNA

Fotos: Thorsten Klapsch für DIE ZEIT

Empfänglichkeit für bestimmte Substanzen

NOCH EINE RUNDE? Spielen kann ebenso zur Sucht werden wie die Lust auf Süßes Individuelle Anfälligkeit

In der selbst gebauten Falle Fortsetzung von Seite 33 sichtigen keine individuellen Unterschiede. Und die sind gewaltig: Den einen macht schon das erste Bier besoffen, der andere spürt noch nach dem dritten kaum eine Wirkung. So lautet die erste Regel der modernen Suchtforschung: Jeder Mensch ist einzigartig. Und ebenso individuell ist sein Weg in die Abhängigkeit. Schon aus genetischen Gründen ist mancher besonders anfällig. Wer das Pech hat, Alkoholiker als Eltern zu haben, trägt ein drei- bis viermal höheres Risiko, selbst dem Alkohol zu verfallen. Suchtgefährdet sind paradoxerweise auch jene Rossnaturen, die als besonders standfest gelten. »Wer jeden unter den Tisch trinken kann, ist in Gefahr«, sagt Andreas Heinz, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Denn wer aufgrund seiner Konstitution weniger mit einem Kater kämpfen muss, gewöhnt sich die Droge leichter an – und rutscht eher in die Abhängigkeit. Eine ebenso große Bedeutung wie dieser »individuellen Vulnerabilität« schreiben Suchtforscher allerdings auch der Umwelt zu. Ob, wann und wie oft jemand zu Drogen greift, hängt von den Gelegenheiten, dem individuellen Umgang mit Stress und den gesellschaftlichen Umständen ab. Das lässt sich im Tierversuch gut nachweisen: Ratten, die allein in einem Käfig gehalten werden und die Wahl zwischen Leitungswasser und einer verdünnten Morphinlösung haben, konsumieren bis zu 20-mal mehr Morphin als Artgenossen, die in Gesellschaft leben, Spielgeräte und viel Auslauf haben. Aus diesem Versuch schloss der kanadische Psychologe Bruce Alexander schon in den achtziger Jahren: »Menschen werden drogensüchtig, weil sie sich aufgrund ihrer Lebensumstände dafür entscheiden.« Dem Wort »entscheiden« kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. Man kann kaum jemandem eine Sucht von außen aufzwingen. Denn – Regel zwei – die Entscheidung, Drogen zu nehmen, muss freiwillig erfolgen (oder als freiwillig empfunden werden). Nur dann setzt die Droge jene positive Rückkopplung im Gehirn in Gang, die dazu animiert, sie immer wieder zu nehmen. Das zeigt sich bei Schmerzpatienten: Jene, die sich mit einer Dosiermaschine selbst Morphin verabreichen, werden häufiger süchtig als jene, denen der Arzt das Mittel gibt. Und wer im Tierversuch viele Ratten abhängig machen möchte, sollte möglichst viele unterschiedliche Alkohollösungen zur Wahl stellen. Auch für Laborratten gilt: Erst die freie Entscheidung führt zur Unfreiheit der Sucht. Die Erklärung für dieses paradoxe Phänomen kommt aus der Neurobiologie und hört auf den Namen »Belohnungszentrum«. Wie drastisch diese Region im Mittelhirn das Verhalten zu beeinflussen

vermag, wiesen James Olds und Peter Milner schon 1954 nach: Als sie Laborratten feine Elektroden ins Hirn implantierten, sodass diese über einen Hebel selbst ihr Belohnungszentrum stimulieren konnten, taten die Tiere nichts anderes, als ständig diesen Hebel zu drücken – bis zur völligen Erschöpfung. Kein Wunder. Das Belohnungszentrum ist die zentrale Schaltstelle im Gehirn, um die Güte von Erlebnissen zu beurteilen. Dabei werden, vereinfacht gesagt, alle Erfahrungen als positiv bewertet, die eine Aktivierung des Zentrums bewirken – gutes Essen, Schokolade, Begegnungen mit netten Menschen, Musikhören, Sex. Sie werden als »wünschenswert« im Gedächtnis abgespeichert und bewirken dadurch einen Lerneffekt: Positiv markierte Erlebnisse wollen wir wiederholen, negative vermeiden. Ohne Belohnungszentrum wäre kein Tier lebensfähig. Selbst der Fadenwurm Caenorhabditis elegans ist darauf angewiesen. Setzt man bei ihm die (wenigen) Belohnungs-Neuronen außer Kraft, kriecht der millimeterlange Wurm an seiner Leibspeise, einem Klumpen Bakterien, einfach vorbei.

Verfügbarkeit

Gesellschaftliche Akzeptanz

Kokain belohnt das Gehirn 20-mal stärker als eine positive Begegnung Schnell fanden Forscher heraus, dass sich mit Drogen das Belohnungszentrum ähnlich aktivieren lässt wie mit Elektroden. Suchtstoffe lassen sich geradezu danach qualifizieren, wie stark ihre Wirkung auf diese Hirnregion ausfällt. »Kokain aktiviert das Belohnungszentrum 20-mal stärker als eine positive menschliche Begegnung«, sagt der Berliner Suchtmediziner Eckard Roediger, »das erleichtert unsere therapeutische Arbeit nicht gerade.« Greift man – aus Frust, wegen Stress oder mangels Alternativen – regelmäßig zu einem Suchtmittel, tritt Regel drei in Kraft: Die pharmakologische Wirkung der Droge verändert das Gehirn. Durcheinander gebracht werden vor allem die Transportwege des Botenstoffs Dopamin, der positiv besetzte Reize übermittelt. Durch regelmäßigen Drogenkonsum wird das Belohnungszentrum mit Dopamin regelrecht überflutet. Das führt zu zwei gegenläufigen Effekten. Zum einen wird die körpereigene Dopamin-Produktion gedrosselt. Normale Reize (Essen, Sex, Begegnungen) kitzeln das Hirn also immer weniger, dafür verlangt es mehr nach dem Drogenkick von außen. Zum anderen werden jene neuronalen Transportbahnen, die mit dem Drogenreiz zusammenhängen, bei häufiger Benutzung verstärkt. So erhöht sich die Zahl jener Schaltstellen, die Dopamin-Signale empfangen können. Im Endeffekt heißt das: Das Gehirn gewöhnt sich an die Droge – und wird gleichzeitig sensitiver dafür. »Das ist wie bei einer vertrauten Stimme, die wir selbst aus einem Chor herauszuhören vermögen«, erklärt Falk Kiefer. »Ähnlich filtert ein abhängiger Mensch speziell suchtassoziierte Reize aus

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Psychosoziale Faktoren

Arbeitslosigkeit, Langeweile etc.

Sucht

Im Teufelskreis Ist die Sucht erst einmal gelernt, hält sie sich selbst am Laufen. Äußere Einflüsse verlieren ihre Bedeutung ZEIT-Grafik: Phoebe Arns/Quelle: Falk Kiefer

Versuchung und Versuchte AbhŠngigkeiten in Deutschland (2005) Abhängige

Todesfälle

Tabak

4 300 000

ca. 110 000

Alkohol

1 700 000

ca. 40 000

Medikamente

1 300 000

?

Cannabis

240 000

Ð

Harte illegale Drogen

175 000

1326

180 000

Ð

(Heroin, Kokain etc.)

Spielsucht (GlŸcksspiel)

ZEIT-Grafik/Quelle: DHS/BKA/IFT

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seiner Umgebung heraus und fokussiert darauf.« Wird die Droge in diesem Stadium abgesetzt, reagiert das Gehirn mit unwiderstehlichem Verlangen, dem so genannten Craving. Zugleich – das ist besonders fatal – reagiert das Gehirn aufgrund der Abstumpfung des Belohnungszentrums kaum noch auf »normale« Schlüsselreize, die Gesunden attraktiv erscheinen. Der Süchtige zieht seine Befriedigung nur noch aus der Droge. Der Teufelskreis der Abhängigkeit schließt sich. Es gilt Regel vier: Ist dieses Stadium erreicht, verlieren jene Bedingungen, die dazu geführt haben, ihre Bedeutung. Der Kreislauf der Sucht wird zum Prozess, der nur noch von der Droge angetrieben wird und sich selbst aufrechterhält. Für Therapeuten ist dies eine höchst frustrierende Erfahrung. »Selbst wenn sie psychosoziale Faktoren definieren können, die zur Entwicklung einer Sucht beigetragen haben, und diese therapeutisch behandeln, führt dies häufig nicht zur Beendigung der Sucht«, erklärt Kiefer. Die Nervengifte haben Denken und Fühlen der Süchtigen verändert. In einer Suchttherapie muss der Patient daher zunächst körperlich entwöhnt werden, was beim Alkohol bis zu vier Wochen dauern kann; bei Heroinabhängigen (Seite 36) gelingt dies auch schon einmal mit einem Turboentzug in wenigen Tagen. Doch das Perfide an der Sucht ist, dass im Belohnungszentrum nicht nur die Wirkungen des Suchtstoffs gespeichert sind, sondern auch sämtliche Begleitumstände, die damit zusammenhängen. Auch das lässt sich am Tier nachweisen: Gewöhnt man Ratten an Heroin und verabreicht ihnen (im gewohnten Käfig) die doppelte Dosis, sterben 30 Prozent. Setzt man sie in einen fremden Käfig, sterben 60 Prozent an diesem »Schuss«. In vertrauter »Drogenumgebung« stellt sich der Körper schon auf das zu erwartende Nervengift ein. Beim Menschen kann schon der Anblick der Stammkneipe oder der alten Kifferfreunde als Auslösereiz fungieren. Daher nützt es wenig, wenn Suchtpatienten nur in der Abgeschiedenheit einer Klinik den Verzicht auf ihren Stoff üben. Sie müssen auch lernen, ihre Lebensumstände zu ändern. Die Suchtforschung ist deshalb eine lange Geschichte von Fehlschlägen. Die Euphorie über angebliche Wunderkuren hält nie lange. So wurde die Raucher-Entwöhnungspille Zyban als Idealmittel gegen das Nikotin-Craving gepriesen – bis sich die Studien als geschönt herausstellten und massive Nebenwirkungen bekannt wurden. Auch Medikamente gegen Alkoholsucht wie Naltrexon oder Acamprosat erwiesen sich nicht als Allheilpräparate. Zwar halfen sie manchen, von der Flasche wegzukommen – bei anderen zeigten sie keine Wirkung. Vor sechs Jahren träumte der Tübinger Suchtforscher Jochen Wolffgramm davon, das »Suchtgedächtnis« löschen zu können. An Ratten hatte er nachgewiesen, dass er ihnen das Verlangen nach ei-

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ner Droge austreiben konnte, wenn er ihnen diese nicht als Belohnung, sondern permanent verabreichte. So würde die Droge im Belohnungszentrum nicht mehr als positiv abgespeichert, ergo der Teufelskreis unterbrochen. Bundesforschungsministerium und Medien waren begeistert. Dann folgte die Ernüchterung: Beim Menschen funktioniert das Verfahren nicht. Nach vielen Pleiten löste Wolffgramm seine Forschergruppe auf und wandte sich anderen Themen zu. Das humane Suchtgedächtnis funktioniert eben doch anders als das von Ratten.

Rückfälle sind unvermeidliche Fallen auf dem Weg zur Abstinenz Wenn die These stimmt, dass Sucht wie Klavierspielen erlernt wird, folgt daraus eben auch, dass sie sich nie ganz löschen lässt. »Man kann zwar außer Übung kommen«, sagt Kiefer, »aber das erlernte Verhalten bleibt immer abrufbar.« In der Therapie werden Rückfälle deshalb auch nicht mehr, wie früher, als Versagen gedeutet, sondern als oft unvermeidliche Stolpersteine auf dem Weg, ein neues Verhalten zu erlernen. Wie dies im Einzelfall gelingt, ist individuell höchst unterschiedlich. »Der eine sagt: Wenn Sie mit mir über meine Kindheit reden, gehe ich gleich wieder. Der andere braucht gerade eine intensive psychotherapeutische Betreuung«, berichtet Kiefer. Am erfolgreichsten, so scheint es, ist eine Kombination von Psychotherapie und Medikamenten, die das Craving unterdrücken. Wenn dann noch Angehörige und Arbeitskollegen mitspielen, ist in den meisten Fällen viel gewonnen. Letztlich muss sich dieses Verständnis jedoch nicht nur bei Patient und Therapeut durchsetzen, sondern in der Gesellschaft. Noch immer schließen private Krankenversicherungen Suchterkrankungen häufig explizit aus ihrem Leistungskatalog aus. Der Charité-Mediziner Andreas Heinz hält es für »neurobiologisch nicht begründbar«, dass die gesetzlichen Kassen zudem nur die akute Entgiftung bezahlen, die weitere Rehabilitation dagegen den Rentenversicherungsträgern überlassen. Für eine solche Trennung ist im neuen Bild der Sucht kein Platz mehr. Ihm zufolge ist eine Drogenabhängigkeit nicht mehr – aber auch nicht weniger – als eine chronische Krankheit, die das Gehirn verändert und ohne massive Therapie nicht zu heilen ist. Letztlich wirft die Sucht auch konkret jene Frage auf, die Hirnforscher und Philosophen bislang rein abstrakt diskutiert haben: Hat der Mensch einen freien Willen? Zweifellos haben die Patienten der Suchtmediziner einen eigenen Willen. Doch nach jahrelangem Drogenkonsum ist dieser alles andere als frei. Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/2006/21/sucht Audio a www.zeit.de/audio

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AM ANFANG steht der Kick. Am Tag danach herrscht Katzenjammer

SIND SIE SÜCHTIG?

Therapie extrem

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olfgang R. kann sich nicht daran erinnern, wie er in die Klinik gekommen ist. 52 Jahre war der Hochschuldozent alt, als er im Hörsaal zusammenbrach. Er trank jeden Abend drei Flaschen Wein. Die Ärzte gaben ihm keine vier Wochen mehr. Ursel V. wollte Schluss machen. Hepatitis C und Alkohol hatten ihre Leber ruiniert, für eine Transplantation hätte sie trocken werden müssen. Doch ohne ein Glas Wodka, erzählt sie, konnte sie morgens nicht einmal aufstehen. Sie spülte eine Packung Schlaftabletten mit Wodka runter – und schleppte sich dann doch irgendwie zu einem Taxi. Dort sagte sie nur: »Auf die Neun, bitte, ich habe Tabletten genommen.« Da sei der Taxifahrer losgerast. »Die Neun« ist die Entgiftungsstation der Psychiatrischen Uniklinik Göttingen. Als Wolfgang R. und Ursel V. dort landen, ist es für sie eigentlich schon zu spät. Doch nach ein paar Tagen Entzug steht ein Therapeut vom benachbarten Max-PlanckInstitut für experimentelle Medizin an ihrem Bett und macht ihnen ein Angebot: Sie könnten an einer neuartigen Therapie für Alkoholiker teilnehmen. Er sagt, dass nur wenige diese Chance bekommen, dass die Therapie lange dauern und bestimmt kein Spaziergang werde. Denn es sei alles erlaubt, um sie vom Alkohol fern zu halten – Urin- und Blutuntersuchungen, Gespräche mit Eltern, Freunden und Arbeitgebern, Kontrollanrufe, unangemeldete Besuche von Therapeuten, die ihre Wohnung zur Not auch auf Knien nach Schnaps durchforsten. Und sollten die Patienten doch zur Flasche greifen, würde ein spezielles Medikament dafür sorgen, dass ihnen fürchterlich übel werde. Für Alkoholiker wie Wolfgang R. und Ursel V. gleicht das Programm einem Gang durch die Hölle. Heute, einige Jahre später, sagen beide: »Alita hat mir das Leben gerettet.« Das Kürzel Alita steht für Ambulante LangzeitIntensivtherapie für Alkoholkranke; dahinter verbirgt sich das derzeit erfolgreichste Konzept für die Therapie schwerst alkoholkranker Menschen. Wer an dem Programm teilnimmt, wird zwar nicht in eine Klinik gesperrt, aber dennoch zwei Jahre lang überwacht und umsorgt; er muss häufig zu kurzen Therapiesitzungen kommen – in den ersten drei Monaten nach dem Entzug eine Viertelstunde täglich. Und er muss so genannte Alkohol-Aversiva schlucken, Medikamente, die den Alkoholabbau im Körper verhindern; wer danach dennoch trinkt, erleidet eine schwere Vergiftung. Die Alita-Therapeuten – insgesamt sind es fünf bis sieben, die sich in einem Rotationssystem um die Patienten kümmern – sind 24 Stunden am Tag erreichbar. Umge-

kehrt gilt: Wer nicht zum verabredeten Termin erscheint, »den stöbern wir auf«, sagt die Psychiaterin und Alita-Projektleiterin Hannelore Ehrenreich. Denn es gelte unter allen Umständen zu verhindern, »dass es zum Rückfall kommt«. Alita ist der Albtraum aller Krankenkassen, lang, aufwändig, teuer. Doch die Göttinger haben Erfolg: Von 180 schwer alkoholabhängigen Menschen, die das Programm seit 1993 durchlaufen haben, ist über die Hälfte trocken geblieben. Das belegt eine Studie, die die Göttinger Anfang des Jahres vorstellten. Dabei hatten die Studienteilnehmer eine denkbar schlechte Prognose. Sie waren mindestens zehn Jahre alkoholkrank, die meisten hatten bereits gescheiterte Therapien hinter sich. Nach gängigen ambulanten Therapien werden 80 bis 94 Prozent solcher Patienten bereits in den ersten zwei Jahren rückfällig. Das Konzept der Göttinger bricht mit zwei weit verbreiteten Annahmen in der Therapeutenszene. Der erste Irrtum lautet: Alkoholiker müssten aus eigenem Antrieb trocken werden wollen, nur dann sei eine Therapie erfolgreich. Das hat Alita klar widerlegt. »Woher der Druck kommt – ob vom Patienten selbst, vom Arbeitgeber oder der Familie –, ist völlig egal«, sagt Ehrenreich, die in Göttingen die Division Klinische Neurowissenschaften am MPI für experimentelle Medizin leitet. Ihre Probanden hätten im Schnitt einen Liter Hochprozentiges pro Tag getrunken. »Da kann man keine Eigenmotivation mehr erwarten«, erzählt Ehrenreich.

Zum Wohl des Patienten brechen die Therapeuten auch Türen auf Zweiter Mythos: Ein Therapeut solle dem Patienten nicht hinterherrennen. In Göttingen sieht man das anders. Hier wird »aggressive Nachsorge« betrieben. «Wir haben unsere Patienten fest im Griff«, sagt Ehrenreich resolut. Ein Rückfall sei ein Notfall, und da sei alles erlaubt, was helfe. Erscheint ein Süchtiger nicht zum verabredeten Termin und ist telefonisch nicht zu erreichen, machen sich zwei Therapeuten auf die Suche. Sie durchkämmen Kneipen, klingeln bei ihm zu Hause, alarmieren Familie, Freunde, manchmal auch eingeweihte Arbeitgeber. Bisweilen brechen sie sogar Türen auf. Manchmal finden sie den Patienten mit einem Asthmaanfall im Bett. Oder nach einem epileptischen Anfall verletzt auf dem Boden. Meistens ist er total blau. Dann versuchen die Therapeuten, ihn auf »die Neun« zu bringen. Vor Therapiebeginn müssen die Alkoholkranken einen Vertrag unterschreiben, dass sie mit all diesen Maßnahmen einverstanden sind. Ursel V., die eine neue

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Rund 1,7 Millionen Menschen gelten in Deutschland als alkoholabhängig. Damit sind allerdings nur die harten Fälle erfasst, die einer stationären Behandlung bedürfen. Daneben gibt es noch jene, die einen »missbräuchlichen« oder »riskanten« Konsum betreiben – die Grenzen sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes fließend. Das Münchner Institut für Therapieforschung (IFT) schätzt die Zahl der Alkoholkranken und -gefährdeten insgesamt auf fast 14 Millionen Menschen, demnach hätte jede/r sechste Deutsche ein Alkoholproblem. Ostdeutsche trinken in der Regel häufiger als Westdeutsche, doch in der Zahl der Tage, an denen sie betrunken sind, liegen sie gleichauf. »Im problematischen Konsum herrscht deutsche Einigkeit«, sagt Roland Simon vom IFT. Besonders gefährdete Berufsgruppen sind naturgemäß »alkoholnahe« Berufe (Brauer, Winzer, Gastwirte) und »Durstberufe« (Köche, Metallgießer), die unter besonders heißen Bedingungen ausgeübt werden. Auch Hafen-, Bau- und Metallarbeiter greifen häufig zu mehr als einem Feierabendbier. Und dann wären da noch die so genannten Kontaktberufe: Vertreter, Journalisten, Schauspieler, Unternehmer, Politiker – kurzum alle, die viel unterwegs sind und häufig Menschen treffen. Was als »moderater« oder gesundheitlich unbedenklicher Alkoholkonsum gilt, istDefinitionssache.DieDeutscheHauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) hält bei Frauen zwei »Alkoholeinheiten«, bei Männern drei Einheiten pro Tag für »risikoarm«, wobei als Alkoholeinheit jeweils ein Achtel Wein oder ein kleines Bier gilt; ein Glas Schnaps oder andere harte Getränke zählen als 1,5 Einheiten. Doch diese Mengen sagen über das individuelle Suchtverhalten wenig aus. Denn das bemisst sich weniger nach der Trinkmenge, als vielmehr danach, ob man seinen Konsum selbst kontrolliert – oder von ihm kontrolliert wird. Zur schnellen Diagnose, ob ein Patient auf dem Weg in die Sucht ist, nutzen Ärzte den so genannten Cage-Test, der sich an vier (englischen) Stichwörtern orientiert: C für cut down drinking: Haben Sie jemals daran gedacht, weniger zu trinken? A wie annoyance: Haben Sie sich jemals über andere Menschen geärgert, weil diese Ihr Trinkverhalten kritisiert haben? G wie guilty: Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt? E für eye opener: Haben Sie jemals morgens Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder einen »Kater« loszuwerden? Wer mindestens zwei dieser Fragen mit Ja beantwortet, hat mit großer Wahrscheinlichkeit ein Alkoholproblem. Wer drei oder alle vier Fragen bejaht, sollte dringend mit einem Suchttherapeuten reden. BEL

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Foto: Alex Trebus für DIE ZEIT

Foto: Achim Multhaupt/laif

Kleiner Selbsttest

Wer an der derzeit erfolgreichsten Entwöhnungskur für Alkoholabhängige teilnimmt, muss auf einiges gefasst sein. Manchmal ruft der Arzt den Chef an. Oder er kommt nach Hause und kriecht unters Bett VON MARIEKE DEGEN Leber und ein neues Leben wollte, war einverstanden. »Ich wusste, die kümmern sich um mich«, erklärt sie, »da biste am Haken.« Sie unterschrieb noch am selben Tag. »Als ich gelesen habe, was die mit mir vorhaben, habe ich gesagt: Niemals!«, erinnert sich Wolfgang R. Unheimlich sei ihm das Forscheraufgebot hinter der Studie gewesen, »Professor Doktor Doktor Ehrenreich« war ihm regelrecht lästig, weil die einfach nicht locker gelassen und ihn immer wieder angesprochen habe. Nach drei Wochen habe er sich schließlich doch zur Therapie durchgerungen – »meiner Frau und meiner Tochter zuliebe«. Die täglichen Viertelstundensitzungen in der Uniklinik fand er anfangs überflüssig, einige Therapeuten habe er nicht gemocht. Aber Wolfgang R. hielt durch. Er meldete sich brav zur vereinbarten Zeit aus dem Urlaub, schluckte zu Beginn jeder Sitzung seine Alkohol-Aversiva und lieferte ein Becherchen KontrollUrin ab. Seit Beginn des Programms hat er – wie Ursel V. – nie wieder Alkohol angerührt. Andere Patienten waren nicht so standfest. Doch schon beim ersten Glas bekamen sie die Wucht der Akohol-Aversiva zu spüren: Der Kopf wird knallrot, man fühlt sich übel, muss erbrechen, und der Blutdruck spielt verrückt bis hin zum Kreislaufkollaps. Denn die Aversiva-Wirkstoffe Calciumcarbimid und Disulfiram verhindern die Bildung eines bestimmten Enzyms, der Acetalaldehyd-Dehydrogenase. Sie ist am Abbau des Alkohols vor allem in der Leber beteiligt, indem sie das giftige Alkoholzwischenprodukt Acetaldehyd in das harmlose Acetat umwandelt. Wer trotz Alkohol-Aversiva trinkt, erleidet eine Vergiftung durch das aufgestaute Acetalaldehyd. Bereits in den fünfziger Jahren wurden Disulfiram und Calciumcarbimid eingesetzt. Damals waren die Ärzte wenig zimperlich: Manche empfahlen den Patienten einen kräftigen Probeschluck auf die Aversiva, des Lerneffekts wegen. Die meisten verschrieben die Mittel wie Kopfschmerztabletten und überließen die korrekte Einnahme den Alkoholkranken. Die verzichteten zu Hause dann lieber ganz darauf oder bekamen von der leidgeprüften Ehefrau eine Extradosis ins Essen gemischt – beides war der Therapie nicht zuträglich. Als es Tote gab, wurden die Alkohol-Aversiva geächtet. Jahrzehntelang waren sie aus der Alkoholikertherapie in Deutschland verschwunden. Bei Alita schlucken die Patienten die Tabletten – reine Abschreckdosen, die unangenehm, aber nicht lebensgefährlich werden können – unter Aufsicht; außerdem werden sie immer wieder über die Wirkung aufgeklärt. Metaanalysen zufolge sind die Alkohol-Aver-

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siva wirksamer als moderne Anti-Craving-Substanzen wie Acamprosat, das seit zehn Jahren in Deutschland zugelassen ist. Acamprosat greift in den Neurotransmitter-Haushalt im Gehirn der Süchtigen ein und reduziert so deren Verlangen nach Alkohol. Doch mit solchen Medikamenten allein ist die Sucht meist nicht zu heilen. »Sucht ist zu komplex und individuell zu verschieden«, sagt Ehrenreich, mit einer Pille sei es nicht getan. »Eine Therapie muss an jeden einzelnen Patienten angepasst werden«, ergänzt AlitaTherapeut Henning Krampe, was dem einen helfe, helfe dem anderen noch lange nicht. Eine Erfolgsquote von 50 Prozent bedeutet eben auch, dass 50 Prozent nicht trocken geblieben sind. Rückfällig wurden die Patienten, die am längsten abhängig waren oder ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen hatten – nicht etwa jene, die wenig motiviert in das Programm gegangen sind.

Ursel V. hat viel Glück gehabt. Und inzwischen auch eine neue Leber Mittlerweile ist Alita unter Suchtforschern anerkannt, es wird in den neuesten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie für die Nachbehandlung von Alkoholikern empfohlen. Doch die Umsetzung in den Klinikalltag scheitert am Geld. Die Krankenkassen weigern sich, die Kosten von 18 000 Euro für das aufwändige Programm zu übernehmen. Dennoch soll Alita nun in mehreren deutschen Kliniken multizentrisch überprüft werden. Die ProVivere GmbH, eine Tochter der LBK Hamburg (ehemals Landesbetrieb-Krankenhäuser), bietet die Therapie bereits seit August 2005 an – bezahlen müssen hier allerdings die Patienten selbst. »Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht möglich, die angepeilte Zielgruppe zu erreichen – schwerstabhängige Alkoholiker, die meistens arbeitslos sind«, klagt die Hamburger Alita-Leiterin Karin Bonorden-Kleij. Derzeit nehmen ihr Programm gerade einmal fünf Patienten in Anspruch. Ursel V. und Wolfgang R. dagegen durften als Probanden kostenlos an der Alita-Studie teilnehmen. Dafür sind sie noch heute dankbar. Ursel V. hat inzwischen eine neue Leber und erzählt fröhlich, wie sie ihren Therapeuten erst neulich beim Einkaufen getroffen hat. Wolfgang R. arbeitet nach wie vor als Hochschuldozent, ist gerade Großvater geworden und fühlt sich nach eigenem Bekunden »blendend«. Nur eine Packung Disulfiram-Tabletten im Nachttisch erinnert ihn noch an seine Sucht. »Wenn ich irgendwo eingeladen bin und befürchte, schwach zu werden«, sagt er, »dann nehm’ ich einfach eine.«

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18. Mai 2006

Seit 25 Jahren rettet er schwer Drogenabhängige. Jetzt bringt

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DIE UTENSILIEN der Sucht – Therapeut Felix Tretter kämpft um das Leben von Junkies

FELIX TRETTER Mathematiker, Hirnforscher und Ärzte zusammen, um eine Formel gegen die Sucht zu finden

Foto: Michael Herdlein für DIE ZEIT; Farhad Parsa/zefa/corbis (re.)

VON MARIEKE DEGEN

Weg mit dem Besteck!

I

m Osten von München, zwanzig Zugminuten vom Zentrum entfernt, liegt Haar. SiebzigerJahre-Bauten stehen hier, Häuser mit Erkern und Liegestühlen im Garten oder solche mit Stacheldrahtzäunen und meterhohen Stahlwänden. Dazwischen Bäume und ein Café. Es riecht nach frischem Gras. Vorhin hat es einen epileptischen Anfall gegeben an der Einfahrt zum Gelände, am Wochenende hat sich jemand vor die S-Bahn geworfen. Alltag. »Gehörst nach Haar«, sagt man in München, wenn einer spinnt. Das Bezirkskrankenhaus Haar ist eine der größten Psychiatrien Deutschlands. Felix Tretter ist Nervenarzt, Psychotherapeut, Psychologe und Soziologe und leitet hier eine der größten Suchtabteilungen der Republik. Jahrzehntelang hat der Österreicher Sucht, Schizophrenien, Demenzen und Depressionen studiert – psychische Erkrankungen, die unter anderem durch gestörte Wechselwirkungen zwischen Botenstoffen in verschiedenen Hirnarealen entstehen. Diese Wechselwirkungen will Tretter jetzt in mathematischen Modellen zusammenfassen. Sie sollen helfen, psychische Erkrankungen besser zu verstehen. »Für den Job in der Psychiatrie braucht man Interesse am Menschen«, sagt er. »Und am Extremen.« ANZEIGE

Mit Extremen kennt Tretter sich aus. Extremer Freiheitsdrang und extreme Neugierde. Als Teenager interessierte er sich fürs Zeichnen, für Autokarosserien, für die umliegenden Dörfer. Nicht unbedingt für die Schule. Die Eltern schickten ihn auf ein Benediktiner-Internat nach Kärnten. Vom Kloster ging es zum Militär, seine »existenzielle Verwunderung« war die Gleiche. Atompilz!, brüllte der Ausbilder bei einer Übung und drückte den jungen

Tretter in eine Pfütze. Der stellte den Sinn der Übung infrage. Tretter wollte Antworten und bekam Arrest. Die Bevormundung im Internat, die Willkür des Militärs, die eigene Wehrlosigkeit: Wie funktioniert der Mensch?, fragte er sich. Was bestimmt er – und was bestimmt ihn? »Das Bewusstsein«, sagt Felix Tretter. Ein Thema, bei dem Ende der sechziger Jahre alle Disziplinen mitreden wollen. Bewusstsein ist das, was du erlebst und erlebt hast, sagt die Psychologie. Biochemische Vorgänge im Gehirn, sagt die Medizin. Es ist soziokulturell geprägt, sagt die Soziologie. Felix Tretter studiert Psychologie, Medizin und Soziologie an der Universität Wien. Berauscht vom Wissen, sitzt er zwölf Stunden am Tag in Vorlesungen. Tretter ist Anfang 20, und er ist besessen: vom Gehirn. 1971 liest er im Spiegel einen Artikel über den Hirnforscher José Delgado. Delgado pflanzte eine Elektrode in das Gehirn eines Stieres und stieg mit ihm in die Arena. Als sich das Tier auf das rote Tuch stürzen wollte, aktivierte Delgado per Funkgerät die Elektrode – der Stier blieb stehen. »Per Knopfdruck einfach von Wut auf Angst umschalten«, sagt Tretter, »Das hat mich fasziniert.« Diesen Forscher will er kennen lernen. Er schlägt sich per Anhalter durch die Vereinigten Staaten. Besucht Delgado in New Haven, den Neurowissenschaftler Horace Barlow in Berkeley, den Verhaltensforscher Frederic Skinner in Harvard. Er knüpft Kontakte zum Münchner MaxPlanck-Institut für Psychiatrie. Zehn Jahre lang studiert er dort unter anderem das Sehsystem in Katzengehirnen, er schließt in München und in Wien sein Soziologie- und Medizinstudium ab. Vor einem Kurs verirrt sich Tretter im Keller eines Wiener Krankenhauses. Eine verwirrte Frau geistert durch die Gänge, bis sie von Schwestern wieder eingefangen wird. Die Szene berührt ihn. Was bringt diese Patienten nur so durcheinander? Tretter will helfen. Das ist sein Einstieg in die Psychiatrie. Als Psychologe, Mediziner und Soziologe ist er prädestiniert für die Arbeit mit Suchtkranken: 1981 übernimmt er die Leitung einer Station für heroinabhängige Jugendliche im oberpfälzischen Parsberg, ein Jahr später wechselt er nach Haar. 1971, auf seinem Trip durch die USA, hat Felix Tretter nicht nur Hirnforscher kennen gelernt. Auch Hippie-Partys in San Francisco, »das war für mich alles nur bunt und lustig«. Dann sah er Menschen, die in einer Drogenpsychose übers Wasser gehen wollten und fast ertranken. Menschen mit Nadeln im Arm. 35 Jahre später, Bezirkskrankenhaus Haar, Akutstation. Hier landen die Neuen. Mal werden sie vom Rettungswagen hergebracht, mal von der Polizei. Sie hören Stimmen oder wissen

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ihren Namen nicht mehr, haben Medikamente, Alkohol oder Drogen oder alles durcheinander genommen. Im Wachraum steht Bett an Bett vor einem Kontrollfenster. Manchmal kommt es zu lebensgefährlichen Komplikationen wie Krampfanfällen oder Delirien, da müssen die Ärzte sofort eingreifen. Eine Frau rennt, eingewickelt in ihre Decke, vor dem Fenster hin und her. Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Übelkeit. »Heroinentzug fühlt sich an wie eine asiatische Magen-Darm-Grippe«, sagt Tretter. Drei bis vier Wochen lang. An diesen Symptomen kommt kein Patient vorbei, auch wenn sich die Entzugsphilosophie in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat. Der so genannte kalte Entzug aus den siebziger und achtziger Jahren – abruptes Absetzen des Heroins, ohne medikamentöse Behandlung von Schmerzen, Schlafstörungen und Verlangen – wurde von der Substitutionstherapie mit Methadon, später auch Buprenorphin, abgelöst. Beides sind künstliche Opiate, die länger wirken als Heroin, seltener eingenommen werden müssen und dadurch immer geringer dosiert werden können, über mehrere Wochen hinweg. Genauso lang dauern allerdings die Entzugssymptome an. Weil die Hälfte der Patienten die Methadon-Therapie abbrach, bot Tretter Mitte der Neunziger den Turboentzug an. Unter Vollnarkose bekamen die Süchtigen Opiatrezeptor-Antagonisten, litten einen Tag (in Narkose) unter schwersten Entzugserscheinungen und waren ihre körperliche Sucht innerhalb von einer Woche los. Vor drei Jahren wurde der Turboentzug in Haar allerdings wieder eingestellt: Der Aufwand war zu hoch, die Nachfrage zu gering. Medikamente sollen heute den gestuften Entzug erträglicher machen – und die Rückfallquote, derzeit immer noch 40 Prozent, verringern. Die Medikamententherapie sei noch lange nicht ausgereift, sagt Tretter. »Wir greifen da mit Substanzen in eine neurochemische Schieflage des Gehirns ein, ohne das Ergebnis beim Einzelnen zu kennen.« 144 Betten gibt es für Suchtpatienten in Haar; diejenigen, die von harten Drogen abhängen, sind meist gerade mal Anfang 20. An der Wand hängt der Tagesplan, 8.30 Uhr Spaziergang, 13 Uhr Medikamentenausgabe, 23 Uhr Nachtruhe. Dazwischen Gruppen-, Bewegungs-, Gestaltungstherapien. Auf jeder Station schließt Felix Tretter die Türen sorgfältig hinter sich zu, »damit keiner Drogen reinschmuggelt«. Und damit keiner ein Plätzchen findet, um sich umzubringen. Nach vier Wochen Entzug kommen die meisten – heute wie in den achtziger Jahren – in betreute Entwöhnungseinrichtungen auf dem Land. Sechs bis neun Monate dauert es, bis sich ihr Gehirn ohne

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Drogen reorganisiert hat. Länger, bis die Patienten gelernt haben, wieder zu leben. 25 Jahre Psychiatrie liegen hinter Tretter. Er hat Patienten mit Gesprächen und Medikamenten, mit Kunst und Literatur therapiert. Er hat das Bild von psychisch Kranken in der Öffentlichkeit und die Effizienz des Opiatentzugs unter Narkose untersucht. Seit 1981 lehrt er Psychologie an der Universität München, seit 1992 ist er Chefarzt des Suchtbereichs in Haar. Seine Station gilt in Fachkreisen als vorbildlich. Tretter hat 12-Jährige im Alkoholdelirium erlebt und 19-Jährige, die den Heroinentzug geschafft haben, aber an einer Überdosis Schlaftabletten starben. Er hat sich wütend und hilflos gefühlt »bei solchen Katastrophen«. Und er hat Daten über das Gehirn gesammelt. Die will er jetzt verknüpfen – mit Hilfe der mathematischen Systemtheorie. »Das Gehirn ist ein komplexes Netzwerk«, sagt er: 100 Milliarden Nervenzellen, die über 1015 Schaltstellen (die Synapsen) verbunden sind. Zwischen den Synapsen bestimmen vor allem sechs Neurotransmitter – Glutamat, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Gamma-Aminobuttersäure (Gaba) und Acetylcholin –, welcher Reiz über welche Nervenzelle in welche Hirnregion weitergeleitet wird. Oder nicht.

" Der Mensch … Felix Tretter wurde 1949 in Villach (Österreich) geboren. Als Kind wollte er Autodesigner werden, sein Studium finanzierte er sich bei Volvo in Göteborg als Lackierer. Tretter ist Wissenschaftler und Maler, er bewundert Pythagoras, Leonardo da Vinci und Goethe. Im Stau liest er zurzeit am liebsten Mathematik-Aufsätze – die seien »spannender als Kreuzworträtsel«.

… und seine Idee Die Komplexität des Gehirns und der psychischen Erkrankungen – auch der Suchterkrankungen – lässt sich mit Hilfe der Mathematik leichter darstellen. Felix Tretter träumt davon, dass verschiedenste Disziplinen wie Mathematik und Medizin besser vernetzt und »Mutanten« mehr gefördert werden – junge Wissenschaftler mit schrägen Ideen.

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Bei psychischen Krankheiten, auch durch Drogen und Medikamente, wird das Zusammenspiel der Neurotransmitter gestört. Tretter hat, im Fall der Schizophrenie, das Gefüge der sechs Botenstoffe und ihre Wechselwirkungen zu einem Modell zusammengefasst. Es sieht aus wie ein Mobile, das schief hängt. Mit Hilfe solcher Systemmodelle könne man eines Tages auch komplexe Symptomatiken und Wechselwirkungen von psychischen Störungen, Medikamenten und Drogen schneller identifizieren und besser behandeln, hofft er. Denn welche Komplikationen etwa bei Suchtpatienten auftreten können – epileptische Anfälle, Delirien, Psychosen –, lasse sich noch nicht voraussagen. Die Wechselwirkungen der Botenstoffe im Gehirn lassen sich mathematisch in sechs Differenzialgleichungen ausdrücken. Gemacht hat das noch keiner. »Allein kann ich das nicht«, sagt Tretter. Deshalb lud er im vergangenen Herbst Systemwissenschaftler, Psychiater und Pharmakologen nach Haar ein. Mit dabei war auch der schwedische Medizin-Nobelpreisträger Arvid Carlsson, der bereits Schaltkreismodelle vom Hirn entworfen hat. Zusammen entwickelten sie die ersten Schritte zur so genannten systemwissenschaftlichen Modellierung der Schizophrenie. Die Resultate sind publiziert, bald treffen die Forscher sich wieder. Einen akademischen Dinosaurier nennt sich Felix Tretter mit seinen drei Promotionen und einer Habilitation. Heute seien Spezialisten gefragt. »Umso wichtiger, dass die sich einmal im Jahr treffen, ihre Ergebnisse zusammentragen und wissenschaftliches Neuland begehen«, sagt er. Dass er den Weg zurück in die Forschung nicht ganz geschafft hat, bereut Tretter heute ein bisschen. Forschen kann er nur in seiner Freizeit, die klinische Arbeit steht im Vordergrund. Es wird immer etwas zum Schnüffeln, Rauchen, Schlucken und Spritzen geben und Menschen, die der Welt im Rausch entfliehen. Das könne man nicht verhindern, sagt Tretter. Aber man könne Entzüge erträglicher machen, bessere Drogenersatzstoffe finden. Daran wird Felix Tretter in der Klinik weiter arbeiten – als Manager: »Ich wäre lieber wieder näher am Patienten dran.« Doch als Chefarzt beschäftigt er sich in erster Linie mit Verwaltungsvorgängen. Zu den schweren Fällen wird er herangezogen. Und er ist auch ein bisschen die letzte Rettung auf der Suchtstation, »weil der Chef der Einzige ist, der immer sofort kommen kann«. Neulich kam ein Anruf von der Station. Ein Patient war abgehauen. Der Chef setzte sich in seinen Golf und fand ihn am S-Bahnhof Haar. Kommen S’, steigen S’ ein, sagte Felix Tretter. Der Mann stieg ein.

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SECHS FRAGEN IM STEHEN

Nein, nicht in ganz Deutschland. Nach der neuen Regelung können aber die Veterinär-Ämter für ganze Regionen Freilandhaltung wieder zulassen. Das gilt für Gebiete, in denen bisher keine infizierten Tiere gefunden wurden, die nicht in der Nähe von Feuchtgebieten mit hohen Wildvögeldichten liegen und die keine zu hohe Nutzgeflügeldichte aufweisen. Warum lockern Sie die Aufstallungspflicht gerade jetzt?

Das Problem ist, dass in einer Reihe von Beständen die Tierschutzprobleme zunehmen. Dazu kommt, dass die Betriebe, die Hühnereier aus Freilandhaltung produzieren, ihre Tiere höchstens zwölf Wochen lang einsperren dürfen. Dauert es länger, verlieren sie das Recht, ihre Eier unter dem Label Freiland zu verkaufen. Wir wollen die Freilandhaltung in Deutschland nicht kaputt machen. Das heißt, das Infektionsrisiko ist gar nicht gesunken?

Nein, das Risiko an sich ist nicht gesunken. Wir glauben aber, dass wir mit unserer Entscheidung eine gute Linie gefunden haben zwischen den Interessen der Geflügelhalter und dem Ziel, das Risiko möglichst klein zu halten. Aber wir können ganz bestimmt noch nicht sagen, die Vogelgrippe wäre kein Problem mehr.

Doch so B nah?

Wird es in Zukunft einen neuen Bauernkalender geben – im November alle Hühner rein, im Mai wieder raus?

Nein, das glaube ich nicht. Gerade um so etwas zu verhindern, versuchen wir uns ja im Moment an einem flexiblen Management, wo wir regionsspezifisch reagieren können. So wollen wir verhindern, dass wir im Herbst wieder ein Aufstallungsgebot für ganz Deutschland brauchen.

Mensch und Affe verbindet eine äußerst unordentliche Familiengeschichte, sagen Genetiker und legen peinlich genaue Erbgutanalysen vor VON KATRIN ZÖFEL

Werden wir das H5N1-Virus jemals wieder los?

Ich denke schon. Das Schöne an hoch ansteckenden Varianten wie H5N1 ist ja, dass sie ihre Wirte im Normalfall töten. Daher sind sie kurzlebiger. INTERVIEW: KATRIN ZÖFEL

isher war die Distanz zwischen Affe und Mensch angenehm groß. Vor mehr als 6,3 Millionen Jahren haben wir uns auf immer voneinander gelöst. Die Gattungen Pan und Homo, Schimpanse und Mensch, gingen fortan getrennte Wege. So weit der bisherige Stand der Forschung. Amerikanische Wissenschaftler stellen dieses beruhigende Weltbild nun von Grund auf infrage (Nature, Bd. 441,18. Mai 2006). Nach der ersten Trennung unserer Vorfahren von denen der Schimpansen könnten sich beide Linien noch Millionen Jahre lang immer wieder gekreuzt haben. Erst vor gut zwei Millionen Jahren scheint die Aufspaltung endgültig gewesen zu sein. Wie bitte?, fragt sich da der Mensch, so nah sind mir die haarigen Verwandten? Die Forscher verglichen die Genome von Mensch, Schimpanse, Gorilla und entfernten verwandten Primaten. Dabei stellte sich heraus, dass die Unterschiede in der Erbsubstanz von Genregion zu Genregion stark schwanken. Die geringsten Unterschiede finden sich auf dem X-Chromosom, dem Chromosom also, das unter anderem das Geschlecht des Nachwuchses festlegt.

Für die Genetiker sind unterschiedlich starke Abweichungen im DNA-Code gleichbedeutend mit unterschiedlich langen Zeitspannen, die zwei Arten ohne Gen-Austausch nebeneinander existieren. Denn sie gehen davon aus, dass die zufälligen Mutationen, die, summiert über die Jahrtausende, Evolution erst möglich machen, im Mittel über die Zeit etwa gleichmäßig verteilt auftreten. Je mehr Unterschiede im Code auftreten, desto länger muss also der letzte Gen-Austausch, die letzte Paarung, zurückliegen. Für Evolutionsbiologen heißt das, dass Artbildung auch bei Tieren offensichtlich wesentlich unordentlicher ablaufen kann als vermutet. Bisher waren Mischlinge als Motor der Entstehung neuer Arten nur aus dem Reich der Pflanzen bekannt. Unseren Ahnenforschern geraten dank der neuen Erkenntnisse einige sicher geglaubte Wahrheiten durcheinander. Bislang als Hominiden eingestufte Fossile, die aus dem langen Zeitraum stammen, in dem sich Affe und Mensch immer wieder folgenreich nahe kamen, müssen vermutlich ganz neu in den ohnehin rätselvollen Stammbaum einsortiert werden.

Die Formel 1 der Seifenkisten 5000 Kilometer mit 1 Liter Sprit. Studenten ermitteln den Sparweltmeister

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ufgebockt, ohne Heck und Nase, steht »Consomini« in der Werkhalle der Ingenieur-Hochschule im schweizerischen Le Locle. Der High-Tech-Rennwagen ist so schmal, dass sich nur ein zierlicher Fahrer hineinquetschen kann, mehr liegend als sitzend. Vorn hat das Gefährt zwei schlanke Räder, hinten eins. Sein Viertakt-Motörchen leistet 2,5 PS, als Tank dient ein Glaskolben von der Größe einer MiniSchnapsflasche. Die 30 Milliliter reichen für erstaunliche zwei Stunden Fahrt. Durchschnittsgeschwindigkeit: 30 Stundenkilometer. Der filigrane Untersatz wird vom 19. bis 21. Mai im südfranzösischen Nogaro am Shell EcoMarathon teilnehmen. 255 Schüler- und Studenten-Teams aus 21 Ländern haben sich gemeldet, darunter weit gereiste aus Brasilien und SaudiArabien und fünf Mannschaften aus Deutschland. Bei dem Event, den der Ölmulti seit 1985 jeden Sommer ausrichtet, geht es nicht um hohe Ge-

DER SCHLUCKSPECHT siegte 2005

schwindigkeiten, sondern um sparsamen Verbrauch. Als Brennstoff darf alles in den Tank, was antreibt: Benzin, Diesel, Wasserstoff, Äthanol, auch Solarzellen sind erlaubt. Um die Ergebnisse vergleichbar zu machen, wird der jeweilige Energiegehalt auf Benzin (95 Oktan) umgerechnet. Das Team aus Le Locle hofft, dass Consomini auf 25 Kilometern, die mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mindestens 30 Stundenkilometern zu absolvieren sind, mit einem Schnapsglas voll Normalbenzin auskommt. Das entspricht einem Liter auf über 2000 Kilometern. Ein Rekord wäre es aber nicht. Den hält seit vergangenem Sommer ein Team der ETH Zürich, das auf Brennstoffzellen-Technologie und Elektromotoren gesetzt hat. Sein »PAC-Car« kam mit umgerechnet einem Liter Sprit 5385 Kilometer weit.

Die Formel 1 der Seifenkisten ist mehr als ein Hobby ökobewegter Studenten. In den stromlinienförmigen Sparmobilen stecken viele Diplomund Doktorarbeiten. Motor, Elektronik, Karosserie, das meiste stammt aus eigenen Werkstätten. Hochschüler loten dabei die Grenzen des Machbaren aus, optimieren jede Schraube und treiben einen Aufwand, der an professionelle Autorennen erinnert. Kohlefaserwerkstoffe, Windkanaltests und Computersimulationen gehören zum Repertoire der angehenden Ingenieure. Im Schweizer Rekordauto wird die Fahrerin von einem Computer mit Informationen versorgt, in dem die Geometrie des Rundkurses zentimetergenau gespeichert ist. Der Rechner ermittelt die jeweils beste Rennstrategie. Angetrieben wird der PACCar von zwei Elektromotoren. Mit einem herkömmlichen Auto haben die Sparboliden kaum etwas gemein. Fahrkomfort oder Sicherheit? Fehlanzeige. In scharfen Kurven kippen die Renner reihenweise um, weil ihre schmale Statur zwar den Luftwiderstand verringert, aber Stabilität kostet. Gute Aerodynamik und die leichte Bauweise sind die wichtigsten Zutaten für ihren geringen Spritverbrauch. Der Consomini mit seiner federleichten KohlefaserKarosserie wiegt nur 30 Kilo. Trotz aller Anstrengungen wird das Leichtgewicht aber vermutlich keinen Rekord aufstellen. Denn sein Benzinmotor ist einer Brennstoffzelle im Wirkungsgrad hoffnungslos unterlegen. Scharfe Konkurrenz kommt dagegen aus Baden-Württemberg, wo Studenten der Fachhochschule Offenburg den »Schluckspecht« konstruiert haben. Wie stark die Schwaben sind, haben sie bereits im vergangenen Jahr bewiesen, als sie in der Kategorie der Dieselfahrzeuge siegten (siehe Bild). Jetzt sind sie auf die Brennstoffzelle umgestiegen. Anders als der PAC-Car hat ihr Schluckspecht nur einen Elektromotor, der in die Radnabe integriert ist und somit ständig mitläuft. Sein hoher Wirkungsgrad mache ihn »auch kommerziell interessant«, ist Teamleiter Ulrich Hochberg überzeugt. Der Ingenieur peilt einen Rekord an – allerdings noch nicht in diesem Sommer. »Wir stehen mit dem Auto noch ganz am Anfang. Das erste Rennen brauchen wir für das Feintuning.« KLAUS JACOB

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DIE ZEIT 3. Fassung

STIMMT’S?

Ich befinde mich schon seit langem mit einer Freundin im Streit, ob es richtig ist, dass zu häufiges Duschen oder Waschen die Haut verdünnt. Ich bin mir der großen pädagogischen Bedeutung dieser Frage PATRICK BAUMGÄRTEL, LEIPZIG durchaus bewusst.

i Die anderen Exponate finden Sie im Internet: www.zeit.de/38_dinge

Geht die Überwachung von Wildvögeln weiter?

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Übertrieben sauber

Die Frau muss schwer getragen haben. Erst auf dem Sterbebett gesteht die 91Jährige, sie sei schwanger – seit 46 Jahren. Nach ihrem Tod solle man das Kind doch bitte herausholen. Der Arzt findet in ihrem Leib eine kürbisgroße Kapsel. Als er sie mit einem Beil öffnet, kommt ein teilweise mumifizierter, teilweise zu Kalk gewordener männlicher Fötus zutage. Das Steinkind von Leinzell aus dem Jahr 1720 ist eines von 38 Objekten, die von heute an im Kleinen Senat der Universität Tübingen gezeigt werden (bis zum 28. Mai). 38 Dinge heißt die Ausstellung, die eine Diskussion über die Zukunft der universitären Sammlungen anregen soll. Wie viele andere traditionsreiche Universitäten hortet auch die Tübinger ungezählte Schätze in ihren Kellern und Schränken. Unter den 38 Dingen befindet sich eine Maori-Schnitzerei, gesammelt bei der ersten Südsee-Expedition von James Cook, ebenso wie die Reagenzgläser Friedrich Mieschers, in denen zum ersten Mal die Erbsubstanz DNA isoliert wurde. Nun soll ein Universitätsmuseum entstehen.

Herr Lindemann, dürfen Hühner jetzt in ganz Deutschland wieder an die frische Luft?

Ja, das Monitoring geht weiter. Wir bemühen uns weiterhin zusammen mit den Ländern, Wildvögel, die tot aufgefunden werden, möglichst flächendeckend auf das H5N1-Virus zu testen. Das wird jetzt, wenn die Tiere nicht mehr in Schwärmen zusammen sind, sondern vereinzelt an ihren Brutstellen sitzen, allerdings wesentlich schwieriger.

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Steinfrucht

GERT LINDEMANN ist Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium

Foto [M]: Jacques Larin/DPPI/Shell

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Freiheit für das Huhn

Foto [M]: Santiago Engelhardt/Greenpeace

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Foto: Jensen/Universität Tübingen

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Wer glaubt, dass man sich durch zu viel Waschen langsam die Haut wegschrubben würde, der hat eine falsche Vorstellung von ihrer Anatomie. Sie ist keine feste Hülle, die sich mit der Zeit abnutzen kann. Vielmehr befindet sie sich in einem ständigen Prozess der Erneuerung. Ganz außen befinden sich tote Hornzellen, die wir unentwegt abstoßen. Aus den tieferen Schichten wachsen neue Zellen nach. Unsere Haut von heute ist also eine andere als die vor vier Wochen. Eine mäßige mechanische Abnutzung gehört zum Programm, auf die Dauer bleibt die Haut jedoch gleich dick. Dass zu häufiges Waschen nicht unbedingt gut für die Haut ist, liegt nicht an der mechanischen Beanspruchung, sondern an der chemischen. Die Natur hat es vorgesehen, dass wir ständig von einem Wasser-Fett-Film überzogen sind, der mit seinem pH-Wert von 5,5 nicht nur die Haut geschmeidig hält, sondern auch Mikroorganismen abwehrt. Diesen Film zerstören wir mit jedem Waschvorgang. Besonders an empfindlichen Stellen des Körpers kann zu viel Waschen daher die Haut austrocknen oder gar entzünden. CHRISTOPH DRÖSSER Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s«-Archiv: www.zeit.de/stimmts Audio a www.zeit.de/audio

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ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Mutter sein und gleichzeitig arbeiten hält fit. Das

legt eine britische Studie nahe, in der Daten zu Gesundheit, Kinderzahl, Beziehungen und zur beruflichen Laufbahn von Frauen im Alter von 26 bis 54 Jahren ausgewertet wurden (J. of Epidemiology & Community Health, Nr. 60, S. 484 bis 489). Frauen, die Kinder groß gezogen und gearbeitet hatten und dazu noch stabile Beziehungen unterhielten, waren seltener von Krankheit und Übergewicht betroffen als Hausfrauen oder alleinerziehende Mütter. Erdöl entsteht anders, als bisher angenommen. Anorganische Sulfidverbindungen könnten der Anfang organischer Kohlenstofffixierung sein und damit die Grundlage für die Entstehung von Erdöl und Erdgas (Science online, 11. Mai 2006). Bisher wurde diese Rolle bakteriellen Prozessen zugeschrieben. Schweizer Forscher konnten in Seesedimenten belegen, dass die ersten Reaktionen der Kohlenstofffestlegung chemischer Natur sind, angetrieben durch Schwefelverbindungen.

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WISSEN

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ach dem Krim-Krieg wurde Zypern, meine Heimat, von den Osmanen an die Briten verpachtet, und nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Insel dem britischen Empire zugeschlagen. Meine Mutter war die Tochter eines Kadis (muslimisch-religiösen Richters) der osmanischen Zeit, ihre Familie verlor während des Übergangs Besitz und Ansehen. Mein Vater, der aus einer türkisch-zypriotischen Bauernfamilie stammte, und meine Mutter waren Grundschullehrer und Anhänger der türkischen Revolution unter Kemal Atatürk. Ich selbst wurde 1932 auf Zypern geboren, als die Insel unter britischer Kolonialverwaltung stand, und ich weiß noch, wie stolz mein Vater war, als meine Mutter eines Tages ohne ihre traditionelle schwarze Kopfbedeckung aus dem Haus ging und damit eine »moderne« Frau geworden war. Obwohl sie aus einer religiösen Familie kam, spielte die Religion bei uns zu Hause keine Rolle. Meine Schwestern und ich wurden nicht in religiösen Dingen unterwiesen, sondern bekamen Geigenstunden und spielten Beethoven. Meine Familie erlebte diese kulturelle Transformation nicht als einzige. Anfang dieses Jahres hielt ich mich als Gastprofessor in Ankara auf. In der ersten Woche wurde ich von einem Kollegen, einem renommierten Medizinprofessor in den Sechzigern, zum Essen eingeladen. Seine Frau, eine kultivierte Dame, die jahrzehntelang keine Kopfbedeckung getragen hatte, erschien mit Kopftuch, war also Muslimin geworden – das genaue Gegenteil dessen, was meine Mutter praktiziert hatte. Fast siebzig Jahre nach Atatürks Tod muss man in der Türkei von einer Art »gestörter Identität« sprechen. In der Gesellschaft konkurrieren zwei Ideale miteinander: Westlich orientierte Liberale und Nationalisten verstecken sich hinter Atatürk, die Islamisten hinter dem Propheten Mohammed. Ich will hier nicht über die Ursachen dieser gesellschaftlichen Veränderungen und deren Folgen sprechen, aber die Frage, auf welche Resonanz die Freudschen Ideen in der Türkei stoßen, sollte vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

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Ein potenzieller Dozent fragte mich, ob die türkischen Psychiater und Psychologen, denen er begegnen werde, Alkohol trinken würden. Gegenwärtig gibt es in den drei Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir türkische Psychoanalytiker, die meist in Frankreich ausgebildet wurden. Fast alle Patienten, die in der Türkei eine Analyse machen, sind westlich orientiert und führen ein modernes Leben. Gleichwohl kommen sie, wie ich, aus einer muslimischen Kultur und werden mit bestimmten Erfahrungen konfrontiert, die ihre westlichen Zeitgenossen nicht machen müssen. Beispielsweise sind alle männlichen muslimischen Analysanden als Kind beschnitten worden. Eine wichtige Rolle in der Freudschen Theorie spielen der Ödipus-Komplex und die Kastrationsangst, die nicht nur Probleme schafft, sondern auch den Ödipus-Komplex überwinden hilft. Wird durch die Beschneidung die Kastrationsangst türkischer Knaben verstärkt, ihre Regressionsneigung unterstützt? Nicht, wenn die Beschneidung gemäß muslimischer Tradition vorgenommen wird. Vielmehr kann der Knabe seine männliche Identität leichter entwickeln. Der Knabe unterwirft sich erst Allah/ Vater und wird symbolisch kastriert. Die Beschneidung dient unbewusst als »Vergeltung« für inzestuöse Wünsche, da der Knabe aber dieses »Opfer« bringt, darf er ein Mann werden. Ein komplizierteres Problem für türkische Kinder ist das Heranwachsen in der Großfamilie, in der neben der leiblichen Mutter viele andere weibliche

Aufgeklärte Beschneidung Die Psychoanalyse erreicht in der Türkei nur jene, in deren Alltag die Religion keine Rolle spielt – die Tradition aber sehr wohl VON VAMIK VOLKAN

Die ganze Welt der Seele (5) Eine Reise auf den Spuren Freuds (siehe auch www.zeit.de/freud). In den vergangenen Ausgaben erkundeten wir die Psychoanalyse in Indien (ZEIT Nr. 17/06), China (Nr. 18/06) und der arabisch-islamischen Welt (Nr. 20/06). In dieser Woche bereisen wir die Türkei und Afrika. Nächste (und letzte) Folge: Freud in Südamerika

Leiden türkische Jungen verstärkt unter Kastrationsangst?

Illustration: Daniel Matzenbacher für DIE ZEIT/www.matzenbacher.de

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Personen – Großmütter, Tanten und andere Verwandte – in die Rolle einer Mutter schlüpfen. In einer solchen Umgebung kann sich das Kind einer zweiten oder dritten älteren Frau zuwenden, wenn es sich von der leiblichen Mutter vernachlässigt fühlt. In der westlichen Fachliteratur wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass in einer erweiterten Familie mit mehreren weiblichen Bezugspersonen die Individuation des Kindes behindert werde und dass es günstiger sei, in einer westlichen Kernfamilie heranzuwachsen. Wenn verschiedene »Mütter« als Personen wahrgenommen werden, die nicht zueinander passen, kann das gewiss zu Problemen führen. Beispielsweise habe ich viele Amerikaner behandelt, die im Süden der Vereinigten Staaten aufwuchsen, mit einer leiblichen weißen Mutter und einer schwarzen Nanny. Diese Menschen hatten gewöhnlich Mühe, die weiße und die schwarze Mutter zu integrieren, und waren später nicht imstande, bestimmte Ereignisse in ihrem Leben zu integrieren. Aber in einer traditionellen Großfamilie können »Mütter« für das Kind durchaus ein Kontinuum darstellen, und das Kind kann seine Persönlichkeit genauso gut entwickeln wie ein Kind in einer westlichen Kleinfamilie. Wir wissen auch, dass das Heranwachsen mit nur einer Mutter nicht zwangsläufig eine psychisch gesunde Entwicklung garantiert. In der Türkei können Konflikte zwischen verschiedenen weiblichen Bezugspersonen gewiss Probleme verursachen, doch die sind analysierbar. Mädchen, die in traditionellen Familien heranwachsen, empfinden Scham und Schuld, wenn sie vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verlieren. Doch in den urbanen Regionen, wo die meisten potenziellen Analysanden leben, verändert sich diese Einstellung allmählich. Unter »modernen«, ja sogar unter eher traditionell orientierten Türken sind Gespräche über Sexualität nicht mehr problematisch. Nach meiner Erfahrung können die meisten Patienten, nach anfänglichem Zögern, recht offen über ihre sexuellen Erlebnisse und Fantasien sprechen. Der Prophet Mohammed war ein Waisenkind. Später heiratete er eine sehr viel ältere Frau,

Die Psychoanalyse kam Anfang der dreißiger Jahre in die Türkei, als das Land viele europäische Juden aufnahm, die vor den Nationalsozialisten auf der Flucht waren, wie etwa der Arbeitsrechtler Oscar Weigert mit seiner Frau Edith, einer Psychoanalytikerin, die mit Genehmigung der türkischen Regierung praktizieren durfte. Einer ihrer Analysanden begann, die Schriften Freuds ins Türkische zu übersetzen. Seitdem sind viele unterschiedliche Übersetzungen erschienen, und viele türkische Intellektuelle haben über Freud und die Psychoanalyse geschrieben. Meine erste Begegnung mit Freud hatte ich als Teenager, als ich in der Bibliothek meines Vaters auf eine türkische Ausgabe der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie stieß. Später dann, als ich Anfang der fünfziger Jahre in Ankara Medizin studierte, war es Professor Rasim Adasal, der Direktor der Abteilung für Psychiatrie, der mein Interesse für die Psychoanalyse weckte. Er selbst bezeichnete sich als »türkischer Freud«, und in unseren Lehrbüchern wurden wir mit den psychoanalytischen Theorien bekannt gemacht. Nach dem Medizinstudium ging ich in die USA und wurde Psychoanalytiker. Meine enge Beziehung zur Psychoanalyse in der Türkei begann Mitte der siebziger Jahre, als ich ein Jahr als Gastprofessor an meiner alten Universität verbrachte und anschließend begann, 21 Psychiater inoffiziell zu Analytikern auszubilden. Vor zwei Jahren wurden in Istanbul (unter der Ägide der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung) zwei offizielle Lehrinstitute mit internationalem Beirat eröffnet. Diese beiden Schulen haben eine lange Geschichte. Ein Psychoanalytiker ist natürlich nicht völlig frei von Vorurteilen, und so wurde von einigen Leuten tatsächlich die Frage gestellt, ob Psychoanalyse in einem muslimischen Land unterrichtet werden könne. Jemand machte den scherzhaften Vorschlag, alle Bewerber genauestens unter die Lupe zu nehmen, um sicher zu sein, dass man es nicht mit Anhängern von al-Qaida zu tun habe.

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der er bis zu ihrem Tod treu blieb. Anschließend hatte er viele Frauen. Als Psychologe könnte man sagen, dass Mohammed nach dem Verlust der »Mutter« bereit war, seine Sexualität freier zu leben, wenn auch unter Befolgung religiöser Vorschriften. Manchmal frage ich mich, ob auch das traditionelle Fasten im Ramadan so interpretiert werden könnte, dass der Muslim erst auf die mütterliche Liebe (Nahrung) verzichtet, um anschließend seine Sexualität ausleben zu können. Die Religion ist eine Kraft, die die Bedürfnisse und Handlungen des Einzelnen regelt. Es ist der religiöse Fanatiker, der nach immer weiteren Vorschriften und Regeln ruft. Aber welcher Fundamentalist – Muslim oder nicht – würde schon eine Analyse machen.

Ihr Turban erinnert die Patientin daran, dass sie als Kind eingewickelt wurde Eine andere Sitte, die in der Türkei zu speziellen psychologischen Problemen führen kann, ist das Einwickeln von Kleinkindern, das in traditionellen, ländlichen Gebieten praktiziert wird. Vor einigen Jahren hatte ich mit dem Fall einer jungen Istanbulerin zu tun, die den Kopf turbanartig mit einem Tuch bedeckte. Zunächst sprach sie von religiösen Gründen, doch im Laufe der Behandlung konnte sie ihre Kopfbedeckung mit der Erfahrung verknüpfen, dass sie in den ersten beiden Lebensjahren gewickelt worden war. Der Turban erinnerte sie, zunächst unbewusst, an die problematische Körpererfahrung, die sie als Kleinkind gemacht hatte. Kann ein muslimischer Psychoanalytiker einen Nichtmuslim behandeln? Gewiss, genau so, wie ein jüdischer oder christlicher Analytiker einen Muslim behandeln kann. Mein Analytiker war Jude. Ich habe mit einer muslimisch-türkischen Analytikerin zusammengearbeitet, die einen jüdischen und einen katholischen Türken behandelte. Selbstverständlich musste sie sich über die Lage der Minderheiten in der Türkei informieren und sich in die spezifischen Erfahrungen dieser Gruppen einfühlen. Die Angehörigen des jüdischen Patienten hatten den Holocaust in der Türkei überlebt, aber die Ängste und Unsicherheiten aller Juden jener Zeit steckten auch in ihnen. Die Analytikerin konnte ihren Patienten behandeln, nachdem ihr klar geworden war, dass die wesentlichen Symptome des Mannes mit seinen inneren Holocaust-Bildern zu tun hatten. Gibt es besondere Bereiche der Freudschen Theorie und Technik, die von muslimischen Psychoanalytikern ausgebaut oder modifiziert werden können? Freud hat seine »Verführungstheorie« bald widerrufen und sich stärker auf die internen Wünsche des Kindes und die Abwehrmechanismen konzentriert. Die äußeren traumatischen Ereignisse, die die Entwicklung des Einzelnen beeinflussen, erschienen ihm weniger bedeutsam. Die meisten psychoanalytischen Theoretiker nach Freud waren Juden, die in Theorie und Praxis die unvorstellbar schmerzhaften Holocaust-Erfahrungen ausklammern mussten. Die klassische Psychoanalyse hatte sich ausschließlich, oder jedenfalls vorrangig, um die interne Welt zu kümmern. So berichtete Melanie Klein, die ihre eigene Schule begründete, über die Analyse eines jungen Patienten im England des Zweiten Weltkriegs, ohne die deutschen Luftangriffe und andere externe Ereignisse zu erwähnen. Als »muslimischer Analytiker« hielt ich es für sinnvoll, aktuelle externe Ereignisse – sogar die überkommenen mentalen Bilder von historischen Ereignissen, die unsere Vorfahren vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten prägten – in die psychoanalytische Arbeit einzuflechten und zugleich die besondere Rolle der internen Welt des Patienten zu untersuchen. Kurzum, in der Türkei ist die Freudsche Psychoanalyse nicht mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden. Allerdings gehören Analytiker und Patienten einem Teil der Bevölkerung an, der ein modernes Leben führt und in dessen Alltag die Religion keine besonders große Rolle spielt. AUS DEM ENGLISCHEN VON MATTHIAS FIENBORK Vamik Volkan studierte in Ankara Medizin. 1957 wanderte er in die USA aus, wo er zum Psychiater und Analytiker ausgebildet wurde. Der vielfach ausgezeichnete Arzt erforscht die Psychologie internationaler Konflikte. Er ist Professor Emeritus für Psychiatrie an der University of Virginia und arbeitet gegenwärtig in Wien

Freud und die Baba Iawos

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ham, der Urahne der Afrikaner, soll aus Feuer und Überschwang bestanden haben. Seit der Antike ist von Afrika als Land der »Feuermenschen«, der leidenschaftlichen Menschen die Rede. Es scheint also ein verwegenes Unternehmen, die Psychoanalyse und Afrika einander näher bringen zu wollen. Die Psychoanalyse ist so sehr in der philosophischen Tradition der Aufklärung verwurzelt, derart diskret und wohlerzogen in ihrer Anwendung, so individualistisch und antiklerikal, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, wie sie ihren Weg nach Afrika finden sollte, auf den Kontinent der Intensität, der Gemeinschaft, des Spektakulären. Afrika ist auch heute noch der Kontinent – im Grunde der einzige –, der sich aus seinem Innersten heraus der Globalisierung widersetzt, Widerstand leistet gegen die Auflösung der Bande des Stammes, des Clans und besonders der Bande zwischen Menschen und Nichtmenschen. Darüber hinaus gab es etwas, das seit Freuds Totem und Tabu (1912) – dem Versuch, »das Seelenleben der Wilden« zu interpretieren – die Psychoanalyse an einer Begegnung mit den Afrikanern hinderte, weil ihr ihre Denkmodelle im Weg standen. Und auch wenn Psychoanalytiker wie Géza Roheim Feldforschung betrieben, wenn sie nach Australien oder Mittelamerika gingen, bestand ihr Ansatz darin, eine Hermeneutik kollektiver Gestaltungen zu konstruieren. Die Psychoanalyse interpretierte die Praktiken eines abstrakten Anderen, ließ aber nirgends Raum

In Afrika hat es die Psychoanalyse schwer. Gegen die Macht der Geister und traditionellen Heiler kommt sie kaum an VON TOBIE NATHAN

für das, was die wirklichen Anderen sagten, die liebten und arbeiteten, sprachen, logen und mogelten. Keinerlei Beachtung schenkte sie jenen aus dem Busch und dem Urwald, die es verstanden, ihren Fetischen Nahrung zu geben, mit Geistern umzugehen und sich gegen bedrohliche Angriffe der NachtWesen zu verteidigen. Es gelang ihr nicht, sich ohne Dünkel einzulassen auf die Gedanken und Praktiken der Baba Iawos (»Meister des Geheimnisses«) der Yoruba aus Benin, der Boram Xam Xam (»Meister des geheimen Wissens«) der Wolof in Senegal oder der Nganga aus dem Kongo. Zweifellos veränderte sich diese Situation mit dem Auftreten der ersten afrikanischen Psychiater, zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Anbruch der Zeit der Unabhängigkeit. Das ursprüngliche Ansinnen von Totem und Tabu erfuhr eine Umpolung. Es war nicht länger so, dass afrikanische Verhaltensweisen durch psychoanalytische Denkmodelle interpretiert wurden, sondern

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vielmehr gewann Afrika Modellcharakter für die moderne Psychiatrie. Dort konnte man lernen, wie man seine Irren nicht wegsperrt, wie die Gemeinschaft bei der Krankenpflege einzubeziehen ist, wie die Mitarbeit traditioneller Heiler im Rahmen eines modernen Gesundheitssystems gefördert werden kann – alles Prinzipien, die Bestandteil der therapeutischen Traditionen Afrikas waren. Eine der ersten afrikanischen Psychoanalytikerinnen, Solange Faladé, erklärte, sie sei stolz, dass die »schwarze Rasse« die Welt Derartiges lehren könne. Faladé war eine direkte Nachfahrin des Königs Behanzin von Abomey, gehörte seit 1952 zu den Getreuesten um Jacques Lacan und leitete die Freudsche Schule bis zu ihrem Tod im Jahr 2004. »Die Heiler sind unsere Kollegen«, lautete auch der Ansatz von Henri Collomb zu Beginn der sechziger Jahre. Er hatte die Abteilung für Neurologie und Psychiatrie am Krankenhaus von Dakar reformiert und ein Team zusammengestellt, das zehn Jahre

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lang die psychoanalytische Denkweise mit der afrikanischen Erfahrung konfrontierte. In dieser »psychoanalytischen Schule von Dakar« erschien 1966 Œdipe africain (»Der afrikanische Ödipus«) von Marie-Cécile und Edmond Ortigues, die davon berichteten, wie senegalesische Kinder in einem psychoanalytischen Setting in ihrer eigenen Sprache zu Wort kamen. Im selben Team hat der Anthropologe András Zempléni seine berühmt gewordene Studie über das therapeutische System der Wolof und der Lebou in Senegal veröffentlicht. Aber die bedeutendste Wirkung der »Schule von Dakar« war die psychoanalytische Ausbildung einer ganzen Generation afrikanischer Psychiater, die in ihren Ländern dann eine moderne Psychiatrie begründeten: Moussa Diep und später Momar Gueye in Senegal, René Gualber Ahyi und Thérèse Agossou in Benin und Togo, Mathias Makang Ma Mbog in Kamerun, Baba Koumaré in Mali. Die soziale Situation in Afrika hat sich kaum gebessert. Es gibt zwar heute in Afrika eine Reihe afrikanischer Psychiater und Psychoanalytiker, doch üben sie, weil eine entsprechende Klientel kaum vorhanden ist, ihren Beruf in ihren Ländern nur in seltenen, umso bemerkenswerteren Fällen aus. Man begegnet ihnen vielmehr in Europa oder in Nordamerika, wo es für sie äußerst schwierig ist, ihre Rolle als Vermittler zwischen den beiden therapeutischen Traditionen wahrzunehmen. In Frankreich bot die ethnopsychiatrische Bewegung Gelegenheit, im Rahmen der psychosozialen Betreuung von

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Migranten auf eine schwer vorstellbare Begegnung zwischen Afrika und der Psychoanalyse hinzuarbeiten, namentlich im Zentrum Georges Devereux an der Universität Paris VIII. Aber es sieht weiter so aus, als gäbe es eine unüberwindbare Kluft. Trotz der Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin zeigt eine kürzlich in Senegal durchgeführte Studie, dass immer noch 90 Prozent der psychiatrisch Kranken die traditionellen Heiler aufsuchen. Das Wesen ihrer Arbeit – sie ist sozial und kollektiv und beruht auf dem Verhandeln mit nichtmenschlichen unsichtbaren Wesenheiten – ist der Praxis der Psychoanalyse diametral entgegengesetzt. Was das bedeutet, habe ich selbst erlebt: Ein Mann aus Senegal, der fünf Jahre lang in psychoanalytischer Behandlung gewesen war, wurde von seinem Psychoanalytiker zu mir geschickt, weil dieser sich darüber wunderte, dass bei diesem verfeinerten Intellektuellen traditionelle Vorstellungen weiterhin fortbestanden. Der Mann sagte mir: »Die psychoanalytische Behandlung war sehr interessant. Ich habe die Weißen beim Denken beobachten können. Jetzt aber muss etwas Ernsthaftes in Angriff genommen werden – ich muss mich heilen lassen.« AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON BERTRAND SCHÜTZ Tobie Nathan ist Ethnopsychiater, war als Vertreter der Agentur der französischsprachigen Universitäten bis 2003 in Burundi und wurde zum Berater für Kultur und Kooperation in Tel-Aviv ernannt Dieser Text erschien zuerst in der französischen Literaturzeitschrift »Magazine Littéraire«

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»Na, das geht aber doch nicht«, sagte jemand ganz dicht neben ihr, und als sie erschrocken aufschaute, sah sie, dass der Mann vom anderen Ende des Abteils herübergerückt war. Sylvia betupfte noch ein letztes Mal ihre Augen und wandte sich hochmütig ihrem Spiegelbild in der dunklen Scheibe zu, aber ihr Herz schlug heftig. Sollte sie die Notbremse ziehen? Sie warf einen verstohlenen Blick auf das Spiegelbild des Mannes und sah, wie er aufstand und etwas aus einem großen Lederkoffer holte. Dann drehte er sich zu ihr um und hielt ihr etwas hin. Sie wandte den Kopf gerade weit genug, dass sie es sehen konnte: eine ungefähr dreißig Zentimeter breite, dreißig Zentimeter lange und fünfzehn Zentimeter hohe, mit violetten Bändern umschnürte Pralinenschachtel. »Nein, danke«, sagte Sylvia so damenhaft, wie sie konnte. »Ich mache mir nichts aus Pralinen.« Trotzdem musste sie ein paarmal schlucken, denn der Nachmittagstee, den sie mit Tante Jane vor der Reise eingenommen hatte, war zwar sehr vornehm, aber nicht sehr nahrhaft gewesen – zwei dünne Scheiben Butterbrot, eine Zimtwaffel und ein fast durchsichtiges Stückchen Kümmelkuchen. Dennoch dachte sie nicht daran, von einem Fremden etwas zu essen anzunehmen. »Na – nun mal los«, redete der Mann ihr gut zu. »Alle kleinen Mädchen essen gern Süßes, das weiß ich doch.« – »Mein Herr«, sagte Sylvia kühl, »falls Sie noch einmal mit mir reden, muss ich die Notbremse ziehen.«

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4 OLIVER POSTGATE/PETER FIRMIN Die Sage von Noggin dem Nog 5 ANNIE M. G. SCHMIDT Von Hexen, Riesen und so weiter 6 RICHARD UND FLORENCE ATWATER Mr. Poppers Pinguine 7 AGNES SAPPER Das erste Schuljahr 8 ELEANOR ESTES Die Hexenfamilie 9 ADOLF HIMMEL Frederico Oktopod und Tünne Tintenfisch 10 SID FLEISCHMAN Firma Zaubermeister & Co. 11 WILLIS HALL Und Dinosaurier gibt es doch … 12 JOAN AIKEN Wölfe ums Schloss 13 T. H. WHITE Schloss Malplaquet oder Lilliput im Exil 14 PENELOPE LIVELY Der Geist des Apothekers 15 PAULINE CLARKE Die Zwölf vom Dachboden

ÜBER DIE GOTHIC NOVEL

Wölfe ums Schloss

Schöner Schauder

Band 12 der ZEIT Kinder-Edition: In Joan Aikens Schauerroman wirbeln sanfte Mädchen, böse Gouvernanten, verloren geglaubte Eltern, Gänse, Rechtsanwälte,Wölfe und Waisenkinder durcheinander, dass es nur so eine Art hat VORGESTELLT VON SUSANNE GASCHKE

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2 EDITH NESBIT Drachen, Katzen, Königskinder 3 JELLA LEPMAN (Hrsg.) Die Katze mit der Brille

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Leseprobe

1 ASTRID LINDGREN Die Puppe Mirabell und andere Geschichten

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in armes Mädchen (ersatzweise: ein Junge wie Oliver Twist) wird aus dürftigsten Verhältnissen erhoben in die helle, warme Welt liebevoller Fürsorge, wie sie eine bürgerliche oder gar adlige Familie geben kann – doch das Glück ist bald bedroht durch Schurken, durch finanzielle Katastrophen in den Kolonien, durch Krankheit oder Tod der neuen Gönner. So ergeht es dem kleinen Lord Fountleroy; Sarah, der kleinen Prinzessin, und manchem Helden bei Charles Dickens. Die britische Schriftstellerin Joan Aiken hat 1962 mit Wölfe ums Schloss einen Roman für junge Leser verfasst, der durchaus in den 1830er Jahren geschrieben sein könnte, in denen er spielt: Nur dass es den in Aikens Buch regierenden König James III. nie gegeben hat, ebenso wenig wie damals ein Kanaltunnel zwischen Calais und Dover existierte, durch den ausgehungerte Wolfsrudel auf die Britischen Inseln gelangten. Junge Leser, zumal mit deutschem Hintergrund, werden diese historischen Unschärfen nicht selbst erkennen können – und doch geben sie der Handlung eine Art schrägen Anschnitt, eine leichte Verzerrung, die ihre konventionelle Spannung eigentümlich macht, zeitlos und darum faszinierend für heute neun- und zehnjährige Leser. Sylvia Green lebt bei ihrer kirchenmausarmen Tante Jane in London. Deren reicher Bruder Sir Willoughby beschließt, wenigstens seiner Nichte ein besseres Leben zu verschaffen, und holt Silvia zu sich nach Schloss Willoughby. Dort soll sie zusammen mit seiner Tochter Bonnie im Luxus aufwachsen: Ein Pony wartet auf sie; sechs Paar handgenähte Schlittschuhstiefel, weil man ihre Schuhgröße nicht kannte; Spielzeug aller Art und von morgens bis abends Fasanenpastetchen.

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Illustration: Sybille Hein

Doch dieser erste Aufbruch ins Glück hat nicht gut begonnen und muss deshalb vorzeitig enden: Sylvia selbst spürt, dass es nicht richtig sein kann, ihre Tante in Not und Einsamkeit zurückzulassen. Und das Schicksal ist offenbar auch dieser Auffassung. Es schickt Bonnies Eltern auf eine lange Seereise, weil Lady Green sich von einer Krankheit erholen muss. Um Kinder und Besitz soll sich derweil Fräulein Lätitia Slighcarp kümmern, eine Cousine vierten Grades von Sir Willoughby – schon auf den ersten Blick eine strenge, kalte Person. Auf den zweiten Blick ist sie eine voll ausgewachsene Schurkin, die nur danach trachtet, Bonnie und Sylvia das Leben zur Hölle zu machen. Entsetzt werden die Kinder Zeugen, wie Fräulein Slighcarp die Dienerschaft entlässt (bis auf die Trinker und Raufbolde), wie sie Sir Willoughbys Papiere verbrennt und mit hämischer Freude in den Kleidern von Bonnies Mutter auftritt. Mit kaum erträglicher Brutalität verkündet sie Bonnie, dass ihre Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen seien – und steckt die fassungslosen Kinder kurzerhand in eine Waisenschule. Diese Schule – Arbeitshaus, sollte man wohl eher sagen – wird geleitet von Slighcarps Freundin und Komplizin Mrs. Brisket, die ihre wehrlosen Schützlinge wie Sklaven behandelt. Die Brotscheiben, die es in diesem Etablissement zum Frühstück gibt, sind so dünn wie Papier; kaum eine Tasse Wasser wird den Kindern gegönnt. Sie werden nicht versorgt, wenn sie krank sind, und müssen von morgens bis tief in die Nacht hinein schwer arbeiten. Ein ausgefeiltes Spitzelsystem macht es den Mädchen zudem schwer, einander in ihrer Not zu helfen. Trotz aller Widrigkeiten gelingt Bonnie und Sylvia eine tollkühne Flucht aus dieser

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»Schule« – und auf dem langen, langsamen Weg, den sie im beginnenden Frühjahr gemeinsam mit einem Gänsehirten und dessen Vögeln nach London zurücklegen, erholen sie sich von den Entbehrungen in der staatlichen Fürsorgeeinrichtung. In London aber wartet der nächste Schreck auf sie: Tante Jane hat die Zeit ohne ihre Nichte schlecht verkraftet, sie ist unterernährt und scheint kurz vor dem Tod zu stehen. Sylvia hätte sie nicht allein lassen dürfen! Das sagt den Kindern sehr ärgerlich ein junger Arzt, der die Tante behandelt und zu dem Bonnie und Sylvia trotz seines barschen Auftretens Vertrauen fassen. Der Arzt weiß, anders als die Kinder, was zu tun ist, und durch sein entschlossenes Handeln wird ein großes Finale angestoßen. Ein Finale, in dem Rechtsanwälte, Polizisten, Gänse, Wölfe, Kinder, Waisen, betrügerische Cousinen und trotz aller Widrigkeiten heimgekehrte Eltern durcheinander wirbeln, dass es nur so eine Art hat. Wölfe ums Schloss ist nicht zuletzt ein Bildungsroman: Bonnie und Sylvia lernen (zugegebenermaßen auf recht drastische Weise), dass das behütete, verhätschelte Leben, in dem einen Dienstboten auf Händen tragen und Mütter einem jeden Wunsch von Augen ablesen, nicht wirklich auf Lebenskrisen vorbereitet. Und Joan Aiken gibt damit ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Reichtum, dass auch Glück im Leben eigentlich nicht ererbt sein darf, sondern erarbeitet werden muss. Joan Aiken: Wölfe ums Schloss Band 12 der ZEIT Kinder-Edition, 208 S., Einzelpreis 8,50 ¤; gesamte Reihe 99,– ¤ Informationen unter www.zeit-kinderedition.de, unter 0180-545 56 06 (12 Cent/Minute) oder im Buchhandel

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Großbritannien rühmt sich, nicht nur das Genre des Romans im Allgemeinen, sondern auch die Gothic Novel und damit den Vorläufer aller Sex-and-Crime-Geschichten erfunden zu haben. Im 18. Jahrhundert trafen sich die Ehefrauen reicher Bürger, um die Bestseller ihrer Zeit gemeinsam zu durchleiden. Zeitgenossen berichten von Ohnmachtsanfällen während dieser Zusammenkünfte, was angesichts des Stoffes der Texte nicht erstaunt. Zumeist geht es um eine behütete Tochter aus gutem Hause, deren unschuldige Schönheit einen geheimnisvollen Mann mit dunklem Haar, schwarzen Augen und zweifelhafter Moral so reizt, dass er Himmel und – häufiger – Hölle in Bewegung setzt, um das begehrte Wesen in seine Gewalt zu bringen. Die Entführung in den Kerker, die Gruft oder ein geheimes Labyrinth bildet den Auftakt für den Leidensweg der tugendhaften Heldin. Ein vom Himmel fallender Riesenhelm, unvermittelt scheppernde Rüstungen und ein Ahnenporträt mit Nasenbluten in Horace Walpoles Castle of Otranto (1764), dem prototypischen Schauerroman, wirken heute eher lächerlich als gruselig; zudem lässt der Text keinen Zweifel, dass einige »Zaubereien« sich rational erklären lassen und dass eine wohlmeinende göttliche Vorsehung die aus den Fugen geratene Welt am Ende wieder richten wird. Mit diesen Sicherheiten im Rücken lässt der Autor sich in den 1780er Jahren vor den Toren Londons an der Themse Strawberry Hill erbauen, eine gänzlich neugotische Burg, die noch heute eine Touristenattraktion darstellt. Die schaurige Architektur der Gewölbe in seinen Büchern entsprang übrigens nicht seiner englischen Fantasie, sondern den meisterhaften Radierungen des italienischen Archäologen und Architekten Giovanni Battista Piranesi. Edmund Burke setzte mit seiner Ästhetik des Schreckens (1757) dem diffusen Unbehagen an einer auf ökonomische und rationale Parameter verflachten Kultur ein therapeutisches Programm entgegen, das sowohl vom empfindsamen Roman als auch von seinem emotionalen Gegenstück, dem Schauerroman, aufgegriffen wurde. Das Erlebnis unfassbarer Mächte, wie sie in überwältigenden Ereignissen, in Naturgewalten wie Unwetter und Erdbeben oder im Hochgebirge aufscheinen, erschüttert – so Burke – die Selbstgewissheit des Betrachters auf heilsame Weise und weckt die Idee des Erhabenen, das die Ordnungskriterien des Intellekts übersteigt. Voraussetzung allerdings ist, dass der Betrachter ohne Gefahr für Leib und Leben das Sublime goutiert, am besten als ästhetisches Produkt. Das 19. Jahrhundert nutzt das Schreckensrepertoire des Schauerromans auf vielfache Weise. Mary Shelleys Frankenstein (1818), Charles Dickens’ Great Expectations (1860) oder Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) setzen der unerträglichen Spannung bei der Spurensuche nach gefährlichen Geheimnissen und den Gruseleffekten des Schauerromans ein Denkmal und bauen Brücken zur Gruselund Schreckensindustrie des 20. und 21. Jahrhunderts in Film, Fernsehen und den Nintendo-Kampfspielen unserer Kinder. Anna-Margaretha Horatschek Die Autorin ist Professorin für Englische Literatur an der Universität Kiel. Die ungekürzte Fassung ihres Textes finden Sie unter www.zeit-kinderedition.de

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n Frankfurt gehen die Touristen über den Römer und ich gehe ins Gemalte Haus, in meine Stammwirtschaft. Über das Gemalte Haus (dort gibt es Apfelwein) hört man immer wieder ein Gerücht, das nicht stimmt. Es heißt nämlich, das Gemalte Haus sei sehr beliebt bei den Touristen, etwa im selben Maße wie das Hofbräuhaus in München. Sogar in japanischen Reiseführern sei es verzeichnet, das Gemalte Haus. Ich ahne langsam: Vielleicht konnte das Gemalte Haus ein wirkliches Stück Frankfurt genau wegen dieses Gerüchts bleiben. Man stellt es sich von Japanern nur so überlaufen vor, und in Wahrheit sitzen da fast nur Stammgäste, und eine japanische Reisegruppe kommt nur hin und wieder vorbei und wird von uns bestaunt wie noch zu Zeiten der Familie Hesselbach. Die Ostzeile des berühmten Platzes vor dem Römer, die sie alle fotografieren, ist eine Kulisse, die extra so aufgebaut worden ist, dass man den oberflächlichen Eindruck eines irgendwie alten Platzes mit irgendwie rustikal-schönen Fachwerkhäusern bekommt. Ob in den Reiseführern erklärt wird, dass dort jahrzehntelang eine Brache war, wo seit zwanzig und ein paar Jahren jetzt wieder Fachwerk steht? Einer Neubauzeile wurde da einfach eine Fassade vorgeblendet und gibt jetzt so ziemlich das berühmteste Bild ab, das Frankfurt zu bieten hat. Und vermutlich glauben Dutzende Millionen Menschen im Ausland, die sich mal drei Minuten über den Römerberg geschleust haben, hier sei Frankfurt am allerechtesten. Ist es ja vielleicht auch, auf seine Weise betrachtet.

Heute sind Stadtführungen nur noch im Konjunktiv möglich

Illustration: Anton Markus Pasing/www.speicher2.com

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Für mich, Jahrgang 1967, ist das alte Frankfurt sagenumwoben. Es gibt ein paar Farbfilmschnipsel von der Altstadt vor dem Krieg, die könnte man heute vermutlich öffentlich gar nicht mehr vorführen, weil das bei vielen zu einem Nervenzusammenbruch führen würde. Denn Frankfurt könnte, grob gesagt, so etwas sein wie Rothenburg ob der Tauber. Stattdessen wurde es zerbombt und nach dem Krieg rüde restentsorgt, sodass heute Führungen etwa durch das Frankfurt der GoetheZeit nur im Konjunktiv möglich sind (»Meine lieben Touristen, stünde hier noch das Haus soundso, könnte ich Ihnen jetzt zeigen, wo der Großonkelhalbbruderschwager unseres berühmten Geheimrats et cetera …«). Das ist nicht das, was ein Tourist haben möchte. Ein Tourist möchte in erster Linie einen kurzen Eindruck haben, und der soll schön sein, und auf den ersten Blick ist immer das am schönsten, was malerisch ist. Nun ist es aber so, dass die Einwohner einer Stadt selbst manchmal zu Touristen werden, und zwar anderswo, und so ist es nicht auszuschließen, dass auch die Frankfurter mal nach Rothenburg fahren oder nach Bamberg, in Städte mit erhaltenen Ensembles auf großer Fläche. Dann sehen die Frankfurter, als Touristen, etwas, was sie selbst, als Frankfurter, nicht haben, aber einmal hatten. Ganz folgerichtig ist in Frankfurt in letzter Zeit ein gewisser Rekonstruktionswille herangewachsen. Neuerlicher Markstein war da die Wiedereröffnung der alten Stadtbibliothek, einer freien Rekonstruktion im klassizistischen Stil, die jetzt weiß am Main steht, auffällig weiß, und das Thurn-und-

Das wäre doch eine Zukunft – KUSCHELHÄUSCHEN, hoch bis in den Himmel

Fachwerk für alle! In vielen deutschen Städten wird über den Wiederaufbau von Denkmälern gestritten, auch in Frankfurt am Main. Dabei wäre der Konflikt eigentlich leicht zu lösen. Eine Fantasie des Schriftstellers ANDREAS MAIER

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Taxis-Palais zwischen Hauptwache und Eschenheimer Turm (1952 gesprengt) soll auch neu entstehen, zumindest der Fassade nach. Aber malerisch wäre erst ein richtiges, lauschiges, schönes Fachwerkquartier. Wer Fachwerk liebt (auch in vorgeblendeter Form), der wird das meistgehasste Bauwerk in Frankfurt noch mehr hassen, nämlich das Technische Rathaus, einen wirklich sagenhaft hässlichen Betonklotz nördlich zwischen Römerberg und Dom. Dieses Technische Rathaus wird abgerissen, es steht genau da, wo früher auch viele dieser kleinen, lauschigen, schönen Fachwerkhäuser standen. Es sollen sich inzwischen ganze Bürgerbewegungen gegründet haben, die fordern, dass da unbedingt kleine, lauschige, schöne Fachwerkhauszeilen hinsollen. Freilich sind die Fundamente der Häuser, die da noch vor gerade einmal etwa 65 Jahren gestanden haben, inzwischen ganz verschwunden, nicht durch den Krieg, sondern durch eine Tiefgarage. Aber geht es wirklich um historische Fundamente bei der Sehnsucht nach einer Stadt, die so aussieht, wie die Städte aussehen, die die Frankfurter als Touristen vielleicht auch gern besuchen? Eigentlich steckt in der neu entdeckten Sehnsucht nach Fachwerk der Wunsch, der eigenen Stadt endlich auch so gegenüberstehen zu können, wie vielleicht ein japanischer Tourist der Römer-Ostzeile gegenübersteht. Indifferent, aber mit diffusem Wohlgefühl. Die Politik denkt darüber natürlich differenzierter. Man will die historische Struktur wieder sichtbar machen, allein weil man sich dessen doch langsam zu schämen beginnt, wie sich Frankfurt nach dem Krieg seinem hier und da noch verbliebenen Stadtbild gegenüber benommen hat. Das heißt, man würde kleine Häuser hinbauen, bei denen man, um sich zu erklären, warum sie da stehen, immer dazudenken müsste, dass sie das alte Weichbild an dieser Stelle nachzeichnen, ohne die Häuser sein zu sollen, die damals da standen. Ein zugegebenermaßen komplexer Gedanke. Auch daraus würde dann eine Führung im Konjunktiv, und vor allem in Hypotaxen: Hätte Frankfurt (so könnte zukünftig ein Stadtführer erläutern) an dieser Stelle nicht einen Betonklotz abgerissen, der früher die historische Struktur des Quartiers nach dem Krieg unsichtbar gemacht hatte, dann könnten Sie, verehrte Besucher, jetzt nicht sehen, dass hier Häuser stehen, die früher zwar nicht hier gestanden haben, die aber die historische Struktur des Viertels, wie es vor dem Betonklotz einmal war (obgleich sie jetzt nicht mehr so ist), wieder sichtbar machen, wodurch die historische Struktur, die sichtbar gemacht werden soll, gar nicht mehr historisch ist, sondern wieder zeitgenössisch (denn sie ist ja wieder da) und eine andere historische Struktur, die der Klotzbebauung, zwar entfallen musste, was aber wiederum darin aufgehoben ist, dass die alten Häuser ja nicht mehr stehen, denn man hat sie ja wegen des Klotzes endgültig beseitigt. Uff. Das überfordert schnell. Man will doch sitzen, man will doch Apfelwein trinken, man will doch nicht, dass Frankfurt kompliziert ist. Das soll man mal den auswärtigen Touristen auf dem Römerberg erklären, die würden in Scharen davonlaufen und die Meinung zurückbehalten, dass die Frankfurter wohl gern ziemlich seltsame Dinge reden. Ein zweiter Weg, ebenso authentisch: Man hätte die neue, durch sich selbst ja eben-

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MUSIK Der Star-Trompeter Till Brönner ist der perfekte Dressman des Jazz. Von Konrad Heidkamp Seite 51

falls »echte« Struktur des Platzes des Technischen Rathauses bewahren und zugleich durch die Fassade sichtbar machen können, was hier früher gestanden hat. Man hätte dem Technischen Rathaus, wie es dasteht in seiner ganzen Pracht (es überragt die umliegenden Häuser um ein Vielfaches), einfach in echt Frankfurter Art eine Fachwerkfassade vorblenden sollen, nach allen Seiten, das wäre historisch ebenso aufrichtig gewesen und hätte Frankfurt wahrscheinlich auf einen Schlag weltberühmt gemacht.

Das Technische Rathaus ist hässlich, ja. Aber stört mich das? Vielleicht wäre den Frankfurtern dann etwas mulmig geworden, Apfelwein zu trinken mit einer Fachwerkwand im Rücken, die um die einhundert Meter lang ist, aber mochten die Pariser anfangs ihren Eiffelturm? Man könnte das Frankfurter Fachwerk schon im Anflug aus zwanzig Kilometer Entfernung erkennen. Ja, es könnte ein Wahrzeichen der neuen Republik werden, ein neues Neuschwanstein. Neulich wurde ich im Gemalten Haus angesprochen, wie ich mir denn selbst die Bebauung des Geländes vorstelle. Ich konnte darauf keine Antwort geben, da ich keinerlei Meinung dazu habe. Ich sagte, dass ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen wäre, das Technische Rathaus abzureißen. Ja, wurde ich gefragt, ob ich es denn nicht hässlich finde? Ja, sagte ich, schon, aber es hat nie gestört. Das konnten die Leute am Tisch gar nicht fassen. Ich kann mir den Fachwerkkubus Römerplatz Nord vielleicht sogar wirklich vorstellen. Er hätte einen unabdingbaren Vorteil. Wenn alle die, die wollen, dass etwas so ist, wie es nicht ist, aber vielleicht sein soll, weil es mal so war oder gerade nie so war, wenn alle die dann auch da hingehen und bleiben, um dort ihren Apfelwein zu trinken, dann habe ich im Gemalten Haus auf immer meine Ruhe vor ihnen, so wie ja jeder Frankfurter durch die Römerzeile Ost im Grunde Ruhe hat vor den Touristen, die sich auf dem Römer immer zielgenau da versammeln, wo die Frankfurter sowieso nicht hingehen. Und weil das Gemalte Haus in Sachsenhausen liegt, würde man von da aus den Kubus überhaupt nicht sehen, man wäre dort ganz ungestört von ihm (wie man überhaupt im Gemalten Haus von vielem ungestört ist). Zu erzählen wäre noch die Geschichte der Muse Thalia. Die prangt heute, als sei sie schon immer da gewesen, auf dem Giebel der Alten Oper. Dort ist sie aber erst nach dem Wiederaufbau der Kriegsruine draufgesetzt worden. Einstmals schmückte sie die Jugendstilfassade des alten Schauspielhauses (ein anderes Gebäude an einem anderen Ort). Das wurde 1960 abgerissen, und wie so vieles damals in Frankfurt, so verschwand auch die Muse mit ihrer Panterquadriga und geriet fast völlig in Vergessenheit. Ein Journalist entdeckte sie Jahrzehnte später auf einem Schrottplatz. Jetzt steht sie wieder da, und auch noch an einer der präponiertesten Stellen in Frankfurt. Sie ist das Symbol dessen, was das wahre Frankfurt ist: vom Schrottplatz an die erste Stelle und dann vielleicht auch wieder weg und ab in den Müll, je nachdem, wer weiß. Und so wiegt sich die Stadt durch die Wogen der Zeit, mal auf und mal ab. Andreas Maier ist derzeit zu Gast in der Villa Massimo, Rom. Zuletzt erschien von ihm »Kirillow« (suhrkamp)

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Lieber zu spät als nie Die Aufarbeitung der SEDDiktatur wird Staatsziel Der Sozialismus lässt sich, je länger er zurückliegt, desto schwerer überwinden. Bei der Verleihung der deutschen Filmpreise sah es für einen Moment so aus, als entdecke die Bundesrepublik endlich die wahre DDRGeschichte – und die breite Debatte darüber erreiche ein neues Niveau: Sieben Lolas gewann der Stasi-Film Das Leben der Anderen, obwohl er nicht so sehr von fiesen Spitzeln, sondern von komplexen Repressionsmechanismen handelte. Doch der Jubel wurde sogleich übertönt von Gezeter, und zwar über ein staatliches Gutachten, das die »Aufarbeitung der SED-Diktatur« zum nationalen Anliegen erklärt. Es fordert eine stärkere Vernetzung der Gedenkorte und eine Verwissenschaftlichung des Diskurses – und ist insofern absolut plausibel. Das Gezeter aber erst recht. Denn die Empfehlungen der Expertenkommission, die von Kulturstaatsministerin a. D. Christina Weiss berufen wurde, kommen viel zu spät. Fast sechzehn Jahre begnügten sich die jeweils Regierenden mit symbolischem Herumkramen in Stasi-Akten, einem schlecht ausgestatteten Bundesarchiv, einer mager bezuschussten Stiftung Aufarbeitung – und verließen sich im Übrigen auf Opferverbände, Bürgerinitiativen, einzelne Historiker, die manchmal von Land oder Kommune unterstützt wurden, manchmal auch nicht. Dank ihnen können jetzt überhaupt so schöne Empfehlungen formuliert werden. Ohne Leute wie Tobias Hollitzer (Leipziger Museum »In der Runden Ecke«), Joachim Scherrieble (Gedenkstätte Marienborn), Hubertus Knabe (Gedenkstätte Hohenschönhausen), Arndt Schaffner (AG Grenzmuseen) gäbe es nichts zu zentralisieren. Es wären historische Quellen verschüttet, Zeitzeugen unbefragt gestorben, innerdeutsche Grenzverläufe nicht mehr rekonstruierbar. Die Aufarbeitungsaktivisten haben das Gras, das ständig über die Vergangenheit zu wachsen drohte, per Hand gemäht. Sie warteten in ungeheizten Bruchbuden auf Besucher. Sie hielten Vorträge vor Schulklassen und bezahlten Verlage für den Abdruck der eigenen Opfergeschichte. Sechzehn Jahre lang waren sie nützliche Idealisten, kein Wunder, wenn sie sich nun von einer Evaluierungskommission bedroht fühlen. Denn zur Behebung der inkriminierten Aufarbeitungsmängel, die oft erst durch Geldmangel entstanden sind, wird es wohl wieder kein zusätzliches Geld geben. Auf dem Deckblatt des Empfehlungsschreibens steht, dass eine »Überbeanspruchung finanzieller Ressourcen« vermieden werden soll. »Überbeanspruchung« klingt für Gedenkstättenleiter, die jahrelang mit ABMKräften arbeiten mussten, während sie auf Knien um eine halbe Historikerstelle bettelten, wie ein schlechter Witz. Aber vielleicht ist die Angreifbarkeit des Papiers sein Vorteil. Es bringt einen neuen Ernst in die Debatte und lässt zutage treten, was von uns allen versäumt worden ist. EVELYN FINGER Audio a www.zeit.de/audio

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Droht der Kahlschlag? Fragen an Außenminister Frank-Walter Steinmeier zum Streit um die Goethe-Institute und zur auswärtigen Kulturpolitik

riss die Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik mit den Begriff »Krisenprävention«. Kann Kultur das heute noch leisten mit Blick auf das vielgestaltige internationale Krisenszenario? Frank-Walter Steinmeier: Ich will nicht bewerten, was Joschka Fischer dazu gesagt hat, aber er hat damit sicher nicht gemeint, dass wir sie im Sinne einer groß angelegten staatlichen Instrumentalisierung für unmittelbare außen- und sicherheitspolitische Zwecke benutzen sollten. Aber wir brauchen dringender denn je auswärtige Kulturpolitik. Natürlich auch, um nicht real werden zu lassen, was andere als Drohung eines clash of civilisations beschrieben haben. ZEIT: Internationale Krisen suchen sich mehr und mehr »kulturelle« Ausdrucksformen. Sie sind nicht mehr mit klassischer Diplomatie zu lösen, weil Identitäten aufeinander prallen, über deren Wahrheitsanspruch es nichts zu verhandeln gibt. Was heißt das für die Außenpolitik? Steinmeier: Gerade bei kulturalisierten Konflikten müssen wir versuchen, einen schwieriger gewordenen Dialog wieder aufzunehmen. Ich habe in den letzten Wochen gespürt, wie schwer das ist, aber es ist ohne Alternative. Seit 1990 haben sich die Bedingungen für deutsche Außenpolitik grundlegend gewandelt: Gerade die Westdeutschen, 40 Jahre lang eine Art »vorgeschobener Posten« des Westens, erlebten, wie es selbst in Zeiten des härtesten Antagonismus der Systeme gelang, Abschottungen durchlässiger zu machen. Ein Mindestmaß an Kommunikation war immer möglich. Global gesehen, haben wir den Lernprozess nach 1990 jedoch kaum fortgesetzt. Interessenunterschiede, auch Streit zwischen Staaten, wird es weiter geben. Aber Abschottung und Sprachlosigkeit ist heute ein aus meiner Sicht zu häufig gewähltes Handlungsmuster. ZEIT: Wie wäre darauf zu reagieren? Steinmeier: Ohne naiv die Interessenkonflikte innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft zu unterschätzen, müssen wir uns bemühen, Sprachmöglichkeiten zu erhalten. Beim Karikaturen-Streit war dieser Austauschprozess tatsächlich teilweise zum Erliegen gekommen. Dann genügt es nicht, den Dialog der Kulturen anzurufen. Man muss vielmehr zu einer Kultur des Dialogs zurückkehren. Mit unseren tür-

kischen Partnern befinden wir uns beispielsweise auf einem guten Weg. Wir wollen mit ganz konkreten Kooperationsprojekten die Menschen erreichen. ZEIT: Muss also die auswärtige Kulturpolitik insgesamt neu ausgerichtet werden? Steinmeier: Wir verfügen über eine solide Struktur deutscher Kulturmittler im Ausland. Doch auch Konzeptionen müssen sich verändernden Zeiten angepasst werden. Im vergangenen Monat traf ich mich mit den Präsidenten und Generalsekretären der Kulturmittler. Die Fragen waren: Wo liegen heute unsere Stärken und Schwächen? Können wir in absehbarer Zeit ein gemeinsam überarbeitetes Konzept für die Kultur- und Bildungsarbeit auf den Weg bringen, das den neuen Herausforderungen gerecht wird? Ich hatte den Eindruck, dass wir dabei auf hoher Qualität aufsetzen können. Wir wollen diese Restrukturierung also leisten, und ich werde im Herbst dazu ins Auswärtige Amt zu einer Konferenz einladen, um diese Aufgabe auf einer breiten Basis anzugehen. ZEIT: Beim Goethe-Institut diskutiert man darüber, ob man Ressourcen von Europa in den Nahen Osten und nach Asien verlagert. Die Einwände lauten: Europa dürfe nicht vernachlässigt werden, und die Kultur solle nicht den Kapitalinteressen folgen. Steinmeier: Der Vergleich mit unseren europäischen Mitbewerbern, British Council, Institut français, zeigt, dass diese sich schon stärker auf die veränderte außenpolitische Lage eingestellt haben, besonders in Asien. In Deutschland dagegen führen manche eine etwas ängstliche Diskussion. Man muss berücksichtigen, wie dicht unser Goethe-Netz in Europa in Wirklichkeit ist, und sich daran erinnern, was der Urgrund für das Engagement des Bundes in der auswärtigen Kulturpolitik war: Es galt, nach dem Krieg wieder für Vertrauen zu werben innerhalb der Staatengemeinschaft von Europa. Natürlich bleibt Vertrauensbildung auch heute wichtig. Inzwischen gibt es jedoch gerade in Europa vielfältige Möglichkeiten, dies zu leisten. Gleichzeitig gibt es in anderen Regionen der Welt großen Bedarf, dieses Vertrauen für Deutschland erst noch zu erwerben. Diese Tatsachen gilt es im Zuge der Restrukturierung zu berücksichtigen, und zwar noch in diesem Jahr. Denn wir müssen den Abgeordneten, die uns im Haushalt 2007

das Geld für die Kulturarbeit bewilligen, ein zukunftsfähiges Konzept vorlegen. ZEIT: Also wird bald doch über Schließungen von Instituten beschlossen werden? Steinmeier: Schließungen bringen ja kurzfristig keine Ersparnis. Deswegen können wir mit derartigen Ad-hoc-Maßnahmen die Unterfinanzierung des Goethe-Instituts nicht bewältigen. Mein Appell an die Abgeordneten des Bundestages lautet, mit uns mittelfristig für eine Trendumkehr der in den letzten Jahren sinkenden Ausgaben für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu sorgen. Vor dem langfristig angelegten inhaltlichen und strukturellen Konzept müssen allerdings noch die aktuellen Finanzprobleme gelöst werden. Daran arbeiten wir mit der Leitung des Goethe-Instituts. ZEIT: Widerspricht Rückbau nicht der wachsenden Bedeutung interkultureller Arbeit? Steinmeier: Nein, im Gegenteil. Uns geht es ja um ein zukunftsfähiges Konzept. Das möglichst viele Facetten Deutschlands aufnehmen soll und sich nicht auf die vorher erwähnte Konfliktbewältigung beschränkt. Mir geht es darum, der Kultur in der Außendarstellung unseres Landes eine prominente Rolle zu geben. Ein kleines Beispiel: Neben der üblichen Wirtschaftsdelegation nehme ich auf Auslandsreisen mehr und mehr auch Künstler und Vertreter der Kulturmittlerorganisationen mit. ZEIT: Was sollten die Kulturmittler dabei in den Vordergrund stellen, die deutsche Kulturnation oder die kosmopolitischen Tugenden der Bundesrepublik? Steinmeier: Meine persönliche Meinung ist, wir sollten uns nicht davon verabschieden, deutsche Kultur, Demokratie und Lebensweise in ihrer Breite über die Kulturmittler zu präsentieren. ZEIT: Werden wir im Ausland als deutsch, europäisch oder unspezifisch westlich wahrgenommen? Steinmeier: Als ich vor einiger Zeit aus Anlass des »Deutschland in Japan«-Jahres in Tokyo war, stellte ich fest: Die Japaner haben kein Interesse an einer unsortierten europäischen Kultur. Aufgrund der guten Kenntnis von Europa wird dort geradezu verlangt, dass Deutschland sich als Deutschland vorstellt. Ob das für China oder Indien auch so stimmt, kann ich noch nicht beantworten. Für Iran gilt das

sicher. Trotz der gegenwärtigen Probleme mit der Führung in Teheran dürfen wir nicht verkennen, dass gerade die intellektuelle Elite in Iran sich der historisch gewachsenen Verbindungen zu Deutschland sehr bewusst ist. ZEIT: Was können wir tun, um die liberale Elite in Iran kulturell zu unterstützen? Steinmeier: Wir bemühen uns, gemeinsam mit anderen nicht nur durch Resolutionen im Gouverneursrat der IAEO oder im Sicherheitsrat zu reagieren. Wir müssen den Weg zu Verständigungslösungen offen halten. Gerade in einer so schwierigen Situation sind wir darauf angewiesen, dass Kulturmittlerorganisationen ihre Kontakte nicht abreißen lassen, sondern auf ihren Feldern weiterarbeiten, Gesprächskanäle aufrechterhalten und sich um Vermittlung unseres Denkens, auch unserer Methode der Konfliktlösung, in Iran bemühen. ZEIT: Noch einmal zurück zum Goethe-Institut. Sind Befürchtungen begründet, dass Institute langfristig verschwinden und in die Kulturabteilungen der Botschaften integriert werden? Steinmeier: Die Eigenständigkeit des GoetheInstitutes wird aufrechterhalten bleiben. Das ist meine politische Auffassung, und ich kenne kaum jemanden im Bundestag, der anderer Ansicht wäre. Was wir als Konzept den Abgeordneten vorlegen, das werden wir gemeinsam verantworten, Goethe-Leitung und Auswärtiges Amt. ZEIT: Ist Schluss mit der inhaltlichen Autonomie, wenn die Institute im Zuge der Umstrukturierung näher ans Auswärtige Amt rücken? Steinmeier: Nochmals: Das Goethe-Institut wird nicht unter Kuratel des Amtes gestellt werden. Im Gegenteil, den Weg, den wir mit einer versuchsweisen Zentralbudgetierung eingeschlagen haben, werden wir weitergehen. ZEIT: Viele Institutsleiter klagen aber, dass gerade jetzt viele Projekte gestrichen werden, um zum Teil sehr kleine Summen einzusparen. Steinmeier: Der Weg geht weg von der Bewilligung von Einzelprojekten. Das zeichnet sich für die gesamte Kultur- und Bildungspolitik ab. Das damit verbundene Controlling ist kein Nachteil, das können Sie an den Universitäten

sehen. Welche Form dieses Controlling haben wird, ist natürlich auch Sache des Geldgebers, und das ist der Bundestag. ZEIT: Ein paar Eckpfeiler des Umbaus lassen sich schon erkennen: Gesamtbudgetierung samt Controlling-System, Verstärkung der Präsenz im Nahen und Mittleren Osten und in Asien sowie Verkleinerung oder gar Schließung von Instituten in Europa. Gäbe es die Möglichkeit, mit Sondermitteln eine Restrukturierung ganz zu verhindern? Steinmeier: Allen ist klar, dass man in einer Situation, in der ein Defizit aufgelaufen ist, Vorschläge machen muss, dies abzubauen. Ein auslandskulturpolitischer Kahlschlag droht nun wahrlich nicht. Die Größenordnungen sind zu bewältigen, und ich würde mich freuen, wenn wir angesichts der Schwierigkeiten bei einem der Kulturmittler nicht über Defizite der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik insgesamt redeten. Meine dringende Bitte ist, die Dramatik mancher öffentlicher Diskussionsbeiträge nicht gleichzusetzen mit der Lage der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. DAS GESPRÄCH FÜHRTE THOMAS E. SCHMIDT ANZEIGE

Kook okko pis pis Später Lohrbär: Der Büchnerpreis für Oskar Pastior Es ist eine prima Entscheidung der Darmstädter Akademie, Oskar Pastior den Büchnerpreis zu verleihen, den bedeutendsten Literaturpreis des Landes. Ein bisschen überraschend ist sie aber auch – insofern, als unser trügerisches Gedächtnis fest behauptete, Pastior habe den Büchnerpreis längst bekommen, bekommen müssen. Letzteres mag stimmen. Zu früh jedenfalls, das kann man sagen, bekommt er ihn nicht, wenn er ihn jetzt bekommt, ein Jahr vor seinem 80. Geburtstag. Seit 1968, als es dem in Hermannstadt, im rumänischen Siebenbürgen aufgewachsenen Dichter gelang, der Knute Ceauşescus zu entkommen, lebt und arbeitet Pastior als freier Schriftsteller in der Bundesrepublik, seit 1969 in Berlin. Seit also beinahe 40 Jahren betreibt er hier sein Handwerk, und so lang brauchte das Land, um auf diese Entscheidung und diese Dichtung hinzureifen. Ist sie so schwierig? Schwer zu sagen. Die Relativitätstheorie ist für manche leicht zu verstehen, für andere nicht. Pastiors Poesien sind viel zugänglicher, aber man muss sich natürlich erst einlesen, besser: einhören. »assa saas blu ulb / boob obbo gir gri / kook okko pis pis / appa paap zur ruz« – die erste Strophe eines »Sonetburgers«. Wenn solche Sinn- und Silbenmimikry auf taube oder ungeübte Gehörknöchelchen trifft, kann der Anfangsverdacht eines Unfugsverdachts aufkommen. Pastior hält diesen Verdacht bei sich selbst übrigens immer wach. Er hat neben dem Sonett noch kompliziertere Gedichtformen wie die Sestine wiederbelebt, die so noch nie belebt waren. Denn, das sich doch unmittelbar mit: Diese Lautgebilde, denen man die strengen Regeln, nach denen sie generiert sind, nicht unbedingt anmerkt, entpuppen sich unter der Lektüre als lebendige Geschöpfe. Da ist ein verspielter Dämonismus am Werk. Es teufelt in diesen Texten. Zum einen aus purem Realismus, denn es wimmelt in der Sprache wie in der Wirklichkeit von Teufeliaden. Jemand wie Oskar Pastior, der viele Jahre den Schikanen realer Dämonen ausgesetzt war, inklusive fünf Jahre Arbeitslager »zum Wiederaufbau der Sowjetunion« unmittelbar nach dem Krieg, brauchte hierfür keinen siebten Sinn. Er hat aber ein geschärftes Sensorium für alles

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Quälgeisterhafte bis ins mikrobenhaft Kleine. Und er antwortet mit präzisem Gegenzauber, einer Technik, die an Leskows Meister aus Tula erinnert, der Flöhen Hufe schmieden konnte. Niemand hat die Pastiorsche Kunst vielleicht schöner beschrieben als Herta Müller am Beispiel eines Gedichtes aus dem frühen Band Der krimgotische Fächer. »TAS ILLUSIUN / statifiziert / die mengliche / Schraufe / läumstens / kollekt / aber das / Eibliche / urmelt / wacholder / wardeinisch / frontäl- / Minze Minze / flaumiran / Schpektrum …« Dieses Gedicht, schreibt Herta Müller, die selbst ein unverlierbares Erinnerungsgepäck aus derselben traumatisierenden Siebenbürger Heimat mit sich schleppt, »dies Gedicht war damals und ist heute noch beim Lesen das, was ich gerade bin. Es kann einen Fabriktag genauso beschreiben wie eine Zugfahrt, einen Streit oder einen Supermarkt. Dies Gedicht ist nervös. Das nervöse Gedicht hat mich gelesen, mich durchschaut und taxiert und festgestellt, daß ich, um mich in der Nervosität zu beherrschen, etwas Nervöses brauche. Das Gedicht … blieb an mir hängen, ich hatte da gar keine Wahl.« Wenn man Pastiors Poesien in der eigenen Ohrmuschel lauscht, in der Hoffnung, dass da mehr rauscht, als der eigene Unverstand, wenn man seine Zeilen, Sprünge, regelhaften Hasard-Spiele mitvollzieht, diese Entstellungen, Fluchtmanöver, unausdenklichen Silben- und Subjektkreuzungen in der Petrischale seines vielsprachig privilegierten inneren Milieus, dann teilt sich diese Nervosität als Übermut mit. Je größer das Pathos, die Trostbedürftigkeit, umso größer der Aufwand an Ironie, an Sich-lustigMachen, um die Wunde abzudecken. Das Demokritische sticht auch bei ihm das Kritische. Wie alle Dichter, die ihm nahe stehen und die er – in einer Hommage – travestierend weitergedichtet oder wunderbar übersetzt hat – Petrarca, Baudelaire, Gellu Naum –, will auch Pastior gegen den Schrecken etwas Schönes schaffen. Wie er das schafft, was er doch bei allem Kalkül nicht kalkulieren kann, da er sich dem Zufall, dem Somnambulismus der Regeln anvertraut, und ob es wegen oder trotz dieser Selbstfesselungskünste gelingt, in einer Art Wirklichkeitshalluzination etwas vom KribsKrabs des Ganzen poetisch abzubilden, das bleibt sein Betriebsgeheimnis. GABRIELE KILLERT

Foto [M]: Werner Schuering

DIE ZEIT: Herr Minister, Ihr Vorgänger im Amt um-

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Wir haben schließlich Gott erfunden Der Ägypten-Tourist fürchtet Bomben. Doch die Bevölkerung plagen genug andere Probleme. Auch Islamisten fordern vor allem: Mehr Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit

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Die Autorität der Al-Azhar-Moschee. Das sich in zwei Spitzen gabelnde Minarett der Al-Azhar-Moschee verkörpert die beiden Ideale Glauben und Wissenschaft, das Verwaltungsgebäude der dazugehörigen Universität ist gestaltet wie ein offenes Buch, in dem die Welt lesen kann. Im Jahr 988 wurde die Universität gegründet, und nicht zuletzt diese gut 1000 Jahre al-Azhar haben dem Islam in Ägypten eine Kontinuität beschert, von der die frommsten Muslime vielerorts nur träumen können. Zwecklos zu leugnen, dass einem die Knie ein wenig beben, wenn man die Tore des »Buchs« durchschreitet … 70 000 Studenten und Studentinnen zählt die al-Azhar heute, betreut landesweit 8000 Institutionen, Kindergärten, Schulen. In strittigen Fragen des religiösen Lebens fällt die al-Azhar auf der Grundlage von Koran und Überlieferung ihre Urteile (Fatwas), an denen sich sunnitische Gläubige aus aller Welt orientieren können. Wenn die al-Azhar neue Gesetzesvorschläge auf ihre Entsprechung mit den religiösen Regeln hin überprüft, sind ihre Anweisungen fürs ägyptische Parlament allerdings Pflicht, so will es der zweite Grundsatz der Verfassung. Muhammad Sayyid Tantawi, der Großscheich der al-Azhar, ist ein würdiger, kleiner, schlicht gekleideter Mann mit bescheidenem Auftreten, sanften Gesten – doch möglicherweise zwei Gesichtern. Direkt nach dem 11. September verurteilte er die terroristische Gewalt, so wie er auch die Selbstmordanschläge im Nahen Osten verurteilt, die nicht der Selbstverteidigung gegen feindliche Soldaten dienen, sondern Unschuldige und Zivilisten verletzen. Und immer wieder zitiert der Scheich aus der 49. Sure das koranische Plädoyer für Toleranz: »Ihr Menschen! Gewiss, wir erschufen euch aus einem männlichen und einem weiblichen Wesen und machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr euch kennen lernt.« Oder aus den Versen, die die Religionsfreiheit gebieten: »Wer nun will, der möge glauben, und wer will, der möge nicht glauben.« (Sure 18, Vers 29) All das ist gewiss aufrichtig gemeint, kommt von Herzen, wenn Tantawi seine Besucher aus dem Westen empfängt. Doch in Ägypten kennt man auch den strengeren, den ultrakonservativen Tantawi, der seinen Glaubensbrüdern und -schwestern keinen sittlichen Fauxpas durchgehen lässt und nicht müde wird, Ägyptens weltliche Autoritäten entsprechend zu »beraten«. Die beiden Koranverse zur vielfältigen Menschheit, zur Toleranz noch im Ohr, mag man sich fragen, wie viel Unterschied und Unglauben ägyptischer Islam und Staat im eigenen Land erlauben. Denn die al-Azhar ist in Ägypten allgegenwärtig, und die Ermahnungen ihres Großscheichs begegnen einem in jedem Gespräch über Religion und Politik, wie ein steter Stolperstein. Brüder und Schwestern im Islam. Kein Besuch

eines Westeuropäers in Kairo wäre vollständig, ohne diese zwei Standardfragen zu stellen. Erstens: Wie steht es um die Frauen? Zweitens: Wie um die Trennung zwischen Religion und Politik? Und so machen wir uns auf den Weg durch den stehenden Verkehr, um in einem Politbüro mit dem Appeal einer verlassenen Zahnarztpraxis gegen das Getöse einer ihr Allerbestes gebenden Klimaanlage die Ansichten der Muslimbrüder zu beidem in Erfahrung zu bringen. Was gern übersehen wird: Fließend ist bei den islamischen Konservativen auch der Übergang von der zwischenmenschlichen Moral zu dem, was in Europa als die Ethik der privaten Lebensführung

Die »Genug«-Opposition. »Das Schlimmste steht

Foto: Mike Nelson/picture-alliance/dpa

n Ägypten ist die Religion allgegenwärtig. Der sympathisch altmodische Sozialist mit seiner riesigen Bibliothek, der Chirurg und Direktor einer Poliklinik, die Kunsthistorikerin, die ganz weit ausholt bis zu den ersten altägyptischen Ideen von einer Urkraft, die alles Sichtbare und Unsichtbare erschaffen hat – sie alle greifen früher oder später, um eine nationale Besonderheit zu erklären, zu dem Satz »Wir Ägypter sind nun einmal sehr religiös.« Und sie werden offenbar immer religiöser. Freitagmittag, der Muezzin der Nur-Moschee (Moschee des Lichts) hat kaum zum Gebet gerufen, und die Frauenempore ist bereits völlig überfüllt. Vor wenigen Jahren war hier noch für alle Platz. Heute kommen, wenn keine einzige Gläubige mehr hineinpasst, noch zwei weitere mit ihren Kindern nach. »Wirf mal ein Tuch herüber, meine Tochter hat nur ein kurzes T-Shirt an«, bedeutet die Neue den alten Frauen, die vor dem Wäscheschrank Spalier sitzen, dann klettert ihr Trupp über die Reihen der anderen Betenden, um noch ein freies Fleckchen Teppich zu finden, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Fast müssen wir beim Niederknien die Stirn auf die Fußsohlen der Reihe vor uns betten: Islam ist in Mode, zum Freitagsgebet zu erscheinen ist schick. Und wie andernorts ist auch hier der konservative Islam in Mode gekommen, der sich strenge Sittlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat und dessen Prediger angeblich genau wissen, was Gott dem Menschen aufgetragen hat. Und während Präsident Mubarak auf Welttournee geht, um seine Demokratiefreundlichkeit zu bewerben, setzen seine Sicherheitskräfte und Zensurgesetze alles daran, um Diskussionen darüber zu unterbinden, wo eine vernünftige Grenze beispielsweise zwischen Religion und Gesetz verläuft und was die viel gerühmte soziale Gerechtigkeit à la Islam tatsächlich ist. – Eine Reise nach Kairo im Mai. Besuche bei religiösen Würdenträgern, oppositionellen Aktivisten, Intellektuellen. Das heutige Ägypten gilt dem Westen als demokratisches Experiment, als islamisches Vorbildland. Doch wie frei ist der dortige Islam, wie liberal ist Ägypten wirklich?

VON HILAL SEZGIN

»WER NUN WILL, DER MÖGE GLAUBEN«. In enger Nachbarschaft zur alten Stadtmauer die Mohammed-Ali-Moschee in Kairo

gen der UN in Sachen Gleichstellung könnten die Muslimschwestern nicht zustimmen; denn was die UN forderten, bedeute eine Degradierung der Frau. »Nach dem Koran steht jeder Frau ihr eigenes Haus zu, sie darf arbeiten, wenn sie will, aber wenn sie ihren sozialen Pflichten so nicht nachkommen kann, darf sie zu Hause bleiben, und ihr Ehemann ist verpflichtet, für sie zu sorgen«, führt sie voller Elan aus. Eine Schwester neben ihr ergänzt, auch zur sexuellen Befriedigung verpflichte der Koran den Ehemann. »Sexuelle Freizügigkeit hingegen«, erklärt Helmi weiter, »untergräbt die Werte der Familie, da kann der Mann ja die Frau verlassen, ganz wie er will!« Und was würde erst passieren, wenn es jeder jungen Frau erlaubt sei, ganz ohne Zustimmung ihres Vaters zu heiraten: »Damit verzichtet sie auf seinen Ratschlag, und sie verliert auch seinen Schutz, wenn die Ehe scheitert!« – Schluck. besitzt für sunnitische Muslime weltweit größte Von dieser schwungvollen Dame Autorität. Ihr Islam-Verständnis zeigt nach außen ein hatten wir uns mehr, nämlich etwas weniger Konventionelles versproversöhnliches – nach innen aber strenges Gesicht chen. Oder sollen wir es anders, positiver, mehr unter dem dynader Prophet als Voraussetzung genannt hat«, meint mischen Gesichtspunkt sehen: Vor einigen Jahren Mohammad Habib, Zweiter Vorsitzender der haben nur Muslimbrüder in den Büros gesessen; ägyptischen Muslimbrüder. »Wenn die Leute so jetzt mischen die Schwestern sichtbar mit – und die arm sind wie bei uns, wenn sie hungern – was für uns eben an den Orgasmus der Frau erinnert hat, ist einen Sinn hat es da, Diebstahl mit dem Abhacken sogar Professorin an der al-Azhar-Universität. der Hand zu bestrafen? Das ist doch ein ganz anderer Tatbestand.« Ein Chefredakteur für gemäßigte Islamisten. In Bis heute ist die Organisation der Muslimbrüder diesem Land trifft man viele, die schon einmal im in Ägypten offiziell nicht zugelassen, wird allerdings Gefängnis waren. Darunter den 46-jährigen Jourgeduldet. Bei den letzten Wahlen sind einzelne nalisten Gamal Sultan, Chefredakteur der reformMuslimbrüder als Parteilose angetreten und haben orientierten Zeitschrift al-Manar al-Jadid (»Der sofort 20 Prozent der Sitze geholt. Doch was das neue Leuchtturm«). Aus den Diskussionen im Gegenaue Programm dieser recht heterogenen sozialen fängnis hat er gelernt, dass es gerade den jungen Bewegung angeht, bleiben die Aussagen ziemlich Islamisten an einer Plattform fehlt, sich im öffentvage. Das Ziel ist soziale Gerechtigkeit, wie Gott sie lichen Meinungsstreit und Pluralismus zu üben – den Menschen aufgetragen hat, nur so viel ist klar. daher seine Zeitschrift. Was die religiösen Inhalte Es ist Muslimschwestern wie der selbstbewussten, angeht, teilten die meisten Gruppierungen, ob amtüppigen, energischen Kamilia Helmi vorbehalten, lich oder oppositionell, dasselbe Glaubensverständdiese Gerechtigkeit zu präzisieren: Den Vorstellun- nis. Der entscheidende Unterschied sei, inwieweit gilt. Und daher hat sich eine so ehrwürdige Institution wie die Al-Azhar-Universität – weit entfernt davon, prüde die Augen abzuwenden! – in den letzten Jahren unter anderem mit der Frage beschäftigen müssen, wie nackt eigentlich ein Ehepaar beim Sex sein darf. Gegen eine Initiative zur Lockerung der Gesetze gegen Ehebruch hat die al-Azhar darauf bestanden, dass der Ehebruch ein so genannter Hisba-Fall ist, also unters Strafrecht fällt. Angeblich hat Großscheich Tantawi sogar die Wiedereinführung von Körperstrafen für den Ehebruch gefordert … Dazu wollen wir nun auch die zweite große islamische Kraft in Ägypten hören. »Die Lebensbedingungen entsprechen doch gar nicht dem, was

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sich die Gesetzgebung diesen religiösen Inhalten zu unterwerfen habe: ob mehr oder weniger. Was Ägypten nach Meinung der meisten Reformer am dringendsten braucht, ist eine Verringerung der Kluft zwischen Unter- und Oberschicht, eine gehörige Portion Rechtsstaatlichkeit und mehr politische Teilhabe und Meinungsfreiheit: Müsste ein wenig von all dem nicht peu à peu möglich sein? Im Jahr 2000 hat Gamal Sultan versucht, eine Partei zu gründen; er erhielt die Genehmigung dazu nicht; er wollte eine Tageszeitung gründen – dasselbe Problem. »Sie müssen wissen, dass es bei uns ganz anders ist als bei Ihnen in Deutschland. In Deutschland darf jeder eine Zeitung herausgeben, solange sie nicht gegen geltende Gesetze verstößt. Hier ist es genau umgekehrt: Hier ist erst einmal alles verboten. Man muss die Regierung erst um Erlaubnis fragen, wenn man eine Zeitung oder eine Organisation gründen will.« Keine wohltätige Einrichtung, nicht der kleinste »informelle« Elternverein darf sich einfach so zusammenfinden, ohne die Genehmigung für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) zu beantragen und eventuell gar zu erhalten. Gamal Sultan, der sich selbst zu den gemäßigten Islamisten zählt, erklärt, vor seiner sechsmonatigen Haft nie mit terroristischen Gruppierungen zu tun gehabt zu haben. Neben verurteilten Gewalttätern beherbergen Ägyptens Gefängnisse unzählige Menschen, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt werden; die meisten von ihnen standen nie vor Gericht, sondern werden einfach erneut in Haft gesetzt, sobald die Frist ihrer Untersuchungshaft abgelaufen ist. Schon lange vor dem Patriot Act der USA begann Ägypten mit dieser Art der Terrorbekämpfung, die gleichzeitig dazu dient, jegliche starke Opposition zu unterbinden; denn die meiste Opposition in Ägypten ist nun einmal religiös oder islamistisch motiviert. Und so können es laut Schätzungen des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien 1000 oder auch 16 000 Bürger sein, die auf diese Weise Monate oder Jahre in Haft sind und bleiben.

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uns noch bevor«, befürchtet ein Menschenrechtler und meint die Repression durch das Mubarak-Regime, dessen fünfte Amtszeit im September 2005 mit wundersamen 89 Prozent der Wählerstimmen eingeläutet wurde. »Bald wird es vorüber sein«, meint ein anderer, »das Regime reagiert immer verrückter. Kann das etwas anderes als der Anfang vom Ende sein?« Für den Silberstreif am Horizont sorgt der Club of Judges, der zurzeit in aller Munde ist: Mehrere Richter eines hohen Gerichts sind mit ihrer Kritik an dem Prozedere der letzten Wahlen und der Stimmauszählung an die Öffentlichkeit gegangen. Ihre Eingaben wurden abgeschmettert. Weil ihnen kein anderer Ort zum Demonstrieren bleibt, halten sie jeden Donnerstag vor dem Gebäude ihrer Berufsgenossenschaft, eben dem Club of Judges, einen Sitzstreik ab, solidarisch begleitet von mal einer Hand voll und mal Hunderten Unterstützern. Unter ihnen sind auch Angehörige der an Personen sehr kleinen, aber umso symbolstärkeren Kifaya-Bewegung. Kifaya heißt »genug«: Vier Amtsperioden für ein und denselben Präsidenten, und 25 Jahre Ausnahmezustand (der am 2. Mai dieses Jahres um nochmals zwei Jahre verlängert wurde) sind genug. Einer der Kifaya-Gründer ist Hany Enan; er zählt zu den Linken bei Kifaya und ist gleichzeitig ein echter Selfmademan. Ein Anzug wie aus Mailand, die Armbanduhr aus Paris, die Nippeskollektion im Büro made in Merry Old England. Enans Villa steht in dem auf einer leichten Anhöhe gelegenen Kairoer Viertel Mukattam, wo die Luft noch relativ frisch ist und die Grundstückspreise, wie er behauptet, überraschend günstig. Doch die eine Tochter hat soeben nach Beirut geheiratet, die andere will nach London gehen. Er versucht gar nicht erst, sie aufzuhalten. »This country is unliveable«, sagt er, »wir Ägypter verdienen etwas Besseres.« Wenn es nach ihm ginge, wäre ein säkularer Staat nach westlichem Vorbild die beste Lösung. Es wäre aber unrealistisch, auf ihn zu hoffen. Und er räumt selbst ein, der überwältigenden Mehrheit des jetzt noch stummen Volkes würde es wohl auch gar nicht entsprechen. »Wir Ägypter sind nun einmal ein religiöses Volk, wir haben unsere Rituale und unsere Feste. Und, hey, ihr dürft nicht vergessen: Wir haben schließlich Gott erfunden. We are the ones who invented God.« Eine Kifaya-Demonstrantin hat sich, als vergangenen Donnerstag 250 Protestierende festgenommen und teils von den Sicherheitskräften verprügelt wurden, in einem vorbeifahrenden Minibus in Sicherheit gebracht. Die Minibusse sind das Transportmittel der ärmeren Kairener, chronisch überfüllt, sie fahren mit geöffneten Türen. Die Demonstrantin also quetschte sich hinein und begann, den Insassen von der neuesten Polizeiaktion zu erzählen. Die Leute wurden immer aufgeregter. »Wieso erzählst du uns davon erst jetzt?«, habe einer der Mitfahrenden gerufen. »Hätte jeder Demonstrant sich in einen anderen Minibus geflüchtet, wir alle wären herausgesprungen und euch zu Hilfe gekommen!« Bischof der Kopten. In Ägypten ist die Religion all-

gegenwärtig, und das nicht nur bei den Muslimen. Geschätzte zehn Prozent der Bevölkerung sind zwar Araber wie die Mehrheit, aber eben christlichen Glaubens. Sie haben ihre eigene koptische Kirche und ihren eigenen Papst. Von den Spenden der Auslandskopten werden Kirchen gebaut wie die in dem Kairoer Viertel Shubra al-Kaima; der Diözese steht Bischof Markus vor, eine orientalische Frohnatur mit turbanähnlicherschwarzerKopfbedeckung,Wuschelbart und Silberkreuz. Eins seiner drei Handys ruft mit einem Jingle Bells-Klingelton, mitten im Mai, bei 32 Grad im Schatten: In seiner eigenen Person verkörpert Bischof Markus, der ursprünglich einmal Ingenieurwissenschaften studiert hatte, Schwerpunkt Automechanik, aufs Schönste das Nebeneinander von alter und neuer Zeit. Das Zusammenleben von Christen und Muslimen funktioniere im Alltag sehr gut, meint er, nur die Gesetze machten es den Christen schwer. »Darum wollen wir einen säkularen Staat.« Das lässt unsere westlich trainierten Ohren aufhorchen. Vor allem, weil bisher auch die Kopten das Ihre zu den Undurchdringlichkeiten des Familienrechts beigetragen haben. Weil die koptische Kirche keine Scheidung erlaubt, versuchen scheidungswillige Christinnen vermehrt, zum Islam überzutreten … Heißt das etwa, dass Bischof Markus die Zivilehe befürwortet, die erlauben würde, dass Paare auch ohne Priester oder Imam heiraten – und sich scheiden lassen – könnten? »Oh nein!«, erklärt der Bischof entschieden, Heirat und Ehe müssten in religiöser Hand bleiben, das betreffe schließlich nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern die Familie! Was meint er also, wenn er für eine Säkularisierung plädiert? Nun, den Abbau staatlich gestützter Privilegien, zum Beispiel Schulbücher, die beide Religionen gleich behandeln. »Die Gesetze müssen neutral sein, alle sollten gleich behandelt werden, ob Muslim oder Christ.« Und was wäre in einer solchen Gesellschaft mit denen, die weder ans Christentum noch an den Islam glauben? Bischof Markus beugt sich interessiert vor, von dieser dritten ägyptischen Religion hat er noch nichts gehört: »Und woran glauben die?« – »An nichts. Das wären dann Atheisten, die glauben gar nicht!« Als habe ihm ein Kind soeben mitgeteilt, es habe herausgefunden, dass der Weihnachtsmann der Opa vom Christkindchen sei, fängt Bischof Markus an zu lachen – etwas erstaunt, aber seiner Sache ganz gewiss: »An nichts? Diese Leute glauben an nichts? So etwas gibt es doch gar nicht!«

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" QUASTHOFF HÖRT

Ganz dein Diener

Der Schwermütige

Die ersten Sekunden erinnern an einen Science-Fiction-Film der sechziger Jahre: gläserne Synthesizer, dazu ein mechanisches Klappern. Die Maschinen erwachen. »Wir laden unsere Batterie. Jetzt sind wir voller Energie«, sagt eine Vocoder-Stimme. »Wir sind die Roboter.« Mancher Zuschauer muss im März 1978 sehr erschrocken sein, als die vier Herren von Kraftwerk im ZDF das erste Stück aus Die Mensch-Maschine vorführten. Was wollten sie bloß, diese eckigen Mutanten mit den akkuraten Scheiteln? Dem Spät-Hippie mussten Kraftwerk wie eine Maschine erscheinen, die es zu stürmen galt. Es gab anderes, worüber man sich hätte aufregen können: John Travolta, die Bee Gees oder die Sex Pistols. Aber besonders linksliberale Feuilletons fielen über die Düsseldorfer her, die sich selbstironisch als verstrahlte arische Schwiegersöhne inszenierten. Auch für die russischen Zeilen »Ya tvoy sluga, ya tvoy rabotnik« (»Ich bin dein Diener, ich bin dein Arbeiter«) gab es keine mildernden Umstände. Kraftwerk waren nicht nur von Futuristen wie El Lissitzky oder Majakowski inspiriert. Ihre Lust an der Provokation gründete in Fluxus und PerformanceKunst. Der Rest der Welt verstand. Bald wurden die germanisch-genau hämmernden Synthie-Linien weiterverarbeitet, zu Disco, HipHop, Techno und anderen elektronischen Körpermusiken. Wenn die selbst ernannten »Arbeiter der Stirn« heute ihre Konzerte mit der Mensch-Maschine beginnen, brandet der Jubel wie beim Gitarrenriff eines Rock-’n’-Roll-Gassenhauers. Die Mensch-Maschine zeigt Kraftwerk in der beständigsten und produktivsten Besetzung. Ralf Hütter und Florian Schneider sind bis heute der Kern des Kreativ-Reaktors. Seit Karl Bartos und Wolfgang Flür vom Netz gingen, entstand nur wenig Neues. Werkstattberichte aus dem Studio sind kaum bekannt. Nur Flür, der frühere Schlagwerker, berichtet in seinen verbitterten Memoiren, wie sein Einfluss durch die Elektronik zunehmend schwand. Er wurde nur

Es gibt eine Menge himmlischer Musik auf Erden, aber nur wenige Aufnahmen, die mir in jeder Lebenslage das Herz erwärmen können. Donny Hathaways Livealbum (Eastwest/Warner), aus dem Jahr 1972 gehört dazu. Hathaways Combo spielt damals im Bitter End Music Club, NYC. Der Sänger und Pianist aus St. Louis, Missouri, ist 25 und gerade auf dem Soulolymp angekommen. Auf der Cover-Rückseite sieht man ihn hinter seinem Fender Rhodes Piano sitzen. Er hebt den Kopf in Richtung Band, gleich wird er das Intro von What’s Going On aus dem Handgelenk schütteln. Dass jemand diesen Song noch schöner interpretieren kann als Marvin Gaye, habe ich nicht geglaubt, bis sich ein Mitschnitt des denkwürdigen Abends auf meiner Anlage drehte. Hathaways in der Wolle des Südens gefärbte Stimme klingt erdig und gospelsatt, obwohl auch ihm jene Samtigkeit in der Kehle sitzt, die Damen wie Alpengletscher schmelzen lässt. Im Bitter End ist dieser Effekt zu hören. Wenn das Auditorium die Musiker mit euphorischer Response durch The Ghetto und den Carol-King-Klassiker You’ve Got A Friend trägt, spürt man, dass pure Soulmusik nichts anderes ist als »Liebe, Wärme und Rhythmus, Glücklichsein und Gefühl«, wie es die schwarze Schauspielerin Gail Fisher einmal formuliert hat. Neben Stevie Wonder ist mir Donny Hathaway der liebste Vertreter dieser Kunst, weil er nicht nur göttergleich singt und originär komponiert, sondern auch ein traumwandlerisches Gespür für Coversongs und passende Duettpartner besitzt. Mit Roberta Flack schafft er mehrere Nummer-eins-Hits, etwa das oft gecoverte Killing Me Softly With His Song. Dass es Hathaway weit bringen würde, ist früh abzusehen. Gleich nach dem Studium engagiert ihn Curtis Mayfield als Songwriter und Producer, später arbeitet er für diverse Chess- and Stax-Labels, ehe ihm der Saxophonist King Curtis einen Kontrakt bei Atlantic vermittelt. In schneller Folge erscheinen drei Studio-LPs, die Soulgeschichte schreiben. Doch auf dem Höhepunkt des Erfolges packt Donny Hathaway die schwarze Melancholie. Am 13. Januar 1979 springt er aus dem Fenster eines New Yorker Hotels in den Tod. THOMAS QUASTHOFF

noch gelegentlich in Geschmacksfragen konsultiert. Die Rhythmen wurden von einem Sequenzer gespielt – auch wenn die Programmierung in der damaligen Analogtechnik noch penible Arbeit bedeutete. Hütter und Schneider testeten die Beats im Selbstversuch, ließen sie angeblich tagelang in nahezu unveränderter Form laufen. Sie warteten auf jene magischen Momente, in denen die Maschinen ihre Seele freilegten. Die Pose war ihnen schon Anfang der Siebziger so wichtig wie die Musik. Für Mensch-Maschine ließ die Band bei der Münchner Schaufensterpuppenmanufaktur Obermaier die berühmten Roboter anfertigen. Tracks wie Neonlicht oder Das Modell nahmen die New Wave locker um fünf Jahre vorweg. Aber nicht deshalb wirkt Die Mensch-Maschine aus heutiger Sicht visionär; sondern, weil sie erstmals in der Popmusik den allseits mechanisierten Menschen zum Thema macht. RALPH GEISENHANSLÜKE Kraftwerk: Die Mensch-Maschine (Kling Klang / EMI)

Kann man den Adler heiraten? HÖRBUCH: Sophie Rois liest Gertrud Kolmars »Susanna«

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Foto: Bettmann/corbis

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Kraftwerk: Die MenschMaschine

Foto: Surkamp Verlag

" 50 KLASSIKER DER MODERNEN MUSIK

lles tot. Zerstört. Verloren. Wir wissen es, noch bevor die erste Minute der Erzählung vorbei ist, denn wo der Tod den Schlüssel zur Erinnerung dreht, da ist nichts zu retten. Die sich Erinnernde, Erzählende weiß es, eine graue Frau, einst Erzieherin, die eine Todesanzeige liest, die alles wachruft. »Wo werde ich sein«, fragt sie dann, nein, lautet die Antwort nur, denn es gibt kein Morgen mehr. Aber das ist der schreckliche Rahmen, den die Geschichte vergessen will. Wir Heutigen kennen ihn auch so. Und Gertrud Kolmar, als sie die Erzählung Susanna schrieb, hat ihn geahnt. Aber wie Kolmar diese Kunst, diese Schönheit dem Tod ins Gesicht schlägt, das ist nicht zu fassen. 1943 wurde Gertrud Kolmar in Auschwitz ermordet. Susanna ist ihr letztes Werk, verfasst Anfang 1940, im Arbeitshaus, in das die Dichterin, Jüdin, 1939 ziehen musste, nachdem die paradiesische Gartenvilla bei Berlin enteignet war. So viel Verlust liegt im Anfang von Susanna, dass Sophie Rois diesen Anfang spricht wie eine, die schon gestorben ist. Aber dann strahlt etwas auf, in ihrer Stimme, in Todesnähe, und lässt die graue Frau noch für eine Frist leben: Die Erinnerung an Susan-

VON WILHELM TRAPP

na, »ihre Stirn so glatt und schimmernd wie Kugeln von Elfenbein« – und dieses Bild zieht sie ins Erinnern hinein wie helles Licht. Elf Jahre zuvor: Die Erzieherin wird in eine ostdeutsche Stadt bestellt, als Betreuerin der gemütskranken Susanna, die zwar schon 21 Jahre alt, aber doch noch ein Kind ist. Ihre Krankheit »geht so wie unter klarblauem Himmel in offenes Land, die Wolken über uns andern lasten ihr nicht«. Das Leiden bleibt namenlos, wie die Stadt, die Erzählerin, wie alles zur Welt Gehörende. Benannt und beseelt ist Susannas eigener Kosmos, wo Worte, Dinge, Mythen, Tod und Leben ineinander fließen. »Wir sind ertrunken«, sagt sie einmal und: »Ich bin doch ein Tier«, als sie den Fischadler heiraten will. Ein Kind? Nein, in solchen Sätzen liegt Wildes, Bedrohliches – eine unbedingte, fremde Liebe (die an der Welt zerbrechen wird, was sonst?). Susanna ist heilig. So kostbare Figuren werden selten erdichtet. Und Kolmars Prosa grenzt an Dichtung, ein Klangreich der Wortbilder und still fließenden Rhythmen, Satz für Satz. Das träumt von Hölderlin und erinnert an die verzweifelte Märchenpracht eines Bruno Schulz. In dieser eigen schönen Sprache ist die Menschenwürde aufgehoben.

Die Stimme von Sophie Rois ist eine eigentümliche, bröselnde Legierung aus kehliger Tiefe und Mädchenschrillheit. Schon das Bröseln sorgt dafür, dass Kolmar nie manieriert klingt, Rois’ Gestaltungskraft und Andrea Gerks Regie tun ein Übriges, um jene Schwebe zwischen Lebendigkeit und Traum herzustellen. Bei Susanna und der Erzieherin aber rast Rois auf ihrem Register hin und her, von Grau nach Glut und zurück, halsbrecherisch. Und das Risiko scheint das einzig Angemessene für den ungeheuerlichen Bau der Geschichte. Er geht über eine Kluft: Auf der einen Seite, im zukunftslosen Jetzt, steht die Erzählerin mit ihrem »Zeichen«, das sie verbirgt, »so gut es geht«. Auf der anderen Seite, damals, brannte Susannas Freude darüber, dass auch die Erzieherin Jüdin ist, »Freust Du dich sehr?« Der Abgrund zwischen diesem Jubel und dem Judenstern hat keinen Boden. Es gibt ein Wort dafür, dass Gertrud Kolmar darüber hinwegdichten konnte: Gnade. Gertrud Kolmar: Susanna Mit Sophie Rois, Regie: Andrea Gerk; herzrasen records, Berlin 2006; 2 CDs, 125 Min., 19,90 €

Das Insekt im Mann

Die ZEIT empfiehlt

DVD: Eine Edition versammelt fünf Variationen des Horrorfilms »Die Fliege«

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ndlich ist der Sommer da; auf dem Balkon beginnt es zu summen und zu brummen. Genau die richtige Zeit, um sich mal wieder Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Insekt zu machen. Gibt es zum Beispiel etwas Fremdartigeres als die gemeine Stubenfliege, die vor unseren Augen unappetitliche Dinge mit unserem Grillgut anstellt? Andererseits: Ist nicht auch der Mann ein Fremder, der gerade das Kotelett wendet? Und gäbe es vielleicht etwas, das ihn mit der Fliege verbindet? Etwas, das in uns selbst summt? Die Antworten auf solche Fragen weiß das so genannte man-into-insect-movie, ein kleines Subgenre des Horrorfilms, das in den Fünfzigern seine Blüte hatte und auf der Basis einer Erzählung von George Langelaan seine populärste Reihe hervorbrachte. Die fünf Filme um Die Fliege, die nun Ende Mai in einer

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VON SABINE HORST

limitierten Collector’s Box herauskommen, handeln von Männlichkeit und Wahn, Technikangst und manipulierter Natur, Hybris und Hybridisierung – lange bevor das H-Wort ein Diskursschlager wurde. Im Prozess der Teleportation – vulgo: Beamen –, die in Kurt Neumanns 1958 gedrehtem Klassiker ein Wissenschaftler an sich ausprobiert, geraten nicht nur die Atome des Helden und einer zufällig mittransportierten Fliege ins Schwingen, sondern auch die großen Themen der Moderne. Am Anfang markierte noch eine Maske mit Glubschaugen das Erwachen des Tiers im Mann. Erst die entwickelte Tricktechnik der Achtziger erlaubte es, die Geschichte richtig zu entfesseln. In David Cronenbergs Version des Stoffes durchläuft Jeff Goldblum als Vertreter einer zunächst noch recht fröhlichen und sogar erotischen mad science

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unter den Blicken seiner Freundin bizarre Stadien der »Fliegenwerdung«. Es ist eine wilde Dekonstruktions- und Rekonstruktionsorgie, die nicht nur den Menschen mit dem Insekt, sondern auch das Organische mit dem Anorganischen, den Horrorfilm mit dem Melodram und das Ephemere mit dem Ekligen fusioniert. Cronenbergs Film, der wie das Original eher unwürdig fortgesetzt wurde, zeigt, wozu das B-Picture in seinen besten Momenten imstande ist: Es setzt das scheinbar Triviale so ins Bild, dass wir die Größe darin erkennen können. Die Fliege – Collector’s Edition; »Die Fliege«; »Die Rückkehr der Fliege«; »Der Fluch der Fliege«; »Die Fliege 1+2«, Fox Home Entertainment, 7 DVDs

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Claude Debussy: Suite bergamasque, Deux arabesques, Children’s Corner, Images I und II Alain Planès (Klavier); HMC 901893 Debussy, gespielt auf einem Blüthner-Flügel von 1902. Liest sich ziemlich abwegig, klingt aber fantastisch und neu in den Klangfarben

Edward Elgar, William Walton: Cellokonzerte op. 85 und op. 68 Daniel Müller-Schott, Violoncello; Oslo Philharmonic Orch.; Ltg: André Previn; Orfeo C 621 061 A Musik aus Stefan Zweigs »Welt von gestern«, mit romantischer Geste, aber technisch vollendet

Musica Vulcanica. Scipione Lacorcia, 3. Madrigalbuch Gesualdo consort Amsterdam; Harry van der Kamp; Sony/BMG 8287 6811832 Traurige verdrechselte Stücke, brillant gesungen. Liebende der Welt, hört diese Musik

Foto: © Kasskara/Deutsche Grammophon

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Es lockt die Tiefe

Der Tanz ist aufgegangen

Händl Klaus ist der Dramatiker dieser Saison. Beim Theatertreffen und bei den Mülheimer Theatertagen wird der Mann aus Tirol gefeiert. Seine wahre Heimat ist der Abgrund unter der Oberfläche VON SILVIA STAMMEN

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kennbares Motiv. An jenem Abend gehen sie zusammen zum Sport, anschließend in die Disco und danach zum Sterben. Der Film will nichts erklären, sondern handelt vor allem von der Zeit danach, in der sich die Dorfbewohner wie unter einer unsichtbaren Glocke wieder im Alltag zurechtfinden. Von außen betrachtet, passiert fast nichts, aber in jeder Einstellung spürt man, wie der Schmerz unter der Oberfläche weiterwächst. Mit drei aufgeführten Stücken, von denen Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen im Jahr 2004

Pina Bauschs zauberhafte Choreografie »Vollmond« VON MELANIE SUCHY

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und Dunkel lockende Welt in dieser Saison zum Berliner Theatertreffen und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen wurden, hat Händl Klaus, geboren 1969 in Innsbruck, auf höchst eigenwillige Weise Wesentliches zur aktuellen Dramatik beigetragen. Seine Texte, in denen es heimtückisch-verspielt stets um Verlust und Abschied, Tod und Verschwinden geht, liegen quer zu jedem Trend. Es scheint, als habe hier ein Unzeitgemäßer auf gezielten Umwegen zu sich selbst gefunden. Die Spur lässt sich bis ins Jahr 1994 zurückverfolgen: Da erscheint im Grazer Literaturverlag Droschl ein 80 Seiten schmales Bändchen, den Titel (Legenden) bescheiden in Klammern gesetzt: drei Dutzend scheinbar naiv beobachtende, mit lauter unsichtbaren Falltüren durchsetzte Prosaminiaturen, für die Händl den Rauriser Literaturpreis und den Robert Walser-Preis bekommt. Danach staut sich der unentwegte Schreibstrom zunächst wieder in Kisten und Schubladen, die sich auf drei Behausungen in Wien, Berlin sowie Robert Walsers Geburtsstadt Biel verteilen – ein Grund, warum Händl, meist schreibend, viel in Nachtzügen unterwegs ist.

Sehnsucht nach dem anderen Klaus, der nicht mehr da ist Eine Schreibakademie hat er zum Glück nie besucht, womöglich hätte man ihm dort die mäandernde und stets zart rhythmisierte Diktion ausgetrieben, mit der er alltägliche Beobachtungen in schwebende Bildbeschreibungen verwandelt, die wie in einem unterirdischen Labyrinth hinter den Zeilen weiterzuwachsen und das Ungeheuerliche dezent auszusparen scheinen. »Man müsste ein finnisches Eidechslein sein, in den Bergen von Lappland«, heißt es in Dunkel lockende Welt, »acht Monate lang liegt da der Schnee. Denn diese Tiere können gefrieren. Im Frühling tauen sie auf, im Winter steht die Atmung wieder still. Aber eines Tages sterben die finnischen Eidechslein auch.« Überhaupt hat Händl es nicht so mit den offiziellen Wegen. Als Zehnjähriger bewirbt er sich heimlich am Innsbrucker Landestheater und tritt bald darauf in einer Zauberflöte für Kinder auf – ein erster Höhenflug. Künftig muss die Mutter den Kulturteil der Tiroler Tageszeitung verschwinden lassen, wenn dort wieder mal von einem seiner Auftritte die Rede ist. Der Vater soll sich über die schulfernen Aktivitäten des Sohns nicht unnötig aufregen. Nach dennoch bestandener Matura findet Händl in der Tiroler Kammerschauspielerin Julia Gschnitzer seine erste und einzige Theaterlehrerin. »Ich habe immer schon ein Faible gehabt für ältere Leute, weil sie mir einfach ein paar Zacken voraushaben«, erzählt er. »Und bei der Julia war das ganz extrem so. Jetzt schließt sich der Kreis, und ich bin heilfroh, dass ich sie für den Film gewonnen habe. Ihr Blick in die Welt ist so ein lebensbejahender. Ich bin da viel skeptischer.« Eine Skepsis, die sich noch verstärkt durch den Tod seines besten Jugendfreunds, der mit 25 in eine Gletscherspalte stürzt. »Er hieß auch Klaus, und wir saßen in derselben Schulbank«, erinnert Händl sich. »Er hat mich immer gerettet. Wenn der Lehrer sagte, ›Klaus‹, dann schoss er schon in die Höhe, um sich für mich ins Gefecht zu werfen. Für mich gibt es wirklich eine Zeit vor und nach diesem Tod.« Auch in dem sieben Jahre später entstandenen ersten Stück Ich ersehne die Alpen; So entstehen die Seen, geschrieben für Olivia Grigolli und Bruno Cathomas und vom Autor selbst 2001 beim Steirischen Herbst urinszeniert, ist noch ein Nachhall dieses schockhaften Verschwindens zu spüren.

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Foto: Muriel Gerstner

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in kalter Morgen Ende April. Auf einer Wiese am Waldrand, irgendwo in Tirol, parkt ein grüner Audi mit Blick auf Berge und Lärchenwald. Vom Auspuff führt ein Staubsaugerschlauch ins hintere Seitenfenster. Nichts rührt sich. Dann nähert sich eine ältere Frau in grauer Strickjacke, rüttelt an den Türen, reißt den Schlauch heraus. Aber an die Toten, deren bleiche Gesichter wie schlafend unter der Windschutzscheibe leuchten, kommt sie nicht heran. Sie sind zu dritt. Die Frau beginnt zu laufen, entlang an den Furchen eines frisch gepflügten Ackers, auf dem hell schimmernde Keimfolie ausgebreitet ist, immer weiter, bis sie in der Ferne fast verschwunden ist. »Und danke!« brüllt eine Stimme, und der Regisseur des Films, dessen Schlüsselszene hier gerade gedreht wird, läuft ebenfalls los, seiner Hauptdarstellerin entgegen. Sein Name ist Händl Klaus. Auf die südländische Umkehrung von Vor- und Familiennamen legt er Wert, seit er nicht mehr Schauspieler, sondern vor allem Schriftsteller ist – und seit kurzem auch Produzent, Drehbuchautor und Regisseur. Noch zwanzigmal muss Julia Gschnitzer an diesem Morgen an den Autotüren rütteln, den Schlauch aus dem Fenster reißen und bis zur Erschöpfung auf die Scheiben trommeln. Der 21. Take schließlich ist es dann: Das Gesicht ist leer gespielt, jede Künstlichkeit hat sich aufgelöst. Händl Klaus ist ein Perfektionist, unerbittlich zu sich selbst wie zu den anderen und dabei von einer überschwänglichen Liebenswürdigkeit, mit der er alle wieder für sich einnimmt. Der Film, den er auf eigene Faust, fast ohne Geld und mit einer eingeschworenen jungen Crew dreht, basiert auf dem authentischen Fall eines kollektiven Suizids. Im März 2003 vergiften sich drei junge Männer aus dem Vinschgau mit Autoabgasen. Es gibt keinen Abschiedsbrief und kein er-

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»Ich will dorthin gelangen, wo man ungefiltert denkt«, sagt HÄNDL KLAUS

Bei Wilde – der Mann mit den traurigen Augen, einer Koproduktion des Steirischen Herbstes mit dem Schauspiel Hannover, findet sich 2003 die künstlerische Wahlfamilie des Händl Klaus: Regisseur Sebastian Nübling, Bühnenbildnerin Muriel Gerstner und der Komponist Lars Wittershagen. Die drei, sagt er, bilden »das Biotop, in das ich hineinschreibe. Ans Schreiben gehe ich seither mit diesen Menschen im Raum, und der Raum spielt eine immer größere Rolle. Das hat sicher auch damit zu tun, dass man an sich unbehaust ist und dass das Schreiben eben einen Raum schafft, vorübergehend zumindest.«

Der Phantomschmerz wird zur künstlerischen Kraft Mit einer Mischung aus höflichem Konversationston und latenter Bedrohung entwirft Sebastian Nübling in seinen Inszenierungen von Wilde und Dunkel lockende Welt verlogene Familienszenarios, in denen das Verdrängte zwischen ineinander verzahnten Halbsätzen lauert. »Familie ist eine Lebensform«, so Händl, »die selten gelingt, deswegen fasziniert sie mich.« Mit seinem Vorhaben, »eine Familien-Sprache des Abgrunds zu finden, dorthin zu gelangen, wo man ungefiltert denkt«, sei er bei Wilde zunächst gescheitert, sagt Händl Klaus. »Die Lösung lag dann nicht im Sprechen, sondern im Verschweigen.« Der Phantomschmerz als poetisches Prinzip findet sich auch in Händls jüngstem Werk, das mit dem von Tanja Blixen geliehenen Titel Dunkel lockende Welt zunächst einmal schelmisch auf falsche Fährten führt, denn nicht Afrika, sondern das kalte Finnland, in dem die Eidechslein gefrieren und im Frühjahr wieder zum Leben erwachen, ist der Sehnsuchtsort in

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diesem musikalisch konstruierten Pas de trois, bei dem jede Szene um einen Abwesenden kreist und eine sauber abgeschnittene kleine Zehe für Suspense sorgt. Corinna, eine Kieferchirurgin mit leicht hysterischem Helfersyndrom, ihr lüstern-verklemmter Vermieter Herr Hufschmied und die von den Wundern der Fotosynthese faszinierte Mutter Mechthild liefern sich Wortgefechte voller klaffender Sinngruben, wobei man bis zum Ende nicht wirklich erfährt, wen nun welches Schicksal ereilt, ob Corinnas Freund Marcel der ehemalige Besitzer des Zehs oder Herr Hufschmied vielleicht sogar ihr Vater ist. Ungeheuerliches könnte geschehen sein – oder auch gar nichts. Wie bei einem Krimi der schwarzen Serie lagert Händl Schichten des Verdachts übereinander, ohne sie je wieder abzutragen. Zum Glück, denn das wunderbare Schauspielertrio Wiebke Puls, Jochen Noch und Gundi Ellert tanzt so verzweifelt elegant und mörderisch komisch über all die schillernden Andeutungen hinweg, dass es eine Lust ist – als wäre Verdrängung das wahre Leben. Wenn Händl sich nach der heftig gefeierten Mülheimer Aufführung verbeugt, als wäre er ein schüchterner Schulbub und nicht, vielleicht, der kommende »Dramatiker des Jahres«, hat man den Eindruck, er würde sich am liebsten selber eine Falltür herbeizaubern, um darin zu verschwinden. Inzwischen ist er wohl längst wieder glücklich aus dem Rampenlicht geflohen, über alle Berge zu neuen Drehorten oder endlich wieder zu Schreibtisch und Büchern. Das nächste Stück ist schon in Arbeit. Furcht und Zittern soll es heißen, ein Singspiel nach Kierkegaard, und sicher wird es auf die eine oder andere Weise vom Verschwinden handeln.

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s sprudelt und fließt, ist dicht und doch flüchtig. Die Premiere von Pina Bausch heißt nicht, wie gewohnt, erst mal Neues Stück, sondern gleich Vollmond. Nach dem Himmelsgebilde, dessen ewiges Werden und Vergehen durch den wandernden Schatten bewirkt wird und durch das Kreisen im Raum und umeinander. Die Metapher passt zu den Nachtbildern, die das Tanztheater in Wuppertal seit dreißig Jahren prägen. Aber die große Kulturgeschichte, die auf dem Titel lastet, will das Stück nicht abarbeiten, sondern findet seine eigenen, schlicht-schönen Assoziationen. Zunächst beleuchtet der Mond nur indirekt das Bühnengeschehen: Auf die Bühne scheint fahles, gelbliches Licht, vor allem regnet es fast pausenlos. Durch den schwarzen Raum zieht ein dunkler Bach, und rechts wölbt sich schiefergrau ein Felsbrocken. Die einzigen Lebewesen aber sind die Tänzer. Zwei Männer schöpfen Luft in leere Flaschen. Und siehe da: Der Schwung brummt. Wenn der eine Tänzer seine Arme, Beine, Ellbogen und Knie um sich herumwirbelt, bremsenlos geschmeidig, meint man, auch den Klang der Bewegung zu hören. Das je Eigene der meist solistischen Choreografien ist der Rhythmus zwischen Dehnen und Loslassen, Halten und Werfen einer Bewegung; ein je eigener Ausdruck für »Wasser, Himmel, Nacht«. Dabei schauen die Tänzer immer wieder nach oben, hintenüber gebogen; breiten die Arme aus, als wollten sie immer noch größer werden, mehr umfassen, als reiche ihnen ihr Körper nicht aus. Der Zuschauer spürt dies als Sehnsucht: den Drang zu tanzen, Licht zu suchen, Tropfen fangen und fühlen zu wollen. Das ist kein Lebenslustigjubeltanz wie in früheren Stücken des Wuppertaler Tanztheaters. Auch scheinen die Frauen hier in einem anderen Element zu atmen. Sie spreizen Finger wie kleine Flossen; der Kopf zwischen weiten Armen zuckt. Kleine Wellen im Handgelenk und große durch den ganzen Körper, der unter den bodenlangen Kleidern fußlos wird. Gebremste Schwünge. Auch wenn die Musik manchmal zu seicht säuselt, zwischen herzerfüllenden balkanischzigeunerischen Melodien, vermeidet das Stück meisterhaft die Kitschpfützen des Themas. Stattdessen schwebt es einfach im Wasser. Schon bei Arien 1979 war die Bühne geflutet, oft schon spritzte und platschte es in den Stücken von Pina Bausch. In Vollmond nun zeigt sich: Für eine eindrucksvolle Premiere muss es nicht immer das Superneue sein. Wir sehen wie gewohnt theatrale Zwischenszenen, Übungen aus dem Tanzstudio, Kräftemessen der Männer und Dehnbarkeitsvergleiche von Frauen. Gehässigkeiten, Ungeschicklichkeiten. Sie stehen für einen Alltag aus belächelnswerten Kleinigkeiten und fächeln der Wehmut Licht zu. Zitate aus früheren Stücken wehen hinein. Dominique Mercy, der Senior der Truppe und wunderbar ausdrucksvoll in der kleinsten Nuance, steht oft abseits der elf geschäftigen anderen. Einmal eilt er auf allen Vieren herein, dann schüttelt er seine Glieder wie im sprachlosen Gebet. Am Ende fließt alles über. Die Tänzer rennen, tanzen ins Wasser, begießen den Felsen. Schließlich reihen sie sich völlig erschöpft für den Applaus auf. Sie lächeln nicht. Wasser rinnt ihnen übers Gesicht wie Tränen. Vollmond ist stark, weil es der alten Tanztheaterkraft vertraut, den Wurzeln des Ausdruckstanzes, der Anfang des 20. Jahrhunderts den von Zwängen befreiten Körper als ästhetisches Prinzip feierte. Der andere Große der deutschen Tanzszene, William Forsythe, der seinerseits die Ballettgeschichte fortschreibt, kommentierte kürzlich eindrucksvoll mit seinen Three Atmospheric Studies die bedrohliche politische Weltlage. Pina Bausch aber wagt sich dichter an den einzelnen Menschen. Deshalb geht einem auch ihr Stück näher.

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" GERD BUCERIUS

Die Augen blitzten

Prinz im Klo Foto: Piffl Medien

Eine Vorstadtjugend zwischen Anpassung und Verweigerung – Christoph Hochhäuslers großer stiller Film »Falscher Bekenner« VON BIRGIT GLOMBITZA

ARMIN (Constantin von Jascheroff) und das Mädchen, das er liebt, die unerreichbare KATJA (Nora von Waldstätten)

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rmin hat ein Gesicht, das man sich gut merken kann. Der verhuschte Junge mit melancholisch verschattetem Blick könnte der Prinz in einem dieser tschechischen Märchenfilme sein, in denen alles so weich und sanft aussieht, dass man selbst das Böse in Schutz nehmen möchte. Armins Welt ist eine Vorstadtsiedlung von Mönchengladbach. Mit der Schule ist er fertig. Jeden Tag soll er eine Bewerbung schreiben, das hat er seiner Mutter versprochen. Einer Frau, die noch hofft, sie könne Kontakt zur Seele ihres Sohnes aufnehmen, wenn sie dem Wortkargen geschälte Äpfelchen vor den Fernseher stellt. Die älteren Brüder haben sich längst eine eigene Existenz aufgebaut, machen Karriere oder gründen eine Familie. Nur der Jüngste hat keinen Plan für die Zukunft. Ihn interessieren weder Bausparverträge noch Utopien vom freien, wilden Leben. Falscher Bekenner von Christoph Hochhäusler, der sich der losen Regisseurbewegung Berliner Schule zugehörig fühlt, ist ein leiser, geheimnisvoller Film. Nicht märchenhaft überhöht wie sein Vorgänger (Milchwald). Er erzählt vom Nihilismus der mittleren Reife und blickt mit schon ethnologischer Distanz in die Black Box einer pubertären Welt. Mit Constantin von Jascheroff

hat Hochhäusler obendrein einen Hauptdarsteller gefunden, der trotz zahlreicher TV-Auftritte eine wunderbare schauspielerische Unschuld und scheue Intensität auf die Leinwand bringt. Die Kamera von Bernhard Keller umgibt das Phlegma des Helden mit zugestellten Räumen, in denen es nie richtig hell wird. In durchkomponierten halbnahen Tableaus wird Armins Jugendzimmer mit seinen Hanteln, der grau gestreiften Bettwäsche, den Raketenbildern und Konstruktionszeichnungen diverser Sportwagen zu einer verstörenden Landschaft aus phallischen Triumphen und verschlossenem Wahn. Weitet sich der Blick einmal zur Totalen, dann nicht um gesellschaftspathologische Zusammenhänge für einen Amoklauf zu liefern, sondern um den Streunenden im Niemandsland zwischen Leitplanken, Auffahrten und Grünstreifen auszusetzen. Am liebsten treibt Armin sich an der Autobahn herum. Auf dem Raststättenklo studiert er die obszönen Botschaften auf den Kacheln und fantasiert sich in Sexszenen mit einem Trupp Motorradfahrer. Einmal auf dem Nachhauseweg kommt er an einem verunglückten Jaguar vorbei. Er nimmt ein Trümmerstück mit nach Hause, wie ein Souvenir. Am nächsten Tag schreibt er keine Bewerbung, sondern einen Bekennerbrief. Der

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Unfall soll sein »Werk« sein. Armin ist zufrieden. Er hat endlich etwas zu erledigen. Schuld kann auch Erfüllung sein. Falsche Bekenner ist ein Film über eine Zwischenexistenz. Eine Generation zwischen Suche und Lethargie, Anpassung und Verweigerung. Es geht um die unbestimmte Sehnsucht nach einer Wucht, die das eigene, kleine Leben endlich in eine neue Richtung schubsen könnte. So wie der Motorradfahrer in der schweren Lederkombi, an den sich Armin einmal auf einer tagträumerischen Fahrt kuschelt und der ihm später zwischen Hanteln und Raketen seine Unschuld nimmt. Schnell und unverbindlich, ohne sich auszuziehen. Hochhäuslers Erzählstil bleibt schwebend. Hier wird nichts wieder gut oder ganz. Die Bilder bleiben ausrisshaft, Sätze hängen wie Fahnen in der Luft. Und bevor sich ein Konflikt zuspitzen kann, brechen die Szenen ab. So wird nie ganz klar, ob Terrorakte, Toilettensex, Brandstiftungen zum Erlebten oder Erträumten zählen. Da steigen die Eltern die Treppe hoch, während sich oben der Sprössling seinen Sexfantasien hingibt. Und nichts passiert. Niemand wird bei irgendetwas ertappt. Es ist eine elegante Art, die verletztende Gleichgültigkeit freizulegen, die auch hier hinter allen familiären Zuwendungen nistet.

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Hochhäusler zeigt den Effekt, aber nicht die Tat, das führerlos auf dem Asphalt liegende Motorrad, aber nicht die Sabotage, das fassungslose Gesicht von Armins Mutter, aber nicht, wie ihr Sohn den Rollstuhl des Nachbarjungen demoliert. Wenn alles gezeigt wird, gibt es nichts mehr zu sehen, hat Bresson einmal geschrieben, und für Hochhäusler ist das zur Maxime geworden. In Falscher Bekenner macht sich einer selbst den Prozess und der ignoranten Welt gleich mit. Als die Polizei Armin in Handschellen abführt, kommt das Mädchen vorbei, das er liebt, die unerreichbare Katja. Er schaut zu ihr hin, versichert sich, ob sie ihn endlich sieht. Sie schaut zurück. Ungläubig, erschrocken, ein Blickwechsel wie bei Peckinpah. Zum ersten Mal lächelt der Prinz. Erlöst und frei, als sei er endlich angekommen in seinem Privatreich, im wunschlosen Unglück.

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SEHENSWERT »Der Tintenfisch und der Wal« von Noah Baumbach. »Workingman’s Death« von Michael Glawogger. »We Feed The World« von Erwin Wagenhofer

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Schon die Gräfin hielt die ZEIT für zu dick. »Ich finde diese sechzig Seiten absolut unerträglich«, schimpfte sie, und dass sie dabei gefilmt wurde, schien sie nicht weiter zu kümmern. Auch Gerd Bucerius ließ sich von der Fernsehkamera im Konferenzraum nicht beirren: »Marion«, rief der ZEIT-Verleger, »die breite Masse ist eben nicht so überfüttert, wie wir das sind, und sieht das Lesen nicht als eine solche Last an, eine tägliche Plage!« Seine Augen blitzten listig hinter dicken Brillengläsern. Gute Darsteller waren sie eben auch, die Gründer der ZEIT. Und sie hatten einen Sinn für Dramatik. Allein deshalb lohnt es sich, den Film zu sehen, den die ARD zum hundertsten Geburtstag von Gerd Bucerius zeigt (Donnerstag, 18. Mai, 23.15 Uhr, Wiederholung im NDR am Dienstag, 23. Mai, 22.15 Uhr). Verblüffend ist die Fülle von Originalaufnahmen. Die meisten Interviews mit Bucerius stammen aus den achtziger Jahren; später ist er kaum noch öffentlich aufgetreten. Gut 15 Stunden Material haben die Regisseure Florian Huber und Knut Weinrich gesichtet. Selten waren in einem Fernsehfilm so viele bewegte Bilder von den großen Gestalten des deutschen Journalismus zu sehen: Henri Nannen am Steuer eines Sportcoupés. Axel Springer, lässig mit einem »Morgen, meine Herren« grüßend und mit Aktenkoffer im Fahrstuhl verschwindend. Der junge Rudolf Augstein an seinem Schreibtisch, schmallippig über ein Manuskript gebeugt. Und immer wieder Gerd Bucerius, durchs Bild hastend, in die Kamera blinzelnd, mit Zeitgenossen diskutierend. Dieser Film ist nicht nur die Biografie eines unruhigen Mannes, sondern ein Album deutscher Pressegeschichte. Ob neben den historischen Bildern die nachgestellten, mit Schauspielern gedrehten Szenen notwendig waren – darüber lässt sich streiten. Ein Film wie dieser kann sich allerdings schwerlich in geschnittenem Archivmaterial erschöpfen. Also kommen auch Weggefährten Bucerius’ zu Wort: Theo Sommer, Helmut Schmidt, Ralf Dahrendorf, Fritz J. Raddatz und andere. Ihre Anekdoten ergänzen das Mosaik eines deutschen Politikerund Intellektuellenlebens. MARCUS KRÄMER

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In der Oberklasse Eine der feinsten Kunstadressen in New York, die Morgan Library, war bislang ein Geheimtipp. Das soll ein Anbau des Architekten Renzo Piano jetzt ändern VON HANS-JOACHIM MÜLLER

So viel Kunst, so wenig Überblick. Wo war nochmal der Michelangelo? Allmählich wurden die Dinge unübersichtlich. Als dem Kunstgrossisten eine Quittung über 10 000 Pfund in die Hände geriet, die er für einen bronzenen Herkulesknaben des Michelangelo bezahlt haben soll, wollte er vom wissenschaftlichen Personal wissen, wo das teure Stück eigentlich stehe. Sehr diplomatisch schrieb die Hauskonservatorin Belle da Costa Greene zurück, das teure Stück befinde sich mitten im Büchersalon, eine Zierde seit Jahren, unmittelbar vor dem Sessel, in dem der kunstsinnige Herr allemal auszuruhen geruhe.

Zuletzt fehlte nur noch die vaterländische Geste. Pierpont Morgans Vermächtnis bestimmte eine der größten Kunstsammlungen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert for the instruction and pleasure of the American people. 1917 erhielt das Metropolitan Museum mehrere tausend Objekte antiker und mittelalterlicher Kunst. Was in Familienbesitz verblieb, war stattlich genug, um eine der feinsten Kunstadressen in New York zu werden.

Fast ehrfürchtig konserviert Renzo Piano den Geist des Ortes Seit 1924 ist die Morgan Library öffentlich. Und wer einmal die Palazzi an der Ecke Madison Avenue und 36. Straße besucht hat, die sich der Sammler im Renaissance-Stil erbauen ließ, der wusste nie genau, was er mehr bewundern sollte: die wunderbaren Handschriften und Frühdrucke, die gediegene Ruhe, als sei der Bildtraum des Hieronymus im Gehäus’ doch einmal wahr geworden, oder die plüschige Eleganz, in die sich triumphaler Kapitalismus hier kleidet. Unvergesslich jedenfalls die kurzen Wege zwischen Pietro Peruginos zartliniger Madonna mit Heiligen zum Würdebild seiner Magnifizenz des Hausherrn in roter Senatorenschärpe. Und auch der Herkulesknabe steht noch auf dem ausladenden Tisch. Nur dass seine Michelangelo-Herkunft längst widerlegt ist und dass Pierpont, wenn er es damals geahnt hätte, sogleich eine zweite Anfrage ans wissenschaftliche Personal gerichtet hätte. Nie aber wäre man auf den Gedanken gekommen, dass am Ort gepflegter Zurückgezogenheit irgendwelcher Handlungsbedarf bestehen könnte und dem integralen Idyll noch etwas hinzufügen wäre. Es muss der Trust, der die Morganschen Kulturgeschäfte übernommen hat, das expansive Familien-Gen mit übernommen haben. Anders ist es nicht zu erklären, warum diese nie wirklich in ihren Möglichkeiten beschränkte oder vom Publikum überlaufene Institution nun einen Annex eröffnet hat, der sie mit einem Mal in die Oberklasse der Anbieter und Veranstalter hebt. Dabei sind die Räume, die Renzo Piano zusätzlich geschaffen hat, von der Straße aus kaum sichtbar. Zur Stadt hin öffnet sich die neue – 106 Millionen Dollar teure – Museumsanlage auch jetzt nicht mit großer Gebärde. Und das ist nicht das Geringste, was man an diesem jüngsten Beispiel der unerschöpflichen Bauaufgabe Museum rühmen darf. Tatsächlich hat der Genueser Architekt seinen baumeisterlichen Ehrgeiz hier auf eine Weise zurückgenommen, dass die Idee fast kühn erscheint, der Urheber dieser Räume könnte derselbe sein, dem die Kunstwelt so markante Häuser wie das Centre Pompidou in Paris, die Menil Collection in

Foto: Michel Denance

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eld, kein Thema. Als der junge Pierpont Morgan wie jeder erfolgreiche Altamerikaner auf Grand Tour durch Europa ging, hat das Bildungserlebnis schon etwas kosten dürfen. Nach einem Besuch der Hausbank in Paris vertraute der kaum Achtzehnjährige dem Tagebuch an, was nicht jeder wissen musste: »I held £ 1 000 000 in my hand.« Nun wäre das schön gefüllte Portefeuille womöglich unentdeckt geblieben, wenn Vater und Sohn nicht alsbald begonnen hätten, sich auf die öffentliche Sache Kunst zu werfen. Beim Malerfürsten Kaulbach in München erwarb man ein Hirtenpaar, weitgehend unbekleidet und sehr verliebt. Beim amerikanischen Malerfürsten Elihu Vedder eine Nausicaa mit verwegen kostümierter Gefolgschaft. Das Vermögen wuchs, die Sammlung mit ihm. Mit den Jahren verfeinerte sich auch der Geschmack. Die in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts boomende nordamerikanische Wirtschaft brauchte Kapital aus Europa. Die energischen Morgans finanzierten, verdienten und reisten, weil es noch kein E-Banking gab, zwischen den Kontinenten ständig hin und her. So konnte es nicht ausbleiben, dass auch das Netz der Kunsthändler, Agenten und assoziierten Berater enger und der Raritätenimport aus der Alten Welt immer gewichtiger wurde. Bald bekamen die Amoretten aus der Frühphase Morganscher Kulturansprüche ehrwürdige Konkurrenz. Römische Silberbecher, ein Erstdruck der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, edelsteinbesetzte Handschriften aus dem Mittelalter, drei von 49 erhaltenen Gutenberg-Bibeln, das Lindauer Evangeliar aus dem späten 9. Jahrhundert, assyrische Rollsiegel, babylonische Amulette, Rembrandt-Zeichnungen, kostbare Bucheinbände, Dürers Adam und Eva von 1504, Autografen, Schuberts Winterreise, eine Herrscherstatue aus Ur, Memlings Mann mit Nelke, Wagners handschriftliches Meistersinger-Libretto, das Stundenbuch der Farnese, illuminiert von Giulio Clovio …

Der Neubau öffnet den Altbau an Rück- und Seitenwänden – das Museum wird zum CAMPUS

Houston, das Beyeler Museum in Basel oder das Paul Klee Zentrum in Bern verdankt. Geradezu ehrfürchtig konserviert Piano den Charme verblichener Repräsentation, zieht sich mit gutem Gespür für den Geist des Ortes auf das Terrain zwischen den vorhandenen Gebäuden zurück. Morgans Bibliothekspalast aus dem Jahr 1906, der Eckbau von 1928 und das später erworbene Brownstone-Haus aus dem 19. Jahrhundert bleiben das kuriose architektonische Ensemble, das sie immer waren. Piano öffnet sie nur an Rückoder Seitwänden, verbindet sie mit viel Glas und kassettenartigen Stahlwänden. So entstehen weite Sichtachsen zwischen den Häusern, und die einzelnen Trakte für Ausstellungen und Verwaltung sind alle von einer überdachten Piazza im Zentrum der Anlage aus zugänglich. Das neue Raumsystem wirkt sachlich, angemessen – eher nach Campus, nach Wissenschaftszent-

Das ist wie beim Sex

Illustration: Martin Burgdorff für DIE ZEIT

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ieber Harald, wie kommen Sie denn darauf, dass ich im Fußball nach Poesie, Musik und Kunst suchen würde? Tu ich gar nicht. Ich suche nach Poesie in – na ja, der Poesie. Fußball ist ein lustiger und entspannender Zeitvertreib, nichts weiter. Aber Sie, Harald, Sie klingen ein bisschen angespannt. Und Sie widersprechen sich: Nachdem Sie angeboten (und es auch erfolgreich getan) haben, die Hürde Hitler gleich anfangs zu überwinden, kommen Sie jetzt irgendwie defensiv mit deutschem Wirtschaftswunder und dem Niedergang des britischen Empire an. Und mit Freud! Ich glaube, er würde sein weises Haupt schütteln angesichts Ihres Versuchs, mit ihm den deutschen Fußball zu erklären. Ihre Jungs als Wiedergeburt der traumatisierten Nation nach dem Zweiten Weltkrieg? Autsch! Klarer Fall von (falscher) Übertragung, würde er sagen. Und Ihre Jungs würden sagen, trink ein Bier (oder zehn) und entspann dich. Warum dieser Sturm und Drang? Ist doch bloß Fußball.

Dass es, wie Sie sagen, vor allem ums Gewinnen, nicht um die Schönheit des Spiels gehe, ist eine absolut männliche Haltung. Männer wundern sich, wenn Frauen sagen, der Sex habe ihnen auch ohne Orgasmus Spaß gemacht. Dabei kommt das vor – häufig. Frauen wissen, dass es sich auch ohne Finale toll anfühlen kann, und im Übrigen haben sie gelernt, ohne zu leben, weil die Männer es so eilig haben, dass das Spiel schon vor der Halbzeit um ist. Was die roboterhafte Verlässlichkeit der Deutschen in puncto Gewinnen betrifft, würde Ihnen der englische Fußballstar Lineker zustimmen; 1990 sagte er: »Fußball ist ein einfaches Spiel; 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball hinterher, und am Ende gewinnen die Deutschen.« Aber das war 1990. Jetzt schreiben wir 2006, mein Lieber. Rooneys gebrochener Fuß heilt. Und wir haben schon das nächste Wunderkind: Theo Walcott. Den sollten Sie mal laufen sehen. Vielleicht lohnt es sich doch, Freud zu konsultieren, wenn es um Fußball geht. Denken wir an

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rum als nach Bühne für kunstbetriebliche Spektakel. Für Blockbuster-Veranstaltungen ist hier kein Platz und nicht die Umgebung. The Morgan Library & Museum will der Ort der kleinen Formate und der stillen Töne bleiben. Und wie wunderbar die Sammlungen unter die alten und neuen Dächer passen, beweist ein ganzes Set von Eröffnungspräsentationen. Im Mittelpunkt der grandiose Zeichnungsbestand, flankiert von mittelalterlichen Handschriften, historischen Manuskripten und Musik-Autografen. Kammerkunst vom Allerfeinsten. Dem Patron hätte es gefallen. Pierpont Morgan hätte sich den Sessel ins neue Forum schieben lassen und in aller Ruhe darüber nachgedacht, wie der »flämisch« gewordene Herkulesknabe vielleicht doch noch als Michelangelo zu retten wäre. The Morgan Library & Museum, New York. Die Zeichnungsausstellung »From Leonardo to Pollock« bis 2. Juli

Das Bild der Gipfelstürmerin ging um die Welt, das Foto der halb nackten Kämpferin von Greenpeace, die auf dem Wiener Treffen der Regierungschefs von Europa und Lateinamerika gegen den Bau einer Zellulosefabrik an der Grenze zwischen Uruguay und Argentinien protestierte. Hier also, auf dem Abschlussfoto, die Phalanx der grauen Herren und Damen und davor Evangelina Carrozo! auf hohen Stiefeln! und mit hohen Backen! und mit hochgereckten Armen, die das Schild trugen »Basta de Papeleras Contaminantes – No Pulpmill Pollution«. Es ist leider wahr: Keiner und keine der Präsidenten und Präsidentinnen in Wien und keiner und keine der Leser und Leserinnen der ZEIT würde auch nur den kleinsten Pups auf diese Papierfabrik im Dschungel gegeben haben, wäre nicht Evangelina Carrozo! mit ihren hohen Backen! wie der Engel des Gerichts erschienen. Man erkennt daran die Macht, die der Eros noch immer hat, obwohl doch der wahre Grund der Kinderarmut in diesem Land nicht der mangelnde Kinderwunsch ist, sondern die mangelnde Vögelfrequenz (dies geht aus einer privaten Umfrage zweifelsfrei hervor), mithin der Mangel an erotischer Hingabebereitschaft und Empfänglichkeit. »Überall ist Wunderland«, behauptet Ringelnatz, »überall ist Leben. Bei meiner Tante im Strumpfenband. Wie irgendwo daneben.« Irgendwo daneben: Dies soll uns ein Fingerzeig sein, so wie Evangelinas Erscheinung (ah, diese hohen Backen!) samt ihrer berückenden Wirkung auf die Öffentlichkeit ein ermutigendes Zeichen dafür ist, dass der Sinn fürs Erotische nicht völlig erstorben ist. Man muss nur fantasievoller hinschauen, so wie es der Kolumnist der Welt getan hat, der in Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen – was erkannt hat? Es fällt uns wie Schuppen in die Hose beziehungsweise das Herz von den Augen: Vagina! Weshalb hält sich der alte Mann krampfhaft fest, weshalb deutet die junge Frau hinab in die Tiefe, weshalb trägt sie ein rotes Kleid? Klarer Phall, überall ist Wunderland. Was auch der Spiegel erkannt hat, der in seiner jüngsten Ausgabe über neueste Wunderdrogen berichtet, denen die Pharmaindustrie auf der Spur ist. Ein Nasenspray, der in Frauen wilde Lüste weckt, steht kurz vor der Markteinführung. Ein Nasenspray! Erinnert sich jemand an Walter Shandys Nasentheorie, derzufolge Form und Größe einer Nase auf Charakter, Intelligenz und Potenz schließen lassen? Die Nase, nichts anderes, ist die Quelle des Erotischen, man begreife es endlich und sehe, jetzt im Mai: überall nackte Nasen! FINIS Audio a www.zeit.de/audio

Am Ende zählt nur der Sieg? Von wegen! Beim Fußball geht’s auch um Schönheit – und um Liebe VON ELENA LAPPIN

Deutschland – England ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein aus Berlin und die Schriftstellerin Elena Lappin aus London liefern sich an dieser Stelle jede Woche bis zum Ende der Fußball-WM ein Match in Briefen

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seine brillante Erkenntnis, dass wir im Leben entweder dem Lustprinzip oder dem Realitätsprinzip folgen. Ersteres fordert uns auf, alles zu tun, was sich gut anfühlt, Letzteres ordnet die Lust der Arbeit unter. England, anders als Deutschland, verachtet die Arbeit und verehrt Spiel und Spaß. Das muss sich für Ihre deutschen Ohren unmoralisch anhören, aber wir finden es richtig so. Wir bewundern uns nicht dafür – im Gegenteil: Selbstlob ist hier verpönt, und wer es damit versucht, wird für einen Amerikaner gehalten. England basiert auf Selbstironie. Ständig kritisieren wir alles Britische, und wir sind verblüfft, dass London, eine Stadt, in der nichts funktioniert, die nächsten Olympischen Spiele ausrichten soll. Aber irgendwie macht uns genau dieser Unernst auf mysteriöse Weise unverwüstlich fürs Finale. Und es kann wirklich passieren, dass wir es schaffen. Ist schon vorgekommen. Wenn Sie also sehen, wie die Wellen der Leidenschaft bei den englischen Fans hochschlagen, dür-

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fen Sie daraus nicht schließen, wir glaubten an unsere Unbesiegbarkeit. Es hat mehr mit Solidarität und Freude zu tun – und Liebe. Wir lieben dieses Spiel einfach. Wo man hinschaut, kicken kleine Jungs mit Leidenschaft. Wir finden unsere Rooneys und Walcotts und Beckhams auf diesen Spielplätzen, und wenn sie ihrem Lustprinzip folgen (für reelles Geld), befriedigen sie unsere Lust gleich mit. Hoffentlich auch Ihre, lieber Harald. Und während wir auf den Beginn der Weltmeisterschaft warten, möchte ich gern auf die Poesie zurückkommen und Sie mit diesen Fußballversen unseres Barden William Shakespeare erfreuen. Er schrieb sie 1592 in seiner Komödie der Irrungen: »Bin ich so rund mit Euch, als Ihr mit mir, / Daß Ihr mich wie ’nen Fußball schlagt und stoßt? / Hin und zurück nach Lust schlägt mich ein jeder: / Soll das noch lange währn, so näht mich erst in Leder! AUS DEM ENGLISCHEN VON FRANK HEIBERT

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Mit Hasen und Fasanen bestochen Teller und Tassen für 250 000 Euro – das bayerische Königsservice wird versteigert

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ie Fürstenbergs, die Welfen, Gloria von Thurn & Taxis, sie alle haben in den letzten Jahren nicht gezögert, das Familienerbe zu veräußern. Nun trennt sich das Haus Bayern von einem königlichen Prunkservice aus der Nymphenburger Porzellanmanufaktur, das 1917/18 zur goldenen Hochzeit von König Ludwig III. und Marie Therese Henriette Dorothea, Erzherzogin von Österreich-Este, als Unikat gefertigt wurde. Das 290-teilige Service für 36 Personen und sieben Gänge wird am 28. Juni bei Neumeister in München mit einem moderat geschätzten Erlös von 250 000 Euro versteigert. Nur vier Mal war das zwölfeckige Perlservice der Wittelsbacher überhaupt in Gebrauch, es ist so gut wie neu. Die Qualität der in Blau, Weiß und Gold gehaltenen Teile ist so herausragend wie die Geschichte anrührend. Die neun Kinder des Königspaares hatten es in der Nymphenburger Manufaktur in Auftrag gegeben. Das Geschenk sollte ein sehr persönliches werden, so stellten sie der Manufaktur Postkarten und eigene Fotografien zur Verfügung. Diese dienten als Vorlagen für die hand-

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gemalten und außergewöhnlich tiefenscharfen Abbildungen, die viel über die Familiengeschichte erzählen. Zu sehen sind besuchte und geliebte Landschaften, Schlösser, Residenzen, Veduten, Bilder des von den Wittelsbachern gestifteten Englischen Gartens und nicht zuletzt Porträts der Kinder und einiger Hofdamen. Das Service für Suppe, vier Hauptspeisen und zwei Desserts mit insgesamt 713 Motiven wurde im Detailbuch der Manufaktur mit dem Rechnungsbetrag von 7389 Mark eingetragen. Die Seite findet sich im Archiv in Nymphenburg und ist in dem umfangreichen Katalog als eines von vielen Dokumenten abgebildet. Mit größter Sorgfalt hatte man sich den aufwändigen Dekorationen gewidmet – leider wurde das Service zu den Festlichkeiten der Goldhochzeit am 20. Februar 1918, bei denen sich auch Kaiser Wilhelm die Ehre gab, nicht fertig. Erst im Juli desselben Jahres konnte es ausgeliefert werden. Aber es war so gelungen, dass Albert Bäuml als Leiter der Manufaktur dafür der Titel eines Geheimen Kommertienrats verliehen wurde. Der König selbst hat nie von den Tellern gespeist. Erstmals wurde es in den zwanziger

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VON CLAUDIA HERSTATT

Jahren auf dem Gut der Wittelsbacher Sávár in Ungarn bei dem Antrittsbesuch des ungarischen Reichsverwesers Admiral Miklós Horty eingedeckt. Dort hatte Prinz Franz die Regentschaft übernommen. Als im Winter 1944/45 die sowjetischen Truppen von Osten in Ungarn einrückten, sorgte dessen Sohn Prinz Ludwig, Enkel von König Ludwig III., dafür, dass die Familie das Land mit Diplomatenpässen in Richtung Bayern verlassen konnte. Zur Rettung der Besitztümer stellte er einen Gütertransport mit Hausrat und Zuchtpferden zusammen, unter anderem ließ er das komplette Familienservice in Kisten packen. Der heute 92-jährige Prinz Ludwig erinnert sich: »Das Königsservice musste über 700 Kilometer mit der Bahn über österreichische Nebenstrecken nach Schloss Leutstetten bei München transportiert werden. So etwas funktionierte damals nur, wenn man die Eisenbahner bestach.« Dazu dienten zuvor auf einer Jagd geschossene Hasen und Fasane, die ein Begleiter in dem Waggon mitführte und bei jedem Lokwechsel verschenkte.

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Anders als das zur gleichen Zeit auf Schloss Pförten im heutigen Polen auf der Flucht zurückgelassene, teils zerstörte und gestohlene Meissener Schwanenservice des Grafen von Brühl konnte das zerbrechliche Wittelsbacher Porzellan nach Bayern gerettet werden. Lediglich zwei Platten gingen bei dem riskanten Unternehmen zu Bruch. So konnte die Familie zum 90. Geburtstag Prinzessin Isabellas, der Gemahlin von Prinz Franz, im Jahr 1980 ein letztes Mal daran tafeln. Das kostbare Service wird nun in 79 Tranchen versteigert, geografisch sortiert nach den abgebildeten Motiven der Familiengeschichte, je eine Tranche Chiemgau, Wien, Schloss Leutstetten, Ungarn oder Bayern. Neumeister versteigert zunächst in diesen Tranchen, hofft aber, das Königsservice letztendlich doch noch zusammenhalten zu können. »Während der Auktion«, so Katrin Stoll vom Auktionshaus, »wird zusammengerechnet und am Schluss einem Einzelbieter die Chance gegeben, das Konvolut zu einem höheren Preis komplett zu übernehmen.« www.neumeister.com, Vorbesichtigung vom 19. bis 26. Juni

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lötzlich greift er nach unten, holt seine goldene Trompete hervor und spielt mit dem Kollegen der Wildecker Herzbuben Herzilein im Duett. Die Talkshow schmunzelt und staunt. Till Brönner versichert Herzilein so im Ohr zu haben, dass er es jederzeit … Da beginnt der Wildecker Herzbube Mackie Messer zu spielen – und Brönner improvisiert die traditionellen Verzierungen dazu. Es ist der Moment, da die Augen der NDR-Talkshow-Gäste zu leuchten beginnen: Ungeprobt! Spontan! Das perfekte Handwerk und voller Lebensfreude – that’s jazz! Till Brönner ist Deutschlands Jazz. Welchem jüngeren Jazzmusiker – abgesehen vom alterslosen Helge Schneider – würde es gelingen, in eine Talkshow eingeladen zu werden? »Einer der weltbesten Trompeter« (Moderatorin), nominiert für den Grammy und den Deutschen Filmpreis (mit der Musik zum Film Höllenfahrt), hoch geschätzter Produzent von Hildegard Knefs letzter Platte, von Manfred Krug und den No Angels gebeten, von Roger Willemsen ob seiner »dringlichen musikalischen Mitteilung« gelobt. Auch beim Talk muss man ihn schon nach wenigen Minuten gern haben. Vom katholischen Gymnasium, in dem er zusammen mit Stefan Raab eine Sakropop-Band leitete, erzählt der 35-Jährige ebenso unverkrampft wie von seinem BundeswehrTrompeten-Unterricht oder der Verehrung für die späte Knef, die ihm auch Ratschläge in Liebesdingen gab und der er zum Abschied ein Lied am Grab spielte. Und doch spaltet Till Brönner seit rund zehn Jahren die heimische Jazzöffentlichkeit. Es ist nicht der zerstörerische Neid der Deutschen auf alles grenzüberschreitend Erfolgreiche, der den Trompeter verfolgt, sondern Unmut über den zwiespältigen musikalischen Gestus des dunkeläugigen, schönen Mannes, der Jazz sagt und Pop meint. Es regnet im Video zum neuen Album, und während er Nick Drakes River Man singt, wird das Sakko nass, auch das T-Shirt, selbst die Trompete tropft, und Regen rinnt ihm von der Nase – das Klischee des einsamen Grenzgängers schlägt jeden Werbespot.

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Der Jazz steht ihm so gut

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Till Brönner, der berühmteste deutsche Trompeter, ist ein perfekter Dressman der Musik VON KONRAD HEIDKAMP

Zum Krach der Avantgarde geht er auf Distanz

Nicht zufällig trafen Anfang der neunziger Jahre die triumphale Rückkehr der Jazzsängerinnen, die Kanonisierung der großen Musiker in Form von edlen Wiederveröffentlichungen mit der Wiedergeburt des Jazz aus dem konservativen Geist des amerikanischen Mainstream zusammen. Die schwarzen Traditionalisten um den Ideologen Stanley Crouch und den Trompeter Wynton Marsalis erklärten die letzten zwanzig Jahre des modernen Jazz zum Irrweg und dockten in ihrem Musikverständnis direkt an Louis Armstrong und Duke Ellington an. Der aufregende Jazz, wie ihn das 20. Jahrhundert kannte, wurde wieder einmal für tot erklärt, der Rest war museal verpackt, in esoterische Zirkel verbannt oder in Jazzschulen und staatlich subventionierten Rundfunkorchestern unter Artenschutz gestellt. Vor diesem Hintergrund erschien der junge Mann, 1971 in Viersen geboren, 1986 Gewinner bei »Jugend jazzt«, geschult in der renommierten Peter Herbolzheimer Big Band und bereits mit 20 in Lebensstellung bei der Rias Big Band. Der Mann bündelte Deutschlands Hoffnung auf eine glänzende Jazz-Zukunft. Sein einziges

TILL BRÖNNER, 35, hat schon mit 20 Jahren bei der Rias Big Band gespielt

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Vermutlich ist Oceana Till Brönners vollkommenstes Jazzalbum und gerade deshalb sein überflüssigstes. Wenn er die elegische Richard Rodgers/Lorenz Hart-Komposition It Never Entered My Mind spielt, imitiert er Note um Note Thema und Arrangement des Miles-Davis-Quintetts von 1955, bewundernswert, aber sinnfrei in einem Musikgenre, in dem das Werk, anders als in der klassischen Musik, nicht als Partitur existiert, aber jederzeit als Konserve verfügbar ist. Wer Miles Davis will, kann Miles Davis hören. Till Brönners Musik lässt sich als geschmackvolle Referenzliste der Jazzgeschichte genießen – Jazz for Lovers, Jazz for Dreamers, Jazz for Loners. Würde die Plattenfirma nicht – mit traurigem Recht – auf die Geschichtslosigkeit der Hörer bauen, bestünde die Gefahr, dass die Querverweise aufs Original eines Tages zur Selbstauflösung des Trompeters führen könnten. Doch: Was schert mich das Original, wenn die Kopie so attraktiv klingt. Vorbei die goldenen Swing-Zeiten, als Jazz noch Pop war, als Trompeter wie Harry James und Buck Clayton sich in weißen Smokings zum Solo von ihren Sitzen erhoben – im Übrigen ein archetypisches Traumbild von Till Brönner –, vorbei die Bebop-Revolution, die den Bürger bedrängte und provozierte, der freie Jazz des Black Power und der schwarzen Spiritualität, zur Foto-Ikone erstarrt der Cool Jazz der Existenzialisten und California Boys. Also bewegt sich Till Brönner zwischen den Stilen und Modellen der fünfziger Jahre, versucht dies, schnuppert dort und wählt jenes, immer geleitet und geführt von

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18. Mai 2006

Manko: Er spielte hervorragend Trompete, wusste aber nicht, wohin mit dem Gold seines Talents. Till im Glück. In Brönner personifiziert sich die Janusköpfigkeit des Jazz. Als er sich entschließt, die Pensionsberechtigung beim Rundfunkorchester aufzugeben und sich dem freien Markt anzuvertrauen, setzt er zwei Prämissen. Er muss populär werden, um Geld zu verdienen, und er muss seine Persönlichkeit finden, also seinen eigenen, unverwechselbaren Ton. Der Versuch wird zur Geschichte der letzten zehn Jahre: Welcher Schritt kommt zuerst, und wie oft darf man dabei stolpern? Till Brönner: »To you – the audience« oder »Sich selbst ganz nahe sein«. Wenn jetzt die ersten Töne des neuen Albums Oceana durch die lauen Maiabende wehen, darf man feststellen, er hat beides geschafft: sich selbst zu spielen und dem Publikum zu geben, was es (bezahlen) will. Weiche, warme Töne, gedämpft und doch klar gesetzt, Melodien, die aus Kopf und Herz zugleich kommen. Entspannt hält die amerikanische Rhythmusgruppe das melancholische Maß, die Akkorde der Hammondorgel schweben, der Gitarrist zupft zart und freundlich an der Stimmung, die gehauchten Trompetentupfer legen sich über Standards und Songs. Diesmal hat es ihn nach Hollywood gezogen, an die sonnendurchflutete Westküste des Jazz, in die musikalische Heimat Chet Bakers und Bud Shanks, dorthin, wo Geld und Gefühl noch nie als Widerspruch empfunden wurden. Da wirkt es ganz natürlich, wenn sich das Exmodel Carla Bruni mit Leonard Cohens In My Secret Life aus Paris dazwischenschiebt, Madeleine Peyroux zu Till Brönners gestopfter Trompete I’m So Lonesome I Could Cry singt und Luciana Souza mit Edu Lobos Bossa Prá Dizer Adeus plätschert. Ein Instrumental, ein Song, ein Instrumental, ein Song der Liebe und der Meereswellen.

Er ist Deutschlands größte Jazz-Hoffnung

Foto [M]: UNIVERSAL

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seiner Plattenfirma Universal. »Besonderen Dank an Stephan Meyner, er hat mir nie reingeredet – eine Seltenheit in dieser Branche«, hatte er noch seinem früheren Produzenten von Minor Music in einem Booklet geschrieben – zu seiner besten und inspiriertesten CD German Songs. Doch die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen sein Image. Es war kein Zufall, dass Anfang der neunziger Jahre der Jazz- und Modefotograf William Claxton wieder die Szene betrat, ein Stilist, der mit seinen Chet-Baker-Aufnahmen in den fünfziger Jahren oder den Westcoast-Idolen unter blauem kalifornischem Himmel dem Jazz die Ikonen und Geschichten zur Musik lieferte und manchmal sogar vorgab: Jazz als Image, als Szenario für Dressmen, als Design, hier ein Mollakkord, dort ein verschlepptes Metrum, am Rande lehnt ein einsamer Saxofonist. Die CDs von Till Brönner seit 1998 präsentieren sich in diesem Sinne eher als visuelle Galerie denn als musikalische Offenbarungen, er wechselt – vom Fotografen Jim Rakete zitatbewusst abgelichtet – zwischen New Yorker Stillleben mit schwarzem Anzug und NilZigarette, dem Dreitagebart eines Blue-EyedSoul-Sängers, T-Shirt-sexy à la Anton Corbijn oder dem Remake eines Chet-Baker-Fotos mit dessen Frau Halima, Original William Claxton. Ob Till Brönner dabei im Stile Chet Bakers stimmlos sang (Love), ob er mit Rap, Remix oder Scratchen den Originalen zu Leibe rückte und gar mit dem toten Chet Baker ein leichenfledderisches Duett spielte (Chattin’ With Chet), ob er soulschwer und funky der Hammond B3 Zucker gab und mit Yo Yo Yo würzte (Blue Eyed Soul) oder sich langneseleicht durch die Lieder treiben lässt (That Summer), die Musikkritik ist hier an ihr Ende gelangt, Jazz fungiert nur mehr als Klangfarbe zu fertigen Bildern. Oder, wie die Hochglanzbroschüre Park Avenue unfreiwillig treffend zu Oceana bemerkt: »Ab jetzt werden Sie Trompetenmusik mit ganz anderen Augen hören.« »Mir ist wichtig«, betont Till Brönner und blickt ernst in die Talkrunde, »dass Jazz sehr gut hörbar ist und nicht dieser kleine staatlich subventionierte Teil, von dem die Leute glauben, es sei das Einzige, was im Jazz passiert ist.« Wer nachfragt, wovon sich Till Brönner distanzieren will, muss nicht lange suchen, um in verschiedensten Variationen und Interviews die Moderne als ewiger Feind zu enttarnen. »Atmosphäre und Wärme sind mir lieber als Krach und spritzendes Blut«, erklärte er einmal und: »18 Badewannen auf der Bühne machen eine Menge Lärm – und das nennt man dann Musik.« Ständig scheint er sich gegen eine imaginäre Avantgarde verteidigen zu müssen, die allerdings weder dominant noch medial präsent ist. Till Brönner grenzt sich gegen neue Spielarten des Jazz ab, die das global Universelle mit dem regional Spezifischen verbinden – ob sich nordische Sängerinnen von elektronischen Samples herausfordern lassen, Klezmer sich mit Streichern kreuzt oder Minimalisten die Klangkörper eines Orchesters ausreizen. Es geht um die Konfrontation der eigenen Vision mit Musiken gleicher künstlerischer Offenheit, es geht um eine musikalische Welt, die von Till Brönner keine Notiz nimmt (und umgekehrt). Und viele nennen es Jazz. »Demnächst gibt es sicher eine gemeinsame CD«, zwinkert Talkshow-Moderator Jörg Pilawa schelmisch den Wildecker Herzbuben und Till Brönner zu, »das seh ich schon!« Unwahrscheinlich, dass es so weit kommen wird. Womöglich würde es Till Brönner sogar Spaß machen. Till Brönner: Oceana (Verve/Universal 9877425)

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s gibt da ein Problem. Sucht man im neuen Thematisch-Bibliographischen Werkverzeichnis von Margit L. McCorkle nach Robert Schumanns Beethoven-Etüden, sucht man vergebens – jedenfalls in der Ordnungsrubrik der Werke ohne Opuszahl. Dort trug der Zyklus bislang die Nummer WoO 31. Aber bei McCorkle muss man sich ins Kleingedruckte vorarbeiten, bis man ihn unter F25 in einem Register der unveröffentlichten Werke aufspürt. Die Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven sind selbst ein Problem. Schumann komponierte sie in Leipzig zwischen 1833 und 1835, als er verschiedene Klaviervariationszyklen schrieb über Themen von Komponisten, die er schätzte. Dazu zählte auch das Thema aus dem zweiten Satz von Beethovens 7. Sinfonie. Als Schumann den Zyklus ins Reine schrieb, nannte er diese Etüden eine »sehr unschöne Idee«. Dass er sie nur in drei Skizzenbüchern hinterließ und nicht für den Druck freigab, bezeugt einen gewissen Abstand des Komponisten zu seinen Stücken. Schumann glaubte, dass sie nicht den Rang der zeitgleich entstandenen Sinfonischen Etüden in Form von Variationen op. 13 erreichten.

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Vertraute des Dichters Die Pianistin Ragna Schirmer spielt die unbekannten »BeethovenEtüden« von Robert Schumann VON WOLFRAM GOERTZ

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Die Pianistin Ragna Schirmer hat nun diese beiden Zyklen auf CD eingespielt und damit im Schumann-Jahr die Debatte um die versehrten, teilweise unvollständigen Beethoven-Etüden wieder eröffnet. Beide Werke sind Ausdruck eines kompositorischen Ringens um die letzte, gültige Version. Bei den Beethoven-Etüden blieb das ein unerfüllter Wunsch, bei den Sinfonischen Etüden gibt es immerhin zwei von Schumann selbst für den Druck autorisierte Fassungen, eine von 1837 und eine von 1852, für welche er auf den Wunsch Claras zwei besonders brillante Etüden tilgte. Schirmer bietet beide Opera gleichsam in ihrer synthetischen Totalen, indem sie jeweils komplette Einzelsätze und Skizzen zyklisch integriert. In der Rückschau darf man die Beethoven-Etüden als einen imperial-virtuosen Versuch ansehen, das Prinzip der Etüde mit der Variationsform zu verbinden. Eine Kombination, die er im Opus 13 dann in ideenhafte Ordnung brachte: die Klaviatur des Konzertflügels als Spielfeld eines sinfonisch-orchestralen Gestus. Ragna Schirmer organisiert in den BeethovenEtüden die thematisch freien Etüden als brillanten Auslauf zwischen den thematisch gebundenen. Und in den Sinfonischen Etüden weist sie der Variation 5 den Rang einer Zentralachse zu – Schu-

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Foto [M]:Kasskara Berlin

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RAGNA SCHIRMER, (34) stammt aus Hildesheim

mann schätzte solche Symmetrien. Außerdem bettet sie fünf von Clara und Johannes Brahms als »posthume« Variationen herausgegebene Sätze sowie eine bislang gänzlich unveröffentlichte ein. Groß ist die pianistische Dignität Ragna Schirmers. Sie erweist sich als schöpferisch Denkende, die alles, was sie auf dem Klavier treibt, in den Dienst umfassender Ordnung stellt. Ihre bisherigen Aufnahmen kreisten immer wieder um Vari-

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ationen und Etüden. Sie hat Bachs Goldberg-Variationen und Franz Schmidts Beethoven-Variationen eingespielt und Chopins Etüden op.10. Nebenher fahndete sie in den toten Winkeln des Repertoires, etwa bei Klavierwerken Haydns und den drei Sonaten von Alfred Schnittke. Ihr Schumann-Kompendium ist eine logische Konsequenz aus spieltechnischer Bravour und motivisch-thematischer Feinarbeit. Man erkennt überdies genau, wo Schumann in den Organisationsmustern der zehn Finger geschwisterliche Verbindungen zwischen beiden Zyklen erzeugte; man beachte thematische Dubletten und beiderorts zu bewältigende Spezialaufgaben, etwa die starken Dehnungen der Hand. Über allen Details geht der freie Geist Florestans nicht verloren, der seinen scheuen Bruder Eusebius mit auf die Bahn der Euphorie zieht. Schirmer ist diesen beiden Fantasie-Gefährten Schumanns, seinen ungleichen Zwillingsspiegeln, eine treu sorgende Verwalterin, mehr noch: Der Dichter spricht mit den Fingern einer fantasievollen Vertrauten. Robert Schumann: Beethoven-Etüden, Sinfonische Etüden; Ragna Schirmer (Klavier) (Berlin Classics 0017862BC)

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Wo ist denn nur die Mönchsgrasmücke? Wie der britische Dirigent Jonathan Nott von Bamberg aus neue musikalische Welten entdeckt

VON MIRKO WEBER

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chen.« Hans Pfitzner etwa ist ihm immer noch ein deutsches Buch mit sieben Siegeln, »aber das könnte sich schon lohnen, demnächst einmal.« Notts geistige Frische, die an Leonard Bernsteins Überzeugungskraft erinnert, mag ein wenig zu tun haben mit den Zickzacksprüngen, die seine bisherige Karriere zieren: Vor fünfzehn Jahren dirigierte er in Wiesbaden, wohin es ihn als Dirigentennovizen verschlagen hatte, fast hundert Vorstellungen in der Saison, von Cole Porter bis Richard Wagner, manches vom Blatt, Ohren auf und durch. Unflexibel war schon der junge Nott nicht gewesen, als er sein Studium als Sänger hinschenkte, um dann doch Dirigent zu werden. Erst jüngst ist er wieder für längere Zeit nach England zurückgekommen – und leitete gleich das London Philharmonic Orchestra.

»Ich kann hier lauter Fragezeichen setzen«

Foto: Richard Haughton

s ist Nacht, und das heißt, dass Blaumeise, Buntspecht, Wendehals, Pirol und Mönchsgrasmücke alle erst noch kommen, um leise Laut zu geben. Am Anfang singt natürlich die Nachtigall und nicht die Lerche in Olivier Messiaens religiöser Vogelrevue Réveil des oiseaux, für Klavier und Orchester, uraufgeführt in Donaueschingen im Jahr 1953. Es ist Tag, und das heißt, dass der britische Dirigent Jonathan Nott Messiaens Stück gleich im Bamberger Konzertsaal mit den Symphonikern aufführen wird: Draußen wiegt sich ein Maiensonntag, zaghaft sonnendurchschienen, drinnen versammelt sich das Abonnement E. Was nach Routine klingt, erweist sich als deren Gegenteil. Nott nämlich inszeniert keine musikalische Kaffeestunde, auf dem Programm steht noch eine Bach-Bearbeitung von Anton Webern und Anton Bruckners Neunte Sinfonie. Kein leichtes Spiel, deshalb greift der Dirigent zu einer »vertrauensbildenden Maßnahme«, wie er das nennt. Er erklärt allen, die bereits eine Stunde vorher gekommen sind – und das sind nicht wenige –, was sie zu erwarten haben: Komponisten auf der Suche nach dem Allmächtigen. Entweder sind sie streng im Dienst, wie der Thomaskantor, wandern mit Tonbandgerät und gespitztem Bleistift auf der Suche nach dem Höchsten in freier Natur herum, wie Messiaen, oder brüten darüber, wie sie dem Herrn noch ehrfürchtiger sagen könnten, dass er ihnen einfach alles bedeutet. Anton Bruckner widmete die unvollendet gebliebene Neunte ja vorsichtshalber gleich »dem lieben Gott«. Jonathan Nott trägt den Dirigentenfrack bei der Arbeit so selbstverständlich wie andere einen Blaumann, schaut ein bisschen aus wie Sting in seinen besten Jahren und ist ein einmaliges Kommunikationstalent. Ohne andächtig zu werden oder metaphorisch abzuheben, sortiert er hellwach die Messiaenschen Vogelstimmen den jeweiligen Instrumenten zu und lässt jedes Mal buchstäblich aufhorchen – so klingt das also. Selbst ein nicht sehr musikalischer Mensch sollte später im Tutti relativ mühelos seine Lerche wieder herausfinden.

EIN EINMALIGES KOMMUNIKATIONSTALENT: Seit sechs Jahren ist der 43-jährige Jonathan Nott Chefdirigent der Bamberger Symphoniker

Auf diese lässige, verspielt didaktische Weise haben sie in Bamberg den mittlerweile 43-jährigen Dirigenten seit sechs Jahren kennen und lieben gelernt: Nott mag Aha-Effekte und dass man gewissermaßen mit geputzten Ohren seine musikalischen Entdeckungen macht. Seine Rede ist blitzschnell, sein Deutsch gelegentlich putzig, aber dauerhaft präzise und pathosfrei. Geschickt vermittelt er den Eindruck, als könne selbst er in Messiaens Vogelkosmos gelegentlich die Orientierung verlieren: Heaven! Wo war nur wieder gleich die Mönchsgrasmücke? Okay, Spaß. Später hört man das Stück in einer bestechend klaren und zugleich beseelten Aufführung. Am Flügel sitzt Pierre-Laurent Aimard, der große Messiaen-Kenner unter den Pianisten, und irgendwann im dritten Teil, den Chants de la matinée, stellt sich wie von selbst ein seltsames und sehr überzeugendes Gefühl ein: Eigentlich ist dies hier kein Konzertsaal mehr, sondern eine Kirche der besonderen Art. Zwar wird dort schon noch dem Schönen, Guten und Wahren gehuldigt, aber nicht auf den Knien, sondern hauptsächlich via Kopf und Bauch. Auch Bruckner entschwebt keineswegs mysteriös, sondern wird durch Jonathan

Notts exakte, immer gut vorbereitende Zeichengebung dingfest gemacht: Man vernimmt, wie der Linzer ein letztes Mal eine Kathedrale baut. Und wie ihm dann allmählich die Steine ausgehen, das zeigt Nott sehr mitfühlend.

Wichtige Anregungen bezieht Mister Nott aus dem iPod Er dirigiert auswendig, wie oft, manchmal verschiebt er die Lernerei auf die letzte Minute: »Wie lange habe ich noch? Gut, drei Tage. Dann muss ich!« So sei das häufig bei ihm, erzählt er vor dem Konzert in seinem Büro, er brauche ständig »positive Adrenalinschübe«. Exzentrisch wirkt er dennoch nicht. Auf der Kaffeetasse steht »The Boss«, was sich aber seit sechs Jahren in Bamberg von selbst versteht. Nott ist nicht nur der musikalische Chef, sondern auch der Think Tank des Unternehmens. Seine erste Hoffnung besteht stets darin, dass die Programme, die der Profi mit einem schon wieder amateurhaften Enthusiasmus kombiniert, »ankommen«. Gesprächsweise gern verwendete Voka-

beln sind »okay« und »all right«, Allerweltswörter, doch werden sie nicht zum Füllen eingesetzt, sondern zum Verfugen, als Auftakt und vorläufiges Schlusswort bei einem Denkvorgang. Beispiel: Okay, den von Nott besonders verehrten Zeitgenossen György Ligeti in einem Konzert zu spielen, ist schon wieder fast langweilig, warum nicht etwas von diesem crazy Henry Purcell dazunehmen, all right? So etwas klingt im Nachhinein einfacher, als es ist, dafür sind selbst die von Nott mit reichlich intellektuellem Betriebsöl geschmierten Apparate zu schwerfällig. Ligeti und Purcell ließ er bei den Berliner Philharmonikern spannungsreich über Kreuz laufen, in Bamberg kombiniert er »mit diesem für alles offenen Orchester« (Nott) mühelos Franz Schubert mit Luciano Berio, Bruno Mantovani, Dieter Schnebel oder Kurt Schwertsik. Man muss drauf kommen. Und wie kommt man drauf? Nott sagt, nur mit Neugier, und lacht, um herunterzuspielen, was im klassischen Musikbetrieb anderswo oft fehlt. Er selber hat fürs Brainstorming Hunderte von Musikstunden auf seinen iPod geladen, das meiste kennt er nicht: »Da höre ich dann einfach rein, am Ende kann ich’s brau-

CDs mit Jonathan Nott und den Bamberger Symphonikern: Franz Schubert: Die Sinfonien, (TUDOR 7141-7144) Schubert Dialog – Werke von Mantovani, Rihm, Schnebel. Widmann (TUDOR 7132). Schubert Epilog – Werke von Berio, Reimann Henze, Schwertsiek, Zender (TUDOR 7131) Anton Bruckner: Dritte Symphonie (TUDOR 7133)

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Eigentlich klingen Phoenix so französisch wie der Radetzkymarsch Nicht etwa, dass France Galls Engelssoul über der hellen Allerweltsstimme von Thomas Mars schwebt oder die loungigen Technoteppiche der befreundeten Air über Christian Mazzalais Leadgitarrenspiel; eigentlich klingen Phoenix so französisch wie der Radetzkymarsch. Doch die vier Jugendkumpels aus dem Großraum Paris wirken dabei so entspannt, wie es wohl am besten die Wurzeln des Chansons (v)erklären. Auf allen Titeln herrscht eine Zwanglosigkeit, die sich hart am Rande des Erträglichen, manchmal fast Seichten bewegt – dann aber genau daraus ihre Souveränität bezieht. Consolation Prizes etwa, das zweite Lied, hätte auch aus einer Eiscremewerbung der Achtziger stammen können. Die mit Abstand robustesten

dem Publikum die Englisch singende Band aus einem Land, in dem selbst für Tie-Break eine Übersetzung gefunden wurde, ständig genau erklären; als stünde Frankreich wie in den Sechzigern per se für anspruchsvolle Musik und ihre Protagonisten grundsätzlich für deren Prototypen.

Das ist Musik für warme Sommertage und gewisse Stunden im Winter

Foto [M]:Greg Williams/EMI France

eim Stichwort Pop aus Frankreich beginnt die Assoziationsmaschine auf Anhieb zu schnurren: große Gefühle und ausgeprägte Persönlichkeiten, verrauchte Liebesschwüre starker Stimmen oder filigrane Elektronik findiger Soundbastler, dazu Eleganz, Sex-Appeal und eine gewisse Androgynität – die Zuständigkeitsbereiche sind klar festgelegt, und das lange nach der Blütezeit von Serge Gainsbourg, Gilbert Bécaud oder Jean Michel Jarre. Wenn später Hinzugekommene wie das Männerquartett Phoenix auch noch internationale Erfolge feiern, helfen alle Gegenbewegungen und Underground-Offensiven wenig: Das Klischee ist nicht zu besiegen. Man kann aber auch offensiv damit umgehen. Mit ungebremster Hinwendung zu beschwingten Vierviertelrhythmen und eingängigen Folkriffs, mit für Indie-Pop-Verhältnisse geradezu selbstverleugnender Bereitschaft zu tonaler Stromlinie und textlicher Verständlichkeit haben die vier Mittdreißiger von Phoenix zehn Stücke auf ihr neues Album It’s Never Been Like That gepackt, die vielen ihrer Kollegen im Genre womöglich peinlich wären. Sollen sie sich doch schämen! Und sich weiter in trotzige Randgebiete schreddeln. Phoenix bekennen sich auf ihrer mittlerweile dritten Platte in sechs Jahren zu einem Gestus, der im zunehmend unübersichtlichen Zeichenwirrwarr mainstreamkritischer, aber dennoch massentauglicher Gitarrenmusik rar geworden ist: zur Leichtigkeit. Also jener Art gespielter Traumtänzerei, die die Klangkultur östlich des Rheins leider importieren muss.

Auch woanders auf der Welt, ob in New York oder Los Angeles, stehen die Türen mittlerweile weit offen für Jonathan Nott, der zur Jahrtausendwende nach einer weiteren Station in Luzern, wo seine Frau und die zwei Söhne immer noch leben, eher zufällig in Bamberg anlangte – und blieb. Wenn man so will, hat Nott die vor sechzig Jahren von böhmischen Flüchtlingen gegründeten Bamberger Symphoniker regelrecht neu definiert: Neben dem, was deutsch und echt war im Reisekoffer (Beethoven, Brahms et cetera), ordnete er die Fächer der Oberfranken um. Mittlerweile darf sich das gern als nationales Aushängeschild auf Tourneen verschickte Orchester mit dem Titel Bayerische Staatsphilharmonie schmücken und ist unter der Obhut des Intendanten Paul Müller wieder ein wirtschaftlich erfolgreicher Betrieb geworden, zudem personell verjüngt. Dass in Zeiten zunehmend älter werdender Konzertkundschaft in Bamberg neue Abos aufgelegt werden müssen, lässt sich ganz einfach erklären. Studenten und Schüler werden in Gesprächskonzerten gewonnen und auch später nicht allein gelassen. Beim Get together danach ist Jonathan Nott immer dabei. So gesehen schaffen sich die Bamberger ihr Publikum von morgen momentan selber. Der Vertrag des Chefdirigenten gilt bis zum Jahr 2010, er darf jetzt laufend ernten. Jonathan Nott sagt, er sei sehr glücklich in Bamberg. »Ich kann hier lauter Fragezeichen setzen.« Eine schöne Antwort.

Sehr FRANZÖSISCHE DREITAGEBÄRTE: Deck D’Arcy, Thomas Mars, Laurent Brancowitz, Christian Mazzalai (von links)

Gitarrenläufe bei Lost and Found würden selbst in einem Hollywoodstreifen mit Meg Ryan nicht stören, und das mit Abstand härteste Schlagzeug von Courtesy Laughs sogar dann nicht, wenn auch noch Tom Hanks mit von der Partie wäre. Man muss sich It’s Never Been Like That schon vier-, fünfmal anhören, bis es einem nicht gefällig, sondern unaufgeregt, ehrlich und selbstbewusst erscheint. Dann aber wirkt es, dieses Wagnis des ultimativen Rebirth of the Uncool. Genau genommen ist es sogar eine Wieder-Wiedergeburt, eine, die laut Thomas Mars alles Bisherige ganz weit hinter sich lassen will, weshalb er genau das unentwegt besingt. I’ve changed / you’ve changed / it’s not the same, trällert er in Second to None, gut gelaunt wie immer. Veränderung als Rückkehr in eine wie auch immer geartete Normalität – das hat bei Phoenix durchaus Methode. Schon mit ihrem Debüt United gingen Mars, Mazzalai, Laurent Brancowitz (Gitarre) und Deck d’Arcy (Bass) den Weg des eher geringen Widerstands. Mischformen verschiedener Stile von Chartpop,Alternativrock und futuristischen Housesamples vermengten sich dort auf vertikaler Ebene zu einer sprunghaften Melange. Auf horizontaler Ebene waren die einzelnen Stücke dagegen mit ihren Computerdrums und Orgeleinsprengseln allesamt gut arrangiert, ohne dabei neu oder rich-

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Uncool heißt jetzt cool Musik wie aus der Eiscremewerbung – nur eleganter: Mit »It’s never Been Like That« spendiert die französische Popband Phoenix eine Riesenportion Easy Listening VON JAN FREITAG

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tungsweisend zu sein. Der Nachfolger Alphabetical klang dann sogar noch ein bisschen gradliniger, aber eben auch versierter, schon weniger unnahbar. Mit beiden Alben verzeichneten sie – das Majorlabel EMI im Rücken – im Gegensatz zu den ersten eigenproduzierten Singles beachtliche Verkaufserfolge in halb Europa und koppelten Singles mit Wiedererkennungswert und Eigensinn aus. Das kam in feuilletonistischen Kreisen ebenso gut an wie beim Publikum durchhörbarer Dudelsender. Sofia Coppola lieh sich vom Erstlingswerk ein Stück (Too Young) für ihren Film Lost in Translation aus, ihr Bruder Roman verfilmte mit Long Distance Call vom neuen Album gerade das zweite Phoenix-Lied, und die Auskopplungen von Alphabetical sind nach wie vor im Radio zu hören – vielleicht kein Zeichen besonderer Güte, aber in diesem Fall eines für Breitenwirkung mit Niveau. Die Stärke von Phoenix ist zweifelsohne ihr Mangel an Eitelkeit. Sie findet eines ihrer vielen Echos in den Promo-Texten des Labels, die in anderen Fällen vor kritikfreien Elogen an die musikalische Exklusivität ebenso strotzen wie vor griffigen Genrebezeichnungen. An keiner Stelle der PR findet sich eine andere Umschreibung als die Zahl der Musiker (vier) und deren Herkunft (Frankreich/ Paris). Dies aber fällt in Permanenz, als müsste man

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Immerhin: Thomas Mars sieht mit Bubikopf, dunklen Augen und einem irgendwie haarlosen Dreitagebart derart französisch aus, wie man es eigentlich schon seit den Tagen von La Boum – Die Fete nicht mehr gewohnt ist. Schon seltsam, dass Phoenix das fluffigste ihrer Alben im technoiden Ambiente der Ostberliner Planet-Roc-Studios eingespielt haben. Man könnte vermuten, sie wollten sich in der eher düsteren germanischen Metropole ein paar Kanten ins Repertoire hauen, um sich daheim im beschaulichen Versailles wieder davon zu befreien – vom Schatten auf dem Sonnenscheingefühl einer Platte nämlich, die sie ausgerechnet in den Mai entlassen. Dazu passt, dass die Vier in derselben Wohngemeinschaft leben und sogar ihre Plattensammlung miteinander teilen sollen. Auf die Freundschaft! Wenn It’s Never Been Like That eine moderne Platte sei, heißt es im Klappentext, dann »einzig und allein deshalb, weil Integrität gerade wieder modern ist«. War das jetzt Analyse oder Appell? Wohl eher Zweites. Die französische Musikszene ruft gern mal zum nationalen Neustart mit globaler Wirkung auf. Vor rund 25 Jahren mit einer Elektro-Welle, vor 15 mit einer HipHop-Welle, vor knapp fünf mit einer Rock-Welle, zwischendurch mit einer House-Welle. Und nun also mit einer Folkpop-Welle? Bitte nicht! Noch alle französischen Bewegungen hatten bislang das Potenzial zur grenzübergreifenden kulturellen Einflussnahme und damit – Stichwort Air, MC Solaar, Daft Punk – oft überrascht. Doch diese hier birgt eher die Qualitäten von Sunshine Reggae. Für warme Sommertage und ein paar Stunden im Winter, die daran erinnern sollen, bestens geeignet, jedoch alles in allem zum schnellen Verzehr empfohlen. Ach ja: In Deutschland sind Phoenix vornehmlich auf OpenAir-Festivals live zu sehen. Und da ist’s ja bekanntlich auch am schönsten, wenn die Sonne scheint. Phoenix: It’s Never Been Like That (EMI)

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ELISABETH LEONSKAJA – Nachdenken über Johannes Brahms

DIE ZEIT Nr. 21

Foto [M]: Andrea Felvégi/ECM Records

FELDNEUN – Drei Männer aus Hamburg in offener Landschaft

Foto [M]: XL-Recordings

Foto [M]:Rafael Martin

THE RACONTEURS rekapitulieren die Exzesse der Rock-Geschichte

Foto [M]: Torsten Kollmer

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DIE ZEIT

GYÖRGY KURTÁG – Bei ihm lernt man, die Welt Kafkas zu hören

Foto [M]: Simone Scardovelli

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DIE GOLDENEN ZITRONEN sind viel zu schlau für den großen Erfolg

In der zweiten Haut

Bitte keine Fragen!

Der wachste aller Leser

Der Sex der Melodie

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ock-’n’-Roll-Bands werden auch heute noch aus Überdruss an der Trostlosigkeit und dem Immergleichen gegründet – und dann tun sie selbst das Immergleiche. Auch The Raconteurs taten sich der Legende nach zusammen, als vier alte Freunde an einem heißen Sommertag auf einem Dachboden der hohen Kunst des Sich-in-Gesellschaft-Langweilens nachgingen. Nun würde das kaum jemanden interessieren, wäre nicht einer dieser vier Freunde der recht berühmte Jack White und ein zweiter der halbwegs bekannte Brendan Benson, die nun im Verbund mit der Rhythmusgruppe der leidlich legendären Greenhorns unter dem Namen The Raconteurs firmieren. Alte Kumpels können zwar ganz schön anöden, aber sie haben einen unbestreitbaren Vorteil: Sie stellen keine unangenehmen Fragen. Deshalb funktionieren die Raconteurs auf ihrem ersten Album Broken Boy Soldier wie eine perfekt eingespielte Lerngruppe aus Schulkameraden. Hingebungsvoll rekapituliert das Allstar-Quartett einige der staubigsten Kapitel der Rockgeschichte. Da wird in Blue Veins ein schwermütiger Bluesrock eingehend studiert und ganz ohne Not zerlegt, in Yellow Sun eine Geschichtsstunde an der Westcoast anno 1968 besucht oder mit Together der Folkrock durchexerziert. Level inszeniert Jack White wie eine Parodie auf seine eigene Hauptband, die White Stripes, und der Titelsong mit seiner gemeinen E-Orgel schließlich klingt so zäh, dass jedem in Ehren ergrauten Studienrat unter Schaudern der Geist von Uriah Heep in die Glieder fährt. Deren Andenken wurde in den letzten Jahren nicht umsonst weitgehend aus den Lehrplänen getilgt, aber die Raconteurs pauken sich unerbittlich durch ihr Pensum. Nein, diesen vier Zauberlehrlingen des Rock ’n’ Roll ist kein Risiko zu groß, kein Genre zu abgeschmackt, kein Stil zu abgehangen, um ihm nicht doch noch einen guten Song abzuringen. Und oben auf dem Dachboden wartet auch schon Jim Jarmusch, noch so ein alter Bekannter, der gerade Langeweile hat, und führt mal schnell Regie beim Videoclip zur unverschämt eingängigen ersten Single Steady, As She Goes. Ach ja, schön war die Zeit. So ist es wohl: Wer sich auf die Suche begibt nach dem Geist des Rock ’n’ Roll, landet zwangsläufig im Schoß alter Freundschaft. Oder ist es gar umgekehrt? THOMAS WINKLER

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ch werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen, und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.« Das notierte Franz Kafka am 10. November 1910. Die Schlussmetapher öffnet mehrere Ebenen, beim Ergründen verliert man den Boden. Wie viele Sätze Kafkas erwecken diese den Wunsch, sie zu uns zu holen, ehe sie uns zu sich holen … Und vielleicht kennt auch György Kurtág diesen Wunsch. Er nimmt Kafka beim Wort, zunächst die Entschlossenheit. Wie gedrillt werden die ersten Silben von Violine und Sopran vorgetragen, ein Regelmaß, das sich rasch verliert. Den Intervallsprüngen der Sängerin zum »Hineinspringen« folgt der Geiger mit platzenden Akkorden, dann wird er zur Gefahr und trifft sich mit der Stimme nur noch auf ihrer letzten Silbe, im Moment der Verletzung. Das Abgründige dieser Notiz wird verschärft und balanciert durch ihren musikalischen Sinn, den Kurtág so sensibel entstehen lässt, dass von »Vertonen« keine Rede sein kann in seinen Kafka-Fragmenten. Eher vom Verstehen. Es ist unglaublich anregend, einem so wachen Leser beim Verstehen Kafkas zuzuhören, beim Auslegen von vierzig Notizen aus Tagebüchern und Briefen. Manche Texte komponiert Kurtág zweimal. »Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine …«, wird einmal rasch, mit dem leicht spöttischen Ton der Erfahrung hingeworfen, ein andermal erzeugt die Geige tremolierend eine Szenerie, in der die Stimme sich fürchtet. Juliane Banse realisiert in dieser Aufnahme unzählige Nuancen und ist identisch mit jeder Silbe. Koketterie beim Traum von der Tänzerin in der Tram, samtgraues Sinnen auf der Suche nach dem unerreichbaren »wahren Weg« in quälenden Dissonanzen. Der phänomenale Geiger András Keller hat den Zyklus 1987 auch uraufgeführt, mit Adrienne Csengery, aber gegenüber dieser respektablen Erstaufnahme ist die Neueinspielung ein Gewinn, auch aufnahmetechnisch. Damals tönte das Duo wie aus einem Tunnel, jetzt stehen die Musiker plastisch vor uns, der Klang springt einen an. So, wie Kellers Pizzicatohiebe den Passanten Kafka anspringen, den »jemand am Kleid zupft«. Und sein Geigenbogen schlägt den Raum frei für Juliane Banses Höchstschreie um die kargen Worte: »Nichts dergleichen, nichts dergleichen.« Nein, dergleichen gibt’s sonst nicht. VOLKER HAGEDORN

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Johannes Brahms op. 116–119 Elisabeth Leonskaja, Klavier (Dabringhaus und Grimm MDG 943 1349-6)

s ist, als zögen Wolken über einen strahlend blauen Himmel. Jede Wolke für sich und doch alle zusammen; es herrscht ständige Veränderung und doch Gleichmaß. Die Wolken treffen sich hier oder dort, stoßen sich ab, verbinden und überlagern sich, stimmen gemeinsam ein neues Formenspiel an. Die Töne von Trompete, Kontrabass, Powerbook sind in stetem Wandel begriffen; sie decken das ganze Spektrum zwischen eiseskalten Flageoletts und der Wärme im Souterrain des tonalen Raums ab, zwischen kristallin klirrenden Geräuschen, dem gefährlichen Knistern elektrischer Fehlschaltungen und den beiläufigen Rhythmen aus dem urbanen Alltagsleben. Und schließlich heizen sie sich auf an der Wärmestrahlung einer gedämpften Trompete. Feldneun ist ein Trio aus Hamburg. Drei Pioniere: der Powerbook-Musiker Uwe Haas, der Kontrabassist Johannes Huth und Trompeter Michael Leuschner bewegen sich an einem unbesiedelten Ort, Terra incognita irgendwo am Rande der konventionellen Stilbeschreibungen, in der Schnittmenge zwischen analog und digital, akustischer Beweglichkeit und elektronischer Experimentierfreude. Streng mag einen diese Musik zunächst anmuten, als eine musikalische Variation auf Lars von Triers filmisches Dogma, in ihrem Verzicht auf vorgefertigte Soundspielereien und auf die Schlagsahne aus dem Hallgerät. Doch Stringenz und Klarheit zahlen sich auch in der Freiheit der Improvisation aus. Die drei Musiker spielen mit den Klängen, den erwünschten, schönen; den geduldeten; den unerwünschten grellen; sie demontieren die überlieferten Rollen im Gefüge ihrer Musik und lassen dabei kein Bausteinchen unüberprüft. Das verschafft ihnen Luft und überdies die Freiheit, sich mit voller Überzeugung wieder dem Sex-Appeal einer schönen Melodielinie zuwenden zu können. Und das tun sie gern, wenn es der Ausdrucksstärke ihrer Musik dient. Mit großer Spielruhe und Präzision im freien Zusammenspiel entwickelt das Trio eine Folge atmosphärisch dichter Klanglandschaften, die sich jeder eindeutigen Zuordnung entziehen und damit weite Assoziationsräume öffnen. Felder, Himmel, Wolkenbilder – sie sind nur der Anfang der Gedankenfilme. STEFAN HENTZ

The Raconteurs: Broken Boy Soldier (XL Recordings/ Beggars Group/ Indigo)

György Kurtág: Kafka-Fragmente András Keller (Geige), Juliane Banse (Sopran) (ECM 4763099/Universal)

Feldneun (blue pearls music/Indigo) bpm 6780-2

Die Goldenen Zitronen: Lenin (Buback/Indigo CD 69172)

s gibt auch eine Maßlosigkeit der Nähe, der Zärtlichkeit, des Vertrauens. Und es gibt eine Musik, die sich für diese Maßlosigkeit nicht schämt: die späten Klavierstücke op. 116–119 von Johannes Brahms. Der Blick auf die Vortragsbezeichnungen verrät viel. Immer wieder taucht das Wort teneramente – zärtlich auf. Und einmal verlangt Brahms vom Spieler ein intimissimo sentimento, allerinnigstes Gefühl also. Diese Stücke, Schutzräume für das Triebleben der Klänge und das Liebesspiel der Hände, zählen zu dem Schwierigsten, was ein Pianist im Konzert spielen kann, weil sie die Öffentlichkeit so rigoros verneinen. Elisabeth Leonskaja, eine der ganz Großen am Klavier, spielt auf einem alten SteinwayFlügel von 1901. Ein eigentümliches Instrument: Es verfügt über enorme Klangfülle und große Wärme, aber der Ton selbst hat etwas ergreifend Mürbes, Versehrtes. Dabringhaus und Grimm legt viel Wert auf einen natürlichen Raumeindruck ohne Klangfilter. Dieses Konzept ist anfechtbar, wo es sich gegenüber den Werken verselbstständigt. Die späten Brahms-Stücke hätten weniger Hall vertragen, sodass man ihnen mit dem Ohr näher kommen könnte. Leonskaja aber hat sich in diese Stücke eingehaust, sie zu ihrer zweiten Haut gemacht. Im b-Moll-Intermezzo op. 117 Nr. 2 bindet sie im Diskant die Noten wie vorgeschrieben über den Taktstrich hinweg, spielt den Bass aber sehr kurz. So entsteht eine Bewegung des Hinkens mit stechendem Schmerz, immer wenn der Fuß den Boden berührt. Im a-MollIntermezzo op. 118 Nr. 1 und in der g-MollBallade op. 118 Nr. 3 bricht die Musik unbeherrscht los. Kränkungen, Verbitterungen, verpasste Chancen – alles kommt noch einmal hoch, unwirsch, doch schon welk. So klingt absolute Musik, der ein Leben – mit allem Schmutz – zu tragen nicht peinlich ist. Leonskaja hält sich nicht immer streng an Brahms’ Anweisungen, aber sie überzeugt. Das poco animato im A-Dur-Intermezzo op. 118 Nr. 2 ignoriert sie. Es herrscht die Ruhe dessen, der weiß, dass er keine Zeit mehr hat, den keine Erwartungen und Hoffnungen ungeduldig machen: »Es ist Herbst. Halt still, wenn das Glück dich bewohnt. Bald wird es kalt«. Über dem Stück steht: Andante teneramente. JAN BRACHMANN

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ersteht ein Sänger seine Kunst, bedarf es nicht vieler Worte: Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen besingt Ole von Beust in der Liedzeile vom »Bürgermeister der alten Hansestadt auf dem Tocotronic-Konzert« – und viel ist gesagt zum Verhältnis von Politik und Pop wie zur Entwicklung der Tocotronic-Kollegen in Richtung Mainstream. Kameruns Intonation schwankt zwischen sachlich-auflistend und wahnsinnig-überdreht und arbeitet das Groteske der Situation heraus. Das neue Zitronen-Album Lenin zeugt vom Gespür der Band für die Verlogenheiten des Lebens wie der Sprache. Die Songtexte reihen den Wortschatz des zeitgemäßen Materialismus, sei es die Flatrate oder der SUV-Wagen, wie objets trouvés aus dem beschädigten Leben aneinander: »Eine aufgeladene Prepaidkarte macht noch keinen eingeladenen Freundeskreis.« Die Goldenen Zitronen sind das subversive Gegenmodell zur erfolgreichen braven deutschen Rockmusik. Virtuos inszenieren sie ihre Differenz, vor allem durch Schorsch Kameruns Technik des leisen Schreiens, der dann doch grell und laut werden kann bis zur Hysterie: Im Lied vom Bürgermeister schildert er die Nähe von Kunst und Politik und die Kungeleien werden ins Lächerliche verzerrt wie im lebensgroßen Kasperletheater. So ist die grundlegende Systemkritik zu verstehen, die im Albumtitel anklingt: Kein Leninismus für Betonköpfe, sondern eine hochanalytische Weltsicht, die künstlerisch State of the Art ist. Lenin ist ein Avantgarde-Album, auch wenn die Zitronen bei Bedarf »fetziger als die Babyshambles« sein können, wie Kamerun betont. Seit den Anfängen der Band im spaßigen Punk wird ihre Musik immer komplexer, ohne an Kompromisslosigkeit einzubüßen, und die Gesellschaftskritik feiner. Man schlägt auch dort zu, wo sich Stereotypes zu Neospießertum verdichtet: »Ich höre auch viel Deutschlandfunk in letzter Zeit« – Kamerun singt das so, dass man darüber lachen muss. Dem großen Erfolg der Goldenen Zitronen steht eigentlich nur ihre eigene Superschlauheit im Wege: Lenin ist keine leichte Punkrockplatte, mit der sich durch TV-Shows tingeln lässt, sondern ein außergewöhnliches, vielschichtiges und manchmal schwieriges Kunstwerk, das die deutsche Gegenwart gekonnt erfasst. CHRISTIAN KORTMANN

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LITERATUR SOMMER Peter Rühmkorf, Friederike Mayröcker, Oskar Pastior, Raoul Schrott, Andreas Maier, Juli Zeh, Brigitte Kronauer

Auf 12 Seiten Ausflüge, Siege und Abstürze: Einer fiel aus der Boing 727 (Norbert Zähringer); einer fiel aus der Krankenkasse (Jan Faktor); einer liebte das Meer und ein Mädchen (M. Blecher); einer glaubt noch an die Menschen (José Saramago); einer feiert die letzten Puritaner (Louis Auchincloss)

Außerdem: Fünf Romane für die Jugend, die letzten Jahre der BRD, die Geschichte Danzigs, ein Abgesang auf die Sünde, die Memoiren Peter Zadeks

Dunkle Tage. Helle Träume Denis Johnsons unglaubliche Storys »Jesus’Sohn« erzählen von der großen Sehnsucht nach dem Gefühl, richtig am Leben zu sein Von Iris Radisch achen wir es einfach. Stellen wir uns vor, das Leben sei eine Zugfahrt. Wer aus dem Zug aussteigt, hat verloren, zumindest das Leben. Wer sitzen bleibt, hat nichts gewonnen und muss seine Wartezeit bis zur Ankunft mit allerhand Unsinn überbrücken. Das in Demut zu ertragen, lehrt unter anderem die schöne Literatur. Speziell diese unglaublichen Geschichten, von denen hier die Rede ist. Denis Johnson hat sie geschrieben, ein Autor, der einmal ganz unten war, wieder auf die Füße kam und weiß, wie es ist, wenn die Fahrpläne nicht mehr stimmen, der Fahrausweis verloren ist, die erste und zweite Klasse komplett ausgebucht sind, das Dasein seine schönen Reisekleider ablegt und ganz unverhüllt vor einem steht. Denis Johnson wurde vor 57 Jahren als Sohn eines amerikanischen Offiziers in München geboren und wuchs in Alexandria, Tokyo und Manila auf, eine durch den väterlichen Beruf bedingte Unstetigkeit, die ihm aus irgendwelchen Gründen schlecht bekommen ist. Auch davon erzählen diese Geschichten, von denen Johnson einmal gesagt hat, man dürfe sie getrost als seine Autobiografie verstehen. Entstanden ist die Storysammlung, die Johnsons legendären Ruhm in den USA begründete, bereits vor vierzehn Jahren, vor neun Jahren wurde sie schon einmal ins Deutsche übersetzt, nun hat Alexander Fest diese Aufgabe mit schönem Erfolg noch einmal übernommen. Jesus’ Sohn war nicht nur damals eine literarische Sensation, die sogar verfilmt wurde, es ist noch immer eines der besten und radikalsten Bücher, die im Augenblick auf den Novitätentischen der Buchhandlungen liegen. Die Welt, die wir durch dieses Buch betreten, ist, abgesehen von einem nie endenden Feierabendverkehr, öd und leer wie vor der Schöpfung. Es ist eine Welt, die alles Moderne und Postmoderne hinter sich gelassen hat und in endloser Verlorenheit vor sich hin existiert. Man weiß nicht, welche Katastrophe alles zivile und bürgerliche Leben hier ausgelöscht, alle Urbanität zerstört, Arbeit, Kunst, Liebe und Familie weggewischt, alles Dekor, jede Annehmlichkeit beiseite geschafft hat. Vermutlich war es keine Katastrophe, sondern nur der Gang der Welt, die letzte unschöne Konsequenz unseres unersättlichen Behagens an der Kultur. Vermutlich war es einfach das Übliche, das zu diesem Desaster geführt hat, Johnson nennt es »Scheiße. Kacke. Großer Gott«.

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Schauplatz sind der Mittlere Westen und Arizona, die Wüsten um Phoenix, ein Krankenhaus in Seattle, eine Bar namens Vine, ein paar Baracken um einen stillgelegten Highway – stumme Zeugen von der Pracht und Herrlichkeit des untergegangenen kapitalistischen Imperiums. Es ist eine irdische Vorhölle, bevölkert von ein paar männlichen Junkies und anderen Schwerstversehrten, deren flüchtige Gefährtinnen Krüppel, Zwerginnen oder Alkoholikerinnen sind. Wirklich niemand dabei, den man gerne näher kennen lernen würde. Eine Dreckswelt, in der das Weib dem Manne dessen eigenes Taschenmesser ins Auge rammt oder dem Geliebten zum Geburtstag fünf Schüsse schenkt, die sein »Herz verzehren« sollen. Das ist der Stoff, aus dem man heute die HarteJungens-Storys macht – eine amerikanische Adaption der Hiob-Geschichte. Ein echter Kerl, egal, was geschieht, egal, wie tief er fällt und wie viel er trinkt, behält in diesen Storys den Cowboyhut immer auf dem Kopf. Der amerikanische Urmythos vom männlichen Einzelkämpfer – ein Mann, sein Colt, sein Schicksal – ist hier selbst in der gewendeten Fassung – ein Mann, sein Dope, seine Entzugsklinik – noch lebendig. Einsam ist der Held und Ich-Erzähler, immer unterwegs im Unterholz des Lebens, bewaffnet mit nichts als einer soliden Todesverachtung, einer Stammkneipe und einem luzide verzweifelten Blick. Oberflächlich betrachtet, sind wir hier von Hemingway nur wenige Literaturjahre entfernt. Das Muster stimmt noch immer. Ein Mann geht seinen Weg, das Leben spielt ihm übel mit, er strauchelt, aber fällt nicht. Er lässt sich mit Mördern ein, mit Dieben, Typen in Cowboystiefeln und Flanellhemd, die keine großen Worte machen. Er liegt mit den schönsten Frauen im Holiday Inn rum und drückt tagelang Heroin. Er entflammt für 17-jährige Bauchtänzerinnen und nimmt dann aber mit irgendeiner Partydroge vorlieb. Und so weiter. Am Ende wird der Wüstling zahm, trinkt morgens mit irgendwelchen Frauen Pulverkaffee in der Küche, arbeitet Teilzeit in einem Altersheim und steckt seine jungen Kräfte in ein Infoblatt, in dem er Senioren dazu ermuntert, Tiere aus Salzteig zu backen: »Grace Wright hat einen tollen Snoopy gemacht.« Auch gut. Bis es so weit ist, hat man allerdings ein paarmal den Atem angehalten. Schuld daran sind Sätze wie

Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht, so schnell wie Zeitung kann es nicht; gar, wo es sich mit Sinn verfaßt, ist schon der Augenblick Drucktermin verpaßt – owˆ e! Peter Rühmkorf

Foto: Peter Peitsch

Dichter schreiben Ansichtskarten an die ZEIT:

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LITERATUR Belletristik

ald wird in Deutschland wieder gewählt, aber wir wissen schon jetzt, worauf es nach den ersten Hochrechnungen hinausläuft: auf eine mühsam als Wahlanalyse getarnte Beschimpfung der Wähler durch enttäuschte Politiker und verwirrte Vertreter der interpretierenden Klasse. Denn der Wähler wählt ja immer seltener so, wie die großen Parteien es sich wünschen und wie es den Analysten ins Konzept passt. Je offensichtlicher die Handlungsunfähigkeit der Politik auf ihrem verlorenen Posten zwischen Staatsaufgaben und Wirtschaftsinteressen, desto stärker der Verdacht der Bürger, keine wirkliche Wahl zu haben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur noch aus Protest oder dem fatalen Gefühl heraus wählen, man müsse sein Mitbestimmungsrecht wenigstens pro forma wahrnehmen. Manche glücklosen Kandidaten ahnen das wohl und schießen sich deshalb, wie letztes Jahr an vorderster Front Edmund Stoiber, auf das Versagen der Wähler ein, das in Wahrheit ein Versagen der Politik ist. Doch dank José Saramago sind wir gewappnet. Der neue, grandiose Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers ist ein Bollwerk gegen solche ideologischen Attacken, denn er zeigt, wie die Selbstherrlichkeit einer demokratisch gewählten Regierung zur Abschaffung der Demokratie führt. Frei nach Brecht: Wenn die Regierung vom Volk nicht mehr gewählt wird, muss sie es zu ihrem eigenen Schutz bekämpfen. Die Stadt der Sehenden ist eine klassische Was-wäre-wenn-Parabel, die in der namenlosen Hauptstadt eines namenlosen Landes spielt, das noch weniger an Portugal erinnert als die Schauplätze von Saramagos bisherigen Warn-Utopien: Das Steinerne Floß (1968, über die Abtrennung der Iberischen Halbinsel vom restlichen Europa), Die Stadt der Blinden (1995, über die demoralisierende Wirkung einer rätselhaften Epidemie), Das Zentrum (2000, über die Apotheose der Marktwirtschaft in einer totalitären Retortenstadt). Die Erzählzeit ist imaginäre Gegenwart, europäisches Fernsehzeitalter, und die Katastrophe beginnt, wie stets bei Saramago, mit einer relativ harmlos scheinenden unerhörten Begebenheit. An einem verregneten Wahlsonntag kommen die Wähler der Hauptstadt nicht zur Wahl. Die Wahlhelfer werden nervös und nervöser, die Politiker versuchen, ihre Verwandten herbeizutelefonieren, im leeren Wahllokal breitet sich eine Stimmung aus wie auf einer einsamen, nur von ein paar Schiffbrüchi-

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Foto: Jürgen Wassmuth

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Weiß ist besser als rot und schwarz Souverän ist, wer sich für keine Partei entscheidet. José Saramago erzählt in seiner politischen Parabel »Die Stadt der Sehenden« von der Bekämpfung mündiger Bürger durch eine abgewählte Regierung Von Evelyn Finger

José Saramago

gen bewohnten Insel. Verunsicherung, Bestürzung, Durchhalteparolen. Großes Gezeter der staatstragenden Medien. Doch dann, am späten Nachmittag, klart das Wetter auf, scharenweise strömen plötzlich Wähler herbei, die Politiker atmen auf, die Wahlurnen verschlingen gierig ganze Berge von Stimmzetteln, die Welt ist wieder in Ordnung – bis zur Auszählung der Stimmen. Denn nun stellt sich heraus, dass die Wähler nicht als rettendes Schiff die einsame Insel der politischen Pflichterfüllung angesteuert haben, sondern um ein Misstrauensvotum abzugeben: über 70 Prozent der Stimmzettel sind weiß. Saramago schildert den perfekten Aufstand, die friedliche Revolution mündiger Bürger nach den Maximen Kantscher Selbstaufklärung. Vor allem aber beschreibt er die Weigerung der Regierenden, ihre Niederlage anzuerkennen und einen Extremfall von Demokratie zu akzeptieren. Politik als solche wird von Saramago, dem einstigen Salazar-Gegner und KP-Mitglied, als bloßes Mittel zum Machterhalt entlarvt. Die Minister in der Stadt der Sehenden sind demokratisch gewählte Herrscher mit absolutistischen Allüren, kritikunfähig, korrupt, und die Presse ist ihr Erfüllungsgehilfe. Um »das bedauerliche Ergebnis« des Wahltags vergessen zu machen und zur »absoluten Normalität des Wahlvorgangs« zurückzukehren, beschließt die Regierung Neuwahlen. Doch oh Wunder: Nun sind 83 Prozent der Zettel weiß. Daraufhin sieht sich der Premierminister »gezwungen«, den Ausnahmezustand zu verhängen. Seinen »lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern« empfiehlt er Zerknirschung und Reue, sonst müsse er den Belagerungszustand verhängen, so leid es ihm tue, also reißt euch zusammen, denn »die Heimat schaut auf euch!«. Saramago imitiert perfekt den Jargon parteiübergreifender Uneigentlichkeit, den auch wir aus dem deutschen Bundestag kennen. Der Autor reproduziert schimmlige vaterländische Floskeln und lügenhafte Verbrüderungsgesten, lächelnd ausgesprochene Drohungen und die schlecht verborgene Verachtung gewisser Machthaber für jeden, der ihre Macht infrage stellt. Durch diesen sprachlichen Rückgriff auf vertrauten Politikstil erzeugt der Autor einen rhetorischen Hyperrealismus, der die nachfolgend geschilderten Ungeheuerlichkeiten erst plausibel erscheinen lässt: die Abriegelung der aufständischen Stadt. Die Verhöre vermeintlicher Weißwähler. Den nächtlichen Rückzug der Regierung, der Streitkräfte und Polizeieinheiten. Die Hoffnung des Abgewähl-

ten, nun werde Chaos ausbrechen und die reumütigen Bürger kämen auf allen vieren in den sicheren Hafen der bestehenden Verhältnisse zurückgekrochen. Die Stadt der Sehenden ist ein radikaler Ideenroman, der über weite Strecken nur Räsonnement bietet, subversiven Handlungskommentar statt Handlung. Hier gibt es keine Liebesgeschichte, keine Figurenbiografien, keine spannungssteigernden Rückblenden, keine Begründungen für das Weißwählen, keine unnützen Beschreibungen von Landschaft, Interieur, Physiognomie, überhaupt keine üblichen Lesehilfen, stattdessen einen Wald aus Reflexionen, in dem zynische Pointen und ironische Selbstauskünfte des auktorialen Erzählers wachsen. Das Wenige, was sich ereignet, wirkt dadurch umso drastischer – als ob der Leser aus dem kühlen Schatten der intellektuellen Durchdringung unverhofft ins grelle Licht des Geschehens tritt. »Als der Bürgermeister gerade die Gabel zum Mund führte, wurde das Gebäude plötzlich von einer Explosion erschüttert, die Doppelfenster zersprangen in tausend Scherben, Tische und Stühle fielen um, die Leute schrien und wimmerten, einige waren verletzt, andere hatten einen Schock.«

Ein Frieden ohne Polizei, eine Nächstenliebe ohne Parlament Die Exilregierung lässt nämlich einen Bombenanschlag verüben, um die verdächtige Ruhe in der Hauptstadt zu stören. Als die Polizei abzog, hatte man noch gehofft, das Volk, die tumbe Masse, werde sich kannibalisieren, aber offenbar ist es fähig zu einem Frieden ohne Polizei, zu Nächstenliebe ohne Parlament. Als die Hauptstadtbewohner, die nicht weiß gewählt haben, mit Sack und Pack aus der Stadt fliehen wollen, aber an der Grenze verdächtigt werden, »Weiße« zu sein, und zurückgeschickt werden, helfen ihnen die echten »Weißen«, ihre Sachen wieder in die Wohnungen zu tragen: »Ein jeder hatte es für sich entschieden, es gab keine Anzeichen für einen Aufruf von höherer Stelle, auch kein Schlagwort zum Auswendiglernen, tatsächlich kamen sie einfach nur herunter und halfen nach Kräften mit, und nun waren sie es, die sagten, Vorsicht mit dem Klavier, Vorsicht mit dem Silbertablett, Vorsicht mit dem Großvater.«

Dunkle Tage … Fortsetzung von Seite 55 diese: »Dann kam die Frau den Gang herunter. Sie war eine Pracht – sie glühte. Sie wusste noch nicht, dass ihr Mann tot war. Wir wussten es. Das gab ihr diese Macht über uns. Der Doktor bat sie in sein Zimmer mit einem Schreibtisch am Ende des Ganges, und unter der geschlossenen Tür strömte ein strahlend heller Glanz hervor, als würden dort drinnen in einem phantastischen Verfahren Diamanten zu Asche verbrannt. Was für Lungen! Sie schrie schrill auf, so wie, vermute ich mal, ein Adler aufschreit. Es war ein wunderbares Gefühl, am Leben zu sein und das zu hören! Überall habe ich seither dieses Gefühl gesucht.« Außer um das bisschen schwarze Cowboyromantik geht es in diesen Storys nur darum: um den strahlend hellen Glanz, der für Augenblicke von der anderen Seite durch die geschlossene Tür kommt. Und darum, dass man ganz unbewaffnet und nackt sein muss, damit es kommt. Epiphanie sagt der Fachmann zu diesen Sekunden, in denen jemand das Gefühl hat, dass die Himmelstür offen ist und Gott, Traum und Wirklichkeit sich flüchtig die Hand reichen. So wie bei Eichendorff, wenn es heißt: »Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküsst / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nur träumen müßt«. Aber das ist lange her. Hell wird es bei solchen Küssen, erleuchtet eben, nicht unbedingt heilig. Jedenfalls nicht in dieser schwer beschädigten US-Hochkultur, in der man 60-Dollar-Autos fährt, synthetisches Opium raucht und dennoch dasselbe sucht wie Marcel Proust auf den herzöglichen Teegesellschaften der vorletzten Jahrhundertwende: das wunderbare Gefühl, am Leben zu sein. Nicht irgendwie am Leben, aufstehen-arbeiten-fernsehen-schlafen-mäßig, nein, richtig am Leben, Denis Johnson nennt es: »in einem tieferen Sinn am Leben sein«. Was immer das ist. Darum geht es. Es ist nicht viel von Gott die Rede in diesen Geschichten, die ohnehin die abendländische Rhetorik, ihre Begriffe, literarischen Bilder, Metaphern, Tropen, die gesamte hochkulturelle Ausrüstung des Alten Europa und seine lange spirituelle, literarische Tradition links liegen lassen. Das sprachliche Understatement der Storys, ihre Schlichtheit und Ungezwungenheit sind überraschend. Zumindest für europäische Literaturverhältnisse, die in kunstreligiösen Dingen auf Weihrauch und Gespreiztheit nicht gern verzichten und seit ein paar tausend Jahren daran arbeiten, Geist und Körper, Essenz und Akzidenz mit dem philosophischen Rechenschieberchen voneinander fern zu halten. Johnson probiert etwas anderes, etwas, das man eine Literatur der Armut nennen könnte. Es ist ein rüder, entspannt maulfauler und irrisierender Stil, der im denkbar größten Gegensatz zum etwas biederen und angestrengten Konversationsstil seiner erfolgreichen Kollegen von der amerikanischen Ostküste steht und sich auf keine europäischen Vorbilder stützt. »Mein Ideal besteht aus drei Maximen«, hat er einmal gesagt, »schreib nackt, schreib aus dem Exil, schreib mit Blut!« Wenn er schreibt, stellt Johnson sich vor, man habe ihn ausgezogen und auf die Straße gestoßen, in eine fremde Welt. Dort stünde er nackt, kön-

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Die Stadt der Sehenden ist keine Fortsetzung der Stadt der Blinden, auch wenn zentrale Romanfiguren wieder auftauchen, sondern ein Gegenentwurf: Während die Erblindeten im ersten Roman sich unter den Bedingungen des Ausnahmezustands bekriegten, verhalten sich die Eingesperrten nun solidarisch.

Der Mensch kann sich direkt für das Gute entscheiden, ganz ohne Politik Das ist die Utopie, die Saramago, unbeeindruckt vom angeblichen Ende aller Utopien, predigt: Der Mensch könne sich mehrheitlich und direkt für das Gute entscheiden, ohne den Umweg über die Politik. Deshalb erleben auch einige redliche Vertreter des obsolet gewordenen Staates ihre Katharsis. Ein Bürgermeister, der in der Stadt geblieben ist, weigert sich, den Terror der Exilregierung zu unterstützen. Ein Kommissar quittiert seinen Dienst, als der Premierminister das Ermittlungsergebnis, es gebe keine Verschwörung, für inakzeptabel erklärt. Saramago predigt nicht Anarchie statt Demokratie, sondern zieht lediglich in Erwägung, dass wahre Freiheit weniger auf einem Staatsapparat (und sei er noch so demokratisch) als auf der moralischen Integrität einzelner Bürger beruht und dass die Mutter der Ordnung nicht Ordnungswidrigkeit heißt, sondern Toleranz. Insofern ist Die Stadt der Sehenden ein sehr naives und sehr mutiges Buch. Naiv, weil es noch an eine Menschheit glaubt, die, wenn sie nur wollte, besser sein könnte, als sie ist. Mutig, weil der Autor sein tiefes Misstrauen gegen dieselbe Menschheit in einen politischen Roman transformiert, der keiner belletristischen Mode folgt. Er handelt nicht von den Spezialsorgen des kleinen Einzelnen, sondern vom großen Ganzen. »Ich bin ein junger Autor«, hat der Landarbeitersohn, dessen erster Roman 1977 erschien, vor nicht allzu langer Zeit einmal gesagt. Die Stadt der Sehenden ist das Buch eines jungen Autors von 83 Jahren, geschrieben mit eigensinniger Weisheit und frischer Wut. José Saramago: Die Stadt der Sehenden Roman; aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis; Rowohlt Verlag, Reinbek 2006; 382 S., 21,90 ¤

ne nichts mehr verstecken und würde dafür aber »unmittelbar erfahren, was es heißt, Mensch zu sein«. Der Gekreuzigte an der Schreibmaschine. Mit anderen Worten: Den Titel Jesus’ Sohn, der auf zwei Zeilen aus dem Lou-Reed-Song Heroin zurückgeht, muss man ernst nehmen. Es geht um das ganz große und tiefe ozeanische Lebensgefühl, ein Gefühl, das eigentlich in die göttliche Ordnung gehört, auf Erden aber häufig ästhetisch ausfällt. Es geht um etwas, das die ältere Literaturkritik noch, ohne zu erröten, »Daseinserhellung« oder »Erleuchtung« genannt hätte. Es geht um eine Notbremsung bei voller Zugfahrt. Man kann es nennen, wie man will. Um ein Wort kommt man nicht herum: Es geht um Erlösung. Johnson sagt es ziemlich klar. Wir sind, schreibt er, zwar nie in der Lage, uns unser Schicksal vorzustellen. Wir wissen nicht, wo wir sind. Mitten in der Fahrt kommt es uns leicht so vor, als drehten sich unsere Städte in den Zugfenstern wie Bilder in einem Spielautomaten. Wir können einander nicht sagen, was wir träumen und was wirklich geschieht. Wir sind blinde Passagiere des Lebens. Doch irgendwann, wenn man ganz unten ist, kommt der Augenblick, der alles aufwiegt. Zum Beispiel fährt man dann durch Iowa. Es ist, als wäre alle Luft vom Himmel verschwunden. Amseln kreisen über ihren eigenen Schatten, und Kühe riechen sich gegenseitig am Hintern. Einer ist auf der Reise gestorben, ein anderer hat einen Traum über Enttäuschung, ein Dritter wird einen Vierten bald mit einem Wagenheber fast zu Tode prügeln. Die Sojabohnenernte ist wie jedes Jahr verdorben. Am Boden liegen welke Maisstengel. ANZEIGE

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Und dann passiert es: »Alle falschen Traumbilder waren ausgelöscht. Es war wie der Augenblick, bevor der Erlöser kommt. Und der Erlöser kam, doch mußten wir lange auf ihn warten.« Sie sind wirklich großartig, diese Geschichten von den Augenblicken, bevor der Erlöser kommt. Sagen wir es so: Wir wissen nicht, woher wir kommen und wohin die Reise geht. Aber mit solcher Reiselektüre ist das ein paar Herzschläge lang vollkommen gleichgültig. Denis Johnson: Jesus’ Sohn Erzählungen; aus dem Englischen von Alexander Fest; Rowohlt Verlag, Reinbek 2006; 175 S., 14,90 ¤

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Belletristik LITERATUR

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– sonst geht es mir gut, ich schreibe fast nur noch Gedichte. Bei mir um die Ecke ist gerade der Flieder aufgesprungen. Die Vielfalt im Fenster vis-à-vis hält mich in Atem (Arzt und Alzheimer): da wechseln die Gegenstände wie Bühnen Kulissen

Corso, es ist sehr erbaulich: heute gelbe Gießkanne neben Azaleenbusch und der gelbe Fleck einer auftauchenden Person, ein dämmriges Interieur Umarmung, Deine f Friederike Mayröcker

Foto: Peter Peitsch

3. 5. 06 lieber Freund, die weißen Lilien, die du mir zur Tür gelegt hast, sind eine große Lust mein Schreibzimmer: voll Glanz und Duft: das wird mich anfeuern zu schreiben

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" KRITIK IN KÜRZE

Der kalte Kontinent Stumme Dramen der Liebe: M. Blechers Roman »Vernarbte Herzen« ist eine Entdeckung – und jetzt schon ein jugendfrischer Klassiker s ist der längste Sommer aller Zeiten. Er dehnt sich schön und schrecklich aus vor Emanuel, dem weichen, verlorenen Emanuel, der in seiner Kutsche fährt, durch die Straßen der kleinen Stadt, über die Dünen, an jenem Ozean entlang, der sich bis nach Amerika erstreckt, groß und mächtig, während Emanuel so daliegt, flach und hilflos in seinem Gips, selbst wenn er seine Kutsche steuert, dieser Emanuel, der aus Rumänien gekommen ist bis an die französische Atlantikküste, um gesund zu werden, um zu sterben. Der Sommer legt sich für Emanuel wie ein Tuch über die Tage, wie ein ganz besonders ausgesuchtes Leichentuch. Es ist der längste und der traurigste Sommer aller Zeiten. Die Hoffnung ist nicht mehr als ein weiteres Spiel, mit dem sie sich die Zeit vertreiben, die Patienten, die Gefangenen, die Gezeichneten im Sanatorium an der See, wo sie die Stunden verlieren und die Jahre und dazwischen auch die Liebe, die verschwindet, ein weiteres Sandkorn am langen Strand. Wie alle Sommer ist es der Versuch, die Wolken zu fassen, die vorüberziehen. Wie alle Sommer endet es mit einem Gewitter. Es ist der längste und der traurigste und der tröstlichste Sommer aller Zeiten. Denn M. Blecher hält die Wolken an mit seinen Worten. Er bietet vor dem Regen Schutz mit seinen Sätzen. Er tauschte sein Leid gegen Literatur und bezahlte mit dem eigenen Leben. Uns bleibt sein grandioser Roman Vernarbte Herzen, ein Schmerzensbuch, das lakonisch ist und unsentimental bis zur Ehrlichkeit. »Da nun beiläufig auch vom physischen Leiden die Rede ist«, schrieb Blecher in seinen Aufzeichnungen, die er Die beleuchtete Höhle nannte, »erlaube ich mir, es nicht auf einen besonderen Rang zu erheben von der Art einer vornehmen Inspiration für die Kunst, die allein gültige Kunstwerke gebiert. In Ruhe und Überfluß, so glaube ich, wurden unendlich viel mehr bleibende Kunstwerke geschaffen als im Schmerz und unter Zähneknirschen.« Das »Zähneknirschen«, von dem Blecher spricht, ist in seinem Fall eine Knochentuberkulose, an der er 1939 stirbt, noch keine 30 Jahre alt. Wie jener Emanuel wurde er in Rumänien geboren, wie jener Emanuel war er der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Es ist kein Zauberberg, der hier vom Schreibtisch aus bestiegen wird, wobei dann Thomas Mann das Anämische zur Zeitdiagnose hochschreibt; Vernarbte Herzen ist ein Buch des individuellen Leidens, das von Krankheit und Einsamkeit handelt, aber von Sonne, Wind und Weite erzählt. Und von jenem Emanuel, der in das Städtchen Berck an der Atlantikküste kommt mit einem Abszess und dem »Gefühl, nur sehr flüchtig verleimt zu sein. In den Glasfabriken zerstreuten sich die Arbeiter damit, daß sie Stücke geschmolzenen Glases ins Wasser warfen, die dann verhärteten und widerstandsfähiger wurden als gewöhnliches Glas, doch wenn sich ein kleines Fragment vom gesamten Gebilde ablöste, zerfiel die ganze Masse zu

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Staub. Reichte etwa ein einziger zerbröselter Wirbel nicht aus, um den ganzen Leib sich in Staub verwandeln zu lassen?« Das ist die Sprache, das sind die Bilder dieses Buches. M. Blecher, der eigentlich Max L. Blecher hieß, hat aus den Prüfungen seines kurzen Lebens diese Distanz mitgebracht, die es ihm ermöglicht, seltsam heiter und dabei fast brutal direkt aus seinem schmerzensreichen Sein zu berichten. Er verwendet Wörter wie Nägel, die er in eine Wand schlägt, schockierend und doch mit großer Selbstverständlichkeit; er schafft Stimmungen, die lange nachhallen, gerade weil sie ans Alltägliche appellieren; er lässt Figuren aus dem Nebel entstehen und wieder darin verschwinden. Und was bleibt, das ist die Erinnerung – das Schrecklichste, was man sich wünschen kann. »Dort, weit weg, in den stehenden dunklen Wassern schwamm einsam und bleich das aufgedunsene Karpfengesicht der Kassiererin mit dem trägen Blick ihres runden und kalten Auges«, so beschreibt Blecher einen Erkenntnisschub Emanuels, der allein zu Mittag isst, nach der verheerenden Diagnose, ein Nachmittag wie ein Nachruf. »Sie war übrigens das einzige Tiefseegetier in jenen Untiefen des Ozeans, und Emanuel war der einzige Ertrunkene.« Es ist, auf längere Zeit, einer der letzten Momente dessen, was Emanuel als Normalität kannte. In eine »lauwarme und düstere Oktoberabenddämmerung« hinein rollt er Berck entgegen, wo die Kranken mit der Grausamkeit oder Menschlichkeit behandelt werden, die jeder Zeit zu Gebote steht. »Was konnte das sein? Ein fahrbarer Sarg oder eine Totenbahre«, fragt sich Emanuel, als er mit dem Zug angekommen ist. »Ein Mann lag auf einem Bett, einem schmalen Holzbett, eine Art Rahmen mit Matratze, der auf einem Gestell mit vier gummibereiften Rädern ruhte. Allerdings war der Mann von Kopf bis Fuß normal gekleidet. Er trug eine Krawatte, hatte eine Baskenmütze auf und einen Anzug an und rührte sich trotzdem nicht, stand nicht auf, um herumzugehen wie alle anderen. Im Liegen kaufte er eine Zeitung, zahlte, schlug sie auf und begann, den Kopf auf Kissen gestützt, zu lesen, während hinter ihm ein Mann das Gefährt durch die Straßen der Stadt zu schieben begann.«

Jeder einzelne Satz wird zu einem Lebensbeweis Was Emanuel da sieht, ist sein eigenes Schicksal, ist das Dasein, das auf ihn wartet, der ganze Körper in Gips, der Geist wach, das Herz vernarbt. Und wie Blecher dieses langsame Verlöschen beschreibt, das immer wieder von verzweifelten Ausbruchsversuchen ins Gefühl und in die Liebe unterbrochen wird, das hat jenseits aller artifiziellen Bedeutsamkeit etwas so Existenzielles, dass jeder einzelne Satz zu einem Lebensbeweis wird, zu einer Lebensversicherung im wahrsten Sinn. Was uns Blecher hier lehrt: Krankheit ist eine Schule des Alterns; die Kunst bietet die Chance des Augenblicks. Und ein Angebot an Ewigkeit.

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Die Zeit, das ist ja das Widersprüchliche an jeder Krankheit, ist der eigentliche Feind. Die Krankheit raubt einem Monate und Jahre, die wir noch hätten. Jede Minute aber, die noch bleibt, jede Minute, die Emanuel so eingegipst wartet, im Sud seiner Ausdünstungen schmorend, während sein Körper verfällt, jede Minute wird zu einer Strafe, die die verstreichende Zeit nur um so grausamer werden lässt. Die Zeit ist eine Marter, die Heilung eine Hybris, und die Menschen schieben sich aneinander vorbei wie todestrunkene Insekten am Ende des Sommers, vorsichtig, vereinzelt und verzweifelt – Kafkas Cousins, allerdings ohne die Hoffnung, doch noch aufzuwachen und festzustellen, dass sie nur der Fantasie eines Schriftstellers entschlüpft sind.

»Wer hier gelebt hat, findet nirgends mehr auf der Welt einen Platz« Blechers eigenes Schicksal macht das Buch dabei nicht literarisch interessanter: Aber es gibt den Sätzen ein Gewicht, eine spezifische Schwere, eine oft fast verzweifelte Heiterkeit. »An manchen Stellen wog der Gips viele Liter Wasser«, so beschreibt Blecher den erstarrten, erfrorenen Körper. »In der Dunkelheit erkundete Emanuel die Karte der Feuchtigkeit und der Qual. Es gab spitze Vorgebirge, die ihm tief in die Knochen drangen … und etwas weiter hin sanfte und ausgedehnte kühle Feuchtgebiete … dann Golfe von relativer Ruhe.« Und in dieses zähe, zehrende Warten schiebt sich nun das Bild eines Mädchens, das einen französischen Namen hat, der, auf Deutsch ausgesprochen, etwas übertrieben bedeutungsvoll wirkt. Solange heißt sie, so lange. Auch sie eine ehemalige Kranke, die jetzt im Sanatorium arbeitet, auch sie infiziert, auch sie verloren. »Es ist ein subtiles Gift«, sagt zu Emanuel sein neuer Freund Ernest. »Das sofort ins Blut geht. Wer hier gelebt hat, findet nirgends mehr auf der Welt seinen Platz.« Solange aber erscheint Emanuel noch einmal wie eine Wintersonne, wie das Versprechen, dass es Nähe und Wärme auch für jemanden geben kann, dessen Körper im Gips gefangen ist. Und so nähert er sich ihr, er nimmt sie mit in seine Kutsche, er fährt ans Meer, er schiebt seine schwere Figur auf sie, in einem widersinnigen Verlangen nach Körperlichkeit, wo doch der eigene Torso der Gegner ist und der fremde unerreichbar. Es ist etwas wie Liebe, das Emanuel und Solange verbindet, aber eben nur so etwas wie Liebe. Und wie Blecher das schildert, was zwischen den beiden ist, wie sie sich finden und verlieren, weil Emanuel nicht versteht, wie kalt, wie fern ihn diese Krankheit hat werden lassen – das wird bei Blecher nicht nur zu einer Operation am offenen Herzen, es wird zum stummen Drama jeder Liebe. Den Winter über fahren sie in der Kutsche ans Meer, sie treffen sich auf seinem Zimmer, es sind Nachmittage, die die Lust ins Leere laufen lassen. »Und dennoch geschah alles, was er unternahm, mit

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peinlicher Genauigkeit, wie am ersten Tag ihrer Liebe, um, einmal von diesen Ritualen befreit, mit noch größerer Wollust deren Wegfall empfinden zu können. Zu spüren, wie ermüdend sie letztlich waren … Je genauer er sie vollzogen haben würde, um so erhabener müßte die Freiheit sein, dachte er.« Und dann schließt Blecher diese Seite: »Bei alledem führte Solange einen blauen und klaren Blick von gelassener Verständnislosigkeit spazieren.« Und so wächst die Krankheit schließlich in alle sozialen Beziehungen hinein, infiziert alle Bewohner dieses Elendsreiches, die Blecher mit sanftem Respekt zeichnet. Tonio etwa, dessen Liebe für Madame Wandeska ihn mehr leiden lässt als alle anderen Gebrechen; oder die blasse, schöne Isa, die mit ihrer alten Pflegerin Karten spielt und sie betrügt und so die Tage gewinnen will, die ihr Leben verlängern; oder Quitonce, der Emanuel ein Knochenstück schenkt, zernagt, zernarbt, das Kostbarste, was er hat. Sie sind eine widerborstig heitere Jugend; sie alle werden verlieren, von ihnen werden nur Buchstaben bleiben, das Grausamste und Tröstlichste, was es geben kann. Blecher führt seinen Emanuel schließlich hinaus, erst in die Villa am Meer, wohin er vor Solange flüchtet, wo er sich einnistet in das Leben und die Erinnerung einer Familie, die hier schon mehr verloren hat als einen Menschen. »Wild rauschten die Ozeanwellen in der Weite des Salons. Der Tag war von schweren, grauen Wolken verhangen, die sich wie ein Plafond über die Dünen herabgesenkt hatten.« Blecher gewährt seinem Emanuel also eine Hoffnung, die er sich selbst nicht mehr machen durfte. Und ahnte doch schon das Ende. »Die schweren weichselroten Samtvorhänge flatterten im Wind wie Trauerbanner, die in Aufbahrungsräumen hängen. Emanuel schloß ermüdet die Augen.« Blecher führt ihn aber noch weiter. Er schickt Emanuel nach Paris, wo sein Freund Ernest auf ihn wartet; Blecher stirbt am 31. Mai 1938, Emanuel aber verlässt Berck, und »in der Ferne verschwand die Stadt wie ein sinkendes Schiff in der Dunkelheit«. Emanuel ist sein Bote für die Ewigkeit. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1995, da erst erschien Vernarbte Herzen in Rumänien. Und dass das Buch nun endlich auf Deutsch erscheint, verdankt sich vor allem Ernest Wichner, der außerdem die Übersetzung sicher zwischen spröder Schönheit und sentimentaler Trauer hindurchsteuert. So ist jetzt ein Roman zu bestaunen, ein jugendfrischer Klassiker, der auf der Netzhaut nachbrennt, der nach Salz schmeckt und nach Chlor, der verweilt, mit seinen Sätzen, wie ein Freund aus einem fernen Sommer. Einem Sommer, der ein einziges Anrennen ist und eine stete Verweigerung: gegen die Zeit, die verstreicht, gegen den Tod, der bleibt. M. Blecher: Vernarbte Herzen Roman; aus dem Rumänischen von Ernest Wichner; Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006; 221 S., 14,80 ¤

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Kleine Fluchten Schwer zu sagen, ob Herr Jensen sich selbst im Laufe der Zeit immer unähnlicher oder uns immer ähnlicher wird. Jakob Hein jedenfalls erzählt in seinem neuen Roman Herr Jensen steigt aus die Lebensgeschichte eines gekündigten Postboten – eine Allerweltsgeschichte, die sicher Platz im kleinsten Briefkasten finden würde, wäre sie nicht so großartig erzählt. Im Grunde genommen ließe sich das Leben von Herrn Jensen zu etwas kaum noch Wahrnehmbarem zusammenfalten. Sein Leben durchzieht eine unendliche Ereignislosigkeit, in die wir hineinschauen und beklommen feststellen, dass es dahinter immer noch weitergeht, fast wie im Sternenhimmel. Herr Jensen lebt zusammen mit den Möbeln aus seinem Kinderzimmer und seinem Fernseher. Was die Liebe betrifft, so glaubt er, dass es »einen geheimen Jagdgrund gibt, wo nachts die Frauen weiden«. Aber dort traut er sich nicht hin, und als ihm einmal eine Sabine zustößt, ergreift er die Flucht, während sie sich im Bad für die Verführung präpariert. Über die Selbstverführung geht es bei ihm nicht hinaus. Herr Jensen kriegt, so simpel kann Scheitern sein, viele Dinge einfach nicht hin. Nach seiner Kündigung sitzt er vor dem Fernseher, wenn er nicht gerade zum Amt muss und für eine Qualifizierungsmaßnahme angemeldet wird. Grippale Infekte und Durchfallerkrankungen können in solch einem Leben eine Karriere als willkommene Abwechslung machen. Das geht so lange, bis er sich eines Tages der »Bleiben Sie dran«-Aufforderung widersetzt, seinen Fernseher aus dem Fenster wirft und beschwingt feststellt, dass das Nichtstun seine Berufung ist – und sich mehr und mehr zu einer Philosophie auswächst, die letztlich zur Auflösung der Persönlichkeit führt. Während Herr Jensen im Überfluss der Zeit über die Individualität von Molekülen nachdenkt, verflüchtigt sich seine eigene. Jakob Hein zeichnet in der Figur des arbeitslosen Postboten den tragischen Helden unserer Zeit – ein durch Sparmaßnahmen und Ämterwillkür stillgelegter Mensch, der gezwungen ist, seine Verzweiflung mit einem positiven Vorzeichen zu versehen, damit er seiner Existenz überhaupt noch etwas hinzuaddieren kann. Es ist nur logisch, dass der Autor ihm keinen Vornamen gibt, denn wer sollte ihn auch noch rufen? Das Kollektiv der Außenseiter ist leider zu groß, um Herrn Jensen noch als solchen zu bezeichnen. Ein Roman, dem es an Schlichtheit, Aktualität und Wahrheit ebenso nicht mangelt wie an gekonnt inszenierter Komik, die der Autor mit einem finalen Erschrecken zu versiegeln weiß. Heike Kunert Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus Roman; Piper Verlag, München 2006; 133 S., 14,90 ¤

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LITERATUR Belletristik

ir allesamt schwatzen, sofern wir uns für Kenner der Vereinigten Staaten halten, gern über die Aristokratie der amerikanischen Ostküste und ihre Macht daher – aber ihren großen Porträtisten haben wir niemals so recht zur Kenntnis genommen. Louis Auchincloss, der selber einer der ältesten und reichsten Familien der East-Coast-Sippen entstammt, ist mit ihren Manierismen und ihren Intimitäten, ihren blonden Tugenden und ihren dunklen Melancholien so innig vertraut, wie es seine Vorläuferin Edith Wharton war, für deren hohe Qualitäten uns erst Jahrzehnte nach ihrem Tod die Augen aufgingen. Von ihr weist die literarische Ahnentafel zu Henry James zurück. Kindlers Literatur-Lexikon verzeichnet den Namen Auchincloss nicht, und auch in der letzten Ausgabe der Encyclopædia Britannica ist er nicht mehr aufgeführt – obschon er Jackie Kennedy als eine entfernte Cousine betrachten durfte, da ihre Mutter in zweiter Ehe einen Auchincloss geheiratet hatte und damit erst, samt den beiden illustren Töchtern, Einlass fand in das »Social Register« von New York. Der Schriftsteller, im Hauptberuf Partner einer der bedeutenden Anwaltsfirmen der Wall Street, machte von der prominenten Verwandtschaft wenig Gebrauch – im Unterschied zu Gore Vidal, der sich mit seinem schneidenden Witz und seiner halbseiden-eitlen Eleganz immer wieder Einlass ins Weiße Haus zu verschaffen suchte (bis ihm Bobby Kennedy ein für alle Mal die Tür wies). Historischer Klatsch, den zu kennen sich lohnt, weil er womöglich den Zugang zu dem immensen Werk des Autors (annähernd fünfzig Bände) leichter öffnet. Auchincloss wird im kommenden Jahr seinen 90. Geburtstag feiern: Man vergisst es bei der Lektüre der Manhattan Monologe, mit denen jetzt die Entdeckung dieses Autors beginnen könnte. Das Alter scheint die Konzentration und die Vitalität seiner Erzählkunst nicht mindern zu können. Die ersten drei dieser zehn Short Storys (wenn es denn welche sind) berichten mit fast trockener Präzision von den Stationen des Niedergangs der mächtigen alten Familien: von der Schwäche der Erben, die der robusten und sportiven Maskulinität der Väter nicht gewachsen sind. Schon der erste der Ich-Erzähler, der sich aus guten Gründen weigerte, dem Ruf des »Rauen Reiters« Theodore Roosevelt zu folgen und sich in den Ersten Weltkrieg zu stürzen, muss sich von der gescheiten Mutter vor-

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Der letzte seiner Art Die »Manhattan Monologe« von Louis Auchincloss geben den Blick frei auf Amerikas Herrschaftsschicht – und sind eine Entdeckung VON KLAUS HARPPRECHT

Louis Auchincloss

halten lassen, dass er trotz aller triftigen Gründe in Wahrheit vor allem Angst hatte vor dem Krieg: »Du musst Dich dieser Tatsache stellen … So einfach ist das.« Fast immer sind die Frauen die Stärkeren, obwohl sie in Luxus schwelgen und keine anderen Pflichten haben, als Kinder zu gebären, die aufwändigen Haushaltungen zu kontrollieren, auf Gesellschaften zu brillieren und die Erwartungen an ihre karitative Wohlgesinnung zu erfüllen. »An den Felsen ihrer Ruhe«, schreibt eine der Erbinnen, »prallte das Gepolter ihrer manchmal jähzornigen Gatten ab wie Gischt; sie waren absolut sicher, dass nichts, was diese Männer unternehmen könnten, den ewigen Beistand untergraben würde, den das unbegrenzte Vermögen der Väter den Töchtern garantierte.« Eine ihrer Standesgenossinnen: »Ich hatte nie angenommen, dass die Männer, die in meiner Welt die Macht besaßen, zwingend im Recht oder im Unrecht waren. Sie waren die Mächte, die eben existierten; mehr nicht. Und doch konnte ich die Frage – war das wirklich alles? – niemals ganz unterdrücken …« So schleichen sich die Zweifel auch in die Seele der Erbinnen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich eine neue Schicht der Erfolgreichen an die Seite der finanzaristokratischen Familien drängt: »An einem Seebadeort wie Newport, Bar Harbor oder Southampton … kann der frischgebackene Industriemagnat (vorausgesetzt, er ist nicht zu abstoßend vulgär, was erstaunlich viele von ihnen sind) die Kinder der alten Garde als Spielgefährten gewinnen, indem er ihnen Yachten, schnelle ausländische Wagen, wohlgepflegte Tennisplätze … zur Verfügung stellt, und ist die jüngere Generation erst einmal angelockt, werden die Eltern fast zwangsläufig ihre Aufwartung machen, und der Wall ist gebrochen. Ehen zwischen den alten und den neuen Familien stellen sicher, dass diese völlig akzeptiert werden, und die Schlacht ist gewonnen.« Der zweite Zyklus Zwischen den Kriegen reißt die Konflikte um den New Deal Franklin Roosevelts noch einmal auf: die ideologischen Spannungen über die ersten Ansätze zu einem amerikanischen Sozialstaat, Zerrissenheiten, die auch das Oberste Gericht in Washington in ein Schlachtfeld des Klassenkampfes verwandeln. Freilich gesteht der konservativste Rebell unter den Richtern seinem Assistenten: »Ich habe Charles Francis Adams« – dem Eisenbahnmilliardär, Bruder des großen Historikers Henry Adams aus der Präsi-

dentenfamilie – »völlig zugestimmt, als er in seinen Memoiren schrieb, er habe mit den größten Industriemagnaten seiner Zeit zusammengearbeitet und sie allesamt stumpfsinnig und unkultiviert gefunden.« Auf Eleganz legten sie keinen Wert, denn die ist – wie Paul Fussell in seiner geistreichen Studie über die amerikanischen Klassen feststellte – »die fatale Versuchung der Mittelschicht«. Eine brüchige Welt, in der sich die Frauen als die bindende Kraft erwiesen: »In diesem Moment hätte ich erkennen müssen, dass ich es mit einer Frau aus Stahl zu tun hatte, die sich nie auch nur einen Fingerbreit von ihrem gewählten Weg würde abbringen lassen. Ich deutete ihr offenes, freundliches Verhalten jedoch als Zeichen, dass ihre Hingabe zuallererst mir galt, und so heirateten wir.« Eine ihrer Gefährtinnen: »Ich bin als Alida Schuyler in einen jüngeren Zweig der Großen Sippe hineingeboren worden … Der ehrgeizige, ›aufstiegswillige‹ Alexander Hamilton hatte seine Braut aus einem älteren Zweig gewählt, um seine uneheliche Geburt zu kaschieren. Über Generationen hinweg haben wir unsere sich leerenden Schatullen aufgefüllt, indem wir in die Familien neuen und neueren Reichtums einheirateten …«

Die Elite ist müde – und Eleganz ist eine Unsitte der Mittelschicht Zum Beispiel der Kommandeure großer Industriekonzerne, deren Strategen begriffen hatten, wie den Arbeitskämpfen in den klassischen Industriestaaten zu entkommen sei: »Man verlege die Fertigungsstätten in den Süden, wo man ärmere und unterwürfigere Arbeiter findet, oder ganz aus dem Land hinaus, nach Korea, Guatemala, Bolivien …« Louis Auchincloss hat in der Tat die Entwicklungen des amerikanischen Kapitalismus mit scharfen Augen verfolgt: Seine Anwaltskanzlei erwies sich als ein idealer Beobachtungsstand für die Veränderungen der Gesellschaft, und die Klienten lieferten ihm immer neue Stoffe ins Haus. Eines Tages meinte er, sein Talent verpflichte ihn, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Nach einem Jahr stellte er fest, dass er – mit seiner Muse allein gelassen – nicht mehr zustande brachte als in den Jahren zuvor. Also kehrte er reumütig wieder in seine Firma zurück. In den Wandlungen entdeckte er freilich auch die Spuren des Unveränderlichen: »Wenn Vinnie ihm so zuhörte, wie er ihre ganze angestammte

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Welt auseinander nahm – und daran gewöhnte sie sich mit zunehmendem Vergnügen –, bewies ihr das …, dass alle ihre unterdrückten Zweifel und Vorbehalte nicht nur müßige Grillen gewesen waren …, sondern wesentliche Züge ihrer Persönlichkeit. Und Sünden obendrein, echte Sünden. Sie als solche zu erkennen, tat ihr geradezu gut, weil sie damit Realität gewannen … Vielleicht war sie verdammt, aber musste man nicht erst leben, bevor man der Verdammnis anheim fiel? Lohnte es sich womöglich?« Sie war zum Ehebruch reif. Und von ihrem Mann, der sich sofort von ihr trennte, als er durch einen tückischen Zufall entdeckte, dass sie ihn mit seinem besten Freund und engsten Partner in der Kanzlei listig und aufs lustvollste betrog, sagte sie bei einer versöhnlichen Begegnung: »(Er) war ein stolzer, steifer, idealistischer Puritaner, eine Gestalt wie aus den Erzählungen von Hawthorne!‹ – ›Eine anachronistische Gestalt.‹ – ›Aber eine hübsche! Lass mir meine Erinnerungen, sie sind alles, was ich habe.‹ Sie wandte sich der Speisekarte zu. ›Lass es uns nicht gar zu ernst nehmen. Ich glaube, ich begnüge mich mit einem Salat. Wenn uns schon außer Geschmack nichts bleibt, dann doch hoffentlich ein guter.‹ Rod tat es ihr gleich und griff zur Speisekarte …« Vielleicht ist dieses graziöse Finale der letzten Geschichte, die schon unsere Tage berührt, vielleicht sind dies die letzten Zeilen, die der greise Autor gedruckt sieht. Vielleicht auch nicht. Sie wären ein leiser Abschied von der puritanischen Welt, die einst von den Sippen der WASP, der White Anglo Saxon Protestants, klug und alles in allem erfolgreich regiert wurde. Sie haben mit dem fanatisierten Fundamentalismus, der unterdessen Washington und das Weiße Haus besetzt, nicht das Geringste zu schaffen. Es gibt sie noch, und sie beweisen immer wieder die schöne Einsicht, dass altes Geld liberal, neues Geld konservativ ist. Louis Auchincloss wurde zum sensiblen und wahrhaftigen Chronisten einer versinkenden Welt. Die Manhattan Monologe sollten uns die Augen für den Rang dieses gewissenhaften literarischen Handwerkers öffnen. Er wird die Gore Vidals und Tom Wolfes und Norman Mailers überdauern. Louis Auchincloss: Die Manhattan Monologe Roman; aus dem Englischen von Angela Praesent; DuMont Verlag, Köln 2006; 268 S., 19,90 ¤

Nach Klassenkampf kommt Kassenkampf! Jan Faktors große Gesundheitsgroteske »Schornstein« ist ein Trauerspiel, über das man Tränen lacht uf Seite 14 ist bereits Schluss. Das erste Kapitel, ein Kabinettstückchen grotesker Komik, endet mit dem Wort: »ENDE«. Aber dann geht es los. Und zwar zügig. Das Blut fließt in Strömen. Der Held kämpft unermüdlich. Es geht um Leben und Tod. Und je ernster die Situation, desto witziger wird die Beschreibung. Der Gegenstand von Jan Faktors erstem Romans Schornstein mag etwas ungewöhnlich erscheinen. Aber das wird durch die Art seiner Behandlung mehr als wettgemacht. Es geht um unser Gesundheitswesen. Genauer, um das Problem, das durch Lipoprotein aufgeworfen werden kann. Aber nicht muss. Aus dieser Differenz bezieht der Roman seine Energie. Faktor beschreibt den Weg eines leidenden und angsterfüllten Patienten zu einer für ihn nur wenig erfreulichen Einsicht: Er leidet nicht nicht nur an der Lipidologie, einer Art von Blutverfettung. Er leidet fast noch mehr an den kassenärztlichen Vereinigungen, die ihm eine »Kriegserklärung« ins Krankenhaus schicken. Sie verweigern ihm die weitere Bezahlung der (notwendigen) Behandlung – mit der Begründung, dass sich der Nachweis ih-

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rer Notwendigkeit nicht erbringen ließe. Das medizinische Problem führt dabei schnell zu einem logischen Dilemma. Und in einen Zirkel, in dem sich Schornstein, der Protagonist dieses Romans, nun zwar existenziell verloren hat, aber dabei sehr kunstvoll bewegt.

Scheitern ist erlaubt, leiden auch, verzweifeln ist verboten Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren und siedelte 1978 zu seiner Frau (einer Tochter von Gerhard und Christa Wolf nach Ost-Berlin um. Er galt als eine der Legenden des Prenzlauer Bergs, der sich mit experimentellen Texten einen Namen machte. Nach der Wende war es zunehmend stiller um ihn geworden, wie man annehmen musste, aus ästhetisch-politischen Gründen. Doch der Fall, den Schornstein schildert, scheint authentisch. Faktor muss wohl all seine Energie in den Kampf mit den kassenärztlichen Vereinigungen investiert haben. Davon lebt nun sein erster Roman. Der Autor profitierte dabei aber nicht nur von dem unfreiwillig erworbenen medizinischen Fachwissen, sondern auch von seiner Kenntnis experimenteller Verfah-

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VON MARTIN LÜDKE

rensweisen. Er kann sie immer dann nutzen, wenn er die Absurditäten unserer Realität in die Form der Groteske bringt. Zugleich hat er sich aber der (subjektiven) Erfahrung geöffnet. Und davon profitiert Schornstein nun noch weit mehr. Faktors erzählerisches Debüt steht in einer guten literarischen Tradition. Im Hintergrund leuchten mächtige Vorläufer auf: Kleists Kohlhaas, Thomas Bernhards Atem und Kälte, der Schwejk, als Inkarnation eines eigentümlich verschlagenen Humors, und, vielleicht vor allem, Kafka, mit seinen heroischen Helden, die in ihrem unermüdlichen Bestreben scheitern, ihr ungreifbares Gegenüber zu begreifen. Sie scheitern, aber sie verzweifeln nicht. Sie leiden nur. Wie Schornstein. Der Sachgehalt dieses Romans, von unverkennbarer Aktualität, wird von Faktor aber nicht, wie es nahe gelegen hätte, in einer Satire übersteigert, sondern – dank der genauen, regelrecht peniblen Beschreibung – zur Groteske verdichtet. Der Titel Schornstein wiederum geht auf Vorfahren Faktors zurück und ist eine Hommage an den Überlebenswillen seiner Mutter und Großmutter in Theresienstadt und Auschwitz. Sie bleiben Randfiguren, aber unverzichtbar. Faktor ist Jude.

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Sein Held ebenso. Aber jedes Pathos wird vermieden – und wo es droht, wird es weggewitzelt. Faktor konzentriert sich ganz auf seinen Titelhelden und seine Frau Anna, die ihn materiell, moralisch und zur Not auch buchstäblich unterstützt. Am Rande treten noch einige Ärzte auf, Gutachter, Anwälte und schließlich der mächtige Gegenspieler, die kassenärztlichen Vereinigungen, die mit identifizierbarem Absender, Briefkopf und namentlich gezeichnet, ihre Entscheidungen trifft. Gegen diese Entscheidungen lässt sich Widerspruch einlegen. Wir leben ja schließlich in einem Rechtsstaat. Der Rechtsweg steht jederzeit offen.

Alles geht seinen geregelten, ordnungsgemäßen, furchtbaren Gang Nur bleibt jeder Widerspruch zwecklos. Jede Klage läuft ins Leere. Selbst der nachweisbare Tod seiner Leidensgenossen, die an der gleichen Krankheit litten, hilft dem armen Schornstein nicht weiter. Der Kreis wird zum Kreisel. Faktor ist mit dieser Geschichte ein großer Wurf gelungen. Er hat den Kampf des Subjekts gegen die Übermacht gesellschaftlicher Institutionen

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auf einer neuen, zeitgemäßen Stufe beschrieben. Der Einzelne steht zwar ohnmächtig und hilflos diesen Institutionen gegenüber. Aber anders als etwa zu Kafkas Zeiten läuft er nicht gegen die Anonymität des Apparats an, im Gegenteil: Es geht alles seinen rechtlich geregelten, ordnungsgemäßen Gang, an dem auch die durchaus greifbare (aber nach wie vor unbegreifliche) Institution nichts ändern kann. Das Dilemma, in dem sich dieser tragikomische Schornstein verfängt, gleicht dem der armen Unternehmen, die, weil sie ihren Gewinn nach Steuern so kräftig steigern konnten, eine neue Runde des Personalabbaus einläuten »müssen«. Faktor hat deshalb mit seinem Kampf gegen die kassenärztlichen Vereinigungen nicht nur sein persönliches Dilemma beschrieben. Sein konkreter Fall wurde zur Parabel, will heißen: Realität zur Literatur. Statt Klassenkampf jetzt Kassenkampf. Ein Trauerspiel, über das ich oft Tränen gelacht habe. Jan Faktor: Schornstein Roman; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006; 284 S., 19,90 ¤

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So., 30. April 2006 Herzliche Grüße vom Spielboden Dornbirn – »Poesie International 06« – Pokäsie pohäsie … Urs Allemann, Yoko Tawada, Elke Erb, Farhad Showghi, Michael Donhauser, Oskar Pastior, Rosmarie Waldrop, Ulf Stolterfoht, Zsuzsanna Gahse, Urs Engeler

Als Ismael aus der Boeing fiel Norbert Zähringers Roman »Als ich schlief« ist virtuos und kalt erzählt lenden wir einen Roman zurück: Ein Mann geht mitten in der Nacht zum Zigarettenautomaten, wirft Münzen ein, statt »Kal-akschlik« macht es ungesund nur »Ka-lak«. Nichts weiter tut sich, der Mann verschwindet für immer und aus dem Roman So von Norbert Zähringer. Doch die Drei-PesoMünze, die den Automaten blockiert, weil sie im Schacht stecken bleibt, die geht ihren Gang durch das Buch, bis sie auf Seite 400 die große Bank sprengt, mitten in Berlin. Das Geldstück und die Maschine sind es, die den fulminanten Erstling von Norbert Zähringer bestimmen. Es geht um das Geld- und Bankwesen, um den Sound der Mechanik und das große Nichtfunktionieren. Zähringers literarische Chapliniade So wurde vor fünf Jahren sehr wohl gewürdigt, ihre Großartigkeit indessen nicht wirklich anerkannt. Damals passierte in der deutschen Literatur zu viel Gutes auf einmal. Man war verwöhnt und wollte nicht schon wieder ein Junggenie ausrufen. Fünf Jahre später ist, funktional gesehen, aus der deplatzierten Peso-Münze ein deplatzierter afrikanischer Armutsmigrant geworden, der an einem Märztag 1985 aus einem Schacht fällt, aus dem Fahrwerkschacht nämlich der Boeing 727 des amerikanischen Vizepräsidenten Bush, kurz vor der Landung in Berlin. Um diesen vergleichsweise sanften Fall in einen Altpapiercontainer baut sich nun der zweite Roman Zähringers herum. Bevor der schwer unterkühlte Ismael vom Himmel fällt, hat der Erzähler das Terrain wohl bereitet. Wir haben Paul Mahlow kennen gelernt, den Security-Mann, der Ismael entdeckt; seinen Freund Gonzo, der hauptberuflich demonstrieren geht; Alp Tazafhadi, den Erzähler, der seinen Notarzt-Onkel Yilmer im Rettungswagen kutschiert; Miss Ellie, die lila gewandete, hennahaarige WGFeministin, die die Jungs an der Kandare hält; und manch anderen Kleinkriminellen, Bummelstudenten, Sicherheitsfascho und hammelhirnschlürfenden Gastarbeiter. Es läuft das KalterKrieg-Spiel, das Chaoten- und Bullen-Spiel und das Berlin-ist-eine-Insel-Spiel, grell illuminiert, turbulent, komisch, idyllisch kaputt.

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Ein Kabinettstück der Komik, sinnlos und sinnenfroh Und nun kommt Ismael geflogen, ein Jüngling noch, und schlägt ein wie ein Meteorit im Schrebergarten. Zähringer spitzt die Situation zu. Erst wechselte er die Akteure und Szenen alle paar Seiten, jetzt schneidet er die parallelen Ereignisse absatzweise, schließlich satzweise gegeneinander. Maximale Beschleunigung, bis Ismael ohne Erinnerung und Alp Tazafhadi ohne Bewusstsein im Krankenhaus liegen. Nach 100 Seiten ist der Roman auf dem Höhepunkt und ein erstes Mal zu Ende. Ein Kabinettstück humoristischer Prosa, kalauernd-komisch, sinnlos und sinnenfroh; und

VON HUBERT WINKELS

was das Ganze zusammenhält, ist die Macht des Zufalls, jener höheren Unwahrscheinlichkeit, die der Verstand automatisch in Schicksal, Vorsehung oder noch Höheres verwandeln möchte. Gut gemacht! Doch dann passiert etwas, was wir ansatzweise auch schon aus Zähringers So kennen. Starke Rückblenden versorgen den Roman mit historischem Unterfutter. In So waren es Szenen aus dem Ersten, dem Zweiten und dem Dritten Weltkrieg, erkennbar erfunden, brutal-amüsant, mehr Billy Wilder als Erich Maria Remarque. In Als ich schlief sieht die Sache etwas anders aus. In den Mittelpunkt des Romans schiebt sich nach und nach der Großvater des Erzählers, der »Eisteufel«, ein Naziunhold erster Ordnung, der medizinische Experimente an Juden durchführt. Seine Spezialgebiete sind Druckbelastung in großer Höhe und Kälteresistenz. Ausführlich werden die mörderischen Experimente geschildert, wir aber sind, noch eingestimmt auf die slapstickhafte Komik des ersten Romanteils, gar nicht in der Lage, mit diesem Input an Grausamkeit umzugehen. Das komische Bild ist auf einmal nicht mehr komisch. Isoliert und fremd hängt es zwischen allen Gefühlsmustern und lässt sich kaum mehr in den Roman integrieren. Dabei unternimmt Zähringer allerhand, um uns über das Makabre zum Absurden und weiter ins Heitere zu führen. Er öffnet die Geschichte ins Gestern und Heute. Der »Eisteufel« heißt jetzt Zumvogel und ist nach langer Flucht in die USA gelangt, wo er am »Institut für angewandte und experimentelle Raumfahrtmedizin« seine Versuche an illegalen mexikanischen Einwanderern fortsetzt. Nun folgt neben der Familiengeschichte die zweite Verbindung zu unserem Berliner Milieu. Zumvogel liest in der New York Times einen Artikel über den Fall Ismael und holt das erinnerungslose afrikanische Bürschchen zu sich nach New Mexico. Einen solchen Fall von Kälteresistenz darf er sich einfach nicht entgehen lassen. So gerät die »Drei-Peso-Münze« des Romans Als ich schlief, der ismaelitische Zu-Fall aus dem Himmel, in die Fänge des medizinischen Teufels, und die Folterungen wiederholen sich am schwarzhäutigen Objekt. Aber bald naht die Rache. So richtig froh wird man des halbwegs guten Endes nicht, zu tief schon ist man in den Kerker der menschlichen Bosheit gefallen, um befreit lachend daraus wieder aufzusteigen. Damit wäre ein zweiter Roman im Roman zu Ende. Auf die Farce folgt die Tragödie folgt die Farce. Die Kuriositätenschau geht weiter, so wahr Norbert Zähringer ein Mechaniker ist, der die Rädchen und Riemchen der Romanmaschine sauber und geräuscharm ineinander greifen lässt. Schließlich haben wir Ismael, gerettet zwar, aber nicht erlöst, in Eisteufels Labor verloren. Der letzte Teil also gehört Ismaels weiterem Werdegang als amerikanischer Selfmademan und

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wieder Scheiternder, bis in einer Wiederholung der dramatischen Parallelaktion vom Romanbeginn sich die Sache erneut zuspitzt. Der Retter von Ismael, Paul Mahlow, inzwischen erfolgreicher Geschäftsmann, kurvt mit einem schweren SUV um den Flughafen von Los Angeles; Ismael, von höherer Fügung getragen, geht ebendort zu Fuß, während ein kleines Mädchen seinem Puppenwagen auf die viel befahrene Straße nachläuft … Der einst Gerettete wird zum Retter, und der klug komponierte Roman hat sein äußeres Gleichgewicht erreicht.

Hier erzählt ein Komapatient, dort ein Glasauge So war es schon in So. Und dort war es besser. Weil nämlich die erzählerische Spekulation mit dem Zufall viel besser funktioniert, wenn wir nicht auf härtestes quasihistorisches Material gestoßen werden. Das komisch-kühle LiteraturSpiel will dann nicht mehr so recht, schon gar nicht heiter, gelingen. Und dann ist da noch der Erzähler. In So ein schlafender Pförtner mit einem »offenen Auge aus Glas, an dem die Jahre vorbeizogen«, so die letzten Worte des Romans. In Als ich schlief ist es Alp im Koma. Alp Tazafhadi war mit seinem Rettungswagen in die Demonstration gegen den US-Vize Bush geraten und unsanft ins Koma befördert worden. Warum macht Zähringer einen Komapatienten zum Erzähler, einmal abgesehen davon, dass literarische Komapatienten zurzeit in Mode sind? Nicht nur bei Robin Cook und Michael Crichton und wiederholt bei Marc Levi, auch auf deutsch haben wir den voll getexteten Komapatienten bei Ulrike Kolb; und die voll getextete Komapatientin bei Roger Willemsen; und jetzt schließlich den erzählenden Komapatienten selbst. Anders als die heißblütigen Monologisierer, die jemanden auf die Seite des Lebendigen ziehen wollen, ist Zähringers Erzähler immer ein Glasauge: kalt, unbeteiligt, also fähig zu Spaß und Spott ohne moralische Verluste. Aber da ist noch der Leser, keineswegs kalt und kichernd, sondern zweifelnd, ob mit Entsetzen Scherz zu treiben in solcher Gleichmut gehörig ist. Ästhetisch und nicht moralisch gefragt: ob die Gewichte stimmen, ob Tragisches und Komisches, Erhabenes und Lächerliches gut austariert sind, ob überhaupt die Fallhöhe stimmt – in einem Roman, der von nichts handelt als von einem tiefen Fall. Zähringer ist ein Erzähltalent. Er lässt die Puppen tanzen, die mechanischen, und wie! Doch wie das so ist mit Glasaugen und Komapatienten, es fehlt ihnen die … Empathie. Norbert Zähringer: Als ich schlief Roman; Rowohlt, Reinbek 2006; 289 S., 19,90 ¤

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Weite Reisen, kleine Fluchten – fünf Jugendromane Die herrlichsten Details

Pollocks Passion in Afrika Ein etwas abseitiger Auftrag fällt dem jungen Journalisten Nick Geldermann zu. Eine christliche Missionsgesellschaft beauftragt ihn, die Biografie der unlängst durch einen dramatischen Unfall ums Leben gekommenen Leiterin einer Station in Afrika, Friederike Ganse, zu verfassen. Die Auftraggeber erwarten ein »Büchlein«, das in einer »Reihe von Lebensbildern frommer, aber moderner Menschen mit gottgefälligem Leben« erscheinen soll. Eine herzliche Aufmunterung geben sie dem jungen Mann mit auf den Weg: »Heiliges Leben – heute! Das ist unser Thema!« Mehr von Not getrieben denn von aufrichtiger Neugier auf seine »Mutter Teresa im Kleinformat«, macht sich Geldermann, selbst als Sohn eines Missionars in Afrika geboren, an die Arbeit. Er telefoniert, spricht mit Angehörigen und liest im Tagebuch der Missionarin Friederike Ganse, eine ermüdende Arbeit: »Die Autorin des Tagebuchs war ununterbrochen mit der Beschwörung des Glaubens und der göttlichen Liebe beschäftigt.« Geldermann ist an eine unverbesserliche Frömmlerin geraten – und erlebt doch eine kapitale Überraschung: »Im Laufe der nächsten Monate rückte sie mir so nahe, wie ich es niemals erwartet hätte.« Missionare in Afrika – zum dritten Mal begibt sich Hermann Schulz auf diese Spurensuche. Am konsequentesten tat er das in seinem Erstling Auf dem Strom, der Schilderung einer existenziellen Flussfahrt des Missionars Ganse mit seiner todkranken Tochter. Am spannendsten in der Vater-SohnGeschichte Zurück nach Kilimatinde, in der obiger Nick Geldermann nach Jahren ohne jeglichen Kontakt seinen Vater in Afrika besucht und in aufwühlenden Nachtgesprächen dessen Lebensbeichte hört. Leg nieder dein Herz ist nun die befremdlichste Geschichte dieser Trilogie geworden und erzählt von der Liebe als Passion. Geldermann ermittelt, stößt auf erste Geschichten, von denen im inbrünstig frisierten Tagebuch keine Rede ist. Er findet Ungereimtheiten: Flugkarten erster Klasse von Daressalam nach Frankfurt für 28 000 Dollar, nach dem Tod ihres Mannes hatte Mrs Friederike-Kindermann einen nagelneuen Range Rover gekauft. Woher das viele Geld? Wie nebenbei gelingen Schulz solche Anklänge an den Kriminalroman. Schulz ist ein eigenwilliger, im besten Sinne sturer Erzähler. Ein etwas abseitiges und »unzeitgemäßes« Milieu zeichnet er da auf und bringt mit Bedacht auch seinen Detektiv Nick ins Grübeln: »Mir war, als schliche sich eine andere Zeitebene in diese Geschichte ein, wie um mich zu irritieren. War das alles in den letzten Jahren geschehen?« Nick Geldermann spürt bei seiner Recherche die »Patina einer anderen Zeit und Wirklichkeit«. Ein wohldosierter Effekt, mit dem Schulz den Leser wachsam hält.

Helen und Gabe

aus der Kunstgeschichte bringt dieser Band, der 1994 den Luchs von ZEIT und Radio Bremen erhielt. Nun gibt es ihn in sechs Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch und Türkisch. »Australian Beach Pattern« nennt Charles Meere (1890–1961) sein Gemälde, dem dieser Ausschnitt entnommen ist. Doch das müssen Kinder ab vier Jahren nicht wissen, sie blättern 148-mal staunend weiter. Das kleine Museum – Ausgabe in sechs Sprachen, Moritz Verlag, Frankfurt am Main 2006; 312 S., 16,80 ¤

Schnell kommt Geldermann dem englischen Geschäftsmann Joseph Pollock auf die Spur und spricht mit ihm in London. Pollock enthüllt ihm nach und nach die ganze Geschichte seiner verrückten und aufzehrenden Liebe zu Friederike Ganse, die Geschichte einer lebenslangen großen Geste, von einem nie verleugneten Pathos beflügelt. Am Ende liefert Nick Geldermann sein Manuskript ab – in zwei Fassungen. Friederike Ganse bleibt eine Frau schroffer Kontraste, ein Rätsel. Das Titelbild des Buches, weich und warm und schleierhaft, vermutlich gut verkäuflich, kann leider davon nicht die geringste Ahnung vermitteln. Reinhard Osteroth Hermann Schulz: Leg nieder dein Herz Carlsen Verlag, Hamburg 2005; 200 S., 13,90 ¤ (ab 14 Jahren und für alle)

Lockruf der Arktis Eigentlich dürfte der schwarze Junge Alvin aus Washington D. C. keinen Grund zur Klage haben. Mum versorgt den Knaben, man kann schon sagen: rund um die Uhr. Doch der Schein der Harmonie trügt. Donna Jo Napolis neuer Roman Nach Norden zeigt sehr schnell, wie sich ein Junge zwischen seinen fantastischen Ideen und dem mangelnden Vertrauen seiner Mutter zu den Talenten ihres Sohnes so hin und her gerissen fühlt, dass er eines Tages heimlich seinen Rucksack packt. Die Arktis ruft. Alvins Entscheidung ist wohl überlegt. Eigentlich plant er nichts weiter, als das ernst zu nehmen, was seine Klassenlehrerin »primäre Forschung« nennt. Alvin hat sich in einem Unter-

richtsprojekt über berühmte Afroamerikaner entschieden, dem Leben seines Idols, des schwarzen Polarforschers Matthew Henson, auf die Spur zu kommen, der zusammen mit Robert Peary 1909 als Erster den Nordpol erreichte. Er macht sich auf den Weg nach Norden, um die Nachfahren Matthew Hensons zu suchen, die in der Arktis leben sollen. So ein kleiner Mann in einer so riesigen, gefährlichen Welt? Die fremde Welt beginnt schon an der Union Station in Washington. Und sie endet Tausende von Meilen nördlich in einer Einsiedlerhütte auf Bylot Island, weit nördlich des Polarkreises. Dazwischen liegen Abenteuer im Zug, im Kleinflugzeug, im Hundeschlitten und zu Fuß. Und nur am Anfang scheint alles glatt zu laufen. Donna Jo Napoli erzählt auf den ersten 150 Seiten ungemein spannend von einer Reise mit überraschenden Ereignissen und gefährlichen, ja auch lebensbedrohlichen Zwischenfällen. Die Verknüpfung aus absichtlichen und zufälligen Geschehnissen fesselt Seite für Seite, doch immer hat man das Gefühl, Alvin werde von der Autorin sorgfältig beschützt. Aber das tut nichts zur Sache, solange uns Alvins Sehnsucht nach der »wilden Schönheit der Arktis« glaubwürdig erscheint, solange die Reisestrapazen nachvollziehbar bleiben. Das heißt, solange nicht die Intention des Romans überdeutlich wird: Alvins Abenteuer ist ein langes leidenschaftliches Plädoyer für eine Pädagogik der Freiheit, der Lebensnähe und des Learning by Doing. »›Schau her.‹ Idlouk zeigte auf feine Risse im Eis. ›Das sind Spuren, wo der Seehund sich durchgenagt hat.‹« Dass auf den letzten 50 Seiten denn doch ein bisschen zu viel lebensnaher Un-

terricht am Ort stattfindet, als Alvin bis zum Sommer mit dem Einsiedler Idlouk zusammenlebt, ist fast schon eine andere Geschichte. Aber selbst da – im pädagogisch wertvollen Teil, in dem der schwarze Junge aus Washington D. C. viel über die Sitten und Gebräuche der Inuit lernt –, selbst da erzählt Donna Jo Napoli noch in beeindruckenden Bildern von den fast verlorenen Tugenden des Zusammenlebens. Und den Lesern bleibt nichts anderes übrig, als sich über die Kanadakarte zu beugen und Alvins Spuren zu folgen. Siggi Seuss Donna Jo Napoli: Nach Norden Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann; C. Hanser Verlag, München 2006; 256 S., 14,90 ¤ (ab 11 Jahren)

Buffalo Bill in Schweden Percy ist das, was man einen »Schlawiner« oder in Bayern ein »Schlitzohr« nennt, da er aber ein Geschöpf von Ulf Stark ist, haben wir es hier mit einem besonders liebenswerten und höchst einfallsreichen Exemplar dieser Spezies zu tun. Immer wieder aufs Neue schafft er es, seinen besten Freund Ulf – hinter dem wir mühelos den Autor als Kind erkennen – zu abenteuerlichen Streichen zu verführen oder auch für seine Zwecke auszutricksen. So dichtete er in Percys Turnschuhe seinen alten, stinkigen Latschen magische Kräfte an, um nach und nach Ulfs begehrte Spielsachen dafür einzutauschen. Oder er schließt – wie hier – am letzten Schultag vor den Sommerferien noch schnell Blutsbrüderschaft mit Ulf, um sich dann selbst ins Sommerhaus zu dessen Familie einzuladen. Denn einem Blutsbruder kann man schließlich keinen Wunsch abschlagen. Das sieht Ulf ein, wenngleich ihm himmelangst ist, was der brummige Großvater wohl zu diesem ungebetenen Gast sagen wird, wo er doch überhaupt keine Kinder mag. Ulf kann Percy eigentlich auch nicht brauchen, weder beim Käfersammeln mit Freund Klas noch bei »den Liebesdingen«, in die er nach seiner Meinung verstrickt ist. Denn er hat sich in Pia aus dem Dorf verliebt, die, das muss leider gesagt werden, gar nichts übrig hat für den kleinen, dicken Ulf. Probleme über Probleme also, doch als Percy mit seinem entwaffnend fröhlichen »Jetzt komme ich, Ulf!« die Schäreninsel betritt und fest entschlossen ist, die Ferien zu genießen, kann Ulf gar nichts anderes tun, als sich mit Percy zu freuen. Wie sich bald herausstellt, waren Ulfs Ängste bezüglich des Großvaters unbegründet, denn Percys direkte, unverfrorene Offenheit scheint diesem Spaß zu machen, und zu aller Verblüffung lässt er sich abends sogar von Ulf aus den Geschichten von Buffalo Bill vorlesen. Dass Percy bei Großvater gut ankommt, damit kann Ulf umgehen, aber dass die von ihm angehimmelte Pia sich viel mehr für Percy interessiert als für ihn, das nimmt Ulf seinem Freund dann doch übel. Dabei macht sich Percy nichts aus Pia und versucht vielmehr alles, um dem verliebten Freund in seiner Not zu helfen. So zähmt er sogar heimlich das von allen gefürchtete Pferd Blacky. Es wird so lammfromm, dass auch Ulf auf ihm reiten könnte. Denn hatte Pia nicht gesagt, es sei so unwahrscheinlich wie ein Ritt auf dem wilden Blacky, dass sie sich in Ulf verlieben könnte? »›Ich kann doch überhaupt nicht reiten.‹ – ›Das musst du aber‹, sagte Percy. – ›Warum sollte ich?‹ – ›Um der Liebe willen‹, sagte er.« Ja, Percy ist wahrlich eine Bereicherung für das Sommerleben auf der Insel und für Ulfs ganze Familie, denn wie schon in seiner wunderschönen, preisgekrönten Geschichte Kannst du pfeifen, Johanna zeigt Ulf Stark auch hier, wie die ungebrochene Naivität eines Kindes verhärtete Gefühle eines einsamen, alten Dickschädels aufbrechen kann. Percy sei Dank! Hilde Elisabeth Menzel Ulf Stark: Ein Sommer mit Percy und Buffalo Bill Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer; Bilder von Heike Herold; Carlsen Verlag, Hamburg 2006; 240 S.,12,50 ¤ (ab 9 Jahren)

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Das Buch lässt nichts aus: Die unerfahrene, komplexbeladene Helen lernt auf einer Party den attraktiven Gabe kennen. Beide gehen noch zur Schule. Sie schläft mit ihm. Er will nichts mehr von ihr wissen. Doch sie ist schwanger. Helens strenger Vater will sie zur Abtreibung zwingen. Sie zieht aus, findet einen Job als Tellerwäscherin, bekommt das Kind. Ist Margaret Wilds Eine Nacht ein besonders klischeebeladenes Beispiel für Problemromane über schwangere Teenager? Im Gegenteil. Es ist der mit Abstand vielschichtigste Beitrag zum Thema seit langem. Wie ungewöhnlich das Buch ist, wird schon auf den ersten Seiten deutlich: Margaret Wild erzählt ausschließlich in rhythmisierter Prosa. Auf den ersten Blick mag dies sperrig wirken, doch schnell spürt man die Sogkraft der sparsam gesetzten Worte. Die dramatischen Verwicklungen häufen sich, doch die australische Autorin hält immer wieder inne für Nahaufnahmen. Der coole Gabe findet ein Baby im Kinderwagen vor der Haustür und liest auf einem Zettel, dass er der Vater ist: »Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. / Das Baby lacht. / Es denkt, ich spiele Kuckuck.« Margaret Wild ist hier jedoch sprachlich nicht immer so präzise wie in ihrem großartigen Roman Jinx, der 2004 für den Jugendliteraturpreis nominiert war und den Luchs von ZEIT und Radio Bremen bekam. Gelegentlich spricht sie mehr aus, als nötig wäre. Und irgendwann hat man das Gefühl, dass die Geschichte abhebt und einem märchenhaften Ende entgegenfliegt. Es gehört zu ihrem Wesen. Denn Helen und Gabe sind keine realistischen Gestalten. Helen ist mit einem »Schweinegesicht« zur Welt gekommen, wie sie es nennt, das auch nach kosmetischen Operationen noch schief wirkt. Gabe hingegen ist so schön, dass es allen Frauen in seiner Gegenwart flatterig wird. Abgesehen von Helen, die nur ein tiefes, schwarzes Loch sieht, wo ein Herz sein sollte. Der Schöne und das Biest – sie sind zwei, die einander erkennen, auch wenn vorerst jeder in seiner Einsamkeit gefangen bleibt. Man könnte Eine Nacht auch als eine religiöse Geschichte lesen: ein neugeborenes Kind als Erlöser. Helen nennt ihr Baby Raphael. Nach christlicher Überlieferung heißt einer der sieben Erzengel Raphael. Und aus dem Hebräischen übersetzt bedeutet der Name: Gott heilt. Silke Schnettler Margaret Wild: Eine Nacht Aus dem Englischen von Sophie Zeitz; C. Hanser Verlag, München 2006; 240 S., 14,90 ¤ (ab 13 Jahren)

Unterwegs nach Paris Ihre Flucht von zu Hause, die eigentlich in ein anderes, besseres Leben führen soll, beginnt das Mädchen Manon mit einer Grausamkeit: »Weißt du was?«, sagt sie zu ihrem Freund Harry, der sie beim heimlichen Fortgehen überrascht hat, »das Problem ist, dass wir so verschieden sind. Du bist langsam und ich bin schnell. So als wären wir in zwei verschiedenen Rennen, du und ich.« Genau solche mitleidlosen Urteile ist Manon selbst von ihrer Mutter gewöhnt. Die gibt vor, in Frankreich eine berühmte Schauspielerin gewesen zu sein (in Wirklichkeit war sie Näherin), ist manisch-depressiv, männermordend, melodramatisch. Sie verachtet Manons sanften Vater, einen Tierarzt; sie hasst das Landleben in Australien und braucht für ihre Tochter nur ein zusammenfassendes Wort: hoffnungslos. Insofern hält sich Manons Trauer in Grenzen, als die Mutter mit einem herumziehenden Handwerker durchbrennt. Dann stirbt der geliebte Bruder Eddie in einem Verkehrsunfall. Plötzlich schert sich das Mädchen um gar nichts mehr, nicht um die Verzweiflung ihres Vaters, nicht um Harrys Liebe. In einem feuerroten Kleid, das ihrer Mutter gehört hat, bricht sie nachts nach Melbourne auf, von dort aus will sie irgendwie weiter nach Paris. Manon hofft, auf dieser Reise, durch diese Reise ein neuer Mensch zu werden: jemand mit Selbstbewusstsein, jemand, der in seinem Kopf nicht beständig »gemeine Stimmen« hört. Und es scheint, als müsse sie dafür alle Fehler und Rücksichtslosigkeiten ihrer Mutter noch einmal selbst begehen. Doch Manon, das ist die ermutigende Erkenntnis dieser Flucht, ist eben nicht ihre Mutter. Im Altenheim in Melbourne besucht das Mädchen seine Großmutter – und empfindet Mitleid mit der alten Frau, die dort nicht hingehört, sondern aufs Land, zu ihrer Familie. Manon läuft kurz dem Sänger einer mittelmäßigen Rockband hinterher – und erkennt, was für ein Wicht er im Vergleich zu Harry ist. Sie spürt den nun ebenfalls verlassenen Exgeliebten ihrer Mutter auf – und begreift die Einsamkeit ihres Vaters. »Vielleicht«, sagt Manon am Ende, »vielleicht ist es einfach so, dass man, wenn man etwas verloren hat, immer davon ausgeht, dass einer kommt und einen wieder in Ordnung bringt. Man wartet darauf.« Man wartet darauf, solange man ein Kind ist. Manon hat sich selbst in Ordnung gebracht: Sie ist erwachsen. Sie kann ihren Vater anrufen, damit er sie nach Hause holt. SUSANNE GASCHKE Martine Murray: Das feuerrote Kleid Aus dem Englischen von Kattrin Stier: rororo, Reinbek 2005; 312 S., 8,90 ¤ (ab 12 J.)

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Der Ära Kohl erster Teil Andreas Wirsching schreibt das Reihenwerk »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« fort – vom Ende der sozialliberalen Koalition bis zur deutsch-deutschen Vereinigung VON EDGAR WOLFRUM

ies ist der sechste Band der Reihe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die von 1981 bis 1987 erschien. Die repräsentative Ausstattung seiner Vorgänger fehlt nun gänzlich, so als wolle man die alte Bundesrepublik auch buchgestalterisch oder symbolisch beisetzen. Abschied vom Provisorium – dieser Titel ist so treffend, weil er doppeldeutig daherkommt: Mit der Wiedervereinigung von 1989 war das Provisorium BRD an sein Ende gelangt; paradoxerweise jedoch hatte sich die Bundesrepublik vor 1989 selbst von ihrem provisorischen Charakter verabschiedet. Das Warten auf die Wiedervereinigung sei die Lebenslüge der Bundesrepublik, so hieß es häufig vor der unverhofften deutschen Einheit, die wie ein erratischer Block in die westdeutsche Selbstgenügsamkeit der achtziger Jahre hineinschoss. Andreas Wirsching setzt seine Darstellung mit dem Lambsdorff-Papier, dem Scheidungsbrief der FDP aus dem Jahr 1982, ein, es markiert das Ende der sozialliberalen Koalition. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher werden als die Zeremonienmeister des Regierungswechsels porträtiert, die sich dabei ständig unter dem Beschuss aus dem Bayern des Franz Josef Strauß befanden. Von der Beugung der Verfassung – unechtes Misstrauensvotum – geht es weiter über den NatoDoppelbeschluss bis zu den Problemen des Parteien- und Regierungssystems. Die Kanzlerschaft Helmut Kohl erscheint manchem noch heute als Rätsel: einerseits massivste Kritik in der Öffentlichkeit und ständige Affären, andererseits erhebliches Stehvermögen und fortdauernde politische Zustimmung durch Wahlen. Wirsching lüftet den Schleier, lenkt den Blick auf die materiellen Entscheidungen der Politik und gelangt zum Ergebnis, dass diese sich kaum mit dem Begriff der »Wende« fassen lassen. Der Augsburger Historiker begnügt sich glücklicherweise nicht damit, das »System Kohl« zu beschreiben, sondern wendet sich auch dem Aufstieg sowie der Krise der Grünen zu und charakterisiert die SPD in der Opposition. Wirsching spart die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse nicht aus und schildert eindringlich die außenpolitischen Entwicklungen, die im Zeitraum von 1982 bis 1989 zwischen Eiszeit und neuer Dynamik oszillierten. Er entwirrt das Geflecht der Deutschlandpolitik mit dem so überraschenden Ausgang der Wiedervereinigung, indem er nach längerfristigen Ursachen und kurzfristigen Anstößen fragt. Packend wird der »deutschlandpolitische Showdown« erzählt, und den Abschluss des Werkes bildet die vertragliche Gestaltung der deutschen Einheit. Ob Strukturwandel als Schicksal eine gelungene Überschrift ist, mag dahingestellt bleiben. Zweifellos liegen die Stärken des Buches jedoch

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die bäume sind die frage die sich die vögel jeden morgen stellen heute haben sie hier das knospen diskutiert bis sie zum sommer kommen werd ich nicht warten: ich stehl ihn ihnen woanders unterm schnabel weg mit irischem gruß raoul schrott

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auf den Feldern der Wirtschaft, der Finanzen und den Problemen des Arbeitsmarktes. Dies sind Schlüsselthemen für die achtziger Jahre, und die Folgen bekommen wir heute zu spüren. Die späten siebziger und die achtziger Jahre bilden den archimedischen Punkt eines umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturwandels: Traditionelle und lang vertraute Wirtschafts- und Erwerbsformen traten in eine irreversible Krise ein; gleichzeitig bildeten sich neue Formen von »Modernität« aus. Europaweit vollzog sich ein Abschied von sozialdemokratischen, keynesianisch begründeten Rezepten. Verstärkung des Wettbewerbs, Deregulierung sowie Rückführung sozialpolitischer Leistungen lauteten die neuen Devisen. Wirsching arbeitet heraus, was die Bundesrepublik von anderen Industrieländern unterschied, wie vermeintliche Vorteile sich als tatsächliche Nachteile entpuppen können: So erschwert(e) die traditionelle Stärke des Industriesektors den Übergang zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft erheblich. Nicht ganz so überzeugend sind die Kapitel über die Kultur und den »Zeitgeist« der achtziger Jahre. Dass wir es mit einer »Kultur der Widersprüche« zu tun haben – dies trifft im Grunde für jedes Jahrzehnt der Bundesrepublik zu; das Neue war die Mischung aus Zukunftsangst und Endzeitstimmung auf der einen Seite und einem unreflektierten Optimismus auf der anderen. Malerei, Theater und Film werden bei Wirsching nur gestreift, sein Interesse liegt auf den ökonomischen Aspekten der neuen Medien und der Digitalisierung; auf diesem Gebiet aber führt er uns den Trend zur uniformierten Massenkultur trefflich vor Augen. Wie hatte man sich doch in den vorangegangenen Bänden, verfasst von den »großen Männern« der deutschen Zeitgeschichtsschreibung – Eschenburg, Schwarz, Hildebrand, Jäger und Link –, festgelesen. Die Bücher waren fesselnd und spritzig geschrieben, die Autoren geizten nicht mit Ironie und Kommentaren, ließen die zeitgenössische Presse ausführlich zu Wort kommen, dokumentierten das eine um das andere Mal Ereignisse und Konflikte der Republik anhand von Karikaturen und Bildern, ja die schönen Bände umfassten sogar einen Farbtafelteil mit Fotos und Abbildungen zeitgenössischer Kunst. Beim (vorerst) letzten Band ist alles anders: Es obwaltet eine nüchterne, dem historisch weniger vorgebildeten Leser kaum entgegenkommende Wissenschaftssprache, zitiert wird vor allem aus der politologischen Literatur – »Erfahrung und Theorie gesteigerter Systemkomplexität« liest man oder »Neue Vetospieler zwischen Informalisierung und Blockade« – auf Bilder hat man gänzlich verzichtet.

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Hans-Peter Schwarz entdeckte in seinen beiden Bänden dieser Reihe die fünfziger Jahre als aufregende, moderne Zeit, was vielfältige Forschungen nach sich zog und vom alten Paradigma der Restauration wegführte. Klaus Hildebrand beschrieb in seinem Band die vergessene Große Koalition von 1966 bis 1969 als eine der erfolgreichsten Regierungen der Bundesrepublik. Werner Link etablierte für die siebziger Jahre die Deutung der außenpolitischen Staatsräson der Bundesrepublik, nämlich »Westbindung plus Ostverbindungen«. Und die achtziger Jahre? Rein inhaltlich bietet Andreas Wirsching nahezu alles, es bleiben nur wenige Wünsche offen. Man ist dankbar über die Fülle an Informationen. Doch der Text leidet darunter, dass etwa alle fünf Seiten ein neuer Abschnitt beginnt, insgesamt sind es weit über hundert Abschnitte, die das Buch so umfasst. Diese Feingliedrigkeit zerreißt den Erzählfluss vollkommen. Präsentiert wird ein erstaunlicher Facettenreichtum, weniger ein zusammenhängendes Ganzes. Alles wird geschildert, von der hohe Wellen schlagenden und für viele existenziellen Kontroverse um den Nato-Doppelbeschluss bis zur »Busengrapscher«-Affäre um den grünen Bundestagsabgeordneten Klaus Hecker (den heute wohl niemand mehr kennt). Wirsching lässt

kaum eine Einzelheit aus, doch diese »Überkomplexität« der achtziger Jahre erschwert letztlich die Sicht. Bildlich gesprochen: Wir sehen viele prächtige Bäume, doch den Wald, den erkennen wir nur undeutlich. Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium 1982–1990 Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6; Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006; 848 S., 49,90 ¤

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Hallo, liebe ZEIT, ich mache grad Urlaub von Rom, und zwar in Frankfurt am Main. Sitze grad beim Apfelwein, den gibt es nicht in Rom. Aber einen Römer gibt’s hier schon! Prost! Andreas Maier

m 15. Juni 1904 ging der New Yorker Schaufelraddampfer General Slocum mit mehr als 2000 Passagieren an Bord in Flammen auf. Die Bürger von Little Germany, fast alle Mitglieder der blühenden St. Mark’s Gemeinde von der Lower Eastside Manhattans, befanden sich auf ihrem jährlichen Picknick-Ausflug. Er sollte sie über den East River zu den Vergnügungsparks von Queens führen, in denen – ganz im Stil der Katastrophenfilme von heute – Häuserbrände und ähnliche Unglücksfälle zum Vergnügen des Publikums überzeugend simuliert wurden. Doch das Inferno auf dem Schiff war echt. Das Feuer war im Bugbereich, im »Lampenraum« ausgebrochen und breitete sich in Windeseile aus. 1021 Menschen, vor allem Mütter und ihre Kinder kamen auf elende Weise ums Leben. Sie verbrannten, erstickten, ertranken oder wurden von einer panischen Menge zu Tode getrampelt. Die Besatzung dachte, wie anders, zuerst an sich selbst. Die Feuerlöschanlagen der General Slocum waren defekt, die Rettungsboote mit Drähten unlösbar vertäut, die ural-

A Das Inferno Edward T. O’Donnell erzählt die Geschichte vom Untergang der deutschen Gemeinde in New York im Jahre 1904 VON MICHAEL NAUMANN

ten Kork-Rettungswesten verrottet: Keine einzige war noch schwimmfähig. Die staatlichen Aufsichtsbehörden hatten versagt, vom betrügerischen Reeder ganz zu schweigen (er ließ nach dem Brand erst einmal alte Rettungswesten-Rechnungen fälschen). Es war damals das größte Schiffsunglück in der amerikanischen Geschichte. Und da es sich vor aller Augen abspielte – der Kapitän steuerte den brennenden Dampfer schließlich auf den Strand einer winzigen Insel vor der Bronx – sollte es das Gemüt der New Yorker und ihrer Sensationspresse noch lange erschüttern und beschäftigen. Wochenlang trieben neue Tote an Land, ihre Identifizierung wurde zum öffentlichen Spektakel, Beerdigungsunternehmen bereicherten sich mit überzogenen Sargpreisen, Überlebende begingen Selbstmord, ein Leichenbeschauer wurde wahnsinnig, Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, verstummten für immer, Schaulustige fledderten die Ertrunkenen, die Boulevardpresse lieferte sich spektakuläre Wettkämpfe um die grausigsten Einzelheiten. Einige Verantwortliche wurden verurteilt, am schärfsten

traf es den Kapitän, der ein paar Jahre im Zuchthaus Sing-Sing absitzen musste, aber alsbald begnadigt wurde. Die Katastrophe sollte noch vor Ausbruch der gewissermaßen offiziellen Deutschfeindlichkeit im Ersten Weltkrieg das Ende der bis dahin eng zusammenhängenden, protestantischen deutschen Gemeinde von New York einleiten. Darüber hinaus wurde sie mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg aus dem amtlichen Gedächtnis der Stadt getilgt. In den zwanziger Jahren verwandelte ein Film mit dem jungen Clark Gable in der Hauptrolle die Passagiere in Iren. Die Monografie Der Ausflug des amerikanischen Historikers Edward T. O’Donnell setzt dem Desaster ein würdiges Denkmal – er stellt die Todesfahrt der Deutschen in einen pastoral-soziologischen Zusammenhang, zeichnet die erfolgreiche Assimilation der Emigranten in den amerikanischen Alltag nach und liefert daneben ein Porträt der New Yorker Sensationspresse, die zweifellos

glanzvollere Journalisten beschäftigte als ihre zeitgenössischen Pendants heute. Sie lieferten auch einen beträchtlichen Teil des Quellenmaterials. O’Donnell ist ein guter Erzähler, der einen naheliegenden moralisierenden Tonfall vermeidet und dem es gelingt, jede künstliche Spannungsdramaturgie zu vermeiden – ohne in langweiligen Details, nun, zu ertrinken. Heute dürfte es nur noch eine Hand voll New Yorker geben, die sich auf Anhieb an die General Slocum und ihre unglückseligen Passagiere erinnern. Zu Recht verweist der Autor auf die Parallelkatastrophe vom 11. September 2001: Auch sie wird irgendwann einmal vergessen werden, wenngleich dies heute noch so unvorstellbar scheint wie seinerzeit das Ausmaß des Entsetzlichen, das sich vor den Augen der Zeitzeugen New Yorks entfaltete. Edward T. O’Donnell: Der Ausflug Das Ende von Little Germany, New York; übersetzt von Eike Schönfeld; marebuchverlag, Hamburg 2006; 420 S., 22,90 ¤

Unterirdisches Grummeln Zwischen Kairo und Kirkuk:Volker Perthes berichtet sachkundig und unterhaltsam über seine Reisen in den Orient VON HEINZ HALM er Boulevard Vali Asr, Teherans NordSüd-Magistrale, ist dreizehn Kilometer lang; ein Flaneur, der sich Zeit lässt für einen frisch gepressten Obstsaft hier und ein Glas Tee dort, braucht gut fünf Stunden, um ihn in aller Muße zu durchwandern, von den feinen Vierteln der alten und neuen Reichen im Norden am Fuß des oft schneebedeckten ElbursGebirges, durch einfachere Wohn- und Einkaufsquartiere ständig leicht bergab, vorbei am alten Stadtzentrum mit dem Basar bis zum Bahnhof drunten in der Ebene. Der von Platanen beschattete, von kühlenden Wasserläufen begleitete, oben achtspurige, nach unten sich verengende, meist von Autostaus verstopfte Boulevard hieß früher Pahlavi Avenue; der Vater des letzten Schahs hatte ihn nach 1925 anlegen lassen. Seinen heutigen Namen bekam die Prachtstraße erst nach der Islamischen Revolution: Vali Asr – das ist der »Herrscher der Zeit«, der verborgene zwölfte Imam al-Mahdi, der nach der Verfassung das eigentliche Oberhaupt der Islamischen Republik Iran ist und auf dessen erlösende Wiederkunft die Schiiten seit mehr als einem Jahrtausend warten. Der Flaneur ist Volker Perthes, seit Oktober 2005 Direktor des Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seit seinem Studium der Politikwissenschaft vom Nahen Osten fasziniert und durch zahlreiche Reisen, Forschungs- und Lehraufenthalte – 1986/87 in Damaskus, 1991 bis 1993 als Assistant Professor an der renommierten American University in Beirut – gut vertraut, wurde er einer besten Kenner der nahöstlichen Länder, ihrer Gesellschaften und ihrer Politik, die er in einer Reihe fachkundiger Bücher analysiert hat.

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Das klassische Genre der Reportage bekommt eine besondere Färbung Der Titel Orientalische Promenaden lockt ein wenig mit dem exotischen Flair des Orients und löst sein unausgesprochenes Versprechen auch durchaus ein, wie die über ein Dutzend Seiten lange, höchst kurzweilige Schilderung des Spaziergangs den Vali Asr hinunter zeigt, die viel mehr ist als eine Sammlung von wechselnden Eindrücken: eine »sozialgeographische Studie aller Klassen und Schichten der städtischen Gesellschaft«, vor allem der urbanisierten Mittelschichten, die heute die Geschicke Irans maßgeblich bestimmen. Fünf Reisen beschreibt Perthes, die ihn in jüngster Zeit – bis in den Sommer 2005 – nach Ägypten, Israel/Palästina, Saudi-Arabien, in die drei autonomen kurdischen Provinzen des Iraks und nach Iran geführt haben. Das klassische Genre der Reportage bekommt seine besondere

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Färbung durch die politikwissenschaftliche Grundierung der Berichte: Hier reist kein Fremder, der sich durch die exotische Welt beeindrucken und bezaubern lässt, sondern ein bestens Informierter, ein geschulter Analytiker, der vor allem auch dank seiner arabischen Sprachkenntnisse in der Lage ist, seine Beobachtungen im Gespräch mit allen möglichen Leuten zu vertiefen und zu ergänzen, im Gespräch mit Politikern und Verwaltungsbeamten, mit Journalisten und Verbandsfunktionären, mit Vertreten des politischen Systems und Oppositionellen, mit Buchhändlern, islamischen Geistlichen und immer wieder mit jungen Leuten, die heute den größten Teil der Bevölkerung des Nahen Ostens ausmachen und seine künftigen Geschicke bestimmen werden – Studenten vor allem, Vertretern der künftigen Eliten, von deren Ansichten, Hoffnungen und Erwartungen die Zukunft der Region wesentlich abhängen wird.

Und frische Luft weht im »milden Kurdistan« Perthes gelingen eindringliche Bilder, die wirken, ohne dass der Autor die Unvoreingenommenheit des Berichterstatters aufgeben müsste. Beklemmend ist die Schilderung des Grenzübertritts von Israel nach der vom »Zaun«, der mehrere Meter hohen Mauer, vollständig eingeschnürten palästinensischen Stadt Kalkilja, deren Bauern nur mühsam und nach langen Wartezeiten und Schikanen über Umwege zu ihren Feldern und Treibhäusern gelangen können. Wie der Bericht von einem fremden Planeten muten die Kapitel über Saudi-Arabien an, wo die Stellungnahmen und Meinungsäußerungen saudischer Männer zu dem noch immer geltenden Autofahrverbot für Frauen gelegentlich nicht der Komik entbehren; allerdings vermeint man unter der erstarrten Kruste der extrem konservativen wahhabitischen Staatsdoktrin das unterirdische Grummeln von Lavaströmen zu vernehmen, die sich zäh, aber unaufhaltsam ihren Weg zu bahnen scheinen. Frische Luft weht dagegen im »milden Kurdistan«, das seine seit 1991 errungene De-facto-Unabhängigkeit in vollen Zügen genießt, nutzt und unentwegt davon träumt, dereinst doch noch zu einem Groß-Kurdistan zu werden; kaum vorstellbar, dass die irakischen Kurden sich jemals wieder einer Bagdader Zentralgewalt beugen werden. Perthes’ Promenaden sind ein Sachbuch, das diesen Namen verdient: sachkundig, lesbar, unterhaltsam und höchst informativ. Volker Perthes: Orientalische Promenaden Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch; Siedler Verlag, München 2006; 399 S., 24,95 ¤

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Politisches Buch LITERATUR

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Venedig des Nordens

Visionär oder Starrkopf

Frank Fischer erforscht die einzigartige Geschichte Danzigs, doch bleibt er zu einseitig der deutschen Perspektive verpflichtet VON ANDREAS KOSSERT

Zum 500.Todestag des Kolumbus: Alfred Kohler würdigt den Entdecker Amerikas im Kontext seiner Zeit VON MIRJAM ZIMMER

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Frank Fischer versucht, die empfindliche Lücke in der Historiografie Danzigs zu schließen. Sein Buch mit dem Untertitel Die zerbrochene Stadt beginnt mit dem Untergang des deutschen Danzig 1945, um dann die Gesamtgeschichte in leicht lesbarer, spannend geschriebener Weise zu rekonstruieren. Er erzählt vom »Venedig des Nordens« und präsentiert – so der Einbandtext – »Danzig als einen der Brennpunkte der deutschen Geschichte und als Sinnbild des im Zweiten Weltkrieg verspielten deutschen Ostens«. Hier jedoch beginnt es problematisch zu werden. Nur aus deutschen Darstellungen gespeist, scheint Fischer eher unwissentlich einer deutschtümelnden Perspektive erlegen zu sein. Unkritisch zieht er die ältere deutsche Forschung heran, obwohl gerade Danzig nach dem Ersten Weltkrieg zu einem propagandistischen Tummelplatz für den Volkstums- und Grenzlandkampf und damit zum Zentrum nationalistischer Kontroversen wurde. Daher nimmt es nicht wunder, dass eine kritische Quellenwürdigung unterbleibt und Namen wie jener des Danziger Historikers Erich Keyser ungetrübt genannt werden, gerade so, als ob in den letzten Jahren keine wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Ostforschung stattgefunden hätte. Schließlich beendet Fischer seine Darstellung eigentlich wieder mit 1945. Der folgende Ausblick von zwölf Seiten wirkt wie ein Fremdkörper und ignoriert die Geschichte Danzigs nach dem Zweiten Weltkrieg, die sozialen und kulturellen Konsequenzen eines fast hundertprozentigen Bevölkerungsaustausches, die immense Bedeutung Danzigs für Nachkriegspolen, die symbolische Aneignung der Stadtgeschichte und ein neues hanseatisches Bewusstsein der polnischen Danziger. Nach der Lektüre verharrt man ratlos. Ist das alles? Verblüfft fragt man sich nach dem Neuen, dem Innovativen. Fischer hingegen erzählt die Geschichte Danzigs aufgrund hinlänglich bekannter älterer deutscher Forschungsliteratur. Heute jedoch sollte es schlichtweg unmöglich sein, über eine Stadt wie Danzig zu schreiben, ohne die umfangreiche polnische Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Multiperspektivische Ansätze sind nicht sichtbar, eine sich aus mehreren Traditionen befruchtende und ineinander verwo-

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bene Kulturgeschichte Danzigs sucht man vergeblich. Kein Wort auch über deutsche und polnische Geschichtsbilder und Mythen. Und vor allem vermisst man einen hoffnungsvollen Ausblick, etwa die 1000-Jahr-Feiern im Jahr 1997, wo sichtbar wurde, wie weit die kulturelle Aneignung Danzigs mit allen Ecken und Kanten durch seine neuen Bewohner vorangeschritten ist. Fischer nennt Danzig für die Zeit nach 1945 geflissentlich »Gdaºsk«, obschon doch die unseligen Streitigkeiten über Ortsnamensschreibweisen als Relikte des Kalten Krieges längst hinter uns liegen. Er hätte also ruhig weiter über »Danzig«, aber auch aus polnischer Perspektive berichten sollen. So haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die 1945 endet und trotz redlicher Bemühungen um Objektivität rückwärts gewandt ist, basierend auf älteren Forschungen, die der Geschichte Danzigs in ihrer Vielfalt nicht gerecht werden. Man weiß nicht genau: Ist es ein Abgesang auf etwas unwiederbringlich Versunkenes, oder gibt es für den Verfasser ein Fortleben

Frank Fischer

Danzigs nach 1945? Fischer entfaltet ein Untergangsszenario, das sich leider nur wenig abhebt von den alten nostalgischen Verklärungen vom »deutschen Osten«. Das ist schade, bleibt doch das Buch weit hinter den geweckten Erwartungen zurück. Daher muss man betrübt feststellen, dass trotz dieses Buches die spannende Geschichte Danzigs weiterhin einer modernen Darstellung harrt. Frank Fischer: Danzig Die zerbrochene Stadt; Propyläen Verlag, Berlin 2006; 416 S., 24,90 ¤

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ie Welt ist klein«,schrieb Christoph Kolumbus trotzig auf seiner letzten Reise. Elf Jahre zuvor war er nach 36 Tagen westwärtiger Seereise auf einer kleinen Insel an Land gegangen, in dem Glauben, im Reich eines gewissen »großen Khan« gelandet zu sein, von dem er in einem 200 Jahre alten Reisebericht eines Kaufmanns namens Marco Polo gelesen hatte, und in der Hoffnung, auf dem an allerhand Früchten reichen Eiland die Reichtümer zu beschaffen, die die Könige Kastiliens und Aragons für die Befreiung Jerusalems aus den Händen der Ungläubigen benötigen würden. Was sich am Morgen des 12. Oktobers 1492 am Strand der Insel, die ihre Bewohner Guanahaní nannten, zutrug, als unter den Augen der Einheimischen die Flaggen zweier Monarchen aus einem fernen Land entrollt wurden, ist historische Folklore; ein literarischer Topos, dass der Mann, den zumindest die Nachwelt als Entdecker Amerikas feiern sollte und dessen Name sich wie kein zweiter mit einem historischen Epochenwechsel verknüpft, sich bis zuletzt starrsinnig der Erkenntnis verweigerte, überhaupt etwas Neues entdeckt zu haben. In seiner kurzen Geschichte der europäischen Expansion im 15. Jahrhundert will der Wiener Neuzeithistoriker Alfred Kohler das Genuine an der Leistung des Seefahrers Kolumbus würdigen und verständlich machen, woher die Initiative zu seiner Westfahrt kam. Er muss den Heldenmythos dazu nicht mehr demontieren; häufig ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Annahmen, auf die Kolumbus seine Argumentation für die Reise stützte, bereits verbreitet waren und auch die Idee zu Westfahrt bereits 1474 von Toscanelli am portugiesischen Hof vorgetragen worden war. Für Kohler ist die Geschichte der europäischen Expansion auch immer die Geschichte eines europäischen Überlegenheitsanspruchs, die sich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert dynamisierte. Er möchte sein Buch im Kontext einer Forschung verstanden wissen, die die gängigen eurozentrischen Geschichtsbilder infrage stellt und den Blick auf außereuropäische Zusammenhänge richtet. In diesem Sinne vermisst er den Wissenshorizont von Kolumbus und sei-

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Foto: privat

anzig – einst mächtige Hansestadt und führende Metropole im Ostseeraum – kündete jahrhundertelang vom kosmopolitischen Bürgersinn mächtiger Kaufleute, der sich in der Architektur der Stadt an der Mottlau selbstbewusst manifestierte. Bis heute zeugen, dank des Wiederaufbaus der bei Kriegsende fast völlig zerstörten Stadt, mächtige Kirchen und prächtige Bürgerhäuser von Danzigs einzigartiger Kultur. Danzigs Geschichte fand lange Zeit wenig Aufmerksamkeit jenseits nostalgischer Abgesänge auf das alte »deutsche« Danzig, sieht man von der spezifischen Danzig-Literatur etwa bei Günter Grass, Stefan Chwin oder Pawel Huelle ab. Nun jedoch legt der Propyläen Verlag eine neue Geschichte Danzigs vor, deren Verfasser, der Nürnberger Historiker Frank Fischer, zur jüngeren Generation gehört. Diese Neuerscheinung greift einen Trend auf, der seit einigen Jahren feststellbar ist: die Wiederentdeckung der östlichen Landschaften Europas. Nach dem Fall der Mauer kehren vielfach längst vergessen geglaubte Regionen wie Galizien, die Bukowina, Ostpreußen oder Schlesien in das historische Gedächtnis zurück. Ebenso verhält es sich mit den Städten. Lemberg, Wilna, Czernowitz, Odessa, Breslau – sie alle erfahren ein neues Interesse. Das liegt vor allem daran, dass der östliche Teil Europas wieder uneingeschränkt zugänglich ist; Gleiches gilt auch für die dortigen Archive. Endlich rücken auch wieder Orte in den Mittelpunkt, die jenseits eines kollektiven Revanchismusverdachts wichtige Zeugnisse deutschsprachiger Kultur waren. Das neue Interesse überwindet die überkommenen deutschtumszentrierten Sichtweisen, blickt über die alten nationalen Denkkategorien hinaus und stellt diese Regionen in ihr multiethnisches Umfeld. Eine untergegangene Welt wird rekonstruiert, jedoch nicht idealisiert. Denn dem multiethnischen Status quo ante schloss sich das dunkelste Kapitel an, in dessen Folge diese Welt unterging: nationalistische Verblendung, Instrumentalisierung und der Wahn nach ethnischer Homogenität. Daher dokumentieren die neuen Darstellungen auch Konflikte, Spannungen, Brüche und Verwerfungen, die in der ethnischen Gemengelage im Zeitalter des Nationalismus nicht ausbleiben konnten.

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nen Zeitgenossen und ordnet die Entdeckung Amerikas in eine Expansionsbewegung ein, die wesentlich älter war und zur Zeit von Kolumbus vor allem von der Konkurrenz zwischen Spanien und Portugal angetrieben wurde. Sie schloss nach Asien, auf dessen Schätze sich die europäischen Begehrlichkeiten seit langem richteten und dessen Zivilisation man Respekt zollte, und nach den islamischen Ländern auch Afrika ein; den europäischen Beziehungen zu diesem als rückständig erachteten Kontinent räumt Kohler ein umfangreiches Kapitel ein. Was die Expansion nach Amerika letztendlich von diesen Bewegungen unterschied, ist seines Erachtens am ehesten die Irreversibilität der Kolonisierung: Während in anderen Weltgegenden Kaufleute Handelsposten errichteten, kamen hier Siedler und Missionare, um den eroberten Ausbeutungsraum nach ihren Vorstellungen zu gestalten. An der Tragik des Irrtums hat sich seit je die Fantasie der Nachwelt entzündet, auch die biografische Literatur hat Kolumbus immer wieder von ihr her erklärt: War er ein Visionär oder ein versponnener Starrkopf, der seinen Trugschluss ebenso beharrlich verteidigte, wie er zuvor seinen Traum von der Westfahrt verfolgt hatte? War er ein »moderner« oder ein Mensch des Mittelalters, der »erste Amerikaner« oder doch der letzte Bürger der Alten Welt? War er ein »Don Quichotte der Ozeane«, der als trauriger Held seiner eigenen Illusion einer vergangenen Zeit hinterhersegelte und dabei eher zufällig eine »Revolution der Phantasie« anstieß? Kohlers Buch ist keine Biografie, und die Persönlichkeit des Entdeckers, der beweisen wollte, dass die Welt klein war, und dessen herausragendste Leistungen Kohler auf dem Gebiet der Nautik ausmacht, zeichnet sich in ihm nur schemenhaft ab. Als Kolumbus am 20. Mai 1506 starb, war seine Leistung fast vergessen. Der Ruhm kam später; da trug seine Entdeckung schon den Namen eines andern, der zwar nicht die Reise, aber den Gedanken als Erster gewagt hatte, dass das Land im Westen ein unbekanntes war. Alfred Kohler: Columbus und seine Zeit C. H. Beck Verlag, München 2006; 221 S., 18,90 ¤

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Oh Pa-pa-pa-pa-gene

So ’ne Art von Mordgeschichte

Norbert Bolz sucht zwischen Müttern, Emanzen, Softies und Kindern nach Helden der Familie. Leider kennt er nicht den neuen Familienbericht VON SUSANNE MAYER

Der unsentimentale, traurige und doch witzige Bericht von einem, der auf der Straße nicht überleben konnte VON ELISABETH WEHRMANN

ar es nicht komisch? Wie Erregung ausbrach zur Frage, ob Väter in Deutschland wickeln sollen? Ob ihnen Elternurlaub zumutbar sei, ob zwei Monate pro Kind abzuzweigen wären im Rahmen einer durchschnittlichen Kinderzahl von 1,3 und einer männlichen Lebenserwartung von 75,9 Jahren, genauer gesagt also ob 10,4 Wochen von möglichen 3943 Männerlebenswochen umgewidmet werden könnten zu Väterwochen? Ein Heulen brach los. Ein Lästern, ein Befürchten, ein heilloses Feilschen. O liebe Papa-papa-gene! Wo ist das Problem? Was geht hier vor? Die Antwort findet sich vielleicht bei Norbert Bolz. Norbert Bolz ist Professor für Medienwissenschaft. Und Vater von vier Kindern und Ehemann einer Hausfraumutter, so bekennt er im Vorwort seines schmalen Buches Helden der Familie. Ja, eine kleine Mutprobe, so weit d’accord, im Land der Political Correctness zu verbreiten, wie schön es doch ist, eine zu haben, die einem zu Hause alles abnimmt, weshalb man versucht ist, Norbert Bolz leise ein »Glück gehabt!« zuzuraunen. Das wäre natürlich unpassend. Denn so hat Bolz das ja nicht gesagt. Und er ist im Übrigen auch nicht glücklich, er hat 119 Seiten der Klage geschrieben, über »Kulturkampf«, das Ende der Zivilisation, eben den Niedergang der Familie. Es ist eine Anklage, weil nicht alle so leben wie Bolzens. Es aber sollen! Das Buch ist bemerkenswert, aus mehreren Gründen. 1. Es zeigt, ein Vorurteil kommt selten allein. Wo Frauen berufstätig sein wollen, sind der Softie wie die antiautoritäre Plage nicht fern, und die Töchter der Alleinerziehenden verfolgen »sexuelle Kurzzeitstrategien«. Der Sozialstaat will Muttererziehungsarbeit honorieren, schon ist Mann nicht mehr Mann. Ein Vorurteil krallt sich ans andere. Es entstehen so Cluster von Unterstellungen. Das bedeutet für den öf-

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" VON ZEIT–MITARBEITERN Christian Schüle: Deutschlandvermessung Abrechnungen eines Mittdreißigers Piper Verlag, München 2006; 188 S., 16,90 ¤

fentlichen Diskurs: Wird auch nur eines der Themen angeschlagen, ergießt sich eine Kaskade von Befürchtungen, Verdächtigungen, Anschuldigungen über alle Vernunft. S. o., Vätermonate. 2. Bolz sagt schöne Dinge über die Familie. Kinder haben gilt ihm als »Abenteuer«. Eltern, die unter widrigen Umständen Familie leben, sind »die modernen Helden«. Das geht uns natürlich runter. Aber er spricht doch meist von Müttern und Kindern. Kaum von Vätern. Im Herzen dieses Buchs über die Familie wird eine tiefe Kluft zwischen den Geschlechtern verteidigt. Da ist eine Leere der Stille, inmitten der Familie, und in ihr versteckt sich, geschützt durch Nichtthematisieren, der Vater. Unantastbar. Nicht hinterfragbar. Jedenfalls nicht zuständig, so wie Mutter, schon gar nicht für den Niedergang der Familie, auch dafür zeichnet sie verantwortlich, heißt dann aber erwerbstätige Mutter.

Die Frau will nicht Sexualobjekt sein? Auch nicht Hausfrau? Ja, was denn? 3. Da ist so ein besonderer Ton. »Kinder sind dauerhafte Konsumgüter, die psychische Befriedigung verschaffen.« Oder: »Intimität ist die stabile Illusion geglückter Selbstdarstellung.« Die Frau will weder Sexualobjekt noch Hausfrau sein? »Aber was sonst?«, fragt Bolz eine Spur zu laut. Zu wem spricht einer so? Vielleicht zu potenten Mitdiskutanten, die Rede ist von Methusalem und Oswald Spengler, von Kant, Horkheimer und Freud, Emile Durkheim und Max Weber, er zitiert auch schon mal Barbara Ehrenreich, sogar Shulamith Firestone, vor allem aber verständigt er sich innerhalb der akademischen Männerhorde. Was womöglich das Gefühl vertieft, Mann zu sein, würde Bourdieu sagen, um auch mal einen Mann zu zitieren. Bolz führt vor, wie man sich heldisch dem Zeitgeist entgegenwirft, den Blick starr gerichtet – ja wohin? In eine Nostalgie von gestern. So verhält sich Bolz’ schmale Kampfschrift in vielerlei Hinsicht kontrapunktisch zu einer fetten Schwarte von 565 Seiten, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gerade veröffentlicht hat auf seiner Website. Siebter Familienbericht. Den gibt’s umsonst – als Gebrauchsanweisung für die Zukunft. Auch hier treten Helden auf, sehr viel mehr als bei Bolz, es sind Forscher und Berater und Experten, und in ihren Berichten sind es Mütter und Väter, Kinder und Onkel und Tanten, Großeltern, Nachbarn. Es ist ein Gemeinschaftswerk und zielt auf eine Vision von vernetzter

Gemeinschaft, man möchte sagen – auf eine moderne Bürgergesellschaft. Bei aller wissenschaftlichen Fundiertheit steht das Buch mitten in dem Leben, das wir Alltag nennen. Es geht um so etwas Prosaisches wie die Herstellung von Familie zwischen Aufstehen und unpassenden KitaZeiten, die Frage, wer kocht und wie viel Zeit wer für sich hat. Gewarnt wird vor der Kakophonie der Zeitanforderungen. Die Zeit steht im Mittelpunkt dieser Diskussion. Nie gab es so einen dichten Bericht aus der Mitte der Familie, vielleicht weil nicht wenige der Mitarbeiter so wie die kluge Uta Meier auch schon privat Familienexpertise ansammeln konnten. Familienberichte waren schon immer Meilensteine der Diskussion, nicht selten dieser um Meilen voraus. Der siebte gibt sich gelassen. Krise? Na klar. Da ist ein Vorgefühl von Balance, genau das wird der Gesellschaft abgefordert. Ein Abwägen, Verhandeln, Bedenken. Und nicht sein schwächstes Element ist da, wo er Vorurteile zerstreut. Die Kinderlosigkeit lässt die Republik vergreisen? Nun, es ist vor allem das Verschwinden von großen Familien, welches die Kinderleere im Land auslöst. Eltern vernachlässigen ihre Kinder? Sie verbringen jeden Tag bis zu einer halben Stunde mehr Zeit mit ihnen als noch vor Jahren. Aber die essen doch nicht mal mehr zusammen! Immerhin täglich 20 Minuten länger als im ersehnten Früher. Hübsch, dass auch der Mythos, Deutschland pumpe Unmengen in Familienförderung, angepiekst wird. Dänemark jedenfalls gibt prozentual gesehen fast doppelt so viel für Familien aus, Schweden noch die Hälfte mehr als wir. So verleiten sie Frauen und Männer dazu, sich ihre Träume zu erfüllen – etwa von der großen Vielkinderfamilie. Bei Bolz wird es zum Schluss ganz einsam. Da sieht man nur noch den Jäger ohne Revier. Der sitzt im Auto und gibt Gas. Bolz: »Im Rausch der Geschwindigkeit erreichen Männer wieder ihre archaische Erlebnisschicht.« Sperma auf der Überholspur! Oder Todessehnsucht. Und danach? Kommt vielleicht der neue Mann. Norbert Bolz: Die Helden der Familie Wilhelm Fink Verlag, München 2006; 119 S., 9,90 ¤ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Siebter Familienbericht Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit; Berlin 2006; 565 S., www.bmfsfj.de/Kategorien/Forschungsnetz/forschungsberichte,did=75114.html

bersehen konnte man den Mann kaum. Er hockte auf dem Gehsteig, verquer auf einem viereckigen Pappkarton, mitten im Vorweihnachtstrubel der Universitätsstadt Cambridge. Wie andere Passanten hätte Alexander Masters ein paar Münzen rauskramen oder oder weitergehen können. Doch er blieb stehen, sah hin, registrierte »käsige Haut, kaputte Turnschuhe, kahl rasierten Schädel«, hörte schwer verständliches Gemurmel. »Ich musste mich hinknien, um ihn zu verstehen«, schreibt er später. Masters ist 32 Jahre alt bei dieser ersten Begegnung im Dezember 1998. Er hat Physik und Mathematik studiert, will aber eher schreiben als Karriere machen. Sein Geld verdient er erst mal mit Teilzeitjobs. Stuart Shorter, der Mann auf dem Pappkarton, ist 30 Jahre alt, ExKnacki, drogenabhängig, krank, chaotisch. »Wenn Sie mir nix geben wollen, würden Sie dann bitte weitergehen«, sagt Stuart Shorter. Ein Kniefall, eine Geste fern jeglicher Herablassung und eine so höflich wie deutlich formulierte Herausforderung, das ist der Anfang ihres Gesprächs. Auf Augenhöhe. Was folgt, ist eine unsentimentale, schaurig schöne, traurige und zugleich witzige Geschichte von zwei Männern, die entdecken, dass sie einander etwas zu geben haben. Masters stellt Fragen, will wissen, will verstehen: Wie tickt dieser Stuart, wie fühlt es sich an, dieses Leben auf der Straße, wie konnte es soweit kommen? Er wühlt sich durch die sozial-psychologische Fachliteratur. Erkennt, dass ein simples Ursache-Wirkungs-Muster nicht reicht, um Stuarts Probleme zu klären oder zu lösen. Und will es doch rauskriegen, auslegen, aufschreiben. Warum geht Stuarts Leben immer wieder in die Binsen? Und ganz direkt: »Warum hast du es vermurkst?« Stuarts Antwort kommt als eigene Frage zwei Jahre später. Da hat er Alexanders erste Fassung seiner Geschichte gelesen, hat sie verdammt stinklangweilig gefunden und erklärt, dass er was Besseres erwartet. Irgendwie was Bestsellerartiges, wie von Tom Clancy, was Lesbares eben, mit Spannung: »Mehr wie so ’ne Mordgeschichte. Wer, was hat den Jungen umgebracht, der ich mal war? Verstehst du?« Von seinem Vater, der bald verschwand, hatte dieser kleine Junge eine Muskel-

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schwäche geerbt; wohlmeinende Fürsorger brachten ihn in die Sonderschule; er wurde gehänselt, wehrte sich, gebrauchte seinen Kopf als Rammbock. Wollte sich behaupten, wurde vom älteren Bruder missbraucht, wollte weg, ins Kinderheim, wurde vom Leiter des Kinderheims missbraucht; wollte vergessen, schnüffelt Leim, sucht Halt, findet Messer, ritzt, schneidet, schüttet Zitronensäure nach – lieber ein selbstinszenierter Schmerz als der unkontrollierbare Horror der Seele.

»Wenn du im Wald schnüffelst, schütteln die Bäume deine Hand« Er geht klauen, landet im Knast, in der Isolierzelle, in vielen Knästen, auf der Straße, wird zusammengeschlagen, schlägt zurück, im Obdachlosenheim und immer so weiter, die Rückfälle, der Wahnsinn, das Chaos. Stuart Shorts unheimliches Leben. »Wenn du in den Wald gehst und Klebstoff schnüffelst, verneigen sich die Bäume und schütteln dir die Hand«, erzählt er seinem Freund Alexander. Nachdem er jahrzehntelang als Fall behandelt, bestraft, verwahrt, verschoben, abgeschoben worden war, blickt Stuart Shorter auf sein Leben wie auf einen »großen Krieg, den ich jedes Mal wieder verliere«. Auf die Reihe kriegen im Sinne von »anpassen« und »normalisieren« geht nicht. Aber er kann erzählen, als einer kommt, der sich zuwendet, zuhören will. »Mach was draus – du bist der Schreiber. Ich hab’s nur gelebt«, lautet sein Auftrag. Und dieser Alexander, diese »scheißverwichste Mittelstandsarschgeige« (Zitat Stuart), hat alles aufgeschrieben. Ohne Jargon der fürsorglichen Art, ohne einfache Antworten. Aber mit einem alten Rezept für »Häftlings-Curry«, mit neuen wissenschaftlichen Erklärungen. Und mit Stuarts Stimme. Die lebt. Stuart selbst hat nicht überlebt. Für sein Buch über das kurze Leben seines Freundes Stuart ist Alexander Masters mit dem Guardian-Preis für das beste erste Buch des Jahres 2005 ausgezeichnet worden, zu Recht. Alexander Masters: Das kurze Leben des Stuart Shorter A. d. Engl. von Malte Krutzsch; Kunstmann Verlag, München 2006; 319 S., 19,90 ¤

Im Paradies des Kitschs Kunst wird global marktgerecht. Wolfgang Ullrich zeigt, warum das so ist itz, Vielfalt, Eigenart, Überraschung, Sperrigkeit, Feinsinn – all das muss man in Wolfgang Ullrichs neuem Buch Bilder auf Weltreise schmerzlich vermissen. Was nicht die Schuld des Autors ist. Denn er erzählt, indirekt, vom Verlust des Unberechenbaren – eines Ballasts, den der hochbeschleunigte Kunstbetrieb immer mehr abwirft, weil er den fliegenden Museen von MoMA bis Guggenheim, der Eventisierung und Börsianisierung des Kunstmarkts, nur noch lästig ist. Eine »Globalisierungskritik« nennt Ullrich das Buch, in dem er weiter geht als in seiner Polemik Tiefer hängen (2004). Zwar ähneln sich die Befunde, etwa dass die austauschbaren Großkünstler und Stararchitekten aller Flick- und PinaultCollections dieser Welt nur noch eine Sprache sprechen, ein Geraune von Sinn und Schönheit – aus dem sich allenfalls »Kapitalanlage« und »Dekoration« klar heraushören lassen. Aber es geht Ullrich hier nun weniger um eine Kritik der Kunst als ihres Umfelds, und zwar des denkbar größten: Das monströse Themenknäuel »Bild und Globalisierung« soll historisch abgewickelt werden, anhand nur eines klaren Leitgedankens: Wo und wie hat man der medialen, massenhaften Verbreitung der Bilder schon vorausgedacht? Was von ihr erhofft und gefürchtet? Wie sie benutzt? Dem spürt der Kunsttexthistoriker in knappen Kapiteln nach, von der klassischen Ästhetik bis zum Kommerzposter, und bringt dabei jene Dynamik zum Vorschein, die die aktuelle Kunst so verblüffend glatt ins Marktgetriebe einrasten lässt. Es ist eine bestechende kleine Geschichte der Stromlinienform, der ein Brückenschlag von der Hochkunst über die Avantgarde zum Gebrauchsbild gelingt: Sie alle eint nämlich die Idee der flächendeckenden Verbreitung, Verständlichkeit, ja Macht ihrer Bilder. Nur hat sich diese Idee klammheimlich von den Inhalten gelöst und ist zum marktkompatiblen Selbstzweck geworden.

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VON WILHELM TRAPP

Das begann, als erstmals die deutsche Klassik auf eine universell verständliche Welt- und Menschheitskunst sann. Zu edelstem Zwecke, versteht sich, und was braucht man noch Vielfalt, wo es doch Genies gibt, die zu allen sprechen? In seinem Wort von der »Weltliteratur« erweist sich Goethe als Vordenker der Globalästhetik – und ihrer schlimmsten Folgen, als ahnte er, was als kleinster Nenner der massentauglichen Kunst übrig bleiben würde: die »breite Tagesfluth«, der Schund. Das Lächeln der Mickey Mouse also ist die konsumdemokratische Antwort auf Kants Ideal der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, des allseits frei Gefälligen. Disney World hat das Erbe der arkadischen Gegenwelten des Idealismus angetreten, und die Idee von universeller Verständlichkeit und reinerem Menschsein verbindet heute Bildwelten wie das TUI-Logo, die keuschen Gärten der Zeugen Jehovas und die Softpornos der Manga-Szene. Die visuelle Globalisierung läuft auf ein kitschiges Paradiesgärtlein hinaus – dem ausgerechnet die von der Avantgarde heiß erkämpfte Autonomie der Kunst den Boden bestellt hat – auch weil sie den Anspruch auf Sinnstiftung nie aufgeben mochte. Man wollte sozusagen die Quadratur eines schwarzen Kreises auf schwarzem Grund, wollte eine Kunst, die für alle verbindlich und bedeutsam sein will, ohne sich selbst festlegen zu müssen. Logisch entwickelt hat sich daraus die mit Bedeutung ebenso aufgeladene wie unscharfe und gerade deshalb so anlegerschmeichelnde Malerei eines Gerhard Richter. Lange vor der Wirtschaft hat die Kunst also dem Globalen gehuldigt und ihm Vielfalt und Eigensinn geopfert. Diese »Globalisierung« durchleuchtet Wolfgang Ullrich, und nur darum kann es gehen: sie zu begreifen, zu entzaubern, statt sie, ob im Guten oder im Schlechten, zu mythisieren. Wolfgang Ullrich: Bilder auf Weltreise Eine Globalisierungskritik; Wagenbach Verlag, Berlin 2006; 140 S., Abb., 19,50 ¤

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Wellness als Theorie Eine entspannte Lektüre, diese »Sünde«: Der Kultursoziologe Gerhard Schulze neigt dem schönen Leben der Moderne zu VON LUDGER LÜTKEHAUS

D Liebe Republik, viele Grüße vom Friedhof der Angeschwemmten. Es ist schön ruhig hier. Vorhin dachte ich, es hätte nach Dir gerochen. Deine Juli Zeh

Wo alles erlaubt ist, macht nichts mehr Spaß

Die Kunst, Goethe zu zitieren … … oder »Die Kunst, Fehler zu machen«: Manfred Osten plädiert für die Irrtumsanfälligkeit VON GABRIELE KILLERT an muss verstehen, die Fehler zu begehen, die unser Charakter von uns verlangt«, lautet eine schöne Maxime des französischen Moralisten Nicolas de Chamfort, nach der man gerne leben möchte. Andererseits – nicht auszudenken, wenn das jeder täte. Schon geht’s los. Kaum hat man Manfred Ostens neuen Essay über Die Kunst, Fehler zu machen aufgeschlagen, fängt man auch schon an zu diskriminieren, wenn auch nur im wissenschaftlichen Wortsinn von »unterscheiden«. Was ist überhaupt ein Fehler? Ist es zum Beispiel ein Fehler, vorschnelle Schlüsse aufgrund falscher Prämissen zu ziehen? Und ob. Man nennt es aber Philosophie, wenn Kunst dabei im Spiel ist. Die Hegelsche Dialektik zum Beispiel sei, so meinte Goethe, jederzeit imstande, »das Falsche für wahr und das Wahre für falsch zu erklären«. Oder, um es mit einem Aphorismus Nietzsches aus der Fröhlichen Wissenschaft zu sagen: »Er ist ein Denker, das heißt, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.« Manfred Osten, der ehemalige Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, zündet – wie in seinen früheren Essays – wieder ein Feuerwerk der Zitate, aber diesmal fast ausschließlich in den Landesfarben der deutschen Dichter und Denker, allen voran Goethe und Nietzsche, die der Ratio nur bedingt über den Weg trauten. Sie hat sich, so Osten, durch einen Kardinalfehler disqualifiziert: die Ungeduld – »eine Art neurologischer Schöpfungsdefekt«. Der Autor hält es da mit Goethe und dessen Begriff des Veloziferischen, sprich: der teuflischen »Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern loswerden möchte«. Mit dieser Einsicht, meint der Autor, habe Goethe bereits Erkenntnisse der modernen Hirnforschung antizipiert. Die macht allerdings nicht die »Ungeduld« für fehlerhaftes Denken verantwortlich, sondern die selektive Wahrnehmung, den »Mesokosmos« unseres kognitiven Apparates. Die evolutionsgeschichtlich neuen, stark dezentral organisierten Hirnrindenareale sind offenbar nicht mehr direkt an die Sinnesorgane gekoppelt, sie »greifen vielmehr auf ›Informationen‹ zurück, die bereits als

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gleichsam ›abstrakte‹ Teilergebnisse in einzelnen Arealen der Hirnrinde zur Verfügung stehen«, wie der Hirnforscher Wolf Singer meint. Das Problematische der auf Abstraktion geeichten Ratio, referiert Osten, liegt also in der »Enteignung der Sinne«, dem Verlust von Primärerfahrung und damit der Gefahr, unter den komplexen Bedingungen der technologischen Evolution die Folgen unserer Handlungen nicht mehr abschätzen zu können, sprich: »Irrtums-Katastrophen« heraufzubeschwören. Andererseits hat sich die »dezentrale Strategie« unseres Gehirns als wesentlich effizienter erwiesen als die hierarchisch organisierten Entscheidungssysteme, in denen das Fehler- und Irrtumsrisiko mit zunehmender Komplexität exponentiell steigt.

Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand, sagt der Teufel Können wir überhaupt nicht irren? »Es irrt der Mensch, so lang’ er strebt«, sagt der »Herr« zu Mephisto im Prolog im Himmel. Und Mephisto, der alte Dialektiker, weiß, warum das auch gut so ist: »Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand.« Darum geht es Osten bei der Kunst, Fehler zu machen, im Unterschied etwa zur Kunst, Fehler zu vermeiden: um die produktive, gleichsam erzieherische Seite der Fehler. Die größte Lehrmeisterin ist die Natur selbst. Die Evolution, die biologische wie die kulturelle, lässt sich lesen als eine Erfolgsgeschichte hoch produktiver »Fehler« und Irrtümer. Manfred Osten führt eine ganze Reihe illustrativer Beispiele an, von der langen Kindheit des Menschen, dem – bis zu einem gewissen Grade – nützlichen Mechanismus der Verdrängung schmerzhafter Erfahrungen; dem Laster der Unersättlichkeit unseres Egoismus, das der schottische Moralphilosoph Adam Smith in den Vorzug des begründeten »Selbstinteresses« umdeutete, um daraus die zweifelhaften Tugenden unseres Wirtschaftssystems zu begründen, – bis zu den nützlichen Irrtümern der Religion und Moral, etwa dem Konstrukt der »Willensfreiheit«, das sich als »wirkmächtige soziale Tatsache« bewährt hat.

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Die Kunst, Fehler zu machen beginnt mit dem fröhlichen Eingeständnis der eigenen Fehlertauglichkeit. Womit wir wieder bei unserem Lieblingsmoralisten Chamfort wären. Manfred Osten aber ist natürlich bei Goethe: »Kinderchen, ihr müßt lernen, mit Vergnügen irren sehen.« Wer sich seine eigenen Mängel und Fehler verzeihen kann, der, so hofft Osten mit Goethe, wird auch seinen Mitmenschen gegenüber toleranter sein. Allein circa 50 Goethe-Zitate kann man mühelos auf den 100 Seiten zusammenzählen. Das wird niemanden verwundern, der die früheren Arbeiten Ostens kennt, etwa über »Goethes Entdeckung der Langsamkeit« (Alles veloziferisch …, 2003) oder zuletzt Das geraubte Gedächtnis (2004). Alles geistige Bemühen gerät diesem Autor unter der Hand zur Huldigung an den Meister. Goethe ist und bleibt der Maßstab. Im Licht seiner universellen Erleuchtetheit machen die Neurowissenschaften gar keine so schlechte Figur, wenngleich sie nur umständlich, hypothetisch und prothetisch mittels ihrer Apparate zu Erkenntnissen gelangen, die sich Goethe ganzheitlich allein durch das Organ innerer Anschauung vermittelten. Diesen Nachweis Goethescher Überlegenheit wieder einmal erbracht zu haben ist der stille Triumph des Textes, der neben vielen Anregungen auch manche kühne Behauptung liefert, etwa die, wir lebten in einer oktroyierten »Null-Fehler-Kultur«. Die Nonchalance etwa, mit der man das Bildungssystem seit Jahrzehnten verunglücken lässt, oder auch die neumodische Lässigkeit unserer Politiker, zur Begründung neuer Irrtümer vergangene Fehler einzugestehen – viele Beobachtungen sprechen eher dafür, dass wir uns längst in einer zunehmend strapaziösen »Irrtumskultur« befinden. Wenn es aber ein Fehler oder eine Schwäche ist, als ein notorischer Zitat-Nomade seine Gedanken auf fremden Weidegründen grasen zu lassen, dann hat Manfred Osten diese Kunst wieder eklatant unter Beweis gestellt. Manfred Osten: Die Kunst, Fehler zu machen Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006; 107 S., 15,– ¤

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Was kann unter diesen Umständen einen Autor wie den Kultursoziologen Gerhard Schulze bewegen, unter dem Titel Die Sünde das »schöne Leben und seine Feinde« zu beschreiben – einen Autor, der ganz ohne moralistisches Pathos und in umso genussfreundlicherem Stil die Erlebnisgesellschaft porträtiert und selbst das zwanghaft auf die »beste aller Welten« fixierte »Steigerungsspiel« der Moderne in ein mildes Licht getaucht hat? Dass die titelgebende »Sünde« auch für die Leselust ein unersetzliches Stimulans ist, kann man unterstellen. Schulze beschreibt einsichtsvoll, welche Lustverluste damit einhergehen, dass man jenseits des Katholizismus etwa nur noch schwer beherzt sündigen und sich dem wonnevollen Rhythmus von Tat und Beichte ergeben kann. Unersetzliche Gelegenheiten zur Grenzüberschreitung, Seelenlagen, die sich aus der ganzen Verworfenheit einer sündigen Triebnatur nährten, sind hier verloren gegangen. Wo alles erlaubt ist, macht nichts mehr Spaß. Muss man da nicht schon aus schierer Genusssucht zum Lobredner vergangener moralstrenger und sündenfreudiger Zeiten werden? Manchmal deutet sich in Schulzes weit gespannten kulturpsychologischen Ausschweifungen, die nicht immer erkennen lassen, wohin das Buch will, derlei an. Aber er ist ein Freund des »schönen Lebens«, der diesen von den kommerziellen und illustrierten WellnessTraktaten abgeschriebenen Begriff nicht scheut, vielmehr einen genussvoll provozierenden Gebrauch von ihm macht. Eine Restauration der christlichen Lasterkataloge seit Paulus’ Römerbrief hat Schulze jedenfalls weder aus Moral- noch aus Genussgründen im Sinn. Und wo er auf Fortsetzungsgeschichten der alten Moral in den Lasterkatalogen der Moderne stößt, taugt das allenfalls für sarkastische Annotationen. Die Verwerfung der »Völlerei« etwa sieht er in quasimoralischen Abmagerungskuren wiederaufleben. Was einst Askese war, ist heute die schlankheitlicherseits verordnete Anorexie. Und Heidi Klum mit ihrer unfrohen magersüchtigen Botschaft ist der Paulus – oder sollen wir sagen: die Pauline? – der dem Schlankheitswahn verfallenen Überflussgesellschaft. Aber das ist denn doch für Schulze eher der Ausnahmefall. Aus den sieben Todsünden von

Gerhard Schulze

ehedem sind individualisierte Charakterzüge einer vom Absolutismus der alten Moral und ihrer Glücksfeindschaft befreiten Moderne geworden, die in dem Maß zu sich findet, wie sie sich von der Kategorie der »Sünde« entfernt und die Moral insgesamt privatisiert. Die »Sünde« ist für Schulze die Kontrastfolie für die Beschreibung – und Apologie – der Moderne. Dem Stolz und der narzisstisch zu Ehren gekommenen Hoffart kann sie durchaus ihre positiven Seiten abgewinnen, dem gerechten Zorn auch. Die »Unkeuschheit« ist Inbegriff ihres Lebensspaßes geworden. Das vormalige

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sechste Gebot umfasst nun das bevorzugte Inventar ihrer Lustquellen. Trägheit und Habsucht gehören de facto zu ihren Primärtugenden, auch wenn sie die Dinge lieber nicht ganz so krass beim Namen nennt. Die Völlerei und die Gier muss man nur auf ein gesundes Maß herunterschrumpfen, das dann freilich mit der Maßlosigkeit, die konstitutiv für die »sieben Todsünden« war, nichts mehr zu tun hat. Nur der Neid, das gelbe Übel, schert aus dem Reigen der gesellschaftskompatiblen Eigenschaften aus, obwohl auch er in temperierter Form nutzbar gemacht werden kann, siehe Mannesmann. Wenn aber die Auflösung der Sünde als zentrale moralische Kategorie konstitutiv für die Moderne ist – Schulze nennt sie nicht ganz ohne adventistischen Zungenschlag die »angekommene«, die »gereifte Moderne« –, dann wird auf der anderen Seite deutlich, welche Revision mit dem wieder erneuerten Vorwurf der Sünde an die Adresse der Moderne verbunden ist. Die Fundamentalismen jeder Provenienz, zumal der islamische Fundamentalismus bei seiner Attacke auf den Westen, aber auch das evangelikale Revival in den USA, sind nach der Deutung Schulzes durch die Doppelstruktur von Antimodernismus und Renaissance des Sündenvorwurfs gekennzeichnet. In der Tat blickt den Westen aus den islamistischen Porträtfotos, die dem Bilderverbot sichtlich nicht unterliegen, die Karikatur eines der Sünde verfallenen, mit den Mitteln der Sünde arbeitenden »großen Satans« an. Der Übergang von der Sünde zum Bösen ist dabei schon eingeschlossen. Und diese Attacke ist nicht auf das private Leben begrenzt. Gerade die Trennung der Bereiche von privatem und öffentlichem Raum, für die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft zentral, wird im Zeichen einer religiös diktierten Lebensführung aufgehoben. Freilich gibt es für Schulze auch im Westen eine Disziplin, die den Geist der Kritik mit moralischem Rigorismus vereint und manchmal in eine gewisse Nähe zum Fundamentalismus gerät: die »schimpfende« Kulturkritik. Von ihr hält der Autor der Erlebnisgesellschaft nur bedingt etwas. In ihrer Kritik des »falschen Lebens«, in dem es kein richtiges geben könne, entdeckt er die alte Glücksfeindschaft der Vormoderne wieder. Und die Kulturkritik mag ja auch, ausgenommen das Hochgefühl des Kritikers, der sie übt, eine freudlose Kunst sein. Aber es ist nun einmal so: Noch die Kritik der Kulturkritik bleibt – Kulturkritik. Im Ganzen hat Schulze allerdings wohl Recht, sich nicht ins kritische, moralische oder religiöse Bockshorn jagen zu lassen. Er bleibt auch stilistisch so gelassen, so witzig, wie seine großen Bücher bisher stets gewesen sind. Sagt man es wieder mit den Lasterkatalogen der christlichen Tradition, so verfällt er an keiner Stelle dem ironiefreien Zorn. Von jedem Weltoptimierungswahn ist er weit entfernt. Das macht auch dieses Buch wieder zu einer entspannten Lektüre, deren Erheiterungspotenzial einer literarischen »Erlebnisgesellschaft« angemessen ist.

Dieser Autor ist niemandem böse, man kann auch ihm nicht böse sein Im Schlussteil allerdings, auf einem Feld, das in den vergangenen Jahren von philosophischen Lebensführern und Ratgebern der Lebenskunst bis zum Überdruss beackert worden ist, gibt Schulze sich bis zur Völlerei dem »schönen Leben« hin. Sein Votum für eine auch in Fragen der Lebensführung bei sich angekommene Moderne ist »sympathisch«, um es mit einer Lieblingsvokabel des »schönen Lebens« zu sagen. Diese Moderne ist aufgeklärt, reflektiert und mündig, im besten Sinn epikureisch genug, um neben ihrem »Steigerungsspiel«, das mit dem Fortschritt immer auf den Aufschub setzt, auch das vormals diskreditierte Glück zu kultivieren, neben dem – weiterhin unerlässlichen – »Haben« und »Können« auch das »Sein«. Man kann diesem Autor nicht böse sein, zumal er selbst eigentlich niemandem wirklich böse ist. Nie denkt er dualistisch, stets komplementär. Doch die Übergänge zu einer Wellness-Theorie der Moderne im kultursoziologischen und -philosophischen Gewand sind fließend. Schulzes Theorie einer beim »schönen Leben« angekommenen Moderne ist mit dem Weichzeichner ihrer Reklame entworfen: »as smooth as silk« (Thai International). Pascal Bruckner hat in seinem Essay Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne für die nötige Gegenreklame gesorgt. Man muss diese Nähe zu einer WellnessTheorie der Moderne nicht scheuen. Sie ist, gewiss, keine Todsünde, selbst nicht vor dem Tribunal der kulturkritischen Vernunft. Aber eine lässliche Sünde ist sie schon – und deswegen von nur begrenzt hedonistischem Potenzial. Gerhard Schulze: Die Sünde Das schöne Leben und seine Feinde; C. Hanser Verlag, München 2006; 288 S., 21,50 ¤

Fotos: Peter Peitsch (links oben); Peter-Andreas Hassiepen

ie Frage, ob es »das Böse« oder gar »den Bösen« gebe, ist im vergangenen Jahrzehnt nach der Ära des aufgeklärten Exorzismus wieder mit schwerem Ernst debattiert worden. Eine Wiederkehr der »Sünde« aber scheint in der säkularisierten Moderne selbst beim redlichsten Bemühen der Gebildeten unter ihren Liebhabern chancenlos. Da mag der Vatikan noch so unverdrossen seine neuen Katechismen und Enzykliken unters gläubige Volk bringen. Und wenn sich an der Wall Street der »Sindex« einiger Beliebtheit erfreut – jener Aktienindex der sieben Todsünden also, der die Unternehmen zusammenfasst, deren Herzensanliegen die Befriedigung der besonders lasterhaften Bestrebungen des Menschen ist –, so ist das zwar dem Shareholder-Value und der ihm geltenden Gier förderlich. Aber wer wird denn noch an Sünde, gar Todsünde denken, wenn derartige Bonifikationen des Shareholders harren? Der vormals asketische Geist des Kapitalismus ist längst zum Hedonismus konvertiert, der munter drauflossündigt und kassiert, ohne auch nur einen Hauch von Sündengefühl zu haben. Da bedarf es schon eines Mannesmann-Prozesses, um mit der Gier jenseits, dem Neid diesseits der Gerichtsschranken zwei der kapitalen alten Laster wieder vor das moralische Hochgericht zu stellen.

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Das 1001-Nacht-Projekt Der große Theaterregisseur Peter Zadek wird 80. Ist das wahr? In seiner Autobiografie zeigt er sich als einer, der nicht altert, solange er nur erzählen kann etzt ist schon der zweite Band von Peter Zadeks Autobiografie erschienen, und noch immer wartet man darauf, dass Zadek sich zeigt. Der erste Band (er kam 1998 heraus) heißt My Way und dreht sich um die Jahre 1926 bis 1969, die Fortsetzung heißt Die heißen Jahre und behandelt die Jahre 1970 bis 1980. Beide Bücher zusammen haben 1031 Seiten und umfassen 54 Jahre, aber der Mann, um den es geht, ist noch nicht aufgetaucht. Er hält sich im Material versteckt. Er wird sich zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren, vielleicht im dritten oder vierten Band. Üblicherweise funktioniert eine Autobiografie so, dass der Autor sein Leben umschmilzt zu (gelebter) Kunst. Während der Schreiber seine Zeit verbraucht, häuft er andere Reichtümer an – Weisheit, Erkenntnis, Güte, Einsicht. Indem er Energie verliert, gewinnt er Überblick. Von diesem Schema hält sich Zadek, der am 19. Mai 80 Jahre alt wird, instinktiv fern, als sei es mit Alter, Kapitulation, Tod gleichzusetzen. Als wolle er sagen: Wenn du anfängst, Sprüche über das Leben zu schmieden, hat der Tod schon gewonnen. So ist der Schatz seiner Erkenntnisse überschaubar, seine Weisheiten tarnen sich als Ratschläge, die Wahrheiten huschen in Nebensätzen vorbei. Das Altern spielt keine Rolle in der Erzählung dieses alten Mannes. Peter Zadek, der Theaterregisseur, floh, wenn man ihn auf einen Stil festlegen wollte; er lachte, wenn man ihm eine »Handschrift« andichtete; er bekam Atemnot, wenn in seiner Nähe Perfektion drohte. Und auch als Erzähler seines eigenen Lebens ist Zadek ein rastloser Mann. Die legendären Jahre bei Kurt Hübner in Bremen, die Zeit als Theaterdirektor in Bochum, der bahnbrechende Othello in Hamburg – immer will Zadek nur weiter und überlegt, was er als Nächstes gegen die Langeweile und die Angst tun könnte. Seine Geschichte ist ein Schelmenroman ohne Schelm. Aus seinen Leistungen baut er keine Podeste, von denen aus er auf sein Leben zurückblicken könnte. Kein »Ich fasse zusammen«, auch kein Ehrgeiz, dem Vergangenen eine höhere Form, den Anschein einer Komposition zu geben. Zadek hat zwei dicke Bücher veröffentlicht, weil er zu faul oder zu beschäftigt war, ein dünnes (durchdachtes) zu schreiben. Er hat sein Leben auf Band gesprochen, und seine Lebensgefährtin Elisabeth Plessen hat es abgeschrieben und konzentriert. So gehen Ärzte mit ihren Diagnosen um. So geht auch Zadek mit seiner Selbstdiagnose um: Es ist gesagt worden, und damit gut. Therapie interessiert ihn weniger. Man fühlt sich wie der geduldige Zuhörer eines Selbstgesprächs, und ein Grundgefühl des Künstlers Zadek, das Leiden an der Langeweile, grundiert die Lektüre: Das ist doch unerheblich, so klingt’s zwischen den Zeilen, die sich lesen, als habe sie einer dem natürlichen Wunsch nach Vergessen abgetrotzt. Eigentlich, sagt jeder Satz, ist das alles nicht der Rede wert – und dennoch setzt sich Zadek seit 1993 regelmäßig vors Tonband und redet über sein Leben, dabei die eigene Person beharrlich vor der Öffentlichkeit beschützend. Er treibt sein Ich vor sich her, er durchleuchtet es nicht. Zadeks Autobiografie hat den unaufgeregten, fast blasierten Sachlichkeitssound, den Zadek auch in Interviews bevorzugt. Er ist Zeitzeuge, nicht Kommentator. Das deutsche Volk, aus dem er mit seiner jüdischen Familie floh, erstaunt ihn kühl, es empört ihn nicht. Als er 1958 aus England nach Deutschland zurückkehrt, tut er das, weil er in Deutschland bessere Arbeitsbedingungen findet. Ein Romantiker, ein Zauberer will Zadek nicht

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Freunde der leichten Muse! Bevor ich demnächst selbst wieder ins Meer steige, lese ich noch die Erzählungen (kürzlich erschienen)

von Felisberto Hernández: Die Frau, die mir gleicht. Darin können Sie Überraschungen erleben, die Ihnen gut tun werden. Herzhafte Grüße Brigitte Kronauer

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Foto: Peter Peitsch; Abb. Postkarte: Dieter Asmus (geb. 1939), Taucherin (auf Steinen), 1972, Öl/Lwd., 116x97 cm; Galeria Dacruz, Lissabon; VG Bild-Kunst, Bonn 2006

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sein. Seine Inszenierungen schildert er als Baustellen, hinter deren Absperrgittern er sich mit ein paar Leuten auf die Lösung handwerklicher Probleme eingelassen hat. An die feineren Muster seiner Persönlichkeit rührt er nicht, und von Ibsens Satz, dichten bedeute, Gerichtstag zu halten über sich selbst, ist der große Ibsen-Regisseur Zadek weit entfernt. Eher verwundert berichtet er vom Privaten. Eros ist ein Antriebsmittel, er hält einen Menschen beweglich und ist insofern nützlich – ein Thema ist er nicht. Es geht bei Zadek nicht um Kategorien wie Seele, Geist, Innenwelt, sondern um Dinge und Vorgänge, mit denen man Seele, Geist und Innenwelt (wenn es sie denn gibt) stimuliert. Seine Autobiografie ist einer Gebrauchsanweisung näher als einer Lebenserzählung. Fast alles ist ihm Material: »Über die Jahre entdeckte ich durch meinen Arzt noch ein paar andere Stoffe, Valiumderivate wie Tavor und Lexotanil und Adumbran. Ich probierte mal dies und mal das an mir aus, um zu sehen, wie es funktionierte, steigerte aber die Dosen nicht. Durch Zufall entdeckte ich, dass diese Stoffe zusammen mit Alkohol im Magen eine sehr gute Wirkung hatten. Sachen, die bei anderen Downer waren, waren bei mir plötzlich Upper. Da ich zwischen 50 und 60 war, also in einem Alter, in dem man leichter mal müde wird und auch mal einen Upper brauchte, war das sehr angenehm. Ich merkte auch, dass es beim Bumsen nicht schadete.« Das ist der Siebziger-Jahre-Tonfall, wie man ihn in einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane jener Zeit findet, in Simmels Der Stoff aus dem die Träume sind. Zadek schreibt einen Simmel über sich selbst. Der Sound dient als Schutzglasur. »Ich probierte mal dies und das an mir aus« – in diesem Verhältnis steht Zadek zur Welt. Er probiert an sich ein Land, eine Sprache, das Theater, die Kunst, die Frauen, ein Leben aus. Was er ausprobiert, wird benannt und rauscht vorbei. Die Denk- und Gesprächspartnerin Corinna Brocher, die Lebensgefährtinnen Roswitha Hecke, Elisabeth Stepanek, Elisabeth Plessen, die Spielgefährten Ulrich Wildgruber und Walter Schmidinger kommen etwas ausführlicher vor, der Rest bildet den Rand.

»Wer Kraut war, blieb Kraut, und wer Rübe war, blieb Rübe« Er fixiert seine Leute beiläufig und, in aller Coolness, auch hilflos. Mit Wildgruber konnte er privat nichts anfangen, man hatte sich nichts zu sagen. Pola Kinski hat sich immer ausgezogen. Schmidinger war in psychiatrischer Behandlung. Wenn einer homosexuell ist, wird es immer erwähnt, als sei damit schon ganz viel gesagt und als erübrige sich weitere Beschreibung. Über fast alle spricht er mit einem kühlen Respekt, der eher wie eine Absage, ein Tschüss klingt denn wie eine Einladung, sich doch mal wieder zu melden. Er erledigt ungeheuer viel in wenigen Sätzen, und man hat nicht das Gefühl, dass er seinen Weggefährten mehr mitzuteilen hätte. Er ist ganz froh, nun mit ihnen fertig zu sein. Über seine künstlerische »Familie« spricht er so: »Meine Qualität war sicherlich, aus so einem Haufen von kuriosen Individualisten, aus Kraut und Rüben etwas zusammenzubrauen. Es war sicher meine Qualität, ist es wahrscheinlich auch heute noch, etwas zusammenzufügen, ohne alle zu Kraut oder Rüben zu machen. Wer Kraut war, blieb Kraut, und wer Rübe war, blieb Rübe.« Oder Apfel und Birne, oder Feuer und Öl, oder Zucker und Salz. In Zadeks Buch wimmelt es von

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VON PETER KÜMMEL

Menschen (na ja: Leuten), aber sie machen wenig Eindruck – wie Zutaten in einer Küche oder Farben auf einer Palette. Wichtig ist doch nur der, der diese Sachen mischt und zubereitet. Der sie an sich ausprobiert. Ein Zadek-Rezept: Nimm nicht den Schauspieler, der sich mit deiner Vorstellung von der Rolle deckt, sondern den, der die Rolle am dringendsten will; nimm den als Hamlet, dem »zwei Zentimeter« zum Hamlet fehlen – »so daß der Zuschauer auf dieselbe unvollkommene Ebene gebracht wird wie diejenigen, die auf der Bühne versuchen, etwas herzustellen, was sie nicht ganz schaffen«. Ein anderes Zadek-Prinzip ist das der Störung, der unreinen Mischung. Nimm einen ins Ensemble, der nicht hineinpasst. Über seinen Inspizienten Jan Timmerbeil schreibt Zadek: »Ein kleiner Hamburger, der bei den Schauspielern sehr unbeliebt war. Ich insistierte aber auf ihn, da ich immer einen ganz schlechten Schauspieler oder NichtTheatermenschen brauche, jemanden, an dem man messen kann, wie Menschen sind.«

»Alles nicht so toll von mir. Aber so war es« Das ist in seiner Ehrlichkeit bestechend – sofern man nicht Jan Timmerbeil heißt. Dieses Gran Verachtung findet sich in beinahe jeder Menschenbeschreibung Zadeks – auch dann, wenn es um Zadek selbst geht. Als sein Vater im Sterben lag, flog Zadek nach Madeira (es war sein vorletzter Flug, Zadek leidet an Flugangst) und erfuhr dort vom Tod des Vaters. Er hatte geahnt, dass der Vater sterben würde, und hatte dennoch Urlaub gemacht: »… alles nicht so toll von mir. Aber so war es.« Man liest das alles, man liest es weg, und man hat das Gefühl, einem jungen Mann zuzuhören. Woran liegt das? Vielleicht an Zadeks unermüdlicher Langeweile; sie nährt seine Neugier. Vielleicht am untertourigen Sound, am Verzicht auf alle »Kunst«, womit dieser Erzähler demonstriert, wie ungerührt er ist vom Leben und von sich selbst. Rührseligkeit kommt nicht vor, und Empathie summt nur auf einem tiefen Level unterm Lärm dieses Theaterlebens. Marcel Proust hat geschrieben, wenn man die Menschen nicht so darstellen würde, wie sie sich im Raum ausbreiten, sondern so, wie sie sich in der Zeit ausbreiten, dann wären sie Riesen, walhafte Erscheinungen, die ganze Landschaften unter sich begrüben. Bei Zadek liegt der Fall anders: Sein Zeitkörper ist schlank und flink, ein auf der Stelle hüpfender Ball aus Ungeduld und Überdruss. Zadek hat ein langes Leben gehabt, aber es hat ihn nicht erfüllt. Er könnte sagen: Ich bin wohl dabei gewesen, aber ich bin es nicht gewesen (der es geführt hat). Wenn Zadek nun so weitermacht, wird er 2014 den Band über die achtziger Jahre und 2022 den Band über die neunziger Jahre vorlegen. Wie jedes große Erzählprojekt ist Zadeks Lebensbuch ein Buch gegen das Enden, ein 1001-Nacht-Unternehmen; solange er erzählt, wird es weitergehen. Solange das Rätsel nicht gelöst, das Wesentliche nicht enthüllt wurde, ist die Geschichte nicht aus. Und er, Zadek, hat sich ja noch nicht gezeigt. Peter Zadek: My Way Eine Autobiographie 1926–1969; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004; 608 S., Abb., 14,90 ¤ Die heißen Jahre 1970–1980; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006; 425 S., Abb., 22,90 ¤

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»... und Papa steht im Tor« Jens Lehmann über den Tag, an dem er deutscher Nationaltorwart wurde, über alternde Fußballprofis – und die Herausforderung, seinem Sohn das Wort »Weltmeisterschaft« zu erklären

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Das Leiden der anderen

JENS LEHMANN DIE ZEIT: Herr Lehmann, neulich war in einer Boulevardzeitung ein grobkörniges PaparazzoFoto abgedruckt: der neue deutsche Nationaltorwart mit Familie und Kinderwagen beim Einkaufen in London. Gehört so ein Bild nun zu den höchsten Weihen? Jens Lehmann: Mir kam es sehr ungelegen. ZEIT: Weil Sie jetzt zur obersten deutschen Prominenzkaste um Boris Becker, Verona Pooth und, ja, Oliver Kahn gehören? Lehmann: Jetzt, wo Sie es sagen … Mein Unbehagen bezog sich bislang eher auf das Motiv. Ich telefoniere, ist Ihnen das aufgefallen? Mir ist es schon so immer peinlich, wenn ich mit meiner Frau durch die Stadt gehe und dann mal telefonieren muss. Das sieht schlecht aus. ZEIT: Ignorant? Lehmann: Ignorant. Machomäßig. Nach Chefgehabe innerhalb einer Beziehung, einer Familie. ZEIT: Genau dies soll unser Thema sein: inwieweit Ihre Rolle als Fußballspieler, als Nationaltorwart, Ihre eigene Persönlichkeit prägt. Lehmann: Ich fürchte, mehr, als mir lieb ist. Und sicher mehr, als ich weiß. ZEIT: Sie sind 36 Jahre alt – inwieweit glauben Sie, hat das jahrelange Wollen und Warten in Ihrer Karriere Sie verformt? Lehmann: Ich glaube, ich bin wahnsinnig diszipliniert, vermutlich zu diszipliniert. Ja, vielleicht bin ich ein bisschen zu zielstrebig geworden: immer ein neues Ziel setzen, immer die Treppe rauflaufen, niemals runter, auch nicht geradeaus. Man setzt sich ja nicht zum Ziel, schlechter zu werden. Das prägt. Nicht immer zum Positiven. ZEIT: Zum Beispiel? Lehmann: Meine Frau hat vor einigen Wochen das dritte Kind bekommen, Lieselotta. Wenn Lieselotta nachts um fünf anfängt zu schreien, gehe ich in ein anderes Zimmer und schlafe da weiter. Das entspricht eigentlich nicht meinem Idealbild gemeinsamer Elternschaft. ZEIT: Aber das Fußballvolk wird beruhigt sein. Lehmann: Ich hoffe. ZEIT: Sie haben auch zwei Söhne. Was ahnen die beiden von dem, womit ihr Vater in diesem Sommer beschäftigt sein wird? Lehmann: Lasse, er ist das erste Kind meiner Frau, ist schon neun – der weiß alles über Fußball. Mats,

unser gemeinsamer Sohn, ist erst fünf. Der ahnt nichts von dem, was uns im Sommer bevorsteht. Wir haben bislang nicht darüber gesprochen. ZEIT: Aber er weiß, dass Sie Fußballer sind? Lehmann: Ja, natürlich. ZEIT: Was ist das für einen fünf Jahre alten Sohn: ein Fußballer? Lehmann: Für meinen bedeutet das, dass er mir vor kurzem gesagt hat: »Papa, ich bin jetzt für die Tottenham Hotspurs.« Für den Lokalrivalen. Weil seine Schulfreunde das auch sind. Und als erste Opposition zum Vater vermutlich. Er weiß aber auch, dass er von mir Trikots kriegen kann, Trikots von Real Madrid, Juventus Turin. Er verkleidet sich gern. ZEIT: Hat er auch eins mit »Lehmann«? Lehmann: Lehmann auch, ja. Wenn er mich ärgern will, sagt er immer: »Du bist luschig.« Letztes Jahr nach dem englischen Pokalfinale hat er gefragt: »Sag mal, Papa, warum hast du nur einen Elfmeter gehalten?« – »Weiß ich auch nicht.« – »Du bist luschig.« ZEIT: Aber davon, dass jetzt eine WM ansteht, bei der der Vater das Tor des Gastgebers hütet, ahnt Ihr Sohn nichts? Lehmann: Er weiß ja noch gar nicht, was eine WM ist. Er weiß nur, dass er diesen Sommer wohl schon vor den Ferien aus der Schule genommen wird, um mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Urlaub bei den Großeltern in Deutschland zu machen. Wir wollen, dass unsere Kinder diese WM erleben. Weil das ein Ereignis ist, das in Deutschland in den nächsten zehn, zwanzig Jahren einmalig bleibt. ZEIT: Wie werden Sie Ihrem Sohn die WM erklären? Lehmann: Ganz einfach. Er weiß ja, dass wir in einem anderen Land wohnen als unserem, als Deutsche in England. Er weiß auch, dass seine Spielkameraden in London aus wieder anderen Ländern kommen. Ich werde ihm einfach sagen: »Eine WM ist, wenn die besten Fußballer vieler Länder gegeneinander spielen, und Papa steht bei Deutschland im Tor.« ZEIT: Wie oft ist in den Gesprächen zwischen Vater und Söhnen der Name Kahn gefallen? Lehmann: Nicht oft. Allerdings weiß sogar Mats

wird bei der Fußball-WM als neuer Torwart der Nationalelf antreten – und damit eine quasi staatstragende Rolle übernehmen. Nur folgerichtig,dass er in der vergangenen Woche einige Medien zur Lagebesprechung in ein Hamburger Hotel eingeladen hat. Im Foyer warten das Fernsehen, die ZEIT, sogar ein Frauenmagazin hat sich angemeldet. Das Interesse an Lehmann ist groß,das Wissen über ihn klein: Er ist Keeper bei Arsenal London, in Interviews nach Spielschluss wirkt er oft spröde, gerade stand er als einziger Deutscher im ChampionsLeague-Finale (n.Red.-Schluss). Lehmann entschuldigt sich eine Minute lang dafür, dass er nur 30 Minuten Zeit hat. Also los. Also schnell. Man weiß ja nicht viel.

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schon, dass entweder sein Papa oder Oliver Kahn für Deutschland spielen soll. Beide zusammen geht nicht, dessen ist er sich bewusst. ZEIT: Der Tag, an dem sich Bundestrainer Jürgen Klinsmann für Sie als Stammtorwart entschied, ist der Öffentlichkeit erstaunlicherweise nur aus der Perspektive des Verlierers bekannt. Wie war das aus Ihrer Sicht? Lehmann: Mittlerweile habe ich den Eindruck, ich habe als einer der Letzten davon erfahren. Ich war bei Arsenal zum Training, und da ist Handyverbot. Nach dem Training habe ich dann auf dem Parkplatz mein Handy angemacht. Etliche Anrufe, wie immer. Zudem hat mir jemand von der Arsenal-Pressestelle gesagt, ich solle mal bei der »German Football Association« zurückrufen, die meinten den DFB. Da war eine Nummer hinterlegt, von der ich dachte, es sei Klinsmanns. Aber Andy Köpke ging dran, unser Torwarttrainer, und er fing in einem Tonfall an, wo ich gedacht habe: »Dann bin ich’s wohl doch nicht.« Er hat gesagt: »Ja, Jens, wir haben jetzt die Entscheidung getroffen, es fiel uns sehr schwer …« Und ich: »Oh,

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Scheiße.« Und er: »… und wir haben uns für dich entschieden. Der Oliver war gerade hier im Hotel.« Danach habe ich noch mit Jürgen Klinsmann gesprochen. Ich wollte natürlich sofort meine Frau anrufen, aber von dem Moment an kamen immer Anrufe auf mein Handy. Und dann kann man nicht telefonieren. Man kann selbst nicht telefonieren, wenn man dauernd Anrufe reinkriegt, wussten Sie das? Die Erfahrung hatte ich auch noch nie gemacht. Es hat eine Viertelstunde gedauert, bis ich meine Frau erreicht habe. Sie war gerade in Deutschland. Und bevor ich was sagen konnte, hat sie gerufen: »Jens, du bist jetzt Nummer eins! Hier im Fernsehen ist der Teufel los!« ZEIT: Es gibt viele Menschen in der Fußballbranche, die raunen, Sie hätten Klinsmanns Entscheidung lange im Voraus gekannt. Lehmann: Nach dem Confed-Cup hat er doch noch gesagt, wenn nichts Großes passiert, bleibt Kahn die Eins. Insofern kann das nicht stimmen. ZEIT: Was haben Sie nach der Entscheidung getan? Vor Freude gegen den nächstliegenden Türrahmen getreten? Lehmann: Gar nichts eigentlich. Ich glaube, ich habe kurz gelächelt. Dann bin ich nach Hause gefahren, habe mich ins Bett gelegt und geschlafen. ZEIT: Das ging? Lehmann: Eine halbe Stunde vielleicht. ZEIT: Mit Ihrer Berufung ins Tor der Nationalelf sind Sie ja nicht bloß vom Keeper Nummer zwei zur Nummer eins geworden, sondern in der Hierarchie der Mannschaft sehr weit aufgestiegen. Müssen Sie jetzt noch die Rolle des großen Motivators trainieren, der sein junges Team antreibt? Lehmann: Ich glaube nicht. Ich denke, dass in die Entscheidung des Trainerstabes der Eindruck mit hineingespielt hat, dass ich auf dem Platz so bin, wie ich bin. Jürgen Klinsmann hätte sich doch nicht für mich entschieden, wenn ich da eklatante Defizite hätte. Und wenn ich jetzt extra mehr tun wollte – das wäre nur Quatsch, da ginge der Schuss nach hinten los. Ich werde mich innerhalb der Mannschaft genauso verhalten wie bisher. Ich denke, da haben die Medien auch einen naiven Blick. Motivieren muss sich ein Einzelner in einer Nationalelf doch gar nicht großartig. In so eine Fortsetzung auf Seite 68

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Ich bin umgezogen. Der Film Das Leben der Anderen, eine Art Tragödie über die Stasi und die DDR und so, hat den Deutschen Filmpreis bekommen. Ich mochte den Film. Ein Freund, der aus der DDR stammt, kam zu Besuch, da er am Telefon den Eindruck gewonnen hatte, dass ich des Beistandes bedürftig sei. Er mochte den Film überhaupt nicht. Er hat in der DDR oppositionelle Dinge getan. Keiner seiner DDR-Freunde mochte den Film, sagte er, die Details stimmen nicht, es hat eine Hollywooddramaturgie, die DDR war kein Hollywood, es ist ein Westfilm. Überall standen Kisten herum. Ich hasse das. Ich brauche Ordnung. Die Dinge sollen mir gehorchen. Vielleicht besitze ich das Zeug zum Lagerkommandanten, ich habe offenbar alle Sekundärtugenden, die man braucht. Dann dachte ich, wie sonderbar, über eine DDR-Komödie wie Good Bye, Lenin! lacht ganz Deutschland, eine Tragödie dagegen entzweit das Vaterland. Vielleicht, weil ein Westler sie gemacht hat. Ich war vor vielen Jahren mal in Oberhausen, bei den Kurzfilmtagen, und eine schwarze HipHop-Professorin aus Berkeley regte sich in einer Podiumsdiskussion über weiße deutsche Rapper und HipHop-Bands auf, das sei kultureller Diebstahl und würde die Schwarzen verspotten, außerdem könnten die Weißen es nicht. Das war kurz bevor Eminem bekannt wurde, der weiße Rapper-Superstar. Fürs Leiden gibt es halt kein Copyright, da kennt jeder sich aus. Viele im Osten sehen sich selbst aber als tendenziell tragisch und tief und die Westler als oberflächlich. Deswegen, denke ich mal, wird eine Osttragödie aus Westlerhand als Provokation empfunden. Aber der Japaner Haruki Murakami hat eine Story geschrieben, die in Bayern spielt und in der es um den Kauf einer Lederhose geht, das mussten die Bayern auch aushalten. Ich habe versucht, den Geschirrspüler, die Waschmaschine und den Fernseher anzuschließen und bin mit allem gescheitert, für alles muss ein Spezialist kommen. Am schlimmsten aber war die Tatsache, dass die Kaffeemaschine am Sonntag nicht funktionierte, das Wasser wurde nicht warm und lief unten heraus. Eine Kaffeemaschine ist doch nicht kompliziert. Außer Schreiben und Stecker in Steckdosen hineinstecken kann ich offenbar überhaupt nichts. Ich bin wie die DDR, ich will aufbauen, eine bessere Zukunft schaffen, aber es kommt eher das Gegenteil dabei heraus. Wollen wird überschätzt, auf das Können kommt es an. Also ging ich auf eine Party und traf einen berühmten Kollegen. Der berühmte Kollege sagte, ey, wir kommen sowieso alle in die Hölle, alle Journalisten haben einen schlechten Charakter, nur Günther Jauch nicht. Günther Jauch stiftet dauernd Geld und redet nicht groß darüber, deswegen würden sie ihn an den Pforten der Hölle zurückweisen, und er wird im Jenseits Thomas Gottschalk und Harald Schmidt niemals wiedersehen. Zurück in der Wohnung, versuchte ich, eine Lampe zusammenzubauen, es ging nicht, dann wollte ich baden, aber der Boiler funktionierte nicht, schließlich pflanzte ich eine wunderschöne Geranie ein, weil Männer gern pflanzen, und habe dabei den Topf zerbrochen. Ich möchte behaupten, dass auch der Westen, wenn auch auf banale Weise, tragisch sein kann. Audio

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Ein reizender Frühling 13 Wahrheiten über den Heuschnupfen von »Stimmt’s?«Kolumnist Christoph Drösser Seite 69

Illustration: Julia Guther für DIE ZEIT

Foto: Anatol Kotte für DIE ZEIT

Harald Martenstein über Ost- und Westsicht

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Die Unstete

Ein altehrwürdiges Schulgebäude in der Stadtmitte von Nienburg an der Weser ist derzeit von einem Baugerüst umgeben. Handwerker sanieren das im Jahr 1825 errichtete Haus. Ein Gymnasium wird für die Zukunft gerüstet. Doch unabhängig von den Arbeiten an der Fassade erfuhr das Gymnasium vergangene Woche auch eine innere Wandlung: Die bisherige Hindenburg-Schule wurde in Marion-DönhoffGymnasium umbenannt. Die Aula ist mit Blumen geschmückt, das Bläserensemble der Schüler glänzt mit Beethoven, und Rektor Eckhard Hellmich spricht davon, dass es nach dem »Streit um den neuen Namen« nun darum ginge, »tolerant miteinander umzugehen, ganz im Geiste von Gräfin Dönhoff«. Genau genommen, ging der Streit weniger um den neuen als um den alten Namen Hindenburg-Schule, verliehen 1927. Da war der Generalfeldmarschall a. D. zwei Jahre als Reichspräsident im Amt. Es sei dahingestellt, wie in fast 60 Jahren Bundesrepublik eine Schule nach einem erklärten Anti-Demokraten benannt bleiben konnte. Doch verwundert der Widerstand, den Teile der städtischen Honoratioren der Umbenennung entgegensetzten. Die CDU initiierte eine Umfrage in der Einkaufsstraße, wo sich nicht wenige Bürger für die Erinnerung an den »Sieger von Tannenberg« verwandten. »Wir sehen für die Umbenennung keinen Anlass«, verkündet Ralf Weghöft, Fraktionsvorsitzender der Union im Stadtrat: »Übrigens war Hindenburg, im Gegensatz zu heutigen Bundespräsidenten, demokratisch vom Volk gewählt worden!« Der deutsche Chefstratege an der Ostfront ist für viele noch ein Mythos – an dem aber schon die junge Komtesse Dönhoff wenig Würdevolles entdecken mochte: »Er war groß und schwer, ging steif mit merkwürdigen kurzen Schritten und glich mit seinem Schnurrbart eher einem Nußknacker … als jenem göttergleichen Helden meiner Vorstellung.« Nun hat sich also die Gesamtkonferenz der Schule aus Kindern, Eltern und Lehrern sowie der Stadtrat mehrheitlich für den Namen der langjährigen ZEIT-Herausgeberin entschieden. Dass der Namenspatron einer Schule keine unnahbare Figur aus der fernen Geschichte sein muss, darüber erzählt Dönhoffs Großneffe Friedrich in seiner Festansprache. Er verrät, wie die fast 80-jährige Gräfin mit ihrem Porsche über die Hamburger Elbchaussee donnerte, an gelben Ampeln extra Gas gab und sich bei ihrem auf dem Beifahrersitz nervös hin- und herrutschenden Großneffen nach den neuesten Kinofilmen erkundigte. Die Gymnasiasten sind begeistert. ANDRÉ PAUL

Mit Tchibo nach Afghanistan Deutsche Soldaten in Afghanistan versorgten sich mit Produkten von Tchibo, meldete die dpa: etwa mit einem Fernrohr für 89,90 Euro. Dabei hat die Bundeswehr keinen Vertrag mit Tchibo abgeschlossen, lediglich kauften sich Soldaten privat ein solches Fernrohr. Was sagt der Tchibo-Sprecher dazu?

VON JOHANNA LÜHR

erlin, Hotel Adlon, eine Lounge im fünften Stock. Ein paar Damen vom Verlag, eine von der Plattenfirma, cremefarbenes Sofa, Häppchen auf dem Beistelltisch. Kleiner Rockstar-Empfang. Und da kommt sie schon, winzig, dürr, schwarze Lederhose, weiße Bluse, Strubbelfrisur: Gianna Nannini. Sie ist hier, um ihre Biografie Ich vorzustellen, die kürzlich in Deutschland erschienen ist. Nannini, Rocksängerin aus Italien, ihre Hits hat man in den achtziger Jahren in Deutschland mitgesungen: »Bello, bello impossibile«. Italien war seit je der Deutschen liebster Sehnsuchtsort. Wohl ein Grund dafür, warum noch immer jeder Nannini kennt. Dabei ist ihr letzter, bekannter Song bereits 16 Jahre alt. Da war gerade Weltmeisterschaft 1990, und sie sang Un estate italiana. Vor ein paar Tagen ist sie 50 Jahre alt geworden, 30 davon stand sie auf der Bühne. Nannini setzt sich quer auf das Sofa, streift die Haare zurück, lacht laut. Sie spricht schnell. Mit einer etwas rauen Stimme. Wissen Sie eigentlich, dass man Sie hier »Rockröhre« nennt? »Ah si?« Das mit der Röhre gefällt ihr, das habe so etwas Rauchiges. Dabei habe sie nie geraucht, sagt sie, jedenfalls keine Zigaretten. In Italien ist Gianna Nannini heute vor allem wegen ihrer Skandale bekannt, weniger durch ihre Musik. Ihr Bekenntnis, sie sei bisexuell, löste heftige Diskussionen aus. Die Nannini, das stand einst für »il rock« in Italien. In einem Land, in dem meist cantautore, Liedersänger, auf der Bühne standen, war Rockmusik ungewöhnlich. »Italien ist ein Land der Oper, das Melodramatische, davon wollte ich mich damals befreien«, sagt Nannini. Dabei waren ihre Texte nicht weniger kitschig. In ihrer Autobiografie, die sie wie in einem »flash« in sechs Monaten geschrieben habe, gibt es eine Menge Drogen, Alkohol und wechselnde Affären. Das regt heute keinen mehr auf. Die Zeit der Skandale sei vorbei, sagt sie, bestellt einen Espresso und rührt Honig hinein. Das Thema »scandalo« ist abgehakt, und auch der Feminismus scheint sie nicht zu

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Foto: Anatol Kotte für DIE ZEIT

Mannschaft zu kommen setzt schon so viel Motivation voraus, so viel Arbeit. Gegen wie viele andere musste man sich dafür durchsetzen? Da wird Motivation nicht der Punkt sein. ZEIT: Was dann? Lehmann: Erfahrung und Leistung. Was bringt es mir, wenn ein Spieler eine Superpersönlichkeit ist und wie ein Verkehrspolizist gestikuliert, aber seine Leistung nicht abruft? Was hilft es, wenn ich jetzt dauernd rufe: »Hey, ich bin 36, ich steh im Tor, ihr müsst jetzt machen, was ich sage?« Im Übrigen ist Fußball keine Einbahnstraße. Als Torwart muss man zwar viel sprechen, ab und zu erzählt man auch mal Quatsch, vergreift sich im Ton – aber genauso sagen die Feldspieler mir doch auch: »Pass den Ball schneller!« Wir müssen jetzt mal langsam wieder davon runterkommen, dass die Deutschen sich auf ihren Torwart fokussieren. Einige meiner Mitspieler haben ja am Ende schon gesagt: »Das geht uns auf die Nerven mit euch beiden.« Peinlich war das. Wir reden ja immer noch darüber, hier und jetzt. ZEIT: Haben Sie seit der Entscheidung vor einem Monat mit Oliver Kahn geredet? Lehmann: Nein. ZEIT: Aber es gibt hoffentlich die stille Sehnsucht nach einem versöhnlichen Bier? Lehmann: Im Moment nicht. Bier geht derzeit sowieso nicht. ZEIT: Dann vielleicht Apfelschorle? Lehmann: Sicherlich. ZEIT: Wird sich so etwas während der WM ergeben? Vielleicht haben Sie ja ein paar Fragen an Kahn. Lehmann: Kann ich mir nicht vorstellen. ZEIT: Sie wirken jetzt sehr kurz angebunden. Darf man als Torwart noch immer keine Schwäche und Verunsicherung gestehen? Lehmann: Wie Sie als Journalist das interpretieren, das bleibt Ihnen überlassen.

BUNDESWEHR

Gianna Nannini, 50, stellte ihre Autobiografie in Berlin vor – und erzählt, warum sie heute kein WM-Lied mehr singen würde

Der lange Abschied von Hindenburg

»… und Papa steht im Tor« Fortsetzung von Seite 67

ZEIT: Dieser Zweikampf mit Oliver Kahn, dessen Auswirkungen Sie peinlich nennen, hat zwei Jahre Ihres Lebens geprägt. Geht die Sache im Kopf noch weiter? Fragen Sie sich manchmal: Spiele wirklich ich am 9. Juni in München? Oder: Was muss passieren, bis Bild beginnt, Kahn zu fordern? Lehmann: Für mich ruht das jetzt. Ich werde bei der Weltmeisterschaft spielen. Darauf habe ich hingearbeitet. Ich bin sicher, die Entscheidung war mehr als nur ein Etappensieg. ZEIT: Dennoch: War Ihre Angst vor einer Verletzung jemals größer als heute? Lehmann: Sagen wir mal so: Das Bestreben, das geistig zu verdrängen, ist größer als je zuvor. ZEIT: Kolleginnen in unserer Redaktion wollen festgestellt haben, dass Ihr Gesicht zuletzt deutlich gealtert sei. Lehmann: Das stelle ich leider auch fest. Das ist ein Fußballerphänomen, dieses plötzliche Altern, da müssen Sie mal drauf achten. Wenn ich in den Spie-

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SCHULE GIBT SICH NEUEN NAMEN

Fotos: [M]: Dönhoff Gymnasium; Jim Rakete/photoselection; Konrad R. Müller/Agentur Focus; Tchibo

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packen (»Ach, gibt’s den noch in Deutschland?«). Feminismus, Kommunismus, Faschismus – diese ganzen -ismen. Das seien alles Etiketten, die nicht mehr zeitgemäß seien und einst auch Italien aufwühlten. Jetzt müsse anders gekämpft werden. Wie das gehe, könne man bei den Protesten in Frankreich sehen, die seien ideologiefrei. Und dann kommt sie ins Berlin-Schwärmen, was man nicht allzu ernst nehmen muss (der letzten Reporterin hat sie viele Grüße nach Baden-Baden bestellt, das sie immer in ihrem Herzen trage). Bei ihrem ersten Besuch sei die Stadt noch eine geteilte Stadt gewesen (»Und das habe ich damals gar nicht gewusst«), und jetzt habe sich Berlin so sehr verändert. Entspannt sei es hier, besonders im Osten, und sehr langsam. Vermutlich ist Berlin so etwas wie ein Gegengift zu Gianna Nanninis Temperament. Denn es ist unmöglich, etwas länger bei einem Gesprächsthema mit ihr zu verweilen. Mit Berlin gelingt es. Sie habe gehört, sagt Nannini, dass es die Stadt mit den meisten Singles sei. »Vengo subito!«, sagt sie, »ich ziehe sofort hier hin!« Lacht und wird dann doch etwas ernst: »Es ist wirklich schwierig, Freundschaften zu halten, wenn man immer unterwegs ist.« Immer nur »per telefono«, das funktioniere nicht. Aber das sei nun mal eine Lebensentscheidung, dieses Künstlerdasein. Nie daran gedacht, sich niederzulassen? »Hundertmal, in jeder Stadt wieder.« Vor ein paar Jahren hat sie sich auch mal Häuser in Berlin angeschaut. Aber der Immobilienmakler habe sie übers Ohr hauen wollen. Zur Fußball-WM wird sie nicht in Berlin sein. Obwohl sie sogar eine Einladung bekommen habe. Ob sie noch mal einen WM-Song schreiben würde wie damals 1990? Ach, Fußball interessiere sie überhaupt nicht. Die Deutschen würden sich auch nur an den Song erinnern, da sie damals gewonnen haben. Sie springt auf. Das nächste Mal, sagt sie, werde sie ganz geheim kommen und nur ihre Freunde sehen. Könnte schwierig werden. Das nächste Mal wird sie zum Konzert hier sein. Dann mal wieder mit neuen Liedern.

gel gucke, denke ich: »Mensch, Jens, bist du verhärmt.« Das wird sich aber wieder ändern. ZEIT: Mit dem Karriereende? Lehmann: Mit ’ner guten Creme! ZEIT: Haben Sie Angst vor Volkes Stimme, die nach der WM sagen könnte: »So, jetzt hat er gehabt, was er wollte, nun wollen wir einen Neuen sehen.« Lehmann: Nein. Überhaupt nicht. Angst habe ich schon mal gar nicht. ZEIT: Ach ja, dürfen Sie nicht haben … Lehmann: Ich habe keine. ZEIT: Dennoch – bei allem gegenwärtigen Glück: Ihnen ist doch bewusst, dass Sie es im hohen Sportleralter von 36 nicht mehr sehr lange werden genießen können. Lehmann: Mit diesem Denken kommt man nicht weit. Glück spielt sich einzig im Kopf ab, und den kann jeder selbst beeinflussen. ZEIT: Gibt es schon ein definiertes Ende Ihrer Nationalmannschaftskarriere? Lehmann: Nein, aber einen zweiten Anfang. ZEIT: Der kam so spät, so kurz vor der WM, dass Sie bei der ganzen Vorab-Mythologisierung nicht dabei sind. Die Bierwerbung im Fernsehen etwa setzt immer noch auf Oliver Kahn im Mannschaftskreis. Lehmann: Ich war an dem Drehtag ja nur deshalb nicht da, weil ich mit Arsenal ein Spiel hatte. Aber das ist mir nicht so wichtig, dieses Vorher. Schön wäre, wenn ich nachher auf den Bildern einer hoffentlich erfolgreichen Nationalmannschaft bin. ZEIT: Wenigstens gibt es Sie jetzt auf der Cola-Dose. Lehmann: Hab ich gesehen, ja. Bei meinen Kindern. ZEIT: Gerade Torhüter sind in Deutschland oft mit Namen und Attributen belegt worden. Turek war der »Fußballgott«, Maier die »Katze von Anzing«, Schumacher der köllsche »Toni«, Kahn war »Titan«. Wer werden Sie im Rückblick sein, Herr Lehmann?

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DIE ZEIT: Als Soldatenausrüster war Ihre Firma bislang nicht bekannt, Herr Klähn. Joachim Klähn: Die Bundeswehr ist für uns eine Zielgruppe wie jede andere. Wir hätten auch noch Zelte und Sturmfeuerzeuge anzubieten. ZEIT: Befürchten Sie nicht einen Imageschaden? Klähn: Wir haben da keinerlei moralische Bedenken. ZEIT: Nun bieten Sie Soldaten sogar einen 10-Prozent-Rabatt an. Klähn: Ja. Und dazu hat uns das Verteidigungsministerium ausdrücklich gratuliert.

KONRAD R. MÜLLER

Der »Kanzlerfotograf« hat Merkel im Visier Die Republik hat keinen Hof, keine Hofmaler, aber bisher hatte sie zumindest einen Kanzlerfotografen: Konrad R. Müller, 66 (Bild unten), der dieses von Kollegen stammende, nicht neidfreie Etikett nie gemocht hat. Ernsthaft gewehrt hat er sich aber auch nicht, es war ja was dran: Die Regierungschefs wurden allesamt tatsächlich von ihm abgelichtet, Kanzler waren seine Spezialität. Aber der »Maître«, wie Helmut Kohl ihn zu nennen pflegte, wollte und will natürlich mehr. Er ist auf der Suche nach interessanten Gesichtern. Gesichter, die Geschichten erzählen, nicht nur Männer, die Geschichte machen. Auch Autoren, Musiker, Schauspieler, Bergsteiger, Einsiedler. Kaum Frauen: Golda Meïr, Ingrid Steeger, Martina Gedeck. Ein bisschen willkürlich. Beiläufig kam eine andere mal ins Bild, Angela Merkel. Das war 1991 in San Francisco, wo Müller machte, was er selten macht – einen Schnappschuss. Kohl und Merkel, beim Eisschlecken. Eine Rarität. Sie ist, zusammen mit anderen Gelegenheitsbildern, aktuell zu sehen im neuen Berliner PromiTreff Il Punto am Brandenburger Tor. Seit jener USA-Reise kennt Müller die Kanzlerin, und es wird demnächst ein Wiedersehen geben. Die Kanzlerbildergalerie vor dem Merkel-Büro soll vervollständigt werden. Danach wird man ihn nicht mehr einfach »Kanzlerfotograf« nennen können. Das Männerwort reicht jetzt nicht mehr aus. WERNER A. PERGER

GESCHICHTEN, DIE DAS LEBEN SCHRIEB

Schüler kämpfen für das Fach Astronomie André Paul berichtete über eine geplante Lehrplanumstellung in Sachsen (Ausgabe 11/06): Der traditionsreiche Astronomieunterricht soll in den Physik- und Erdkundeunterricht eingegliedert werden und als eigenständiges Fach verschwinden. Nun sind mittlerweile 32 000 Unterschriften für den Erhalt des Schulfaches eingegangen. Die Astronomie lebt! e.V. nennen die Kinder denn auch optimistisch ihre Initiative. Bei einer Anhörung des Petitionsausschusses sprachen sich außerdem sieben von neun Experten für den Erhalt der Sternenkunde aus. Nun muss der Schulausschuss des Parlamentes entscheiden. Doch zumindest beim Vorsitzenden Lars Rohwer (CDU) stößt derlei Enthusiasmus auf Reserviertheit. »Wann wir uns damit befassen werden, weiß ich nicht.« EU-STUDIE ZU FETTSUCHT

Warum die Franzosen so schlank sind Angesichts von 200 Millionen übergewichtigen Europäern startet die Brüsseler EU-Kommission jetzt eine Kampagne gegen die Fettsucht. Laut einer Vergleichsstudie leben die dicksten Menschen in Griechenland, Malta und – in der Bundesrepublik. Am besten schneiden die Franzosen ab, die in allen Altersschichten zu den schlanksten Europäern gehören. Des Rätsels Lösung liegt als Bestseller vor: 250 000 Exemplare des Buches French women don’t get fat von Mireille Guiliano, Chefin der Champagnermarke Veuve Cliquot in den USA, wurden bereits verkauft. Die 59 Jahre alte Französin setzt auf einfache Wahrheiten: »Sofort mit allen Diäten aufhören und bewusster genießen.« Sie empfiehlt, niemals mit den Fingern zu essen, sondern sich bei den Mahlzeiten hinzusetzen, Messer und Gabel zu benutzen und die Speisen mit allen Sinnen zu erleben – was die Nebenbeiverpflegung vor dem Fernseher oder unterwegs strikt ausschließt. Weitere Ratschläge – stets nur Frisches zu kochen etwa – sind zweitrangig. Hauptsache, man trinke viel Wasser und gönne sich Wein nur zu Mahlzeiten. »Genießen«, sagt sie, »ist besser als alle Verzichtsappelle.« MICHAEL MÖNNINGER

Lehmann: Da müssen Sie mal überlegen. Das sind

Lehmann: Um ihn herum spielt sich unser Famili-

doch Begriffe, die von den Medien kreiert wurden, nicht von uns Spielern. ZEIT: Einen Wunsch haben Sie frei. Lehmann: Die Null würde viel Spielraum für Interpretationen geben. ZEIT: Als 1974 zuletzt eine Fußball-WM in Deutschland stattfand, posierte Günter Netzer neben seinem Ferrari, und Franz Beckenbauer präsentierte sich im Pelzmantel. Heute fällt auf, dass viele Nationalspieler sich extrem aus der Öffentlichkeit fernhalten, auch Sie. Woran liegt das? Lehmann: Ich kann als Spieler, wenn ich konstant und dabei noch gut spielen will, nicht Werbetermine, Partys, Fernsehauftritte und sonst noch etwas machen. Das sehen Sie immer wieder. ZEIT: Aber Sie haben noch nicht mal eine eigene Internet-Seite, anders als eigentlich alle Ihre Kollegen. Lehmann: Weil bei mir in England jedes Wort vom Boulevard aufgegriffen und verdreht werden würde. ZEIT: Und doch öffnen Sie sich jetzt – quasi pünktlich zum Anpfiff. Hier mit diesem Interview, und im Magazin stern waren neulich sogar Fotos Ihres Londoner Hauses zu sehen: eine heimelige Backstein-Welt mit Kerzen und Klavier, mit einem großen Familienholztisch, im Garten knorrige Obstbäume, ein Trampolin für die Kinder. Was erzählt das über Sie? Lehmann: Das ist mein Familienleben, es wird mehrheitlich von meiner Frau geprägt. Ich find’s schön. Ich komme gerne nach Hause. ZEIT: Lässt sich in Ihrer Wohnungseinrichtung ein Streben nach Normalität erkennen? Lehmann: Ich denke schon, dass ich normal bin. ZEIT: Den Tisch haben Sie mit ausgesucht? Lehmann: Ja, zusammen mit meiner Frau. ZEIT: Und? Sollen wir ihn jetzt zum Gegensymbol zum aufgeregten Fußballkosmos überhöhen?

enleben ab. Wenn Freunde von uns kommen, die auch drei Kinder haben, brauchen wir viel Platz. Er ist standfest. Aus Eiche, wenn ich mich nicht irre. Sehr robust. Und Flecken kriegt man sehr gut weg. ZEIT: Klinsmanns Mannschaftspsychologe würde all das im Vergleich zu Netzers Extrovertiertheit 1974 vermutlich als Rückzug in eine Art neue Bürgerlichkeit deuten, oder? Lehmann: Als Spießbürgertum bestimmt. ZEIT: Und aus den Namen Ihrer Kinder – Lasse, Mats und Lieselotta – ließe sich dann noch eine gewisse Empfänglichkeit für die überschaubare Bullerbü-Welt der Astrid Lindgren lesen? Lehmann: Ja. Meine Frau und ich haben die Bücher als Kinder vorgelesen bekommen und lesen sie jetzt wieder unseren Kindern vor. Wir finden das schön. ZEIT: Spielen Sie überhaupt auf dem Klavier, das in Ihrem Haus steht? Lehmann: Leider nicht. Vielleicht lerne ich es noch. ZEIT: Und wann haben Sie zuletzt eigenhändig den Rasen vor Ihrem Haus gemäht? Lehmann: Daran kann ich mich nicht erinnern. ZEIT: Aber Sie spielen Fußball mit Ihren Kindern? Lehmann: Ja. Im Garten. Mats, Lasse und ich. ZEIT: Lassen Sie mal absichtlich einen rein, wenn Sie im Tor stehen? Lehmann: Eigentlich andauernd. Ich mache es aber so, dass sie es nicht merken. ZEIT: Würden Sie Ihren Söhnen abraten, Torwart zu werden? Lehmann: Ja. ZEIT: Warum? Lehmann: Druck zu groß. ZEIT: Das war jetzt ein Oliver-Kahn-Satz. Lehmann: Kann sein.

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DAS INTERVIEW FÜHRTE HENNING SUSSEBACH

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Reizender Frühling In diesen Wochen schwirren ebenso viele Pollen umher wie Weisheiten über den Heuschnupfen.Welche davon sind wahr, welche nicht? 13 Antworten von unserem »Stimmt’s?«-Kolumnisten CHRISTOPH DRÖSSER

»In der Stadt ist’s schlimmer, weil sich Autoabgase mit Pollen verbinden« In Städten kann das Immunsystem tatsächlich heftiger reagieren. Rußpartikel binden sich an die Pollen und verändern ihre Struktur. Dadurch dringt auch ein Teil derjenigen allergenen Proteine an die Oberfläche, die normalerweise in den Pollen eingeschlossen bleiben – und reizen die Schleimhäute zusätzlich. Die Umweltmedizinerin Heidrun Behrendt von der Technischen Universität München vermutet, dass die aggressiveren Stadtpollen sogar allergische Reaktionen bei Menschen hervorrufen, die normalerweise nicht unter Heuschnupfen leiden. Hinzu kommt, dass die hohe Konzentration von Kohlendioxid in der Stadtluft die Pollenproduktion der Pflanzen noch anregt.

»So schlimm wie dieses Jahr war es noch nie« In diesem Jahr kam der Frühling spät, und ebenso hat sich der Pollenflug vieler Gräser und Blumen verzögert. Dieser »synchrone« Pollenflug führt dazu, dass sich dieselbe Erreger-Menge über einen kürzeren Zeitraum verteilt, es liegt mehr in der Luft. So könnte es jedenfalls sein – Daten decken diese Vermutung jedoch noch nicht, warnt der Pharmakologe Theo Dingermann. Vielleicht ist es auch nur der bekannte Effekt, dass man die aktuellen Beschwerden immer besonders stark wahrnimmt.

»Alkohol und Tabakrauch machen alles noch schlimmer« Abgesehen davon, dass wohl kein Mediziner zu übermäßigem Alkoholgenuss rät, gibt es keine Erkenntnisse darüber, dass Alkohol einen Einfluss auf den Heuschnupfen hat. Allenfalls kann er die Wirkung der Medikamente beeinträchtigen. Rauchen dagegen ist eindeutig schädlich. Der Qualm greift die Schleimhäute und Bronchien an, führt zu Entzündungen der Atemwege und erhöht die Anfälligkeit für Allergien. Raucher sollten zumindest in der gefährlichen Zeit auf die Zigarette verzichten.

»Bei den meisten fängt’s in der Pubertät an« Stimmt nicht – die meisten entwickeln ihre Allergie schon in der frühen Kindheit. Kinder mit zwei allergischen Eltern erkranken doppelt so oft wie Kinder mit nur einem kranken Elternteil. Die Pubertät ist eine Zeit der hormonellen Umstellung, und die kann positive und negative Einflüsse auf den Heuschnupfen haben. Selbst im Erwachsenenalter kann sich die Allergie noch entwickeln.

»Wer nicht aufpasst, bekommt Asthma«

»Bloß nicht mit offenem Fenster schlafen«

»In der DDR gab’s das nicht«

Die beste Maßnahme gegen Allergien ist es, die auslösende Substanz zu meiden, »Allergenkarenz« nennen das die Experten. Wer also eine Birke vor dem Schlafzimmerfenster stehen hat und gegen Birkenpollen allergisch ist, wäre dumm, wenn er das Fenster offen stehen lässt. Der Pharmakologe Manfred Schubert-Zsilavecz empfiehlt sogar: »Am besten sind Klimaanlagen, die mit einem guten Pollenfilter versehen sind.« Wer diese Investition scheut oder sich in klimatisierten Räumen nicht wohlfühlt, für den hat der Pharmakologe Theo Dingermann einen Tipp für die beste Lüftungszeit: »Lüften sollte man auf dem Land abends zwischen 19 und 24 Uhr, in der Stadt morgens zwischen 6 und 8 Uhr.«

Es war nicht alles schlecht – für den Heuschnupfen stimmt diese Aussage. Zwar gab es in der DDR nicht weniger Pollen in der Luft, aber die Menschen haben weniger allergisch darauf reagiert. Überhaupt nehmen Allergien mit wachsendem Wohlstand zu. »In der DDR war es dreckiger als bei uns«, sagt der Pharmakologe Manfred SchubertZsilavecz von der Universität Frankfurt am Main. »Das Immunsystem entwickelt sich vor allem in den ersten zwei Lebensjahren, in dieser Zeit muss man ausreichend mit Dreck in Berührung kommen, das dient der Abhärtung.« Dafür gab es im Osten aufgrund des ätzenden Braunkohlerußes häufiger andere Atemwegserkrankungen wie Bronchitis. Heute haben sich die Zahlen in Ost und West angeglichen.

»Eigentlich sollte man eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff buchen«

»Diese Allergiker sind ja nicht wirklich krank« »Das kann nur einer sagen, der noch nie darunter gelitten hat«, protestiert der Dermatologe Thomas Bieber von der Universität Bonn. Heuschnupfen ist eine schwerwiegende chronische Erkrankung und sollte nicht zu locker genommen werden. Wenn man ihn nicht behandelt, kann er zu schlimmeren Erkrankungen führen (siehe: »Wer nicht aufpasst …«).

»Bei den Ursachen tappt die Forschung im Dunkeln«

Auf dem offenen Meer gibt es keine Bäume und Wiesen – der Tipp ist also durchaus berechtigt. Allerdings kann sich nicht jeder Kreuzfahrten leisten, die so lange dauern, wie es in Augen und Nase juckt. Und ganz konsequente Allergiker müssten bei der Kreuzfahrt auch auf den Landgang verzichten.

»Heuschnupfen bleibt ein Leben lang«

Bei dem Satz schreien natürlich viele Experten auf. »Es gibt kaum ein Gebiet der Forschung, in dem man so viel Fortschritt gemacht hat«, sagt der Dermatologe Thomas Bieber. Richtig ist, dass der Mechanismus der Allergie gut bekannt ist, also wie das Immunsystem auf Erreger antwortet. Die entscheidende Frage aber, warum ein Mensch völlig unbehelligt von Pollen ist und der andere mit einer überschießenden Reaktion der Körperabwehr reagiert – darauf hat die Wissenschaft noch keine befriedigende Antwort. Vornehm drückt das Theo Dingermann aus: »Das Geschehen ist komplex und multifaktoriell, und letztlich kann man immer nur Risiken abschätzen.«

»Immer mehr Leute bekommen Heuschnupfen«

Die Gefahr bleibt ein Leben lang, aber ansonsten kann man gegen den Heuschnupfen etwas tun. Das einfachste, aber auch banalste Mittel: vor den Pollen fliehen. »Man kann den Allergenen ausweichen, indem man zum Beispiel in die Antarktis zieht«, sagt der Pharmakologe Manfred Schubert-Zsilavecz. Bevor es am Südpol voll wird: Es gibt eine ursächliche Behandlung, die so genannte Hyposensibilisierung. Dabei werden dem Patienten die Allergene in immer höherer Dosierung gespritzt, bis er eine Resistenz entwickelt. Die hält bis zu zehn Jahre lang an, dann muss die Therapie wiederholt werden.

Ein Drittel bis die Hälfte der Pollenallergiker entwickeln im Laufe ihres Lebens eine schwere Asthma-Erkrankung. »Etagenwechsel« nennen Mediziner dieses unschöne Phänomen. Was bedeutet »nicht aufpassen«? Der Allergologe Thomas Fuchs von der Universität Göttingen: »Nicht zum Facharzt gehen und immer nur mit Cortison und Antihistaminika behandeln.« Denn dadurch werden nur die Symptome unterdrückt, und der Heuschnupfen kann sich ungestört weiterentwickeln.

Das gilt nicht nur für Heuschnupfen, sondern für alle Arten von Allergien – sie nehmen in unserer Gesellschaft zu. Die Experten rechnen heute mit zwölf Millionen Pollen-Allergikern in Deutschland. Manfred Schubert-Zsilavecz führt das auf unsere gestiegene Hygiene zurück, deretwegen unser Immunsystem nicht genügend Training erfährt (siehe auch: »In der DDR …«). Mitschuld trägt auch die Globalisierung: »Durch den Import von Obst und Gemüse werden wir mit immer unterschiedlicheren Substanzen konfrontiert, auf die unser Körper nicht eingestellt ist.«

»Koffein hilft gegen Heuschnupfen« »Das ist Quatsch«, sagt der Pharmakologe Manfred Schubert-Zsilavecz. Er erklärt sich dieses Vorurteil damit, dass die ersten antiallergischen Medikamente eine sedierende Wirkung hatten, und gegen diese Müdigkeit half manchmal ein starker Kaffee.

Illustration: Julia Guther für DIE ZEIT

MITARBEIT: SARA MOUSLY

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McKinsey und ich lles begann im Sommer 2005. Ich war Journalistikstudentin, kurz vor dem Abschluss. Im Internet las ich, dass McKinsey junge Berater suchte. Ich bewarb mich, weil ich herausfinden wollte, wer diese Mächtigen sind, die neuerdings nicht nur Unternehmen beraten, sondern auch die Politik. »Wir wählen Eliten aus«, behauptet McKinsey über sein Auswahlverfahren. Wie das funktioniert, wollte ich wissen. Am Anfang war es eine ausschließlich journalistische Recherche, aber aus ihr wurde mehr als ein flüchtiger Flirt. Meine schriftliche Bewerbung schien McKinsey gefallen zu haben. Und so klingelte am ersten Tag meines Lebens als Berater-Anwärter der Wecker um 4 Uhr 30 – ich sollte mich wohl an die 80-Stunden-Wochen, in Beraterkreisen üblich, gewöhnen. »Der erste Monat wird schmerzen. Egal, was ihr vorher gemacht habt, McKinsey wird härter sein«, wird der Berater Sean aus Irland am Abend sagen. McKinsey hat 120 Studenten aus ganz Europa zum Kennenlernen vier Tage lang nach Griechenland eingeladen, nach Kap Sounio unter dem Poseidon-Tempel in der Nähe von Athen. Das Unternehmen bezahlt Business-Class-Flüge, Fünf-Sterne-Hotel und einen Segeltörn. Am Flughafen Berlin-Tegel suche ich die anderen Bewerber, halte Ausschau nach Polohemden, Anzugsäcken oder dicken Uhren. Stattdessen sehe ich eine Frau mit den gleichen Sneakern, wie ich sie besitze. Goldgelb sind die Turnschuhe und nicht wirklich business-like. Ich trage meine jeden Tag, nur heute habe ich mich in die schicken Stiefel meiner Mitbewohnerin gequetscht. Die Sneakers gehören zu Johanna. Sie hat Medizin studiert und würde gerne als Gynäkologin in der Uniklinik arbeiten, um Brustkrebspatientinnen zu helfen. Aber Johanna stört, dass sie im OP oft angeschrien wird, dass sie endlos lange Schichten schiebt und trotzdem nur 1800 Euro brutto verdient. Deshalb überlegt sie jetzt, bei McKinsey anzufangen. Ein Angebot für ein Praktikum hat sie schon, unglaubliche 4000 Euro brutto würde sie pro Monat verdienen. »Das viele Arbeiten schockt mich nicht«, sagt sie. »Das mache ich in der Klinik ja auch.« Das alles klingt sehr logisch. Ich bin verwirrt. Ich hatte nicht erwartet, hier Menschen wie Johanna zu begegnen. Am Nachmittag ziehen wir zu Carmina Burana-Klängen in den großen Konferenzsaal des griechischen Luxushotels ein. »Hello, hello, hello«, ruft ein Berater zur Begrüßung. »Ihr wollt wissen, warum ihr hier seid? Ihr seid brillant in dem, was ihr tut. Deshalb haben wir euch hierher eingeladen.« Wir alle hätten es in der Schule oder an der Uni zu echtem leadership gebracht. Ich schaue durch die Reihen und sehe, dass die meisten sehr zufrieden zuhören. Ich bin irritiert, denn es ist das erste Mal, dass mich jemand als Elite bezeichnet. Es schmeichelt mir, ich will aber nicht zulassen, dass es mir gefällt. Wir können es mit ihnen nach ganz oben schaffen, sagt uns McKinsey. Teure Hotels, schnelle Autos, schöne Reisen, Macht und Einfluss: Das alles kann uns gehören, wenn wir uns für das Unternehmen entscheiden. Beim Begrüßungsdinner bringt uns ein McKinseyBerater gleich die entscheidende Lektion in Sachen Weltbild bei. Er saniert gerade eine große italienische Fluggesellschaft. Ob er auch Angestellte feuern müsse, frage ich. Ja, das käme vor und sei natürlich nicht schön, antwortet er. Wichtig sei, es gut zu machen. Es gäbe eben Gewinner und Verlierer im Leben, und vor allem Letztere seien resistent gegen Veränderung. Denen müsse man helfen, einzusehen, dass sie am falschen Platz seien. Für viele würde sich das Ausscheiden aus dem aktuellen Job auf lange Sicht auch als positiv erweisen. Ich will wissen, ob die Einteilung in Gewinner und Verlierer nicht deswegen so angenehmen sei, weil man selbst zu den Gewinnern gehöre? »Provokante Frage«, er scheint sich darüber zu freuen. Aber was könne er dafür, dass er ein Gewinner sei? In den Unterlagen, die McKinsey mir vor der Reise zugeschickt hat, steht, dass true leaders vier Eigenschaften haben sollten: Schwäche zeigen können, Instinkt beweisen, sich in ihre Mitarbeiter hineinversetzen und anders sein als alle anderen. Klingt nicht sehr konkret, aber John Kent soll das Ganze jetzt mit Inhalt füllen. Er ist Direktor im Londoner Büro. Er zeigt ein Video, in dem Spieler mit weißen und schwarzen Shirts einen Basketball hin- und herpassen. »Zählt, wie oft die Weißen den Ball spielen«, fordert uns John auf. Ich zähle die

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Pässe, ein komischer Gorilla läuft durchs Bild, ich zähle weiter. Danach will John wissen, wie oft der Ball gepasst wurde. Dreizehn, vierzehn, siebzehn Mal? Wir sind uns nicht einig. John sagt, dass die Realität für jeden eben anders sei. Ein wahrer Führer müsse in der Lage sein, für seine Gefolgschaft die Realität zu definieren. Dieser Gedanke beschäftigt und erschreckt mich. Werden Führungskräfte wirklich dafür ausgebildet, die Mitarbeiter im Sinne der Firma zu manipulieren, gar zu täuschen? Rät McKinsey den Vorständen, so vorzugehen? Vielleicht bin ich naiv. John ist derweil schon beim Kern seiner Vorführung. »Wer hat im Film einen Gorilla gesehen?«, will er wissen. Ich melde mich. Die meisten aber lassen die Hand unten. John freut sich. Dieser Test würde beweisen, dass wir ihn in diesem Moment als Führer akzeptiert hätten. Er hätte uns angewiesen, auf die Pässe zu achten. Die meisten seien gefolgt. »Leadership is about seeing the gorilla«, wiederholt John mehrmals. Führer würden die Aufmerksamkeit ihrer Mitarbeiter auf bestimmte Aufgaben lenken können, selbst aber gleichzeitig das wirklich Wichtige, den Gorilla, sehen. Diese Veranstaltung verwirrt mich immer mehr. Johns Weisheiten finde ich bedenklich und banal zugleich. Aber seine Vorführung wirkt: Viele meiner Kollegen werden in den nächsten Tagen begeistert von der Gorillageschichte erzählen. Am nächsten Tag dürfen wir segeln. Mein Vater träumt seit Ewigkeiten davon, einmal in der Ägäis zu segeln. Für uns hat McKinsey 21 Jachten gemietet. Neben mir an Deck sitzt Charlotte. Sie erzählt von ihren Kinderwünschen. »Ich will mindestens vier oder sechs«, sagt sie. Charlotte ist offener als die Berater, die ich bislang getroffen habe, sie ist nicht so künstlich begeistert von allem, was sie tut. Als sie 22 war, hat sie bei McKinsey angefangen. »Ich war völlig naiv damals«, erzählt mir Charlotte. »Ich habe gesagt, ich mache nur kulturelle Projekte und ich werde niemals Kosten reduzieren, also Leute entlassen.« Ihr erstes großes Projekt sei dann bei einem Hersteller von Kupferrohren gewesen. »Es war klar«, sagt Charlotte »dass die entweder Kosten sparen oder ganz dicht machen mussten.« Charlotte legte fest, in welchen Abteilungen wie viele Personen entlassen werden mussten und tat, was kurz vorher für sie undenkbar gewesen wäre. Danach saß Charlotte in einer wichtigen politischen Kommission, kümmerte sich um die Arbeitsagentur. »Ich habe den Mitarbeitern gesagt, wie sie die Arbeitslosen begrüßen sollen, habe die Laufwege in den Ämtern gemessen und versucht, das alles zu optimieren.« Ich fühle mich langsam überwacht. Weiß McKinsey, dass mich Zahlen und Bilanzen nicht locken, dass es mich eher reizt, als Berater Einfluss auf politische Prozesse zu nehmen? Sitzt deshalb Charlotte neben mir im Boot und berichtet von den Möglichkeiten jenseits der Privatwirtschaft? Mit Rosa, einer Spanierin, rede ich am Abend über unsere Mitbewerber. »Diese Leute sind mir unheimlich«, sagt sie. Das Unterneh-

Wir werden trinken, tanzen und knutschen – McKinsey tut alles, damit wir diese Nacht nicht vergessen

men hat sich hier vor allem leistungsbereite junge Leute, meistens aus wohlhabenden Verhältnissen, eingeladen, die den Gedanken, dass sie Europas Elite sind, nicht nur reizvoll, sondern auch nachvollziehbar finden. McKinsey suggeriert uns, dass wir wertvolle Persönlichkeiten sind, die das leadership-Gen in sich tragen. Das schmeichelt jedem hier. Die Tage in Athen sollen der erste Schritt dazu sein, aus uns eine Gruppe zu machen, die sich überlegen fühlt. Am Abschlussabend gibt es eine Party. McKinsey hat einen DJ gebucht, in der Hotellobby einen großen Tresen aufgebaut, hinter dem zwei Barkeeper mit Wodkaflaschen und einem Cocktailshaker jonglieren. Die Berater tanzen ausgelassen. Unser Leben macht Spaß, suggeriert jede Drehung. »Work hard, party hard« ist das Motto der McKinseys. Für viele der gerade 20-jährigen Studenten, die zum Teil noch zu Hause wohnen, wird das eine der eindrucksvollsten Partys ihres Lebens werden. Sie werden trinken, tanzen, schwimmen und knutschen. McKinsey hat alles getan, damit sie diese Nacht nicht vergessen werden. Am nächsten Tag fliege ich wieder zurück nach Berlin, ins normale Leben, zurück in

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meine Hinterhaus-WG. »Du bist anders als vor vier Tagen«, sagt mein Freund. »Du redest so betont cool. Du schwärmst von den tollen, hochintelligenten Leuten. Von ihren acht Sprachen, ihren ausgefallenen Hobbys. Ich hoffe, du kannst jetzt hier mit den Normalen auch wieder leben.« Die Normalen, meine Freunde, jobben, schreiben Bewerbungen, haben Angst vor der Zukunft. Nach McKinseyMaßstäben sind die meisten Menschen, die ich mag, wohl eher Verlierer. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr nimmt die ferne McKinsey-Welt dann wieder Kontakt mit mir auf. Erst spricht mir Charlotte auf die Mailbox, dann lädt man mich zum Auswahltag ins Berliner Büro ein – nach dem

Mein Freund sagt: »Du bist so anders seit vier Tagen. Du redest so betont cool«

Kennenlernen in Griechenland wollen sie mich nun testen. Am Tag darauf bereits meldet sich Charlotte per Mail. »Bist du jetzt in einer Art Sekte?«, scherzt mein Freund. Ich finde das wenig lustig und bin kurz davor, meine Erkundungen abzubrechen. Doch die Neugier siegt. Ich melde mich zum Auswahltag an. Am Abend zuvor soll ich noch zu einem Essen bei einem Italiener kommen. Johanna, die Gynäkologin, hat alles inzwischen schon hinter sich. 80 000 pro Jahr und ein Auto – die Gynäkologie kann da nicht mithalten. Im nächsten Frühjahr fängt sie bei McKinsey an. »Wenn ich mich verändere, höre ich sofort auf«, sagt sie. Ich frage mich, ob die Stereotype, die unter »Berater« in meinem Kopf abgelegt sind, nicht zu simpel sind. Ich mag Johanna. Sie ist weder ein kalter cost cutter noch ein Workaholic. Das Restaurant La Vigna liegt nur ein paar hundert Meter vom Berliner Büro der Firma entfernt. »Wir sind heute nur zu eurem Entertainment da. Wir können über Gott und die Welt reden«, sagt ein Berater. Nette Geste, dieses Dinner, denke ich. Später wird über Privates gesprochen, teilweise sehr lustig. Ein Berater erzählt von seinem Umzug, in den Norden der Stadt. Warum?, will ich wissen. »Ich möchte zwar«, sagt Christian, »dass mein Kind zweisprachig aufwächst. Aber deutsch-türkisch muss es nun wirklich nicht sein.« Ich trete mir auf den Fuß und schlucke eine bissige Antwort hinunter. Als Imke gehen will, komme ich mit. Sie fragt, wie mir der Abend gefallen habe. »Einige Leute waren nett, einige nervig. Wie überall«, antworte ich. In dieser Nacht schlafe ich kaum. Meine Mitbewohnerin hat Gäste, die bis zum Morgen kiffen. Der Rauch zieht auch in mein Zimmer. Ich stelle mir vor, wie sich die Klamotten, die ich extra gekauft habe, mit schweren, süßen Düften vollziehen. Sie werden mich gleich wieder wegschicken, wenn ich so rieche, denke ich. Am nächsten Morgen fahre ich müde zum Kurfürstendamm, um kurz nach acht Uhr, gerade noch pünktlich, finde ich das McKinseyBüro. »Headquarter Bewerber« steht an einer Tür. Hier muss ich rein. Obwohl ich mich in Bluse und Cordjackett fast verkleidet fühle, bin ich völlig underdressed. Meine neun Mitbewerber tragen schwarze Anzüge und Krawatte. Ich bin froh, als es endlich losgeht. Zuerst muss ich rechnen. 15 Aufgaben in 45 Minuten. Bei den meisten genügt es, ein paar Dreisätze aneinander zu hängen. Mathematik neunte Klasse, gepaart mit Denksport. Doch es sind viel zu viele Aufgaben, und mein Problem ist, dass ich schon seit Jahren nicht mehr schriftlich dividiert habe. Ich nehme mir vor, bei den Interviews alles zu geben, schon der Ehre wegen. Die Interviews laufen gut. Ich werde über meine Psyche ausgefragt, wie ich mich in Konflikten verhalte. Danach muss ich Beispielfälle lösen. Ich soll eine Kalkulation für ein Theater aufstellen und erklären, warum eine Tankstelle zu wenig verdient. Die Aufgaben sind teilweise banal, teilweise knifflig. Was das mit der späteren Consultant-Arbeit zu tun haben soll, verstehe ich nicht. Warum das Lösen dieser Denksporttests mich als berechtigt elitär ausweist, begreife ich erst recht nicht. Außerdem wundere ich mich, dass niemanden hier stutzig macht, dass ich als Journalistin arbeite, in einem Gespräch habe ich ihnen auch erzählt, dass ich für das ARD-Magazin Monitor arbeite. Keiner scheint sich zu fragen, ob ich den Job

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Foto: Moussavi Majid für DIE ZEIT

Zwecks verdeckter Recherche bewarb sich die Journalistin JULIA FRIEDRICHS bei McKinsey, einer mächtigen, aber zugeknöpften Beraterfirma. Ein halbes Jahr dauerte das bizarre Auswahlverfahren, in dem sie Menschenbild, Größenwahn und Verführungskünste des Unternehmens kennen lernte

Julia Friedrichs vor dem FIRMENBÜRO in Köln, in dem ihr ein Vertrag angeboten wurde

vielleicht gar nicht will, ob ich nur auf verdeckter Recherche bin. McKinsey scheint so von sich überzeugt zu sein, dass es diesen Gedanken gar nicht in Erwägung zieht. Knapp zwei Stunden müssen wir warten, bis die Berater unsere Leistung bewertet haben. Sieben von uns werden ausscheiden, nur drei werden die nächste Runde erreichen. Einzeln werden wir schließlich aus dem Raum geführt. »Es ist gut ausgegangen«, sagt mein Berater sofort. »Wir waren ganz begeistert. Wir hatten nur zwei Sachen zu kritisieren: Sie sind zu konfrontativ, und Sie schießen oft aus der Hüfte, ohne genau Bescheid zu wissen.« Ich bin beeindruckt. Genau diese Schwächen hätte ich mir auch attestiert. Mit einem Unterschied: Ich kenne mich schon länger als einen Vormittag.

In einem weiteren Interview am Nachmittag soll ich nun zeigen, dass ich kompromissbereit bin und nicht permanent bluffe, wenn ich etwas nicht weiß. Bis ich dran bin, dauert es noch über eine Stunde. Ich gehe raus, in den Schnee, vorbei an Läden von Prada und Piaget. Das könnte jetzt meine Welt werden, denke ich. Ich schaue in die Schaufenster, sehe Stiefel für 800, eine Tasche für fast 1000 Euro. Das alles kannst du haben, flüstert mein materialistisches Ich. Meine Großmutter, die in der Fabrik gearbeitet hat und für die Journalismus eher ein Hirngespinst ist, würde stolz von mir erzählen. Meine Eltern würden aufhören, sich um meine Zukunft zu sorgen. Bisher prägten Praktika und freie Mitarbeit mein Arbeitsleben. Eine feste Stelle, Sicherheit, eine relativ sorglose Zukunft – das alles gehörte für mich

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bisher zu dem Leben, das die Generation meiner Eltern führt. Jetzt wäre das alles zu haben, ich müsste nur noch ein Gespräch überstehen. An diesem Nachmittag um kurz nach vier erscheint mir die Idee, tatsächlich Unternehmensberater zu werden, zum allerersten Mal real. Warum eigentlich nicht? Dieser Gedanke hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Ich gehe zurück ins Headquarter. Eine Beraterin besorgt mir einen Tee, weil ich so verfroren aussehe. Nette Leute hier, denke ich und lese mir zum ersten Mal genau durch, wie McKinsey die Stelle beschreibt, für die ich mich beworben habe. »Zunächst sind Sie zwei Jahre als Berater tätig und werden im dritten Jahr – unter Fortzahlung Ihres Gehalts – für einen MBA oder eine Promotion

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freigestellt.« Die bezahlen tatsächlich meine Doktorarbeit? »Kommen Sie mit?«, reißt mich Frank Schloss aus meinen Gedanken. Er soll feststellen, ob ich tatsächlich zu gern streite und nie nachgebe. »Was war denn«, fragt er, »der größte Kompromiss in Ihrem Leben?« Ich denke sehr lange nach, zu lange, glaube ich. Jetzt gelte ich doch als stur und nicht teamfähig. »Wir haben Mäuse in der WG«, fange ich vorsichtig an. »Und mein Mitbewohner ist Veganer, ziemlich streng. Für ihn sind Schlagfallen Mordinstrumente. Ich finde Mäuse aber unhygienisch.« Frank Schloss grinst. Ich erzähle weiter: »Er war lange auch gegen Lebendfallen, weil man ja nicht wisse, ob Mäuse dort, wo man sie aussetzt, sozialen Anschluss finden. Vier Wochen ist nichts passiert. Die Mäuse wurden immer frecher. Dann durften wir doch Lebendfallen aufstellen, allerdings nur mit Nutella, nicht mit Speck.« Ich berichte, wie ich tagelang die Lebendfallen toleriert habe und dass am Vortag eine Maus direkt an dem für sie gedachten Käfig vorbeigelaufen sei. »Der Kompromiss dauert jetzt ein paar Wochen«, sage ich. »Aber morgen werden wir Schlagfallen neben die Lebendfallen stellen. Dann können die Mäuse zwischen Exil und Freitod wählen.« Schloss lacht. »Diese Geschichte ist jetzt schon legendär«, sagt er. »Ich weiß zwar immer noch nicht, was Sie bei uns wollen, aber ich finde, dass Sie unser Büro bereichern würden.« Ich habe es also geschafft. Verwirrt gehe ich zum Aufzug. 15 000 Kandidaten bewerben sich pro Jahr, nur ein Prozent wird genommen. Warum eigentlich nicht? »Und?«, schickt mein Freund mir aufs Handy. »Sie haben mich genommen«, sage ich leise, als ich ihn zurückrufe. »Und?«, fragt er wieder. »Ich weiß nicht«, druckse ich. »Machst du’s?«, fragt er empört. »Ich weiß nicht«, sage ich wieder. Von Johanna kommt eine SMS. »Siehste«, schreibt sie. »Jetzt bist du offiziell Elite. Tja, was bedeutet das jetzt? Wir sind toll? Doch alles Schmu?« »Du musst jetzt selber entscheiden, was Du tust«, sagen meine Eltern und meinen damit, dass ich Ja sagen soll. Mein Vater ist Sozialdemokrat und somit ein natürlicher Feind des Unternehmensberater-Kapitalismus, dachte ich bislang zumindest. Aber gegen den Journalismus hatte er schon immer etwas. Und ich? Ich bin müde. Sofort werfe ich mich zu Hause mit meinen schicken Beraterbewerbungsklamotten aufs Bett und schaue Verbotene Liebe. Nur nicht nachdenken. Ein paar Tage später ruft McKinsey an: »Herzlichen Glückwunsch. Das hat ja alles toll geklappt.« Ich soll Anfang Dezember nach Köln kommen und dort mit einem McKinsey-Partner alles klar machen. Bis dahin sind ja noch zwei Wochen, denke ich und sage zu. In Köln residiert McKinsey in einem Glastempel. Als ich reingehe, bin ich unsicher, fühle mich fremd. Ich schleiche durch die Empfangshalle und sage leise: »Ich hatte hier einen Termin.« – Für das Final Interview?«, fragen die Damen hinter dem Tresen strahlend und führen mich sofort zu meinem McKinsey-Berater. Er hat silbrigen Glitzer im Gesicht, winzige Lamettateilchen. Ich starre die

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ganze Zeit auf den Glitzer, statt mich auf unser Gespräch zu konzentrieren. Das ist aber auch nicht nötig. Denn nach einem kurzen Small Talk zieht er bereits den Vertrag aus der Tasche. Mein Name steht schon drauf. Alles ist geregelt: Ich bekomme einen dreiwöchigen Wirtschaftskurs in Kitzbühel, darf 25 Tage Urlaub pro Jahr machen und mir natürlich ein Auto aussuchen. Und dann steht da auch noch mein Gehalt: Im ersten McKinsey-Jahr verdiene ich mehr als 60 000 Euro, je nach Leistung maximal 67 000 Euro. Ein bisschen weniger als Johanna, weil ich keinen Doktortitel habe. 67 000. Bis vor einem Jahr habe ich von 600 Euro pro Monat gelebt. Mir wird heiß. Ich merke, dass sich mein Gesicht knallrot verfärbt. »Und?«, will der Berater wissen, als wir in seinem Büro sitzen. »Noch Fragen?« Ich nicke. »Woher kommt der Glitter in Ihrem Gesicht?« Er lacht und erzählt, dass er in seinem Büro einen Adventskalender für seine Söhne gebastelt habe und ihm eine Tube mit silbriger Dekorationspaste explodiert sei. »Das Zeug ist überall, geht auch nicht mehr weg.« Und wieder finde ich einen McKinsey-Mitarbeiter nett. Er schlägt vor, dass ich gleich unterschreibe. Ich sage, dass ich den Vertrag erst einmal mit nach Hause nehmen will. Ich zögere und zweifle. Die McKinsey-Welt mag strahlen und glitzern, mich würde sie unglücklich machen. Nach einigen Tagen beginne ich eine E-Mail: »Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich das Vertragsangebot leider ablehne. So attraktiv der Vertrag auch ist, ich möchte nicht darauf verzichten, weiterhin als Journalistin zu arbeiten. Außerdem glaube ich, dass ich nicht die Richtige wäre, um in einem Unternehmen Entscheidungen zu treffen, die eventuell das berufliche Aus für manchen Arbeitnehmer bedeuten würden.« Es dauert lange, bis ich schließlich auf »Senden« klicke.

Die meisten Tests lassen sich mit Mathematik der neunten Klasse und ein wenig Denksport lösen

Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. McKinsey hat sich für meine offenen Zeilen bedankt und das Vertragsangebot bis zuletzt trotz meiner Absage aufrechterhalten. Ich war nie wieder versucht, doch noch zu unterschreiben. Johanna ist inzwischen Beraterin, und ich mag sie noch immer. Sie hat nur selten Zeit. Mein Freund hat sich von der ganzen Geschichte noch nicht erholt. Er müsse, sagt er, nun mit der ständigen Angst leben, dass ich wieder schwach werde, sobald mir jemand Geld, tolle Reisen und ein schickes Auto anbietet.

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Die Autorin ist 26 Jahre alt, wohnt in Berlin. Dieser Artikel erscheint in längerer Fassung auch in Thomas Leifs Buch »Beraten und verkauft« bei Bertelsmann, das in diesen Tagen im Buchhandel erhältlich sein wird

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»Ich werde als Person diffamiert« Ein Gespräch mit dem McDonald’s-Kritiker Eric Schlosser über sein neues Aufklärungsbuch für Kinder – und die Gegenangriffe der Fast-Food-Industrie

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DIE ZEIT: Ihr Nachschlag, Chew On This scheint ja einen ganz schönen Wirbel zu machen. Eric Schlosser: Die vergangene Woche war unglaublich! Schon vor einem Monat hat das Wall Street Journal über interne McDonald’s-Dokumente berichtet, laut denen Aktionen gegen Buch und Film geplant seien. Und jetzt passiert es: Überall, wo ich Chew On This vorstelle, tauchen merkwürdige Gruppen auf, die versuchen, mich als Person zu diffamieren. Obskure Vereine wie Junge Amerikaner für die Freiheit oder Zentrum für Konsumentenfreiheit gehen gegen mich vor, aber auch der kalifornische Restaurant-Verband oder die kalifornische Handelskammer. ZEIT: Wie machen die das? Schlosser: Manche Gruppen schwärzen mich bei Schulen und Radiosendern an: Ich sei eine »ungeeignete Persönlichkeit«, um mit Kindern zu diskutieren; ich ermutigte sie dazu, Drogen zu nehmen. Oder diese Leute verteilen Flugblätter bei den Lesungen und behaupten, ich sei Sozialist und Ausländerfeind. ZEIT: Und Sie vermuten, McDonald’s stecke hinter einigen solcher Aktionen? Schlosser: Offiziell haben sie jeden Zusammenhang bestritten. ZEIT: In der Pressemitteilung zum Erscheinen Ihres Buches heißt es: »Ganz eindeutig teilt Herr Schlosser das Engagement von McDonald’s für Lebensmittelsicherheit, gute Jobs und Lebensmittelqualität.« Schlosser: Es gibt auch eine neue Website, Best Food Nation, da wird wenigstens inhaltlich gegen meine Kritik Stellung bezogen. Auf deren Unterstützerliste stehen allerdings einige der größten Lobbyverbände der Lebensmittelindustrie, vom Amerikanischen Fleisch-Institut bis zu den Vereinigten Eierherstellern. ZEIT: An Gegenwind müssten Sie doch seit der Auseinandersetzung um Ihr Buch Fast Food Nation gewöhnt sein. Schlosser: Nicht in dieser Vehemenz. ZEIT: Die Branche steht immer stärker unter Druck. Immerhin hat Expräsident Bill Clinton gerade eine freiwillige Selbstverpflichtung der Her-

iovanni Trapattoni hat einmal gesagt, wenn er ein ruhiges Leben gewollt hätte, wäre er nicht Fußballtrainer geworden, sondern Eisenbahner. Der Mann, der in den vergangenen 20 Jahre den italienischen Fußball manövriert hat, war tatsächlich vorher stellvertretender Stationsvorsteher in der Hafenstadt Civitavecchia. Aber das wurde Luciano Moggi bald langweilig. Er wollte das Risiko und die Macht. Bei der Staatsbahn beantragte Moggi immer mehr freie Tage, wenn er seinem Hobby nachgehen wollte – Fußballtalente in der Provinz aufspüren und den großen Klubs empfehlen. Schnell bewies er das richtige Handwerkszeug zum Talentscout: eine gute Nase, Verhandlungsgeschick und die Fähigkeit, sich mit allen zu vernetzen, die im italienischen Fußball etwas zu sagen hatten. Fähigkeiten, mit denen Luciano Moggi es zur Grauen Eminenz der teuersten Liga der Welt bringen sollte. Moggi kündigte bei der Bahn und arbeitete für den AS Rom, Lazio Rom, den AC Turin, den SSC Neapel. Er entdeckte die halbe Weltmeisterelf von 1982: Paolo Rossi, Claudio Gentile, Ciccio Graziani, Franco Causio, Gaetano Scirea. »Ach was, König des Transfermarkts, ich habe nur viele Freunde«, sagte er. In Wirklichkeit war er der Schnellste im Haifischbecken. Schon bevor er 1994 beim Rekordmeister Juventus am Hofe der Autobauerdynastie Agnelli

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steller von Softdrinks mit eingefädelt, in amerikanischen Schulen keine überzuckerten Limonaden mehr zu verkaufen. Schlosser: Das finde ich sehr gut. Wobei der beste Politiker bei diesem Thema der republikanische Gouverneur von Kalifornien ist. Arnold Schwarzenegger hat Gesetze vorangetrieben, die auch Fast Food aus den Schulen verdrängen. Dass er dabei sogar gegenüber großen Sponsoren seiner eigenen Partei Rückgrat zeigte, rechne ich ihm hoch an. Kürzlich beschloss zudem die Walt Disney Corporation, ihr Marketing-Abkommen mit McDonald’s nicht zu verlängern. Dabei funktioniert der Hamburger-Konzern auch als eines der größten Spielzeugunternehmen der Welt: Jedes Jahr verkauft oder verschenkt er 1,5 Milliarden Spielzeuge. Gewiss machen die McDonald’s-Leute sich Sorgen, wenn jetzt auch noch mein Buch eine ihrer wichtigsten Zielgruppen anspricht. Und dann der Film … ZEIT: … an dem Sie auch mitgewirkt haben. Auf McDonald’s haben Sie sich ja wirklich eingeschossen. Das sind für Sie offenbar die Bösen. Schlosser: Ich kritisiere keine Personen, sondern Systeme und Denkweisen. ZEIT: Trotzdem, warum immer wieder McDonald’s? Zu viel Zucker und Fett, Zusatzstoffe, schlechte Bezahlung: Das machen doch andere Firmen genauso, sie sind oft bloß noch weniger transparent. Schlosser: McDonald’s war aber ein Pionier für vieles, was in der Lebensmittelbranche passiert. Nach wie vor ist der Konzern der größte Aufkäufer von Rindfleisch, Huhn, Schweinefleisch und Kartoffeln in den USA. Wenn seine Manager morgen beschließen würden, von riesigen, zentralen Produktionsstätten auf lokale Zulieferer umzusteigen und auf frische Zutaten, dann hätte das fundamentale Auswirkungen auf die gesamte amerikanische Landwirtschaft. McDonald’s hat auch in Frankreich und Deutschland eine immense Nachfragemacht. Das heißt nicht, dass andere Ketten weniger problematisch wären. ZEIT: In Deutschland bezieht McDonald’s die meisten Rohstoffe inzwischen von einheimischen Firmen und fliegt sie nicht mehr wie am Anfang von weit her ein. Schlosser: Schön, wenn sie deutschen Bauern Arbeit geben. Aber welche Landwirtschaft fordern sie denen ab? Einer meiner zentralen Vorwürfe gegen die Fast-Food-Ketten ist, dass sie in Tausenden von Filialen komplett einheitliche Produkte haben wollen und dann auf Massenproduktion angewiesen sind. Als würden ihre Speisen nicht auch gut schmecken, wenn es an verschiedenen Orten wegen der anderen Anbauweisen kleine Unterschiede gäbe. ZEIT: Wo liegt das Problem dieser Einheitlichkeit? Schlosser: In den USA werden zum Beispiel mittlerweile bis zu 100 000 Kühe dicht nebeneinander auf den Weiden gehalten und gefüttert, und man verarbeitet sie in Schlachthäusern von nie gekannter Größe. Eine derartige Konzentration der Fleischproduktion bekommt nicht nur den Tieren schlecht, sie ist zugleich die perfekte Voraussetzung für die Ausbreitung gefährlicher Keime. Ich weiß nicht, ob die Vogelgrippe auch Menschen krank macht. Doch ohne Zweifel hat die asiatische Geflügelproduktion nach US-Vorbild dem Virus perfekte Entfaltungsmöglichkeiten geboten. Die Fabriklandwirtschaft hat das Essen verbilligt. Aber die poten-

ziellen Kosten für Tiere, Konsumenten und Umwelt muss man zum Lebensmittelpreis dazurechnen. ZEIT: Und die Verbraucher? Ein McDonald’s-Sprecher sagte: Gegen Schlossers Meinung stimmen jeden Tag weltweit 45 Millionen Kunden. Schlosser: So schnell lasse ich die Firmen nicht aus der Verantwortung. Die geben jedes Jahr mehr als drei Milliarden Dollar für Marketing aus und die ganze Fast-Food-Industrie dreieinhalb Milliarden allein für Fernsehwerbung. Ihr Einfluss ist riesig. ZEIT: Fast Food erfüllt auch Bedürfnisse: Viele Verbraucher müssen mobil sein, oder sie haben keine Zeit, gezielt einzukaufen und zu kochen. Schlosser: Ich habe doch nichts gegen schnelle Zubereitung, da gibt es eine Menge gesunder Möglichkeiten. Ich habe aber beispielsweise etwas gegen Trans-Fettsäuren. Anderswo ist deren Anteil streng reguliert, denn sie können die Gefäße schädigen. Doch weil unsere Regierung nichts unternimmt, haben Kinder nach wie vor zu viel davon im Essen. Dafür können die Konsumenten ebenso wenig wie für die Verstöße gegen die Versammlungsfreiheit oder die Gesundheitsgefährdungen in amerikanischen Fleischfabriken von Nebraska bis Colorado. McDonald’s als größter Aufkäufer aber steht damit in Verbindung. Nike hat die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen bei seinen asiatischen Zulieferern übernommen. ZEIT: Eher ungewöhnliche Themen für ein Kinderbuch. Interessieren sich Jugendliche für so was? Sind sie überhaupt eigenständige Konsumenten? Schlosser: Ich finde, auch Kinder sollten sich informieren. Sie bekommen nur leider in den USA ihre Aufklärung hauptsächlich von der Industrie. Die macht sich an die Kids heran, wo immer sie sind: bei den neusten Sportstars, im Kino, vor dem Fernseher, vor dem Computerspiel. Ich versuche, den 20 000 Fast-Food-Spots pro Kind und Jahr etwas entgegenzusetzen. ZEIT: Sind Sie selbst als Vater besonders streng? Schlosser: Ich bin kein Purist, und auch meine beiden Kinder kriegen fette Pommes und süße Brownies oder Milchshakes. Aber nur ab und zu, und wenn, dann aus frischen Rohstoffen zubereitet. Wir versuchen, so viele Bio-Lebensmittel wie möglich zu kaufen. Ich klopfe auf Holz: Meine Kinder sind bisher gesund und gut in Bewegung. ZEIT: Wie so viele Kinder in der Mittelschicht. Erreichen Sie mit Ihren Büchern denn auch die ärmeren Familien, in denen es viel mehr Probleme mit Fehl- und Überernährung gibt? Schlosser: Ich versuche es jedenfalls, zum Beispiel indem ich in Schulen lese. Tatsächlich müssten die Regierungen gerade dort etwas tun, wo die Leute wenig Geld haben. McDonald’s bietet zwar mittlerweile auch Salate an. Aber gerade in den Armenvierteln machen sie kräftig Werbung für Ein-DollarMenüs – und für das Geld kriegt man nur Burger. Die Strategie ähnelt jener der Tabakindustrie.

Meister des Betrugs

anheuerte, galt er als berüchtigt: Prostituierte für Schiedsrichter, ein ergaunerter Meistertitel für den SSC Neapel. »Sie malen mich als Teufel an die Wand und ich lasse das gern zu. Denn eine Menge Leute haben Angst vor dem Teufel, und das kommt mir zupass.« Beim AS Rom reichte Präsident Dino Viola ihm den Ellbogen zur Begrüßung, damit er ihm nicht die Hand geben musste. FiatPatriarch Gianni Agnelli sagte herablassend über Moggi: »Der Stallmeister des Königs muss auch die Pferdediebe kennen.« Peinlich achtete Agnelli darauf, niemals zusammen mit seinem Stallmeister fotografiert zu werden. Moggi gewann mit Juventus sieben Meisterschaften. Am Ende drehte sich das ganze Spiel um ihn. Er suchte mit Hilfe bestechlicher Funktionäre die Schiedsrichter für seinen Klub aus, er bestellte Gelbe und Rote Karten und rettete die Konkurrenz AC Florenz und Lazio Rom vor dem Abstieg, wenn sie ihn nur auf Knien darum bat. Gleichzeitig lenkte sein ältester Sohn Alessandro mit Papas Segen den Transfermarkt. Die Vermittlungsagentur GEA von Moggi junior hatte 200 Spieler und Trainer unter Vertrag. Davide Lippi, Sohn des früheren Juve-Trainers und heutigen Nationalcoachs Marcello Lippi, stand dem Familienunternehmen als Berater zur Seite. »Fußball ist nur sonntags ein Sport und an Werktagen eine Industrie wie alle anderen auch«, hat Moggi einmal gesagt.

Wie der Generaldirektor des Juventus Turin den italienischen Fußball manipulierte – und was das über das Land verrät

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ERIC SCHLOSSER,

46, veröffentlichte im Jahr 2001 das Buch »Fast Food Nation«, das seither 1,4 Millionen Mal verkauft wurde. Der amerikanische Autor lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Kalifornien

Fotos: Ragnar Schmuck für DIE ZEIT; Mark Mann

ric Schlossers Mitteilungsdrang in Sachen Fast Food erreicht in diesen Tagen auch die Filmfestspiele in Cannes. Eine Kinoversion seines Sachbuchs Fast Food Nation läuft dort im Wettbewerb – und zwar in Form eines Spielfilms mit den Darstellern Ethan Hawke und Patricia Arquette. Der Regisseur Richard Linklater verwebt darin sechs Episoden aus einer amerikanischen Kleinstadt, die von schlechter Ernährung und Bauernsterben erzählen. Kurz vor dem Filmstart ist Schlossers neues Buch erschienen. Seine heftigen Attacken auf die Hamburger-Industrie setzt er darin fort, wendet sich diesmal aber an jüngere Leser: Er möchte Kindern und Jugendlichen die Gefahren der sich ausbreitenden Fettleibigkeit vor Augen führen und die schlechten Arbeitsbedingungen in der FastFood-Industrie. Bisher ist das Buch nur auf Englisch erschienen, unter dem appettitzügelnden Titel Chew On This – Everything You Don’t Want to Know About Fast Food (»Daran kaut mal – Alles, was ihr nicht über Fast Food wissen wollt«). In den USA löste es sofort erbitterte Diskussionen aus.

Zur Industrie hatte den italienischen Fußball endgültig der AC-Mailand-Patron Silvio Berlusconi gemacht, der die Verknüpfung des Calcio mit Politik, Wirtschaft und Fernsehen perfektionierte. Moggi wurde von Berlusconi geschätzt. Beide arbeiteten nach dem Motto: Die Regeln gelten nur für den, der sie einhalten muss. So wie Berlusconi Gesetze für sich ändern ließ, beherrschte Moggi den Lieblingssport der Italiener. Das System Moggi funktionierte wie der Berlusconismus: Den einen wurde Angst gemacht, den anderen Hoffnung. Und am Ende stand der Gewinn. Luciano Moggis Sturz kam wenige Wochen nach der Wahlniederlage Berlusconis. Vorige Woche hat die Familie Agnelli ihren inzwischen 69-jährigen »Stallmeister« entlassen. Am Sonntag, als Juventus zum 29. Mal Meister wurde, trat Moggi tränenreich ab. »Dieser Fußball ist nicht mehr meine Welt.« Das sagt der Mann, der den größten Fußballskandal aller Zeiten zu verantworten hat. 10 000 abgehörte Telefongespräche untersucht die Staatsanwaltschaft in Neapel, auch in Turin, Rom und Mailand wird ermittelt. Der Verdacht gegen Moggi und seine Helfershelfer – Schiedsrichter vor allem, aber auch Polizisten, Funktionäre, Klubpräsidenten und Journalisten – lautet auf Sportbetrug und Bildung einer kriminellen Vereinigung sowie unlauterer Wettbewerb mit Nötigung. Sogar Menschenraub

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ZEIT: Merkwürdiger Vergleich. Nikotin macht richtig süchtig. Schlosser: Aber auch die Tabakkonzerne haben sich, als die weiße Mittelschicht aufhörte zu rauchen, gezielt die Ärmeren und die Migranten als Kunden vorgenommen. Übrigens sind einige der Grüppchen, die mich jetzt attackieren, ursprünglich von der Tabakindustrie gefördert worden. Früher haben sie gegen jeden gehetzt, der gesagt hat, dass Rauchen der Gesundheit schade. Jetzt schalten sie um auf Fast Food. ZEIT: Die Ärmeren sind nicht nur über Ernährung schlecht informiert, sie können sich auch die teurere Biokost kaum leisten. Schlosser: Das Problem ist eher, dass organic food in ihren Wohnvierteln schwerer zu kriegen ist. Das ungesunde Essen ist übrigens nur deshalb billiger, weil es mit Macht gefördert wird. Die Maissubventionen, die unsere Regierung amerikanischen Farmern zahlt, machen oft sechzig Prozent von deren Einkommen aus. ZEIT: In Deutschland wollen die Verbraucher keine Genpflanzen, in den USA kommen sie auf den Tisch. Wie stehen Sie dazu? Schlosser: Ich kenne zwar bisher keine überzeugenden Belege dafür, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel die Gesundheit gefährden. Aber das Gegenteil ist auch nicht bewiesen. Jedes Arzneimittel muss jahrelang getestet werden. Genmais und -soja hingegen wurden ohne Langzeitstudien im großen Stil eingeführt. Mit den Bewohnern und der Umwelt Amerikas wird ein riesiges Experiment durchgeführt. McDonald’s hat sich übrigens geweigert, gentechnisch veränderte Kartoffeln einzukaufen. Die Genkartoffel war daraufhin in den USA praktisch erst mal kaputt. Auch daran erkennen Sie die Marktmacht des Unternehmens. ZEIT: Reden Sie direkt mit McDonald’s-Managern? Schlosser: Sie haben sich in den vergangenen fünf Jahren geweigert, öffentlich mit mir zu diskutieren. Angeblich will jetzt der England-Chef bei der BBC mit mir auftreten. Das finde ich klasse. ZEIT: Auch in Deutschland reagiert McDonald’s durchaus auf Kritik. In den Restaurants wird jetzt beispielsweise Biomilch angeboten, die Manager treffen sich mit Verbraucherschützern. Woher rührt dieser Unterschied zu den USA? Schlosser: Bei Ihnen in Deutschland scheint mir das Bewusstsein für die Qualität der Nahrungsmittel viel weiter entwickelt zu sein, vor allem seit BSE. Die Fast-Food-Firmen gehen mit ihren Verbilligungsstrategien so weit, wie man sie lässt. ZEIT: Zwei Bücher, ein Film: Sind Sie nicht doch ein Missionar? Schlosser: Ich habe Informationen gesammelt und will etwas gegen Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch tun. Ich bin weder Missionar, noch Fanatiker, noch Kreuzritter. DAS INTERVIEW FÜHRTE CHRISTIANE GREFE

wird ihm vorgeworfen, weil er einmal einen aufmüpfigen Schiedsrichter in der Kabine einschloss und den Schlüssel mit zum Flughafen nahm. Juventus, mit zwöf Millionen Fans einer der populärsten Klubs der Welt, droht zum ersten Mal in 109 Jahren der Abstieg in die Zweite Liga. Und der Bankrott: Die Aktie brach am Montag nach dem Titelgewinn derart ein, das sie vom Markt genommen werden musste. Unter Beschuss steht auch Nationaltrainer Lippi, nicht nur wegen der Geschäfte seines Sohnes mit Moggi junior. Moggi soll seinen früheren Untergebenen – Lippi war unter Moggi fünfmal italienischer Meister – angewiesen haben, möglichst viele GEA-Spieler ins Nationalteam zu berufen. Lippi berief am vorigen Montag gerade einmal drei von 23 Spielern seines Kaders aus der GEA-Kartei. Und dennoch wächst der öffentliche Druck auf ihn. Was sagt all das über die Aussichten der italienischen Nationalmannschaft bei der WM? Italien startete schon einmal, 1982, nach einem gehörigen Skandal zu einer WM. Paolo Rossi kehrte gerade von einer zweijährigen Sperre zurück, seine Nominierung in den Kader sorgte für Entrüstung. Paolo Rossi schoss damals drei Tore gegen Brasilien, wurde Torschutzenkönig und Italien wurde Weltmeister. Moggi erhält übrigens von der Eisenbahn eine kleine Pension. BIRGIT SCHÖNAU

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Osman, der Härtefall

Foto: Rainer Gollmer für DIE ZEIT

as Land, das ihn nach mehr als 17 Jahren nicht mehr will, hat kein Gesicht. Es ist ungreifbar, nur eine Telefonnummer auf vielen Dutzend Briefen und dazu der Name einer Sachbearbeiterin, die all die Briefe unterzeichnete. Wenn Osman El-Zein bei ihr anrief, dann war Frau Haberland nicht da. Dann wollte sie nichts sagen oder hatte gerade keine Zeit. Es ist ein grauer Freitag im April, an dem sich Osman aufmacht, um sein Land zu sprechen. Es gibt da ein paar Dinge, die er klären will, von Angesicht zu Angesicht. Am Ende eines nackten Flurs, im dritten Stock der Ausländerbehörde, öffnet Osman eine Tür, Zimmer 229, Schalter 13. Er betritt einen Sichtschutz-Kasten, der aussieht wie ein großer Beichtstuhl, und drückt ein zerfleddertes Papier gegen die Scheibe, das ihn als Osman Tekin ausweist, geboren 1987, alias El-Zein, geboren 1986. Er sagt, den Kopf etwas geneigt, mit sanfter Stimme: »Ich würde gerne reden, mit Frau Haberland.« Die Frau hinter der Scheibe studiert das Papier, und dann verschwindet sie. Als sie zurückkommt, sagt sie, dass Frau Haberland beschäftigt sei. »Kommen Sie doch Montag wieder.« Im Treppenhaus dieser Behörde hängen auf jeder Etage grüne Netze, die verhindern sollen, dass sich einer in die Tiefe stürzt. Im Vorbeigehen sagt Osman, er denke immer häufiger daran. Denn in ein Land zu müssen, dessen Sprache er nicht spreche, sei schlimmer als der Tod. Osman, der im Libanon geboren wurde, spricht arabisch und noch besser spricht er deutsch, aber Frau Haberlands Behörde meint, er sei ein Türke. Am Nachmittag sitzt Osman in der Manege, einem Neuköllner Jugendclub, mit drei Grundschülern um einen Tisch und diktiert ihnen etwas aus einem Schulbuch. Unten läuft Musik, und Osman gibt sich Mühe, er diktiert geduldig, Wort für Wort, und dennoch wirkt er abwesend, die großen Augen müde, der schlaksige Körper unter dem Kapuzenpulli eingefallen. Dreimal in der Woche übt er mit den Kindern Deutsch und Mathe, ehrenamtlich, nach der Arbeit. Nach dem Realschulabschluss im letzten Sommer hat Osman eine Ausbildung begonnen. Er lernt Tischler. »Et is nun mal so«, sagt Frau Haberland am Montag zur Begrüßung. Sie trägt Jeans und SweatShirt und die Haare rot gefärbt. Sie bittet in einen Raum mit dem Charme einer Umkleidekabine,

Er ist in Beirut geboren und wuchs in Berlin auf. Er fühlt sich als Deutscher. Jetzt soll er in die Türkei abgeschoben werden. Und versteht nicht, warum VON MARIAN BLASBERG

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setzt sich und sagt: »Herr Tekin, Sie haben wissentlich getäuscht. Sie hätten offen legen müssen, dass Sie unter falschen Angaben in Deutschland sind.« Osman sagt: »Aber ich habe nichts gewusst.« »Herr Tekin«, sagt Frau Haberland und blättert ziellos in der Akte, »Sie können mir doch nicht erzählen, dass in einer großen Familie wie der Ihren über diese Dinge nicht gesprochen wurde.« Osman wiederholt, er habe nichts gewusst, er sagt, sie seien Libanesen, seine Mutter besitze einen Pass und eine Geburtsurkunde aus Beirut. Aber Frau Haberland beharrt darauf, er habe sie getäuscht. Sie sagt, sie könne nichts dafür, und selbst, wenn er tatsächlich nichts gewusst habe, dann hafte er halt für die Fehler seiner Eltern. »Warum«, fragt Osman, den Tränen nahe, »schieben Sie dann meinen Vater nicht ab?« – »Et sieht so aus«, sagt sie, »dass der den besseren Anwalt hat.« Es ist eine schwierige, verworrene Geschichte, in die Osman El-Zein hineingeraten ist, aber er ist bei weitem nicht der Einzige. Im Fall der kurdischen Familie Aydin, der jüngst durch die Presse ging, lagen die Fakten ähnlich. Die Familie, sagte man, sei bestens integriert, sie abzuschieben sei nicht zumutbar, und eigentlich hatten die Politiker im Januar 2005 eine Kommission gegründet, um solche Härtefälle individuell zu lösen. Aydins hat es nichts genutzt, Osman hat davon gehört. »Wir lebten damals in Beirut«, sagt Osmans Mutter, Zeinab El-Zein, eine Frau von 43 Jahren, die ein Kopftuch trägt und sich nach neun Geburten etwas krumm bewegt. Sie sitzt unter goldgerahmten Koranversen im Wohnzimmer und spricht auf Arabisch. Osman übersetzt: »Mein Vater, ein Gemüsehändler, hatte einen jungen Gehilfen. Ein Kurde, der bei uns als Illegaler lebte. Wir heirateten, als ich 16 war, wenn auch nicht offiziell. Dann kamen unsere drei Töchter, dann Osman, unser erster Sohn, und um nicht aufzufliegen, ließen wir auch sie nicht registrieren. Dann der Bürgerkrieg: Nächte im Keller und tote Körper morgens vor dem Haus. Als es unerträglich wurde, folgten wir dem Vater meines Mannes nach Iskenderun in der Türkei. Er sagte, er hätte dort ein Haus, ein Auto, eine Existenz, aber nichts von alldem stimmte. Also kehrten wir zurück. Zwei meiner Brüder waren schon in Deutschland, sie kannten einen Schleuser. Der versprach, Papiere zu besorgen, die uns als Libanesen auswiesen. Wir versetzten unseren Kühlschrank, unsere Eheringe, und schließlich brachte man uns nach Europa.«

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Das ist die Erzählung, mit der Osman groß geworden ist. Es war der Sommer 1989, und die Familie durfte in Berlin bleiben. Osmans Vater half am Bau, die Mutter gebar fünf weitere Geschwister, und Osman wuchs immer mehr hinein in eine Rolle, die er selbst als Außenminister der Familie beschreibt. Er begleitete den Vater auf das Arbeitsamt und las der Mutter vor, was auf den Beipackzetteln stand. Er ging zum Elternabend seiner kleinen Brüder und wurde Klassensprecher. Nach einem Praktikum fasste er den Entschluss, später Polizist zu werden. Das erste Mal, dass dieser Plan erschüttert wurde, war an einem Tag im Juli 2004, als im Morgengrauen eine Staffel Polizisten in die Wohnung stürmte. Einer der Beamten schrie: »Alle ins Wohnzimmer!« Und dann krempelten sie alles um, wühlten in den Betten, leerten Mülleimer. Sie nahmen Telefone mit, Familienfotos, Führerscheine und notierten alles akkurat auf einer Liste, die Osman anstelle seines Vaters unterschreiben sollte. Osman fragte: »Warum steht da Tekin?« Und der Polizist erklärte, dass man herausgefunden habe, dass sie in der Türkei gemeldet seien. Osman hörte das zum ersten Mal. Er nahm es anfangs nicht so ernst, doch als Frau Haberland ihm schrieb, er müsse weg, begann er sich zu wehren. Er nahm sich eine Anwältin, die Widerspruch einlegte, er stellte einen Einbürgerungsantrag. Der Großvater, kam nun heraus, hatte die Familie während ihres Aufenthalts in der Türkei in ein Register eingetragen, alle sechs, alle am selben Tag. In dem Register führen sie den Namen Tekin, den seinerzeit der Urgroßvater trug. Allein aus diesem Eintrag leitet die Behörde ab, dass Osman Türke ist. Dieser Registereintrag, sagt Osmans Anwältin, könne zwar ein Hinweis darauf sein, dass einer Türke sei, doch er sei lange kein Beweis. Jeder Onkel, jeder Großvater und jeder Dorfvorsteher kann irgendjemanden dort eintragen. »Was kann ich dafür«, fragt Osman sich jetzt, »dass mich der Großvater dort eintrug? Was habe ich damit zu tun, dass mein Vater angab, aus dem Libanon zu sein?« Osman wird aufgefordert, beim türkischen Konsulat einen Pass zu beantragen. Als er die Frist verstreichen lässt, karrt ihn die Polizei dorthin. Doch als er Wochen später seinen Pass abholen will, weiß niemand etwas von einem Antrag. Und keiner versteht ihn: Die Beamten sprechen nur türkisch. Wenn Osman loszieht, um herauszufinden, wer diese Lawine losgetreten hat, dann rennt er gegen eine Wand. Frau Haberland, die Polizei, das Kon-

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sulat, sie alle schweigen. Er weiß nur, dass die Behörden länger schon verstärkt nach Menschen fahnden, die unter vorgetäuschter libanesischer Identität den Weg ins Land gefunden haben. Dass sie viele überführen konnten. Osman hat Angst, Panikattacken, Depressionen. Osman schläft kaum noch. Er ist kaum noch zu Hause. Als es neulich spät nachts klingelte, da dachte er: »Jetzt geht es los!« Aber es war nur die Nachbarin. Wenn er nachts im Bett liegt, fragt sich Osman, was er tun kann. Das Warten, sagt er, sei das Schlimme, der Gedanke, vielleicht nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen. In den Tagen, als die Rütli-Schule Ärger machte, saß er in einem Fernsehstudio, ein Freund von ihm war Gast der Sendung Klipp und klar, und Osman hörte, wie der Bürgermeister von Neukölln dozierte, dass im Bezirk die große Mehrheit ohne Abschluss von der Schule gehe. »Das sind Leute«, sagte Heinz Buschkowsky, »die man nicht mehr erreicht.« Umso wichtiger sei es, sich um die anderen zu kümmern. Nach der Sendung ging Osman auf ihn zu und fragte ihn, ob er ihn kurz was fragen dürfe. Aber Buschkowsky, der sich an diese Szene nicht erinnern kann, ging einfach weg. Bleibt also die Kommission für Härtefälle. Bleibt die vage Hoffnung, dass diese sieben Leute, darunter Vertreter der Kirche, von Migrations- und Flüchtlingsrat, eine Empfehlung aussprechen, der der Innensenator folgt. Es ist der erste Mittwoch im Mai, als Osman noch mal Pfarrer Schimpf aufsucht, der seinen Fall betreut. Schimpf hatte ihn angerufen, er hat noch ein paar Fragen, morgen tagt die Kommission, und er will vorbereitet sein, wenn er dort Osmans Fall vorträgt. Sie sitzen in einem engen, hellen Raum an einem runden Tisch, und Osman erzählt noch einmal, wie sie ihre Wohnung stürmten. Fragt: »Herr Schimpf, wie stehen meine Chancen?« Der Pfarrer, ein ruhiger, freundlicher Mann, hebt seine Schultern. »Schwierig«, sagt er. Eigentlich gilt der Senator als liberal, als einer, der gern durchwinkt, aber zuletzt, bei Aydins, zeigte er sich ungewöhnlich hart. Am Abend schlendert Osman mit seinem Freund Valtrim die Sonnenallee hinunter. Osman ist nervös, Valtrim macht Witze. Er sagt, er werde ihn besuchen kommen, und sie könnten surfen gehen. Aber Osman meint, das werde schwer. Er müsse wohl, so wie ein Onkel, den sie bereits abgeschoben haben, in der Türkei zum Militär. Er sagt: »Ich muss zur Bundeswehr.«

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Mord im Dienst onntagabends darf man amerikanische Freunde nicht stören. Die halbe Nation schaut die Sopranos, eine Serie über einen italienischen Mafia-Clan in den USA. Tollpatschige, aber irgendwie liebenswerte Figuren, das organisierte Verbrechen als Soap-Opera. Doch in letzter Zeit wirkt das wie eine skandalöse Verharmlosung. Der Prozess gegen Louis Eppolito und Stephen Caracappa brachte blutrünstige Details aus dem wahren Alltag der Cosa Nostra ans Licht: Verschwörungen zwischen Polizei und Killerkommandos, wie sie sich kein Drehbuchautor je ausdenken dürfte. Eppolito und Caracappa führten ein Doppelleben: Offiziell waren sie Stars einer Spezialeinheit von Mafia-Jägern, doch jahrelang standen sie auch auf der Gehaltsliste der Luchese, eines der mächtigsten Verbrecherclans in New York. Sie wurden für schuldig befunden und müssen mit »lebenslänglich« rechnen. Kommenden Montag wird das Strafmaß verkündet. Seit Mitte der achtziger Jahre beteiligten sie sich laut Anklage an mindestens acht Morden, zwei Mordversuchen, einer Mordverschwörung, Drogenhandel, Geldwäsche und Behinderung der Justiz. Sie missbrauchten Uniform und Polizeimarke, um ungestört Mafia-Opfer zu kidnappen und zur Hinrichtung zu bringen oder um gleich selbst zu töten. 4000 Dollar pro Monat kassierten sie für Informationen und organisatorische Hilfe. Für einen Mord bekamen sie zusätzlich bis zu 75 000 Dollar.

Fotos: Michael Nagle/The New York Times

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STEPHEN CARACAPPA (oben) und LOUIS EPPOLITO waren die Stars einer New Yorker Anti-Mafia-Einheit. Gleichzeitig haben sie für die Mafia getötet

Ordnungshüter, die der Versuchung des Geldes erlagen und nebenher zu Verbrechern wurden – diese Plage kennen die USA. Doch hier war es umgekehrt: Eppolito und Caracappa waren Verbrecher, die sich einschlichen auf der Gegenseite. Offenbar hielten sie sich bald für unantastbar, in der Öffentlichkeit galten sie als vorbildliche Cops. Eppolito rühmt sich unzähliger Orden und Auszeichnungen. Er war ein beliebter Gast in den Studios der New Yorker Sender. Nach seiner Frühpensionierung schrieb er 1992 eine Pseudo-Autobiografie. Sein Vater Ralph (Fat the Gangster) und

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sein Onkel James (Jimmy the Clam) waren einschlägige Figuren im Milieu, er selbst dagegen gab den Geläuterten. Er spielte in elf Gangsterfilmen mit, darunter als Fat Andy in Martin Scorseses Goodfellas mit Robert De Niro. Den hat er dafür angeblich extra im Mafia-Slang unterrichtet. In einer Parkgarage in Brooklyn legten Eppolito und Caracappa 1986 Israel Greenwald um, einen Juwelier. Er war ein Informant der Bundespolizei. Den Parkwächter zwangen sie, ein Grab auszuheben, während Eppolito draußen Schmiere stand. 19 Jahre hat der Zeuge geschwiegen, aus Angst – und

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»weil mir doch niemand geglaubt hätte, dass Polizisten auf der Seite der Mafia stehen«. Ein Zeugenschutzprogramm öffnete ihm den Mund. Im September 1986 stoppten sie bei einer angeblichen Verkehrskontrolle Jimmy Hydell, Mitglied des rivalisierenden Gambino-Clans. Sie entführten ihn im Kofferraum, Hydell wurde gefoltert und umgebracht. Er hatte noch gebeten, seine Leiche nicht verschwinden zu lassen, damit seine Mutter die Lebensversicherung kassieren könne. Der Wunsch wurde abgelehnt. Eppolito, inzwischen 57, ist eine massige Erscheinung, hellgrauer Anzug, das immer noch volle, aber inzwischen weiße Haar schräg nach hinten gekämmt. Man kann sich vorstellen, wie furchteinflößend der ehemalige Bodybuilder auf seine Opfer wirkte. In Interviews hat er vor Jahren mit seiner Gewalttätigkeit geprahlt. Einem Mann, der seine Frau schlug, will er beide Hände und Handgelenke gebrochen haben. Caracappa dagegen, 64 Jahre, ist asketisch schlank. Die Unterwelt nannte ihn The Stick. Knochiges Gesicht, sorgsam getrimmter Schnurrbart, dessen Farbe ebenso wie die Augenbrauen und das streng gescheitelte Haar zwischen Silber und Schwarz changiert. Emotionslos saßen sie im Gerichtssaal, als die Sprecherin der Geschworenen insgesamt 70-mal »bewiesen« antwortete auf die Frage, wie die Jury die Anklagepunkte bewerte. Nach ihrer Pensionierung Anfang der neunziger Jahre waren Eppolito und Caracappa nach Les Ve-

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gas gezogen und hatten sich in der gleichen Straße im Südwesten der Stadt angesiedelt. Offenbar genügte es ihnen aber nicht, ihre einschlägigen Kenntnisse mit Filmrollen und Drehbüchern in Hollywood zu vermarkten. Sie beteiligten sich auch am Drogenhandel. Ein Lockvogel der Drogenpolizei war unter den Kunden und nahm einen Deal auf Band auf. Im April 2005 schlugen die Fahnder zu – im italienischen Restaurant Piero’s. Verteidiger Bruce Cutler hat versucht, die Belastungszeugen als unglaubwürdig hinzustellen: Das seien doch selbst alles Killer und Drogendealer. Er will in Berufung gehen. Die Töchter des ermordeten Juweliers Greenwald dagegen jubelten mit Tränen in den Augen: Jahrelang galt der Vater als vermisst, durch das Verfahren erfuhren sie von seinem Grab im Parkhaus. Der Prozess hat Amerika noch einmal tief in die Vergangenheit versetzt: Ronald Reagans Anti-Mafia-Rede von 1982, Rudolph Giuliani, der erst als Chefankläger die wichtigsten Mafia-Bosse hinter Gitter brachte und dann als New Yorker Bürgermeister die Kriminalität aus Manhattan verdrängte – zum Beispiel hinüber nach Brooklyn. Statt Giuliani ist heute Michael Bloomberg Bürgermeister. Sonntags amüsiert sich Amerika über die tölpelhaften Sopranos. Und niemand weiß, wie viele Leichen noch in den Gebäuden des neuen, schmucken New York liegen, an deren Bau die Mafia Millionen verdient hat. CHRISTOPH VON MARSCHALL

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Die WM-Städte im Test, 3.Teil:

HAMBURG ist im Fußballwahn – und unser Kolumnist flieht auf einen Alsterdampfer

Foto: Siggi Hengstenberg

WOLFRAM SIEBECK

ist beglückt von der Qualität der Küche in Hamburg

Fotos: Barbara Siebeck für DIE ZEIT

Oberliga Nord

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Mündern quellenden Zwiebelringe und Mayonnaiseströme den Begriff Finger-Food anschaulich illustrieren. Es ist wahrscheinlich, dass viele Fußballfans die Nacht auf der nahen Reeperbahn durchbummeln werden und rechtzeitig vor den Massen auf dem Fischmarkt eintreffen. Nur sie werden dieses billige Vergnügen genießen können. Wer zu spät kommt, sollte sich auf ein anderes Frühstück vorbereiten. Beispielsweise im Hotel Park Hyatt, das keineswegs in einem Park liegt, sondern mitten in der Innenstadt. Dort wird die US-Nationalmannschaft untergebracht sein, und wie man die üblichen Sicherheitsmaßnahmen hier realisieren will, dürfte vielen Leuten Sorgen machen. Jedenfalls haben sie sich ein sehr edles, hanseatisches Hotel ausgesucht, dessen Frühstücksqualitäten ich nur loben kann. Auch die hauseigene Küche – doch davon später. Es ist Sonntag, und der vom Fischmarkt zurückgekehrte Fan mit dem Duft der geräucherten Fische in den Klamotten sehnt sich nach frischer Luft. Er geht zum Anleger der Alsterschiffe am Jungfernstieg und wartet auf das Boot nach Winterhude. Das fährt jede Stunde und braucht ebenso lang bis zur Endstation. Auf dem Weg sieht der Reisende Hamburgs schönste Seite, nämlich die schmucken Häuser der Pfeffersäcke (wie die wohlhabenden Hanseaten genannt werden). Die Häuser säumen die Ufer der Alster wie Tribünen das Fußballfeld.

Im Restaurant Allegria ist Fröhlichkeit Programm Von der Endstation nur wenige Meter entfernt, in einem modernen Bau ziemlich schräg integriert, befindet sich das Restaurant Allegria. Es lohnt den Besuch nicht nur wegen der hübschen Bootsfahrt, sondern auch wegen seiner fröhlichen Küche zu zivilen Preisen. Viel Österreichisches verzeichnen Wein- und Speisekarte, und eine »Schmankerlteller« genannte Reihe von Vorspeisen (14 Euro) macht deutlich, dass die hier demonstrierte Fröhlichkeit weder verspielt noch oberflächlich ist, sondern der feinen Küche ihre Reverenz zu machen versteht, ohne prätentiös zu wirken. Köstlich die vegetarische Ziegenkäse-Sellerie-Piccata (16 Euro), die Milchlammleber (23 Euro) und der Kaiserschmarrn für zwei Personen (18 Euro). Wo in Hamburg Wasser fließt, gibt es Kneipen. Erstaunlich viele haben sich modern herausgeputzt und bieten eine ebenfalls moderne Küche. Doch man sollte nicht vergessen, dass des Hamburgers liebste Ernährungsweise die Hausmannskost ist. Wenn Lokalprominenz befragt wird, schwärmt sie

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sofort von »guter deutscher Hausmannskost«, worunter zuerst Bratkartoffeln zu verstehen sind. Das ist keine Folge der Großen Koalition, sondern hanseatische Tradition. Dazu gehört auch ein Besuch auf den Terrassen an der Elbe. Rive heißt ein dafür beliebtes Restaurant, das sich Bistro nennt, aber mit seinen 240 Plätzen eine zünftige Brasserie ist. Zwar lassen hier Fische und ihre Verwandten eine gewisse Verfeinerung vermuten, aber damit gibt sich die Küche keine große Mühe. Der krümeligen Maischolle und den laschen Calamaretti war von Verfeinerung so wenig anzumerken wie der Crème brulée unter ihrer zähen Zuckerhaut. Trotzdem wegen der schönen Aussicht keine vergeudete Zeit. Im oben erwähnten Hotel Park Hyatt verbringt man seine Zeit sogar sehr gern. Es ist eines der neueren Schiffe in Hamburgs Gastronomie-Flotte. Zwar nicht das größte, aber das mit den besten Aussichten, das Blaue Band des Komforts zu gewinnen. Es ist im Levantehaus eingerichtet, einem der ehrwürdigen Handelshäuser (Baujahr 1912) der Stadt, zwischen Mönckeberg- und Bugenhagenstraße. Für Fußballer und andere Sportfexe gibt es im Keller ein modernes Fitness-Studio mit Pool und anderen Möglichkeiten, den Appetit zu fördern. Für den wird im Apples genannten Restaurant bestens gesorgt. Nicht zuletzt, weil der Apfel im Menü der Küche eine große Rolle spielt. Durch die Zusammenarbeit mit einer kleinen, aber edlen Apfelfarm nahe Hamburg wird das Obst vielfach verarbeitet. So im Müsli, zum Räucheraal, in der Kalbszunge, als exzellenter Apfelwein und vor allem in der Patisserie, wo die besten Desserts und Marmeladen gemacht werden, die ich auf meiner Reise entlang der WM-Route probieren konnte. Das alles wird in einem Ambiente serviert, das modern ist bis hin zur Mitarbeit von Philippe Starck, aber nicht die kühle Atmosphäre verbreitet wie so genannte Design-Hotels. Dazu trägt die Verwendung von schönen Hölzern in den großen Zimmern und Suiten bei, die sich wohltuend vom verblichenen Charme der bekannten Flaggschiffe abhebt. Für die traditionelle Hausmannskost ist die Küche des Apples eine Spur zu fein. Sollten die amerikanischen Fußballer jedoch die Weltmeisterschaft verpassen, wird es nicht an ihrer Unterkunft, dem Park Hyatt, liegen Die Aalsuppe und das Labskaus finden sie und ihre Fans nur fünf Minuten entfernt im Ratsweinkeller. Solche Einrichtungen sind fast überall als Horte der reaktionären Küche bekannt. Warum das so ist? Vielleicht liegt es an den neugotischen Bögen in den Kellerräumen, vielleicht an

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AUS SIEBECKS KÜCHENSCHRANK

Fleur de Sel

Foto: Ragnar Schmuck für DIE ZEIT

rgendwo zwischen Berlin und Hamburg steht im Havelland der Birnbaum des Herrn von Ribbek, der Fontane zu jener Ballade inspirierte, welche an unserem Ruf, ein Volk der Dichter und Denker zu sein, nicht ganz unschuldig ist. Wahrscheinlich wurde er längst gerodet, der Baum, sind doch sogar die Kolchosen der ehemaligen DDR nur noch verrottete Ruinen ihrer einstigen Schönheit. Hamburg dagegen ist auf dem Weg, eine neue Schönheit zu entwickeln. Dafür sorgt neben dem HSV der wirtschaftliche Aufschwung, der den betriebsamen Hafen zu einem Symbol des Booms macht. Über die Toppen geflaggt ist dort jeder Kran, jedes Containerschiff und jede Hafenkneipe, egal, was sie laden, geladen haben oder brutzeln. Vom Restaurant Le Canard aus hat der nächtliche Anblick der illuminierten Betriebsamkeit am anderen Elbufer zweifellos etwas Weltstädtisches. Lokalpatrioten denken an New York. Das Restaurant war unter Josef Viehauser jahrelang das Zentrum Hamburger Kochkunst. Jetzt, unter seinem jungen Nachfolger Ali Güngörmüs, ist es mindestens so populär wie zuvor. Die vielen Gäste, die ich beobachtete, mag der Boom hierher gespült haben sowie die Erkenntnis, dass ein Koch, der so exzellente Gerichte für unter 30 Euro anbietet, jederzeit einen Besuch wert sei. Und die Hedonisten freuen sich an seiner ausgewogenen Küche, deren Aromen mit der handwerklichen Finesse der einzelnen Gerichte eine natürliche Verbindung eingehen, wie sie in der kochenden Oberliga zu erwarten ist, aber nicht überall existiert. Hier wird nicht zu den Sternen gegriffen, hier herrscht Normalität – jedoch weitab jeglicher Hausmannskost. Keine Küche zum Nachdenken, sondern zum Schmecken. Der Hamburger Fischmarkt in St. Pauli hingegen ist zum Fürchten. Zwar berühmt über die Landesgrenzen hinaus, aber wohl in erster Linie für die hier zu erlebende Demonstration von Masse. Er wird nur sonntagmorgens von 6 bis 10 Uhr abgehalten und ist das Ziel von so vielen Besuchern, dass die Fifa bei ihrem Anblick neidisch werden dürfte. Um der sich zentimeterweise vorwärts schiebenden, menschlichen Lava zu entgehen, müssen die Hamburger zwischen 6 und 7 am Markt sein, wenn sie die keineswegs immer edlen Fische fürs Mittagessen kaufen wollen, Gartenpflanzen oder lebende Tiere. Denn plötzlich tauchen Gaffer zu Tausenden auf und füllen die Wege zwischen den Ständen mit einem Gedränge, dessen Dichte buchstäblich mit »wie die Heringe« beschrieben werden kann. Diese Fische gibt es denn auch auf Brötchen zu essen, wobei die Esser angesichts der ihnen aus den

Kann man sicher sein, dass Fleur de Sel etwas anderes ist als gewöhnliches grobes Meersalz? Und nicht nur so etwas wie die von der normalen Sahne abgeschöpfte Crème double zum Unterschied von der Sahne, die wir im Allgemeinen verwenden? Doch wenn es so wäre – also eine Art lässiger Mogelpackung –, es wäre nur für jene ärgerlich, die mit Geiz kochen. Denn Fleur de Sel brauchen wir fast täglich: zum abschließenden Würzen mit diesem mittelgroben Meersalz, das wie das billigere Meersalz aus speziell angelegten Pfützen am Meer geschöpft wird. In diesem Fall heißt es Flor de Sal, weil es von der portugiesischen Küste kommt. Es ist milder als raffiniertes Salz und bei den meisten Fisch- und Gemüsespeisen unerlässlich.

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Flor de Sal aus Portugal, 200 g im Steinguttopf, 15,20 Euro www.kebe-living.de

den Butzenscheiben oder generell an den vielen Plätzen. Ratskeller verkörpern unbestreitbar die deutsche, bürgerliche Tradition. Der hat sich die Küche stets angepasst. Und zwar nicht zuletzt durch Stilelemente der kaiserlichen Architektur, die man Historismus nennt.

Im Ratsweinkeller schmeckt sogar das Labskaus In Hamburg, im Souterrain unter dem Südflügel des Rathauses, ist es nicht anders. Man bestaunt die Fresken an den Wänden, die wundervolle, holzgeschnitzte Tür, das angenehme, indirekte Licht, die zahlreichen, von der Gewölbedecke hängenden Schiffsmodelle, und beim Lesen der Speisekarte weiß man, dass man das Land der Großväter glücklich erreicht hat. Hier gibt es alles, wovor sich der Zeitgeist fürchtet, die Hamburger Aalsuppe, das Labskaus, die mit Birnen und Speck gekochten Schnippelbohnen, unzählige Variationen vom Matjesfilet, ein paar preiswerte Weine, und wenn man in einer gemütlichen Nische von Frau Eyigün aufs freundlichste bedient wird, dann schmeckt sogar die Aalsuppe gut, findet man das Labskaus essbar und die Heringsvariationen sowieso. Ich weiß nicht, wo die Spieler von Bayern München gegessen haben, bevor sie im vergangenen September 0 : 2 gegen den HSV verloren. Hier jedenfalls nicht. LE CANARD NOUVEAU Elbchaussee 139, 22763 Hamburg, Tel. 040/88 12 95 31, montags und feiertags sowie Samstag und Sonntag mittags geschl. PARK HYATT Bugenhagenstraße 8–10, 20095 Hamburg, Tel. 040/33 32 12 34 ALLEGRIA Hudtwalckerstraße 13, 22299 Hamburg, Tel. 040/46 07 28 28, Mo sowie Di bis Sa mittags geschlossen RIVE Van-der-Smissen-Straße 1, 22767 Hamburg, Tel. 040/380 59 19 RATSWEINKELLER Große Johannisstraße 2, 20475 Hamburg, Tel. 040/36 41 53, sonntags und feiertags abends geschlossen

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Nächste Woche: Von Gelsenkirchen nach Zürich – zum Fifa-Restaurant

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JÖRG LAU, REDAKTEUR IN DER ZEIT-HAUPTSTADTREDAKTION, IM MERCEDES-BENZ S 500

UNTER DER HAUBE MOTORBAUART/ZYLINDERZAHL: V-Ottomotor, 8 Zylinder, 5461 ccm Hubraum

Initialzündung

LEISTUNG: 285 kW (388 PS) 7-GANG-AUTOMATIKGETRIEBE, BESCHLEUNIGUNG (0–100 KM/H): 5,4 Sekunden

HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT: 250 km/h DURCHSCHNITTSVERBRAUCH: 11,9 Liter auf 100 km (Super Plus bleifrei)

Die S-Klasse lehrt, wie die meisten anderen Autos später einmal funktionieren werden: Zum Beispiel ganz ohne Schlüssel uerst habe ich allen unaufgefordert mitgeteilt, dass dies ein Testwagen sei. Nach einer Woche aber hatte ich plötzlich Spaß daran, die Leute glauben zu lassen, ich sei womöglich ein bisschen verrückt geworden und hätte mir einen S 500 als Zweitwagen zugelegt. Bei einem Notartermin, zu dem ich mit dem riesigen, eleganten Zweitonner vorfuhr, wurde ich auffällig zuvorkommend behandelt. »Na, wie ist er denn so?«, wollte der Notar am Ende von mir wissen. In seiner Frage lag eine Mischung aus Respekt und Fassungslosigkeit. »Ach, super!«, sagte ich lakonisch, ließ die Fahrertür mit einem satten »Plock« hinter mir zuschlagen, fuhr los und genoss den konsternierten Blick des Notars, der im automatisch abblendenden Rückspiegel (serienmäßig) immer kleiner und kleiner wurde. Ein S-Klasse-Mercedes hat mit den Autos, die sonst so herumfahren, nicht viel zu tun. Ein S 500 ist in sich eine kleine Automobilausstellung. Er will nicht weniger als die ideale Verkörperung des jeweils Möglichen sein – in

Foto: Dan Zoubek für DIE ZEIT

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KOSTEN (PRO JAHR): Vollkaskoversicherung: Typklasse N30, Steuer: 371 Euro

BASISPREIS: 90 000 Euro

Design, Leistung und Technik. Die treuen Käufer (eine halbe Million beim Vorgängermodell) erwarten von der S-Klasse Innovationen, die sich dann später auch in gewöhnlichen Autos finden werden, wie einst das ABS. Sie werden auch diesmal nicht enttäuscht. Es fängt an mit Spielereien wie dem KeylessGo-System. Was wie ein Schlüssel aussieht, ist in Wahrheit ein Sender, der Heckklappe und Türen automatisch entriegelt und verschließt. Man trägt ihn in der Tasche und überlässt alles Weitere dem System. Der Distronic-PlusAbstandsregel-Tempomat mit zwei Radaraugen für den Nah- und Fernbereich hält das Auto im gewünschten Tempo und auf Abstand zum Vordermann. Er greift in Kombination mit dem Bremsassistenten (auf Wunsch) bei falschem Fahrverhalten ein – notfalls bis zur Vollbremsung. Ein Infrarot-Nachtsichtgerät projiziert Bilder auf den Monitor im Cockpit, der bei Normalbetrieb als Tachometer dient. Der fahrdynamische Multikontursitz verformt sich je nach Beschleunigung und Lenkbewegung, um idealen Seitenhalt zu gewähren. Er

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ist sogar mit Massagefunktion lieferbar. Das Command-System vereint Radio, DVD-Player, Navigationssystem und die zentrale Kontrolle aller Fahrzeugfunktionen – intuitiv mit einem Scrollrad zu bedienen. Man könnte noch lange weiter aufzählen: automatische Erkennung von Kindersitzen und Abschaltung des Beifahrerairbags, Rückfahrkamera als Einparkhilfe, Siebengangautomatik mit drei vorwählbaren Fahrstilen. Ich habe es in zwei Wochen nicht geschafft, den Wagen voll zu durchdringen und sämtliche Optionen und Einstellmöglichkeiten zu verstehen. Das ist aber auch gar nicht die Idee dieses Autos. Im Gegenteil: Die neue S-Klasse setzt voraus, dass ich dazu weder willens noch in der Lage sein werde. Man könnte sagen: Sie hat ein ziemlich pessimistisches Menschenbild. Dieses Auto weiß, dass ich mit ihm überfordert bin. Es begegnet mir mit überlegener Nachsicht. Es weiß, dass ich zwar Lust habe, seine 388 PS auszufahren, ohne allerdings wirklich sicher bei 230 km/h reagieren zu können. Und so tritt es halt auf die Bremse, wenn

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ich zu lange damit warte. Es nimmt auch meine Einparkschwierigkeiten vorweg, meine Vergesslichkeit, meine Orientierungslosigkeit, meine Vergnügungssucht – und so tutet es warnend, schließt sich von selbst ab, weist mir in ganz Europa sehr anschaulich den Weg und schaltet den DVD-Player selbsttätig ab, sobald ich anfahre. Pessimismus kann ein großes Innovationspotenzial haben. Aber was heißt schon Pessimismus! Man kann auch Realismus sagen, denn die S-Klasse hat ja Recht. Sie kennt unsere Schwächen. Sie will uns nicht erziehen, sie passt sich lieber an wie der sagenhaft bequeme, elffach verstellbare Fahrersitz, dessen individuelle Einstellung der Keyless-Go-Schlüssel sich übrigens merken und automatisch wiederherstellen kann. Die neue S-Klasse ist eine wunderbare Schöpfung. Man erfreut sich immer wieder an den ausgetüftelten Details wie der bequemen Lederablage für die rechte Hand, die sich beim Umklappen als Telefontastatur entpuppt. Die S-Klasse ist in einem Maße vernünftig durchdacht, dass es fast schon wieder ein

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bisschen beängstigend wirkt. Die zahlreichen Systeme, von denen der Fahrer sich umgeben weiß, machen jedes Gefühl der Unmittelbarkeit unmöglich. Das ist einerseits entlastend, wiegt einen aber andererseits in falscher Sicherheit. Ich habe ohne große Ermüdungserscheinungen die Strecke Berlin–Aachen und zurück an einem Tag bewältigt. Mit einigem Schrecken erwischte ich mich bei 240 km/h, die sich kaum wie 180 km/h angefühlt hatten. Die Ingenieure der S-Klasse sind stolz darauf, dass »die durchschnittliche Herzfrequenz der Autofahrer in der Mercedes-Limousine um bis zu sechs Prozent (oder fünf Schläge pro Minute) unter den in Vergleichsfahrzeugen gemessenen Werten« liegt. Andere Autos dieser Preisklasse werden mit dem Ziel konstruiert, die Herzschläge zu steigern. Nicht so dieses paradox-konservative Experimentierauto, das für die nächsten Jahre die Summe der Kunst darstellen dürfte. PS Nächste Woche am Start: Dagmar Gentsch, Sekretärin des Herausgebers der ZEIT, im Range Rover Sport TDV 6

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LEBENSGESCHICHTE

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Sie schrieb gegen das negative Frauenbild

AUFLÖSUNG AUS NR. 20: Gret Palucca (1902–1993) gilt als Wegbereiterin des akrobatischen Ausdruckstanzes. Ihre barfüßigen Improvisationen mit oft grotesk wirkenden Sprüngen waren ihre Eigenheit. Unter den Nazis war sie erst als Vorzeigesportlerin anerkannt, bevor sie als Halbjüdin in Misskredit fiel. Ihre 1925 in Dresden gegründete Tanzschule konnte sie nach dem Krieg wieder eröffnen

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Waagerecht: 6 Beheimatet auf Halm und Blatt und Glücksklee insbesondere 13 Aus höfischer Höflichkeit gesprochen, Harmoniescheuche andererseits 15 Keine Sache ist so leicht, dass sie nicht schwer würde, wenn du sie … ausführst (Terenz) 17 Kein Geräusch aus dem Karton, wenn auf auf folgend 19 Bei Rosen, Lippen, Wein sang von Röte er (Vorname) 20 Minitransporter, nicht unbedingt für Reinigungsmaterial 21 Keine Steakbeschreibung, wie sie Restauranttester gern notierte 24 Lagen so weit nach Ultimo wie vor Ultimo 26 Zugreifhemmungslos 28 Der oberste, heißt’s, schenkte der Welt die 37 senkrecht 29 Bei den Affenvettern seltener ein Negativ-Faktor 32 Sprichwörtlich: Besser zweimal … als einmal irregehen 34 Das Urbiest in seiner nahverkehrnutzenden Verwandlung? Kleinigkeit im Kleiderschrank 36 Dufte Beigabe zum Ausschank von Assam und Oolong? 38 Mehr als einen braucht’s zum Auf- 39 Bringt Bilanzen aus der Balance – latente Gefahr beim Literaturverleih auch 40 Vorwärts Vorgang vor Getränkeerzeugung, rückwärts Rückenlastexperte 42 In schlech-

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Grafiken erzeugt mit Chessbase 9.0

UM DIE ECKE GEDACHT NR. 1807

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ter Gesellschaft scheinen die Guten … zu sein (arab. Sprichwort) 43 1 1 1 plus Stallgerucherzeuger: zählt zum postalischen Alltag 44 Wege für viele, doch vielen … Autofahrten immer schon attraktiver 45 Salomo sprach’s: Der Wein macht Spötter, und starkes … macht wild; wer davon taumelt, wird niemals weise – Senkrecht: 1 Selbst im … des weisesten Mannes gibt es einen törichten Winkel (Aristoteles) 2 Immer mehr ihr Prinzip: Kopf gelehrt, Beutel über Gebühr geleert 3 Einfachheit ist das Resultat der … (Schiller) 4 In Nachfragernachfragen liegt schon die Anbieterantwort 5 Meist keine Kreide ist Tafelkreide, sondern? 6 Sind bei der Geige in der Minderzahl: Wie trat die Zupferzunft gern auf? 7 Weiß die Straßen und Wege zu den Personen 8 Überdehnte Wörteransammlung: Rastplatz außer Landes 9 Fast schon Flundernachbau unter den Fischgefährten 10 Hält sich in Zusammenhaltestellen 11 Der Mann, den Wunderlandmaid im Kopf hat 12 Prozentgewaltiger im Istanbullokal 13 Das hätte auf ein AHA keinen Effekt 14 Wenn einem die Augen aufgehen, bekommt sie zu tun 16

Schweizer Stadtteil Kärntner Kapitale 18 Gesandte von Kirchenstaats wegen 22 Der nämliche Stadtkern dort, wo Josua posaunen ließ 23 So mancher meint, ein gutes Herz zu haben, und hat nur schwache … (v. Ebner-Eschenbach) 25 Gewichtigstes Ziel auf Rurgebietskarten 26 Bei Königs: Deutsch hieß Ludwig, fromm sein Vater, so sein Opa 27 Da kommt Eduardchen zur Sache: Nachbarin 33 senkrecht 30 Dunkelkanalarbeiter auf Verschieb- statt Vertriebsweg 31 Edenmäßige Befindlichkeit 33 Sternchen auf der Beetebühne 35 Aus dem ist eins für die Tasche selten noch 37 Stummer Nordwortersatz von einst 41 Halb überbrückte Lücke zwischen Schweden und Dänen

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Der surrealistische Künstler Marcel Duchamp meinte, man müsse sich zwar an die Gesetze der Logik halten, »doch kam ich auf die Idee, dass das Leben interessanter wäre, mehr ein Spiel, wenn man die Gesetze der Physik und Chemie ein wenig ausdehnen könnte«. Zum Ärger von André Breton gab Duchamp die Malerei sogar eine Zeit lang zugunsten des Schachspiels auf: »Das Milieu der Schachspieler ist mir wesentlich sympathischer als das der Künstler …« Kein Wunder, dass der skurrile Schachmeister Nimzowitsch mit seinen neuen, die Orthodoxie über den Haufen werfenden Ideen zum »Gott« des Atheisten Duchamp wurde. Nun wird sich der Internationale Kongress der Schachsammler vom 22. bis 28. Mai in Berlin natürlich nicht nur um Duchamp oder den auch alles andere als orthodoxen, in Berlin beheimateten Schachweltmeister Emanuel Lasker (1894 bis 1921) drehen, die bunte Welt des Schachs, seiner Spiele und Figuren birgt noch viele andere Besonderheiten. Sehen Sie, wie Duchamp, der in den Jahren 1923 bis 1935 zu den hundert besten Spielern der Welt gehörte und Frankreich mehrfach bei der Schacholympiade vertrat, 1929 in Paris als Weißer mit einer »logisch-verrückten« Kombination die damalige Weltmeisterin Vera Menschik besiegte? HELMUT PFLEGER

AUFLÖSUNG AUS NR. 20 Waagerecht: 6 STIPENDIUM 10 AMORE 13 SCHNORREN 16 ROT 17 AMEISE 19 HEGE 20 NIEDERTRACHT 21 WAELDER 23 HAAR 24 ERKER 25 MITLEID 26 BULLAUGE 27 LOB 28 RAGE 30 JUNG 32 PLANE 33 MADAME 34 DESPERADO 36 GELEGENHEITEN 37 IMAGE 38 INSTANZEN 39 NINIVE. – Senkrecht: 1 EINGELADEN 2 BERN 3 WINDHUNDE 4 OMAR 5 REIHE 6 SCHWIMMEN 7 THEATRALIK 8 DEER = Hirsch (engl.) 9 MORALIST 10 ATTRAPPEN 11 RECKEN 12 ASTROLOGE 14 OELE 15 RIED 16 REAL 18 MARGARINE 22 DIEME 24 EULEN 26 BUEHNE 27 LEDA 29 GAGS 30 JENA 31 GEIER 35 AMI

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Mit welcher Opferkombination gewann Schwarz am Zug? Auftakt war das Turmopfer 5 1...Td3! Es scheitert 2.Lxd3 an 4 2...Dxg2 matt, während 2.Dxd3 3 Lh2+ 3.Kh1 Sxf2+ die Dame 2 verliert. Weiß versuchte 1 noch 2.Dxb6, gab sich aber a b c d e f g h nach 2...Txh3 3.Ld4 (nicht 3.Dxc6? wegen 3...Lh2+ 4.Kh1 Sxf2 matt) Lh2+ 4.Kh1 Lxe5+ geschlagen – 5.Kg1 Lh2+ 6.Kh1 Lc7+! gewinnt die Dame. Es hätte auch die andere Zugfolge 1...Lh2+ 2.Kh1 Td3+! mit ähnlichen Abspielen gewonnen 7 6

Der Countdown läuft. In genau 49 Tagen beginnt das Turnier, auf das die Freunde des gepflegten Spiels seit langem händeringend warten. Dann wird wieder quer durch die Republik gefachsimpelt. Allerdings werden sich wohl weder Franz Beckenbauer noch Jürgen Klinsmann an der Diskussion beteiligen, denn die Rede ist vom ZEIT-Scrabble-Sommer, der am 6. Juli in der Ausgabe 28/06 beginnen wird. Da fiebern Klinsmann & Co., wenn alles gut geht, dem WM-Finale mit deutscher Beteiligung entgegen und es sei ihnen verziehen, wenn sie den Auftakt des größten deutschen Simutlanspiels verpassen. In der heutigen Spielsituation lassen sich knapp 90 Punkte erzielen. Wie? SEBASTIAN HERZOG

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Ihr Vater war ein bedeutender Gelehrter, mehrere Machthaber warben um seine Dienste. Er entschied sich, dem Ruf in ein fremdes Land zu folgen. Als die Tochter mit vier Jahren seinem Dienstherrn vorgestellt wurde, war nicht zu ahnen, dass sie später dessen Biografin werden würde. Der Vater, dem sie »in jeder Hinsicht stark ähnelte«, hatte weniger konventionelle Auffassungen von Mädchenerziehung als die Mutter. Mit 15 Jahren heiratete sie den Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte; die glückerfüllte Zeit ihrer Ehe endete jäh, als ihr Mann Opfer einer Epidemie wurde. Da war der Vater schon tot, sein Dienstherr ebenfalls, die Brüder waren in ihr Land zurückgekehrt. »Ich, die Verwöhnte und Behütete, die dies alles nicht gelernt hatte«, sah sich mit 25 Jahren verantwortlich für drei kleine Kinder, die Mutter und eine minderjährige Nichte. Nun musste sie erkennen, dass der geliebte Vater in seiner »maßlosen Freigebigkeit« die Familienfinanzen überstrapaziert und der ebenfalls geliebte Gatte sie über seine Vermögensverhältnisse im Unklaren gelassen hatte. Jahrelang kämpfte sie in zahlreichen Gerichtsverfahren gegen die Verarmung. Trotz der Widrigkeiten des Witwenstandes entschied sie: »Allein bin ich und will es sein.« Nach Jahren der Trauer begann sie, ihren Verlust schreibend zu verarbeiten. »Ich habe weder Lust noch Zeit, heitere, fröhliche Dichtung zu verfassen; denn mein unmäßiger, gewaltiger Schmerz macht jegliche Freude zunichte.« In einem »Bericht über meine guten und schlechten Erfahrungen« beschrieb sie ihre Metamorphose: »Dann erhob ich mich ohne Mühe, denn nichts hielt mich mehr in jener Trägheit des Weinens, das meine Verzweiflung nur gemehrt hatte. Ich spürte mein starkes und kühnes Herz, staunte darüber und merkte, dass ich wahrhaftig ein Mann geworden war.« Mit dieser Stärke und Kühnheit wandte sie sich nun vehement gegen das negative Frauenbild ihrer Zeit. Als einzige Frau mischte sie sich in die spektakuläre Debatte um ein Buch, das sie als »gefährlich« und frauenfeindlich kritisierte. »Und da ich wirklich und wahrhaftig weiblichen Geschlechts bin, kann ich in dieser Angelegenheit mit größerer Berechtigung Zeugnis ablegen als jemand, der auf der Grundlage von Vermutungen einfach aufs Geratewohl losredet.« Unterstützt von imaginierten Leitfiguren in weiblicher Gestalt, setzte sie den Verunglimpfungen eine aus den Geschichten außergewöhnlicher Frauen erbaute Utopie entgegen. Außerdem verfasste sie ein lebenspraktisches Handbuch für die weibliche Lebensführung sowie Schriften zur politischen und moralischen Unterweisung beider Geschlechter. Ihr letztes Werk ist das erste über die Heilsgestalt, die in der langen Zeit der Kriege und Bürgerkriege die Wende einleitete. Das traurige Ende ihrer Heldin erlebte sie nicht mehr. »Du kamst in eine schlechte Zeit«, ließ sie eine ihrer Figuren sagen. »Künftig wird von dir mehr die Rede sein als zu deinen Lebzeiten.« Am Ende ihrer Schriften nannte sie stets ihren Namen in anspielungsreichen Rätseln und Anagrammen. In ihm erkannte sie ihren Auftrag, voll Stolz, dass er ihren Schriften das Siegel göttlicher Inspiration verlieh. Wer war’s? WOLFGANG MÜLLER

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NEUREICHE auf I7–I15 brachte insgesamt 90 Punkte. Dieses Wort trug 19 Punkte bei, hinzu kamen 13, 8 und 50 Punkte für GÄSTEN, HERBE und als Bonusprämie. Es gelten nur Wörter, die im Duden, Die deutsche Rechtschreibung, 23.Auflage, verzeichnet sind – in allen regulären Beugungsformen. Scrabble-Regeln im Internet unter www.scrabble.de

SUDOKU

LOGELEI Alfred ist als neuer Korrespondent in Wongowongo. Er soll über die Präsidentschaftswahlen berichten, weiß aber noch nichts über die beiden Kandidaten, weswegen er sich unter die Leute begibt, um Infos zu sammeln. Er befragt eine Gruppe von Passanten, von denen drei Anhänger der Entweder-oder-Partei sind und drei Anhänger der Konsequenten. Auf seinem Notizzettel notiert er stichwortartig die Antworten. A: »Nachname Songo: Stadt Rongo«, B:

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»Entweder-oder-Partei: älter«, C: »Vorname Dongo: bei Umfrage hinten«, A: »Konsequenten: Vorname Mongo«, B: »Stamm Bongo: Nachname Gongo«, C: »Vorname Dongo: jünger«, D: »Stamm Bongo: bei Umfrage vorn«, E: »Vorname Mongo: bei Umfrage hinten«, F: »Konsequenten: Stamm Nongo«, D: »Stadt Longo: jünger«, E: »Stamm Nongo: jünger«, F: »Konsequenten: Nachname Gongo«. Jetzt grübelt Alfred. Er weiß, dass die Anhänger der Ent-

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weder-oder-Partei (A, B und C) immer eine richtige und eine falsche Aussage machen, während die Anhänger der Konsequenten (D, E und F) entweder nur wahre Aussagen oder nur falsche Aussagen machen. Welche Informationen hat Alfred über die beiden Kandidaten? ZWEISTEIN

Füllen Sie die leeren Felder so aus, dass in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem 3x3-Kasten alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Mehr solcher Rätsel im Internet unter www.zeit.de/ sudoku

AUFLÖSUNG AUS NR. 20: Waagerecht: A 969573 G 9216 H 83 I 221444 K 597984 N 71 P 2116 R 7391 S 46 – Senkrecht: A 99 B 6229 C 911 D 564 E 78 F 3344 I 2577 J 4814 L 729 M 911 O 13 Q 66

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RAY DAVIES, 61, gründete 1963 mit seinem Bruder Dave die Band The Kinks, die neben den Beatles, den Rolling Stones und The Who zu den einflussreichsten Bands der sechziger Jahre gehörte. Als Songschreiber gelangen Davies neben Welthits wie »Lola« und »You Really Got Me« auch eine Reihe von Konzeptalben, die sich satirisch mit dem englischen Alltag auseinander setzen. The Kinks haben sich nie offiziell aufgelöst, traten aber zuletzt vor zehn Jahren gemeinsam auf. Der Britpop der Gegenwart sieht Ray Davies als seinen geistigen Vater an. Ray Davies träumt von einem besseren Verhältnis zu den Menschen um ihn herum

RAY DAVIES räume haben für mich schon immer eine große Rolle gespielt. Als ich 1964 begann, mit den Kinks Platten aufzunehmen, waren wir alle Träumer. Wie jede junge Generation glaubten wir fest daran, die Welt verändern zu können. Wir träumten davon, eine bessere Gesellschaft zu erschaffen. Die Chancen schienen gut zu stehen – wir hatten Möglichkeiten zur Verfügung, die keine Generation vor uns hatte. Der britische Pop wuchs zu einem weltweiten Phänomen an, Grenzen wurden durchbrochen, Bands wie die Beatles und die Stones wurden auf der ganzen Welt gehört und verstanden. Die Jugend ging auf die Straße und meldete sich zu Wort. Für eine kurze Zeit, für einige wunderbare Monate, sah es so aus, als sei alles möglich, als könnte der Traum wahr werden. Aber wir hatten uns getäuscht. Vielleicht haben wir es geschafft, die Sensibilität einiger Menschen zu verändern. Aber es ist uns nicht gelungen, zum Kern der Gesellschaft vorzudringen. Inzwischen glaube ich: Als Musiker einen radikalen Gesellschaftswandel erreichen zu wollen ist leider illusorisch. Ich bin aber immer noch ein Träumer, und ich schreibe meine Stücke auch heute noch für Träumer. Jeder, der über die Fähigkeit verfügt, sich für einen Moment über die Realität zu erheben – sei es mit Hilfe eines Popalbums oder eines Gemäldes –, entwickelt einen Traum. Wenn ich schon nicht die Gesellschaft verändern kann, würde ich zumindest gern die Leute um mich herum glücklich machen. Im direkten Kontakt gelingt mir das leider sehr selten. Ich bin gut darin, sie zu beobachten und Lieder über sie zu schreiben. Aber mich unter sie zu mischen und mit ihnen zu kommunizieren, das fällt mir extrem schwer. Das schaffe ich eigentlich nur über meine Songs. Ich komme nicht gut mit Menschen zurecht. Ich habe zwei gescheiterte Ehen hinter mir, schwere Lebenskrisen, Tablettenmissbrauch, es gab Phasen voller Selbsthass und einen Selbstmordversuch. Die Be-

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ziehung zu meinem Bruder war geprägt von Wut und Gewalt. Lange Zeit habe ich davon geträumt, ein ausgeglichener, gefestigter Mensch zu sein. Bedauerlicherweise führt der Beruf, dem ich nachgehe, nicht gerade auf den Pfad der Glückseligkeit. Vor drei Jahren war es besonders schlimm. Damals schien mein gesamtes Leben auseinander zu fallen: Mein neues Album wurde einfach nicht fertig, die Arbeit daran hatte schon fünf Jahre gedauert. Im Studio lief alles sehr zäh, und ständig gab es Probleme mit Musikern, Technikern und Produzenten. Nach und nach verlor ich die Liebe zur Musik. Ich wurde immer ungeduldiger und reizbarer, nicht nur im Studio. Auch meine Beziehung litt, mit meiner Freundin hatte ich dauernd Streit. Wir standen kurz vor der Trennung. Damals habe ich mir gesagt: »Ab jetzt will ich ein besserer Mensch werden, ich werde freundlicher sein und verständnisvoller. In Zukunft werden für mich die Menschen um mich herum im Mittelpunkt stehen, mein Privatleben, nicht mehr meine Arbeit.« Ich wollte, ganz einfach gesagt, ein glücklicher Mensch werden. Im Winter 2003 flog ich mit meiner Freundin nach New Orleans. Dort wollte ich mit der Verwirklichung dieses Traumes beginnen. Und mein Album fertig stellen, was mir in England nicht zu gelingen schien. Amerika schien mir der richtige Ort, meinem Traum nachzujagen. Amerika war schließlich das Land, das in mir das Bedürfnis geweckt hattte, eine Gitarre in die Hand zu nehmen, das Land, das mich mit dem Traum von einem Leben als Musiker infiziert hatte. Amerikanische Musik hat mich sehr beeinflusst, Blues, Skiffle, Rockabilly, Country, auch Jazz. In New Orleans kam ich mit der Arbeit an meinem Album viel besser voran. Eines Nachmittags, die Aufnahmen waren gerade abgeschlossen, spazierten meine Freundin und ich zu einem Restaurant. Ich erzählte ihr, dass ich uns am nächsten Tag ein Haus in New Orleans kaufen wollte. Ich wollte mich dort niederlassen, mit ihr. Ich erzählte ihr

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»Lange Zeit habe ich davon geträumt, ein ausgeglichener, gefestigter Mensch zu sein. Bedauerlicherweise führt der Beruf, dem ich nachgehe, nicht gerade auf den Pfad der Glückseligkeit«

von dem neuen Menschen, der ich von jetzt an sein würde: glücklich und ausgeglichen. Träume, Pläne, Ambitionen griffen ineinander, ihre Verwirklichung schien in greifbarer Nähe. Dann geschah das, was häufig geschieht, wenn Träume mit der Wirklichkeit kollidieren – mein Traum verkehrte sich zu einem Albtraum. Nein, es war nicht die große Flut, die kam erst später. Wir wurden auf diesem Spaziergang von einem Straßenräuber überfallen. Er entriss meiner Freundin die Handtasche, ich rannte ihm hinterher, und er schoss mir ins rechte Bein. Gerade hatte ich begonnen, mich wie ein glücklicher Mensch zu fühlen, da schießt jemand auf mich, am helllichten Tag, auf offener Straße. Die Kugel zerschlug alle Sicherheit und alle Träume. Anfangs war nicht einmal klar, ob ich überle-

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ben würde – die Kugel war ein Explosivgeschoss, sie hat mein Bein ziemlich übel zerfetzt, und während der Operation machte mein Herz Probleme. Ich musste lange im Krankenhaus liegen, war ans Bett gefesselt und hatte viel Zeit, nachzudenken. Einige Wochen nach dem Überfall hat mich meine Freundin verlassen. Das Haus habe ich nie gekauft. In dieser Zeit habe ich eine wichtige Lektion über Träume gelernt. Ich habe begriffen, dass ich mein innerstes Wesen nicht grundsätzlich ändern kann. Dass ich wohl niemals ein ausgeglichener, glücklicher Mensch sein werde. Ich kann vielleicht etwas freundlicher werden, ein bisschen gelassener, das ja. Aber ich werde bleiben, wer und wie ich bin. Damit muss ich zurechtkommen. Mein Leben ist geprägt davon, dass ich mein privates Glück häufig der Musik geopfert habe. Das ist sehr traurig, aber so bin ich eben. Meine Form von Glück ist es, die Menschen zu beobachten und Lieder darüber zu schreiben. Konzerte zu geben. Um das andere Glück muss ich mich stärker bemühen – das Glück, mich um meine Familie zu kümmern und um die wenigen Menschen, die ich liebe, die wenigen Freunde, die ich habe. Jemand hat einmal gesagt: »Nicht die Dunkelheit draußen ängstigt mich, sondern die Dunkelheit im Innern.« Ich denke, das ist der Kampf, den ich zu bestehen habe. Bei dem Überfall in New Orleans ist die Dunkelheit von außen in mein Innerstes gedrungen. Es fiel mir dann sehr schwer, aus dieser Dunkelheit wieder hinauszufinden. Bis heute ist es mir nicht ganz gelungen. Ich bin 61 Jahre alt, das Rätsel des Lebens habe ich immer noch nicht gelöst. Ich habe keine Ahnung, worum es im Leben wirklich geht. Aber ich versuche, Songs darüber zu schreiben. Vielleicht komme ich damit doch auf irgendeine Art der Antwort näher. AUFGEZEICHNET VON JÖRG BÖCKEM FOTO VON JIM RAKETE Audio

www.zeit.de/audio

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Foto: Jeff Christensen/AP

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Die Jazz-Veteranen der PRESERVATION HALL BAND eröffnen das Fest

Die Band spielt weiter Inmitten der Trümmer, die Hurrikan Katrina hinterließ, feiert New Orleans sein Jazzfestival

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etzt verlassen wir die Sonne und schneiden durch die Wolken. Tief unten liegt ein schwarzes Meer: Lake Pontchartrain. Die Mississippi-Marschen. Rundtanks und qualmende Raffinerien. Cancer alley, sagt der Nachbar. Aus dem Schwefelhimmel giften Blitze. Hart am Sumpfland setzt die Maschine auf. Die Stewardess ruft: Willkommen in einer genesenden Stadt! Zum Jazzfest kommen wir, nicht ohne Bange. Der Hurrikan Katrina im letzten Sommer tötete 1200 Menschen, machte 800 000 obdachlos, zerstörte 60 000 Häuser. Wie kann man da feiern? Was ist geblieben vom Big Easy, das mit dem Jazzfest seine Auferstehung feiern will? Das wäre übermorgen. Es gibt keinen Tag ohne Musik in New Orleans. Heute nachmittag spielt im Lafayette Park der Cajun-Star Michael Doucet mit seiner Band BeauSoleil. Cajun ist franko-amerikanischer Folk mit Fiddle und Akkordeon, randvoll vergnügter Melancholie. Vor der neogriechischen Gallier Hall picknickt wohlsituiertes Volk und schwoft unter den Platanen. Ein Jubelprinz von Ansager preist die unbesiegbare Stadt. Hier ist die Musik!, jauchzt er. Das Essen! Die Toleranz! Der Optimismus ist hier, in NEW Orleans! Sind Sie wirklich optimistisch? Wir müssen es sein, sagt die alte Dame. Ihr Mann: Wir halten alle den Atem an. Am 1. Juni beginnt die Hurrikan-Saison. Wir können nur beten, dass bis dahin die Deiche repariert sind. Mein Haus ist abgesoffen, sagt die junge Frau, ich wohne immer noch bei Bekannten. Die Freundin: Mein Dach war kaputt, ich warte und warte auf das Geld von der Versicherung. Es gibt ein gemeinsames Trotzgefühl, sagt der Lieferwagenfahrer. Aber die Gangster sind raus aus der Stadt? Die, die wir kannten, sind weg, sagt der farbige Polizist. Mit den Aufbaukolonnen kommen andere, die wir nicht kennen. Die meisten Flutopfer und Evakuierten waren ja schwarz, wie die Mehrheit in New Orleans. Gibt es wirklich Pläne, die Stadt mit Katrinas Hilfe weiß zu machen? Höre ich oft, sagt der Polizist. Gibt viel Rassismus hier. Ist aber gut getarnt. Unser Image, you know. Meine Tochter studiert an der Loyola-Universität, sagt der mexikanische Unternehmer. Sie kellnert. Vorige Woche kam sie weinend heim,

mit dem Satz einer Lady aus dem Coffeeshop: Ich danke Gott, Katrina und Houston, dass sie unsere Stadt von den Schwarzen befreit haben. Hunderttausende Flüchtlinge sitzen in Louisianas Nachbarstaaten fest, mit chaotischen Bustransporten übers halbe Land verstreut. Seit jeher leben die Anrainer des Golfs von Mexiko mit Hurrikanen, doch die Katrina-Katastrophe gilt als ein von Menschen verschuldetes Desaster. Das Versagen der Bush-Regierung nach der Flut erschütterte die USA nicht weniger als die Schlamperei beim Deichbau. Die Amerikaner sahen Dritte-Welt-Zustände im eigenen Land, Ohnmacht, Anarchie und Leichenberge. Der allzeit lächelnde Präsident lobte die Katastrophenschutzbehörde Fema. Wie deren Evakuierungsplan ausgesehen haben mag, das verkünden T-Shirts: Run, motherfucker, run!

Nachtschwärmer tragen Bierbecher der Größe »mighty ass« New Orleans’ bessere Bezirke scheinen unversehrt. Da ist der Garden District mit seinen herrschaftlichen Villen, Gaslaternen und Magnolienbäumen. Da ist das French Quarter/Vieux Carré; als höchstgelegenes Areal entging es der Flut. Die pittoresken Gassen, die Giebel, Gauben, Schindeldächer der präamerikanischen Ziegelhäuser entzücken das Auge, vor allem die galleries, schmiedeeisern begitterte Balkone, auf denen sich zum Mardi Gras die Menschen drängen, um die Karnevalsparade mit bunten Ketten zu bewerfen. So wirbt die Stadt seit jeher um den Besuch der Welt: als semieuropäische US-Oase mit Jazznächten und den Mythen des Südens. Spukt nicht hinter der St.-Louis-Kathedrale William Faulkners Geist? Man kann mit Tennessee Williams’ streetcar zur Endstation Sehnsucht fahren, mit dem Raddampfer auf dem Mississippi, mit dem Boot in die Mäandertäler der Bayous und zwischen moosbärtigen Sumpfzypressen Alligatoren füttern. Doch Faulkners Haus ist geschlossen, wie die Old US Mint mit dem Jazzmuseum, die Saenger Hall, das Hyatt-Hotel, die vielen sturmvernagelten Geschäfte am Canal-Street-Boulevard. Bourbon Street, die Kneipenmeile, rockt, blinkt und bimmelt wie immer. In New Orleans darf man auf der Straße Alkohol trinken. Laut und breit schieben die Nachtschwärmer sich durch Bars, Lustschuppen und Klimbim-Boutiquen, bewaffnet mit

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VON CHRISTOPH DIECKMANN

Schnaps-Handgranaten und Bier in Kunststoffbechern der Größe mighty ass. Die früher üblichen Massen sind es nicht. Der Hot-Dog-Verkäufer macht kein Geschäft, das fahl geschminkte Blumenkind wird seine Rosen nicht los. Im Tropical Island hockt ein Alt-Folkie auf dem Podest und singt für sich allein I’ve got a name. Am nächsten Tag bekommt die Stadt Besuch. George W. Bush fliegt ein. Er bindet ein Zimmermannsschürzchen um und trägt mit Bürgermeister Ray Nagin einen Balken an den Fernsehkameras vorbei. Dann schlagen die Herren Nägel ein, wobei Bush Nagins Linkshändigkeit scherzig kommentiert. Nagin ist Demokrat, ein liberal, nennt Bush aber Freund; er braucht verzweifelt Geld aus Washington. Bush, dramatisch unbeliebt, benötigt volksnahe Bilder. Überall fordern T-Shirts Deichbau statt Krieg: Make levees not war. Unverändert handeln täglich mehrere Seiten der Lokalzeitung Times Picayune von den Folgen des Hurrikans, bis hinein in die Todesanzeigen – dreimal mehr als vor Katrina. Achten Sie auf das Alter, sagt der Stadtführer Bob Batson. Viele Menschen sterben vor ihrer Zeit, aus Hoffnungslosigkeit. Jenseits der ruppigen North Rampart Street liegt der älteste Friedhof der Stadt, St. Louis No. 1. Dies ist kein Totenort der deutschen Art. In New Orleans’ moorigem Boden kann man nicht bestatten, deshalb geschieht es oberhalb der Erde, in Familien-Mausoleen, die ganze Generationen aufnehmen. Ein Jahr und einen Tag nach der Bestattung wird die Grabkammer geöffnet, der Sarg entnommen, menschliches Rudiment verbrannt oder nach hinten gekehrt, und es ist wieder Platz. Dort drüben erhebt sich die Italia Tomb, Rockfans unvergesslich aus Dennis Hoppers Kultfilm Easy Rider, worin der schwer bedrogte Peter Fonda das Marmorweib anschreit: Mutter, warum hasst du mich? Vor dem Stein der 1881 gestorbenen VoodooQueen Marie Laveau liegt Obst, zwecks Geisterspeisung; die Drei-Kreuz-Graffiti sind nicht Voodoo, sondern Touristenschmiererei. Voodoo heißt: Gott. Wir stehen am Congo Square im Louis-Armstrong-Park und blicken zur St.-Louis-Kathedrale. Aus diesen beiden Orten erklärt sich das Wesen von New Orleans: Synkretismus, Mischkultur. Der robuste Magen des Katholizismus verdaute die Religion der westafrikanischen Sklaven. Die wiederum adaptierten das Christentum, dessen Monotheismus, Heiligenverehrung und Glauben an ein Leben nach dem Tod

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sich mit ihren Überzeugungen vertrug. Und während nach anglo-protestantischem Kolonialrecht Sklaven Gegenstände waren, pieces of property, über deren Leben und Tod ihr Herr nach Belieben verfügte, galten sie im katholischen Louisiana immerhin als Seelen, Menschen also mit gewissen Rechten, zu denen der freien Sonntag gehörte. Vormittags gingen die Sklaven zur Kirche und lauschten Europas Chorälen und Harmonien. Nachmittags trafen sie sich am Congo Square, trommelten, führten archaische Ringtänze auf. Die Weißen hörten die Rhythmen Afrikas. 200 Jahre verschmolzen, und es ward Jazz. An diesem Abend erlebt das Bethlehem des Jazz seine Wiedergeburt, in einem Stall. Die Preservation Hall eröffnet neu, ein rustikales Kabuff für höchstens 50 Hörer, in dem allabendlich formell gewandete Senioren Urjazz aufführen. Plötzlich steht inmitten der Jazzer ein fremder Freund: The Edge, Gitarrist von U2 und wohltätiger Spender, um vom Hurrikan betroffenen Kollegen ihre Instrumente zu ersetzen. Die Band schwenkt zur Tür, marschiert hinaus ins French Quarter, zieht um den Block. Aus den Häusern stürzen Menschen, jubeln, tanzen hinterdrein, die greise Musik frischt auf, verjüngt sich: When the saints go marching in …

»Glaubt nicht, was ihr im Fernsehen seht« Warum war die Hall geschlossen? Hier ist doch nichts kaputt. Keiner da, für den man spielen konnte, sagt Derryl Adams, der Saxofonist. Das hier ist für Touristen. Jetzt kommen sie, in Scharen. Die Stadt läuft voll. Das Jazzfest beginnt, auf dem Fair Grounds Race Course, einer Pferderennbahn. Der BusShuttle führt durch Katrina-Land. God save you!, ruft der Fahrer. Glaubt nicht, was ihr im Fernsehen seht. Wir sehen verlassene Häuser, Hunderte Autowracks, Verödung, Dreck. Oh my God! Look at this! Der junge Mann aus Florida schlägt vor, ein neues New Orleans nach Art von Venedig zu errichten, mit Kanälen und so. Die New Yorker Lehrerin ist erstmals hier, aus Solidarität. Und wegen Bob Dylan, des Troubadours ihrer Generation. Das Jazz & Heritage Festival, so der offizielle Name, ist ein Universum bodenständiger Musik. Jazz bildet nur ein Segment. Zehn Bühnen, zwei

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Wochenenden, da erlebt jeder ein anderes Festival. Das Publikum (zu 97 Prozent weiß) flaniert. Oder man schlägt sein Campingstühlchen auf, befreundet sich mit Betsy und Bill aus Baton Rouge, tauscht Regenschirm gegen Sonnencreme und bittet die unentwegt zappelnden und quatschenden Amis ringsum, endlich mal zu lauschen. Bob Dylan offeriert mit Reststimme klassisches Liedgut, presst sein Örgelchen, lächelt gar versehentFortsetzung auf Seite 82

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Fotos (v. li. n. re.): Stephen Voss/WpN/Agentur Focus; Ted Soqui/corbis

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Der stumme Teil von New Orleans: Demontiertes Kruzifix der St.-Bernard’s-Gemeinde; zerstörtes Haus im Stadtteil LOWER 9TH WARD, der bis heute unbewohnbar ist

Fats Domino wurde gerade noch mit dem Hubschrauber gerettet Hier ist nichts aufzubauen. Wer könnte hier je wieder wohnen, unbeschützt, ohne funktionierende Strukturen? Hier war der Waschsalon, sagt Christine, hier war mein Gemüsemarkt, schau, die Maria vor der Baptistenkirche hat’s überstanden. Das dort ist Fats Dominos Haus, er wurde gerade noch mit dem Hubschrauber gerettet. An seinem Haus stand schon: R. I. P., ruhe in Frieden. Überall die Graffiti der Militärpatrouillen, die mitteilen, was sie im Haus vorfanden – Menschen, Tiere, Leichen. BAGHDAD steht an einer Wand. Christine, das sieht aus, als wäre hier der alttestamentliche Engel des Todes durchgegangen. Ja, sagt Christine, wir warten auf einen Moses, der uns aus diesem Elend führt.

Wie es hier war, kann man im unversehrten Uptown sehen: kleinbürgerliche Nachbarschaft, Häuslein aus bunt bemaltem Holz. An der Kreuzung Tchoupitoulas/Napoleon Avenue steht das berühmte Tipitina’s, wo einst BoogieVater Professor Longhair in den Tasten wühlte. 1980 ist er gestorben, im Eingang steht seine Büste. Jeder streicht darüber, als wäre Longhairs messingblankes Haupt Petri Fuß im Petersdom. Heute steigt die alljährliche Musiker-Spendenaktion, um der Schuljugend Instrumente zu kaufen. Da kommen sie, 60 farbige Kinder mit blitzendem Gebläse. Horns up!, kommandiert der Tambourmajor. Es beginnt das Hupkonzert von Jericho, die Jungs mit dem Basketball dort drüben auf der Treppe gucken neidisch. Jambalaya wird verkauft, Pudding, Blue-Moon-Bier. Unter den mächtigen Lebenseichen futtern und palavern Menschen aller Farben von New Orleans. Drinnen singt Shannon McNally, betörende southern belle mit Gitarre, Konfessionen in schwülem Moll. Später spielt Voice of the Wetlands, ein louisianisches Allstar-Ensemble mit aufklärerischer Mission. Gitarrist Tab Benoit erklärt sie, nachts um zwei: Das fragile Süßwasser-Feuchtsystem des Mississippi-Deltas wird zerstört durch Eindeichung und Eingriffe der Ölindustrie, die sich hier dumm und dämlich verdient. Die Versalzung und Austrocknung der Sümpfe vernichtet Vegetation, Tierwelt, Überflutungsräume. Jedes Jahr verschwinden 52 Quadratkilometer Sumpfland. Das Prinzip ist einfach, sagt Benoit, der unten im Delta, in Houma, lebt. Der Mensch muss die wetlands schützen, dann schützen sie ihn. Kann man das Delta retten? Das ist eine Frage des Geldes. Das Geld, das wir im Irak ausgeben und hier nicht, tut hier wie dort dasselbe: Es tötet Menschen. Tagelang durch die Stadt gelaufen. Unentwegt Kontraste. Elend und Pracht, die Bettler und das kreolische Soniat-House-Hotel von 1827. Einst war es Wintersitz des PlantagenFürsten Honore Landreaux jr., mit Orangenbäumen im Plätscherbrunnen-Hof. Man resi-

diert antik, der schwarze Frühstücksbutler serviert heiße Bisquits ans Empire-Bett. Und dann war es von allem genug. Der letzte Abend gehörte der Einsamkeit. Lauer Nachtwind unterm Sichelmond, Trunk auf der Veranda, Shannon McNally im Ohr: It don’t matter where you bury me I’ll be home and I’ll be free It don’t matter where I lay All my tears will be washed away New Orleans’ Musik ist nicht auf Entwicklung aus, sie spiegelt das tägliche Leben. Das hatte uns in der Nacht zuvor Anders Osborne gesagt, der Gitarrist von der Insel Gotland, der vor zwanzig Jahren nach globaler Odyssee hier hängen blieb. Im Cabildo am Jackson Square ist die louisianische Geschichte ausgebreitet, mit Hybris, Blut und Tränen, mit Gelbfieber und Gemetzeln, mit General Jacksons Locke, Napoleons Totenmaske und den weniger bekannten Gesichtern des Friedens. Wie seltsam, dass diese fragilste Stadt des Riesenreiches USA wie keine zweite aufgeladen ist mit Tradition und sesshafter Nostalgie. Man denkt: Hier hätte der Mensch nicht siedeln sollen. Aber nun ist die Geschichte da, und sie muss weitergehen. Keinen Satz hörten wir häufiger als: Danke fürs Kommen. ANZEIGE

Information im Text erwähnten: Preservation Hall, 726 St. Peter, Tel. 001-504/522 28 41, www. preservationhall.com

ANREISE: United Airlines fliegt einmal täglich ab Frankfurt am Main via Washington D. C. nach New Orleans, www.unitedairlines.de

House of Blues, 225 Decatur, Tel. 001-504/529 25 83 Tipitina’s, 501 Napoleon Ave., Tel. 001504/895 84 77, www.tipitinas.com

UNTERKUNFT: Vorzügliche Hotels im French Quarter: Monteleone, 214 Rue Royale, Tel. 001504/523 33 41, www.hotelmonteleone.com, DZ von 116 bis 180 Euro. Soniat House, 1133 Chartres Street, Tel. 001-504/522 05 70, www.soniathouse.com, DZ ab 190 Euro

Ein großartiger Plattenladen mit viel regionaler Musik: Louisiana Music Factory, 210 Decatur, www.louisianamusicfactory.com

FÜHRUNGEN: French Quarter, Garden District, Friedhöfe: Historic New Orleans Tours, Tel. 001504/947 21 20, www.tourneworleans.com

FESTIVAL: Das Jazz & Heritage Festival findet jedes Jahr am letzten April- und am ersten MaiWochenende statt, www.nojazzfest.com. Auch an den Tagen dazwischen gibt es Musik, am French Market und in den Dutzenden Klubs. Die

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AUSKUNFT: Fremdenverkehrsbüro New Orleans & Louisiana c/o Wiechmann Tourism Service, Tel. 069/25 53 82 70, www.neworleans.de

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lich und erfreut mit einer vorzüglichen Band. Gefeiert werden New Orleans’ Lokalheilige Dr. John und Allen Toussaint. Der Exilschwede Anders Osborne groovt durch Jazz-’n’-Soul-Jams, Sonny Landreth rennt Slide-Gitarren-Marathon. Das Gospelzelt bläht sich im Lob des Höchsten. Keb’ Mo’s Grammy-geadelter Blues klingt gebügelt, sehr anders als die Altvorderen Snooks Eaglin und Clarence »Frogman« Henry. Und dann bricht Feuer aus, in Form des Zydeghost C. J. Chenier und seiner Red Hot Louisiana Band. Die Bühne lodert, entflammt von Brunst und Passion. Das Jazzfest spielt bei Tage. Danach mögen die Unersättlichen New Orleans’ sechzig Musikklubs bevölkern. Das House of Blues in der Decatur Street ist zum Weinen schön, ein Pantheon schwarzer Musik, dekoriert mit Götzen, Amuletten, Epitaphen, phallischer Malerei. Über der Bühne, zwischen Davidstern und Yin & Yang, prangt Leslie West als Purpurpriester und fragt: Who do you love? Ganz gewiss die North Mississippi All Stars. Die Joints kreisen, als nachts um halb drei ein CollegeKid, ein Hühnerdieb, ein schwarzer Football-

in Wohnwagenlagern. Christines Haus steht noch; bis August hofft sie es wieder zu beziehen. Wir gehen hinein. Die Einrichtung ist komplett hinüber. Wenigstens hatte Christine eine Versicherung. Der Lower 9th Ward liegt schlicht in Fetzen. Statt Häusern Bretterhaufen, Gebirge aus Müll und zerschrotetem Holz, Gewölle gewesenen Lebens. Christine sagt: Wie nach einer Atombombe.

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Koloss auf die Schummerbühne treten. Drei Stunden lang jagen, torkeln, halluzinieren sie durch die badlands des Blues: pure William-Faulkner-Musik, die keine Zukunft kennt, nur Tiefe und Durst. Gitarrist Luther und Trommler Cody Dickinson sind Söhne von Jim D., ehemals Keyboarder der Rolling Stones. Seine Jungs müssen schon in der Wiege den Blues gesoffen haben. Der Morgen graut. Hinaus. Noch immer strömt ein warmer, subtropischer Regen. Und dann kommt der Gegenpräsident nach New Orleans: Bruce Springsteen spielt mit seiner schmissigen neuen Bigband ein rührendes Konzert im Geiste Pete Seegers, mit John Henry und O Mary Don’t You Weep und dem Antikriegslied Mrs. McGrath. Ry Cooders How Can A Poor Man Stand hat Springsteen für New Orleans umgetextet, und bei My City Of Ruins weiß sich ohnehin jeder Hiesige gemeint. Bei We Shall Overcome fließen Tränen. So inniges Pathos gelingt nur einem. Wir waren im 9th Ward, sagt Springsteen, und wir sahen Bilder, die wir in Amerika für unmöglich hielten. Anderntags fahren wir endlich in den 9th Ward, den zerstörten Bezirk der kleinen Leute, mit Christine DeCuir vom Metropolitan Convention & Visitors Bureau. Sie lebte dort. Derzeit ist sie in einem Apartment untergekommen, aber Tausende hausen

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Die Band spielt weiter

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Mein lieber Jakob Schmerzen hielten ihn nicht auf. HAPE KERKELING hat ein Buch über seine Wanderung nach Santiago de Compostela geschrieben. Etappe 3: Mit Badelatschen durch die Pyrenäen

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Ohne Pilgerstab geht nichts mehr, es sei denn im Sturzflug

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Foto: © Hape Kerkeling

»Lauf weiter, Dicker. Es wird schon gehen« Tja, und nach dem dritten Höhenweg mit schier unbeschreiblicher Fernsicht sind auch, grüß Gott, meine Knieschmerzen wieder da. Hölle! Tut das weh! Und mich befallen wieder Zweifel, ob ich als pummelige couch potato wirklich gut daran tue, mal eben in Badelatschen die Pyrenäen zu überqueren. Dreißig Kilometer am Tag zu marschieren ist eben keine Kaffeefahrt. Mal geht’s besser mit dem Knie, dann wieder schlechter. Gepeinigt von stechenden Schmerzen, muss ich mein Lauftempo notgedrungen drastisch reduzieren. Zumal ich statt in ordentlichem Schuhwerk in Gummipuschen herumlatsche. Da guckt dann schon mal der eine oder andere baskische Bauer belustigt aus der Wäsche, wohl wissend, dass das Meer schlappe zweihundert Kilometer entfernt liegt. Irgendwann komme ich dann endlich wieder in ein Örtchen, dessen Herz aus einer kleinen Kneipe besteht. Ich genehmige mir Speis und Trank und kann ein paar Vorräte bunkern. Bananen, Wasser und Brot. Gestärkt wandere ich weiter und wundere mich nach einer guten halben Stunde über die Leichtigkeit meines Schritts. Irgendetwas fehlt. Ein Geräusch! Das schürfende Klackern meines Pilgerstabes auf dem Asphalt ist verschwunden. Na prima. Ich habe ihn in der Kneipe stehen lassen. Sofort trabe ich im Eilschritt zurück, um ihn zu holen, denn ohne meinen Stock ist jeder Abstieg unmöglich, und … irgendwie fehlt mir der Knüppel auch. Unter sengender Hitze verlassen mich dann kurz darauf wieder die Kräfte, und ich bin drauf und dran, den soeben wiedergefundenen Pilgerstab ins Korn zu werfen. Was tue ich hier? Bin ich noch gescheit? Wenn mein Hausarzt wüsste, wie ich mich vollends übernehme! Badelatschen habe ich schon an, also wieso fahr ich nicht ans Meer? Aber ich zwinge mich, anders zu denken, und so rede ich mir gut zu: »Lauf einfach weiter, Dicker! Es wird schon gehen.« Nach einiger Zeit erreiche ich einen alten Weiler mit einer riesigen hölzernen Viehtränke, die im Schatten eines großen Baumes vor sich hin plätschert. Ständig fließt frisches, eiskaltes Quellwasser nach. Ich stecke meinen Kopf in das Wasser und fühle mich um Jahrzehnte verjüngt. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass weit und breit niemand zu sehen ist, ziehe ich mich flott aus und nehme ein Ganzkörperwannenbad. Doch gut, dass ich Badelatschen dabeihabe! Langsam schrumpfen meine geschwollenen Knöchel und Knie wieder auf Normalgröße zurück. Natürlich kommen ausgerechnet jetzt doch Pilger vorbei. Zwei deutsche Damen im gesetzten

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Alter, ich vermute, pensionierte Studienrätinnen, deren Wasserflaschen glücklicherweise noch bis zum Anschlag gefüllt sind, sodass sie nicht auf mein Badewasser angewiesen sind. Etwas pikiert setzen sie sich neben mich und können sich dann aber doch ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ich tue so, als wäre ich Franzose, und hüpfe mit einem »Ça va?« aus der Tränke. Die Damen ziehen weiter, und ich gönne mir eine Zigarette und eine Banane mit Brot. Teile des Badewassers gieße ich in meine Wasserflasche, auf die ich jetzt besonders gut aufpasse. Die ist genauso wichtig wie der Wanderstab. Meinen elf Kilo schweren Rucksack könnte ich eigentlich getrost mal vergessen! Elf Kilo!! Dabei ist gar nicht so viel drin. Eine lange Hose, die kurze trage ich heute, zwei Hemden, zwei T-Shirts, mein feuchtfröhliches Regencape, ein Pullover und je zwei Unterhosen und zwei Paar Socken, ein Reisenecessaire, Rei in der Tube – denn ich habe ja jetzt täglich auch noch Waschtag –, Blasenpflaster, Wundspray, Sonnencreme, mein Handy, Geld, eine Isomatte, ein Schlafsack, ein Handtuch, ein etwas dickeres Buch, mein klammer Reiseführer und mein Powermüsliriegel für Notfälle. Und alles das wiegt zusammen mit dem Trinkwasser eben elf Kilo. Meine Wanderschuhe sind inzwischen sonnengetrocknet, also bin ich bereit und mache mich auf zu dem auf über 800 Meter Höhe gelegenen ErroPass. Zweieinhalb Stunden geht es fast nur bergauf. Das findet mein Körper gar nicht witzig, aber die Schmerzen sind erträglich. Zwischendurch gönne ich mir immer wieder ein Päuschen und ein Zigarettchen. Mein Wanderbuch hat eine deutliche Warnung ausgesprochen, was den Abstieg nach Zubiri betrifft, er ist angeblich steil, sehr steil und nichts für Greenhorns. Da vor mir zwei deutsche Omas laufen, denke ich: Wenn die das schaffen, schaffe ich das auch. Ich bin halt simpel gestrickt. Als ich die beiden dann kurz vor der Passhöhe einhole, halten sie sich vor Schmerzen stöhnend ihre Knie. Die paar Menschen, denen ich im Laufe des Tages noch begegne, ein mittelalter Holländer und eine durchtrainierte Französin, haben übrigens auch Knieschmerzen.

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eute Morgen sind meine Knieschmerzen so gut wie weggeblasen. Kann mein Knie fast schmerzfrei bewegen! Nach einem zünftigen Frühstück in der Gaststätte habe ich mich so gegen zehn Uhr auf den Weg gemacht, Richtung Zubiri, heute, laut meinem Kilometer zählenden Reiseführer, nur mal sechseinhalb Stunden Fußmarsch. Zur Abwechslung führt der Weg heute wieder über die Berge. Da meine Wanderschuhe noch klitschnass sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als in meinen Badelatschen loszulaufen, die ich mir auf Anraten meiner sehr deutschen Touristenlektüre ursprünglich gekauft habe, um direkten Fußkontakt mit unsauberen Duschwannen zu vermeiden. Die schweren kanadischen Boots habe ich zum Trocknen an meinen Rucksack gehängt. Der Anfang des Weges ist einfach und schön zu gehen. Hinzu kommt, dass heute der Hochsommer ausgebrochen ist. Habe das Gefühl, die nasse Kälte von gestern auszuschwitzen. Der Weg führt mich durch wunderschöne Wälder, in denen es nur so von Schmetterlingen und Eidechsen wimmelt und andere Pilger leider nicht auszumachen sind. Endlich kann ich auch mal das alpenländisch anmutende Bergpanorama genießen. Nur die Beschilderung des Weges ist heute eher chaotisch und einfallsreich. Man muss schon sehr aufpassen, um die obligatorischen, von Hand gepinselten gelben Pfeile auf der Straße, an Bäumen, Zäunen oder auf Steinen wahrzunehmen, damit man auf dem rechten Weg bleibt. Trotzdem stellt sich bei mir das Gefühl ein, nicht ich laufe in Latschen nach Santiago, sondern Santiago kommt mir heute in Siebenmeilenstiefeln entgegen! Die ersten baskischen Dörfer, durch die ich komme, sind traumhaft schön. Das ganze Baskenland kommt mir vor wie ein riesiger Märchenwald. Der Baustil der Häuser ist fantasievoll. Eine Architektur, die sich zwischen Cochem an der Mosel und Timmendorfer Strand bewegt. Und ich frage mich: Wie kann die Eta nur Bomben im Märchenwald legen? Auf einem wunderschönen Höhenweg sehe ich zwölf riesige Greifvögel, die ganz dicht über mir kreisen. Ich zähle mehrmals nach und kann es kaum glauben. Ein majestätischer Anblick, den ich natürlich mit meiner Wegwerfkamera verewige! Ich habe keine Ahnung, ob es Adler in den Pyrenäen gibt. Selbst mein besserwisserisches Vademekum schweigt sich darüber aus; aber so jedenfalls sehen diese Vögel aus. Ich hoffe nicht, dass es sich um Geier handelt, die in mir fette Beute sehen. Schön, dass ich ornithologisch nicht ganz auf der Höhe bin, so kriege ich auch mal zwölf Adler zu sehen!

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Ja, und so ist auch dieser Abstieg von weiteren zweieinhalb Stunden die reinste Wanderhölle! Schönes Wetter hin, schönes Wetter her. Der Weg nach unten durch den Wald hat’s faustdick hinter den Blättern. Ich knicke sechsmal um. Das sechste Mal so heftig, dass ich mir sicher bin, nicht ohne einen Bänderriss davonzukommen. Ohne den Pilgerstab geht hier gar nichts mehr, es sei denn im Sturzflug. Ich kann meine Knie kaum noch beugen. Eine einzige Quälerei! Ein Weg ist nicht mehr zu erkennen, alles sieht eher aus wie eine Art Schlucht durch das wilde Kurdistan. Mittlerweile bezweifle ich, dass es sich hierbei noch um den offiziellen Pilgerpfad handelt. Das ist doch eher ein ausgetrockneter Wasserfall. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Kletterei als Meditation zu nehmen. Immer nur auf den nächsten Schritt konzentrieren und bloß nicht weiter vorausschauen. Solange ich noch ebenen Weges gehe, darf ich mir über den bevorstehenden Abstieg lieber keine Gedanken machen, sonst knalle ich auf dem ebenen Weg schon auf die Fresse! Sich umzudrehen während des Laufens kann auf diesen Matschwegen, die gespickt sind mit wuchtigen Findlingen, halsbrecherisch sein. Während es vorangeht, also nicht umdrehen! Nur nach vorne schauen. Wenn man sich umdrehen will, kurz stehen bleiben, innehalten. Ich lerne meinen Körper hier wirklich kennen, und ich muss sagen, der macht schon – in zweierlei Hinsicht – eine ganze Menge mit. Wenn ich ihn nicht mit Gewalt zwinge, sondern auf ihn einrede wie auf ein krankes Pferd und es langsam angehe, spielt er mit. So schaffe ich auch Zubiri wider Erwarten in einem Stück. Den Ort erreicht man über eine mittelalterliche Pilgerbrücke über den Rio Aga, die im Volksmund anheimelnderweise puente de la rabia, Brücke der Tollwut, heißt. Bei meiner Ankunft an der Pilgerherberge werde ich musikalisch begrüßt durch die Viermannkapelle aus Idaho, der ich schon am Vortag in Bordeaux begegnet war. Sie hocken direkt unter der überladenen Wäschespinne auf dem Spielplatz. Frage mich wirklich, wozu eine Pilgerherberge einen Spielplatz braucht. Diese Strecke zu Fuß mit Kleinkindern zu bewältigen ist absolut undenkbar. Die Beschreibung des refugio lasse ich weg. Nur so viel, ich übernachte an diesem Ort wieder in einem netten, kleinen Hotel. Die Chefin ist praktischerweise die Cousine der Apothekerin, so werde ich umgehend mit Sportgel und elastischen Knieschonern versorgt. Wie der Zufall es will, habe ich heute ein Zimmer im dritten Stock, ohne Fahrstuhl. Irgendwer will mich offensichtlich gezielt kleinkriegen. Ich hoffe, ich kann morgen weiterlaufen nach Pamplona. Heute Abend werde ich wieder Calamares in der eigenen Tinte essen. Sensationell! Sieht zwar etwas ekelig aus, aber das scheint hier das Nationalgericht zu sein, obwohl das Meer ein paar hundert Kilometer weit weg ist. Aber wenn ich in Badelatschen wandere, können die auch Tintenfische essen. Erkenntnis des Tages: Weiter! Nicht umdrehen! Hape Kerkelings Buch »Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jacobsweg« erscheint am 22. Mai 2006 im Piper Verlag, München; 352 Seiten, 18,90 Euro. Unser Text ist ein Vorabdruck

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Die weiteren Aussichten Was das Fernrohr zeigt – und was es nicht zeigt

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enn der erschöpfte Ausflügler das Ziel seines Ausflugs endlich erreicht hat (den Berg erkraxelt, die Bustour durchlitten, die Schwebebahnfahrt trotz Stachelbeereisbechers überstanden) und sich vor seinen Augen das ersehnte Panorama auftut (Ach, diese Gipfel! Ach, dieser Himmel!), dann wird er feststellen, dass die größte Ablenkung von der schönen Aussicht die Aussicht auf noch mehr Aussicht ist. Denn zwischen ihm und der ungetrübten Freude am Naturschauspiel steht das Münzfernrohr. Im Hintergrund die herrlichen Alpen. Davor aber die klobige Sehhilfe, die in Wahrheit eine Panoramavernichtungsmaschine ist. Jeder, der schon einmal eine Münze in solch einen einbeinigen Banditen geworfen hat, kann dessen deprimierende Wirkung bestätigen. Was mit bloßem Auge betrachtet ein Horizont war, schrumpft zu einem unscharfen Fetzen Grau. Das Meer zur Pfütze. Der Wald zu einem halben Baum. Die Rehe zum Reh. Das Hochhaus zu einem Stück Fassade. Der vermeintliche Vergrößerungseffekt ist nämlich ein Verkleinerungs-, ja Verkleinlichungseffekt.Wahrnehmungstheoretiker würden von einer »Gegenstandsverknappung« sprechen, das heißt, wir sehen die Welt nur noch in Bruchstücken, die keinen Zusammenhang ergeben. »Erkennst du was?«, fragt der eine Ausflügler den anderen. »Nö, nicht so richtig.« Das ist die Strafe für die Gier nach dem maximalen Erlebnis, nach Landschaft für 50 Cent, die man sich kaufen kann wie eine Currywurst. Doch warum zieht das Münzfernrohr uns trotzdem immer wieder magisch an? Weil wir glauben, durch das kalte Okular des Technikoptimismus dem Schönen auf den Grund schauen zu können? Oder weil wir die Welt partout aus der Feldherrnperspektive betrachten wollen? Dass es sich bei der Selbsterhöhung des Touristen zum Zwei-Minuten-Napoleon um einen

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klassischen Fall von imaginärer Herrschaft handelt, merkt man schon an der Neandertalerhaltung, zu der man sich verkrümmen muss, um das Münzfernrohr zu benutzen. Da steht man in unbequemer Pose, schaut ins Verschwommene, und hinterher tut einem der Rücken weh. Leider wird der Zusammenhang zwischen Münzfernrohren und urlaubsbedingten Bandscheibenschäden von den meisten Kurpfuschern weiterhin hartnäckig geleugnet. Liebe Mitreisende, liebe Neandertaler und Möchtegern-Napoleone, lasst den Blick ins Weite schweifen! Emanzipiert euch von billigen Glücksversprechen! Denkt an Kant, dem zufolge das Erlebnis des Schönen auf dem freien Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes beruht. Denkt an die massentourismuskritischen Verse des Landschaftslyrikers Friedrich Rückert, die da lauten: »Am Walde hätte nicht die Axt so leichtes Spiel, hätt’ ihr der Wald nicht selbst geliefert ihren Stiel.« Der souveräne Reisende benimmt sich nicht wie die Axt im Wald, sondern verpflanzt den Stiel wieder in die Natur. Anstatt das Münzfernrohr zu benutzen, betrachtet er es als Bestandteil des Panoramas. Der Fotograf Günter Standl, dessen Bilder wir hier abdrucken, zeigt, wie man eine solche Beobachtung zweiter Ordnung bewerkstelligt – indem man einfach ein paar Schritte zurücktritt. Und plötzlich sieht man alles: das, was das Fernrohr sieht, und das, was das Fernrohr nicht sieht. Günter Standl hat neben Münzfernrohren auch andere Kuriosiäten des modernen Tourismus fotografiert. Seine Bilder sind neben Fotos von Andrew Phelps in der Ausstellung »Das Abseitige am Reisen« in Burghausen vom 21. Mai bis 30. Juli zu sehen. Haus der Fotografie – Dr. Robert-Gerlich-Museum, 84489 Burghausen, Tel. 08677/47 34, Eintritt: Erwachsene 2 Euro, Kinder und Schüler frei i Alle Münzfernrohrbilder von Günter Standl unter: www.zeit.de/reisen/fernrohr

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Fotos: Günter Standl/Visum

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Zur Sonne, zur Freiheit!

Foto: Oliver Tjaden/laif

Ein Referendum soll die jugoslawische Teilrepublik Montenegro in die Unabhängigkeit führen. Dann, hoffen die Hoteliers, werden die Strände der südlichen Adria aus dem Dornröschenschlaf erwachen VON STEFANIE FLAMM

Baden oder klettern? Hinter der BUCHT VON KOTOR beginnt schon das Hochgebirge

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nisse gar nichts. Wir haben zwölf Jahre gewartet.« So lange hat es gedauert, bis sich vor drei, vier Jahren wieder Feriengäste in das kleine Land zwischen Bosnien-Herzegowina und Albanien wagten, das die Balkankriege fast vollständig von der touristischen Landkarte radiert hatten. In Mračevićs Erinnerung war 1990 die letzte wirklich gute Saison. Danach hockte er jahrelang mit Frau und Tochter in dem Haus, in dem 26 Leute schlafen können. Nebenan, in der Museumsvilla, die Josip Broz Tito dem einzigen jugoslawischen Literaturnobelpreisträger, Ivo Andrić, einst zuerkannt hatte, regnete es durchs Dach, unten am Strand ging die Promenade langsam in die Brüche. Die Mračevićs aber hatten immer ein paar Betten bezogen. Wenn es Farbe gab, haben sie im Frühjahr das Haus geweißt, im Herbst die Weinreben über den Loggien beschnitten und aus dem Obst, das der Garten noch hergab, Marmelade für Hunderte Leute gekocht. Doch es kam niemand. Die Tageseinnahmen aus dem kleinen, zur Pension gehörigen Café reichten während der Kriege oft nicht, um davon eine Flasche Olivenöl zu kaufen. Als die Inflation Mitte der neunziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte, war Tomatenmark ein gängiges Zahlungsmittel. Und immer, wenn sie dachten, es herrsche Ruhe, begann in der Nachbarschaft ein neuer Konflikt. Der Pensionswirt Kroatien, Bosnien, Kosovo. Auch Montenegro, Dragan MRAČEVIĆ das formal noch immer einen Staatenbund mit aus Herceg Novi Serbien bildet, fühlt sich als Opfer von Miloševićs erwartet in diesem Sommer so viele Gäste Politik. »Diesem Sauhund verdanken wir, dass wir beinahe verhungert wären«, sagt Mračević. wie lange nicht mehr Er wird bei dem Referendum am kommenden Sonntag für die Unabhängigkeit Montenegros stimmen. Serbien steht seiner Meinung nach unter der Fuchtel verknöcherter Nationalisten. »Wir aber sind im Kopf schon in Europa.« Bereits im die Grenzen der Eitelkeit erreicht sind. »Am Ende Jahr 2000 hat die montenegrinische Regierung ist immer der Kunde König«, sagt er. Es gehört zu den Dinar abgeschafft und die D-Mark eingeden eisernen Regeln in seinem Gasthaus, dass der führt, 2002 kam dann der Euro. Die Mehrheit Patron das Frühstück persönlich an den Tisch schreibt heute nicht mehr in der kyrillischen, sonbringt. Während der Saison steht er um sieben dern in der lateinischen Schrift, die UmweltgeUhr in der Küche, brät Eier, schneidet Speck, setzgebung ist so strikt, dass es fast unmöglich ist, schlägt Jogurt sämig. Falls er angelsächsisches Pu- einen legalen Campingplatz zu betreiben. Es gibt blikum zu bewirten hat, holt er sogar die von ihm eine selbstständige Regierung in Podgorica, eigewenig geschätzten Cerealien aus dem Schrank. ne Konsulate und eine Zollgrenze nach Serbien. Vor allem die Amerikaner mögen »dieses Zeug«, Der Sitz des Präsidenten wurde vor zwei Wochen sagt er. Die Deutschen wollten es sauber haben, in die alte Hauptstadt Cetinje verlegt, die heute stellten ansonsten keine großen Ansprüche, Skan- wirkt wie ein verwildertes Dorf. Von hier aus hat dinavier legten Wert auf gesundes Essen: viel Obst einst der kriegerische Petrović-Orden die schwarzen Berge gegen die Türken behauptet. und Gemüse und wenig Fleisch. Atemberaubende Serpentinen führen dorthin. An diesem Abend hat er für eine Gruppe norwegischer Ärzte ein Fischessen anberaumt. Auf Die Landschaft ist schroffer als an der Küste, die dem großen runden Tisch in seinem bis zur Decke Menschen sind ärmer. Auf dem Platz vor dem rot mit Bildern voll gehängten Speisezimmer stehen getünchten Schloss residierte von 1878 bis 1918 schon Vorspeisenplatten mit Oliven, luftgetrock- König Nicola, Montenegros erster und einziger netem Schinken, Lovćener Käse. Durch die Fens- weltlicher Herrscher. Heute sieht es hier aus wie ter sieht man, wie das letzte Tageslicht hinter den am Potsdamer Platz kurz nach der Wende, nur gewaltigen Bergen über der Bucht von Kotor ver- kleiner. Das Gras steht fast meterhoch, in den Einschwindet. Ein einsamer Leuchtturm sendet ner- gängen der einst prächtigen Botschaftsresidenzen vöse Signale über das pechschwarze Meer, es ist stapelt sich Müll. An vielen Häusern hängt die merkwürdig still. Und langsam begreift man, rote montenegrinische Flagge, an manchen auch warum die Venezianer diesem fruchtbaren Land- die serbische Trikolore. Davor sitzen alte Männer strich, der bei Tag so grün ist wie ein Granny- und trinken Kaffee. Wer in den Tagen vor dem Referendum durch Smith-Apfel, im 15. Jahrhundert den geheimnisvollen Namen Montenegro, schwarzer Berg ga- Montenegro reist, fährt durch einen Landstrich, ben. Mračević schaut auf die Uhr. Es ist gleich in dem alles extremer zu sein scheint als anderswo. neun. Die Norweger hatten sich für sieben ange- Die Landschaft ist schroffer, die Schluchten sind sagt. »Aber wissen Sie«, Mračević füllt zwei Pokale tiefer, die Seen stiller, die Gerüche intensiver. mit Vranac, dem schweren lokalen Rotwein, und Doch nie wird klar, ob das Land sich gerade im lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Zwei Stunden Aufbruch oder in der Stagnation befindet. Für den Verspätung sind für montenegrinische Verhält- Umbau der maroden Flughäfen in Podgorica und

Foto: Vojo Bulatovic

er montenegrinische Gastwirt Dragan Mračević gehört zu den wenigen Männern, die hinter der Fassade eines Gentleman das Herz einer Herbergsmutter verstecken. Er genießt es, in Segelschuhen und Cordhose durch die Gässchen seiner Heimatstadt Herceg Novi zu schlendern und an jeder Ecke Grüße entgegenzunehmen. Er rechnet sogar damit, dass die Kellner des direkt über der Adria gelegenen Stadtcafés ihm zu jeder Tageszeit einen Schattenplatz reservieren. Der 58-Jährige, dem von seiner Lockenpracht nur ein grauer Haarkranz geblieben ist, ist an der montenegrinischen Küste schließlich nicht irgendwer. Er besitzt die hübscheste Pension von Herceg Novi, ist der Präsident des hiesigen Yachtclubs und einer der wenigen namhaften Galeristen der Gegend. Gästen, die er in seinem alten, aber spiegelblank polierten Mercedes durch die Bucht von Kotor chauffiert, drängt sich sogar der Eindruck auf, neben einem mächtigen Provinzfürsten zu sitzen. Autos hupen, Fischer winken, Frauen lächeln. Und, sicher, ihn freut das. Doch Mračević ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, wann

UND

ANREISE: An die Küste von Montenegro kommt man über die nationalen Flughäfen Tivat und Podgorica, oder man fliegt ins kroatische Dubrovnik

MONTENEGRO

Kosovo

Herceg Novi

ZEIT-Grafik

Podgorica Kotor Cetinje Tivat Budva Adr ia

»Glauben Sie mir, es geht um Sein oder Nichtsein«, sagt Dragan Mračević. Was passiert, wenn die Mehrheit sich doch für Serbien entscheidet? Was bedeutet Nichtsein für einen wie ihn? Seine norwegischen Gäste, die den Weg nach Herceg Novi doch noch gefunden haben, schauen betreten aus dem Fenster, Mračević streichelt sein Glas. Was soll schon passieren? Er lächelt. »Die Magnolien blühen, die ersten Kirschen werden reif. Wir haben das sauberste Wasser der ganzen Adria und die höchsten Berge. Bei uns kann man am selben Tag Skifahren und Se-

Information

SERBIEN

BOSNIEN

Tivat hat das Parlament 20 Millionen Euro bewilligt. Doch fragt man, wann damit begonnen wird, wann die neuen Vier-Sterne-Hotels in Budva und Kotor fertig sein werden, wann in Herceg Novi die erste Regatta startet, heißt es nur: nach dem Referendum. Bis dahin liegen die Verhandlungen mit der Firma Aman, die auf der Hotelinsel Sveti Stefan ein Luxusresort mit Zimmerpreisen von 800 Euro aufwärts einrichten will, auf Eis. Auch der kanadische Investor, der in Tivat den modernsten Yachthafen an der Adria bauen soll, hält sich seit neuestem bedeckt.

ALBANIEN 50 km

UNTERKUNFT: Pension Spinnaker, Sveta Bubala 2, Herceg Novi, Tel. 00381-88/32 39 81, www.apartmentsspinnaker.cg.yu, ab 40 Euro. Liebevoll eingerichtete Zimmer mit Meerblick, das Frühstück wird im Garten serviert. In der hübschen Altstadt von Kotor liegt das Hotel Marija, Stari Grad 449, Tel. 00381-82/32 50 62. 50 Zimmer mit Parkettboden und Blick auf die Altstadt, ab 60 Euro AUSKUNFT: Nationale Tourismus-Organisation, SCG-81000 Podgorica, Tel. 00381-81/23 51 55; www.visit-montenegro.org

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geln. Wir werden weiter arbeiten.« Denn es geht ja aufwärts. In den letzten fünf Jahren hat sich die Zahl der Übernachtungsgäste von 30 000 auf 900 000 erhöht. Dragan Mračevićs Pension ist diesen Sommer erstmals seit zwölf Jahren fast ausgebucht. Doch die Unsicherheit bleibt. Wenn er in der Zeitung liest, dass Serbien-Montenegro sich weigere, einen international gesuchten Kriegsverbrecher auszuliefern, beschleicht ihn die Angst, dass die Leute ihre Reservierungen wieder stornieren könnten. Es wäre ja nicht das erste Mal.

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Tipps und Termine Alle Hauptschulen können sich bewerben um

Förderpreise von 3000 bis 12 000 Euro. Die Alfred Toepfer Stiftung will zusammen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erkunden, welche guten Beispiele es in Deutschland für Werteerziehung und Wertedialog an Hauptschulen gibt. »Was ist wichtig?«, fragt die Stiftung und fordert auf, über die Bedeutung von Werten im Alltag und im zwischenmenschlichen Miteinander nachzudenken. Mitmachen können auch Schulen mit einem Hauptschulbildungsgang, Einsendeschluss ist der 15. September. Mehr Informationen unter www.wasistwichtig.de Ein neues Fernstudienangebot der Uni Bielefeld heißt »Coaching & Moderation«. Es richtet sich an Praktiker, Hochschulabsolventen und Personen, die führen, beraten oder weiterbilden möchten. Das Fernstudium kann innerhalb von 12 Monaten abgeschlossen werden. Nächster Anmeldetermin ist der 1. Juni. www.zww.uni-bielefeld.de

MERITH NIEHUSS in einem Hörsaal ihrer Universität

Foto: Michael Herdlein für DIE ZEIT

Einen Intensivkurs in Polnisch und Deutsch organisiert die Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) vom 29. Juli bis 26. August. 18 Polen und 18 Deutsche lernen in Ustka an der polnischen Ostseeküste und in Oberau bei Leipzig die jeweils andere Sprache. Die Teilnahme kostet 420 Euro inklusive Material, Unterkunft, Verpflegung, Transfers und Rahmenprogramm. Zielgruppe sind Studenten aller Fach-

Durch den Stiftungsdschungel führt das Golin

Wissenschaftsmanagement Mitarbeiter von NonProfit-Organisationen und Bildungseinrichtungen bei der Mitteleinwerbung. Das eintägige Seminar ist für den 27. Juni in Hamburg geplant, die Teilnahme kostet zwischen 200 und 230 Euro. www.golin.net

Merith Niehuss ist die erste Präsidentin der Bundeswehr-Universität in München. Ein Gespräch mit der Historikerin über das schräge Image ihrer Hochschule, den Wandel in den Streitkräften und die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master

ist bekannt geworden durch markige Äußerungen eines ihrer Historiker. Stört Sie das? Merith Niehuss: Sie spielen auf Herrn Wolffsohn an? ZEIT: Entspricht es dem Geist Ihrer Hochschule, wenn Herr Wolffsohn Folter oder deren Androhung als Mittel im Kampf gegen den Terror für legitim hält? Niehuss: Nein, sicher nicht. Das ist die Privatmeinung von Herrn Wolffsohn. Wir sehen es aber natürlich nicht so gerne, wenn die Universität immer nur mit den Äußerungen eines Einzelnen in Verbindung gebracht wird. Wir möchten uns in der Öffentlichkeit lieber mit unserer herausragenden technischen Forschung und Lehre profilieren. ZEIT: Aber es gibt jede Menge falsche Vorstellungen über die Bundeswehr-Universitäten … Niehuss: Das stimmt, leider. Viele halten uns für eine stockkonservative Militärakademie, wo alle in Uniform herummarschieren und ein Befehlston vorherrscht. Sind wir aber nicht, sondern eine ganz normale Uni. Und die Professoren sind durch die Bank Zivilisten. Eine konservative Schlagseite sehe ich auch nicht. ZEIT: Woher kommt dieses Bild? Die beiden Bundeswehr-Hochschulen in München und Hamburg gibt es schließlich schon seit mehr als 30 Jahren. Niehuss: Das hängt damit zusammen, dass die Bundeswehr allgemein nicht viel Aufhebens um sich macht. Wir haben eine sehr leise Armee, obwohl sie seit ihrer Gründung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs eine erstaunliche Entwicklung genommen hat. Eine Entwicklung hin zu einer originär demokratischen Armee. Ich glaube, die Bundeswehr ist die demokratischste Institution, die wir in Deutschland haben. ZEIT: Schwer vorzustellen … Niehuss: Sehen Sie, wenn sich hier auf dem Campus einer der Offiziere rechtsextremistisch äußert, fliegt er raus. Das passiert in der Politik nicht, in der Industrie nicht und auch nicht an einer Landesuniversität. Demokratie wird in der Bundeswehr in allen Rängen gepflegt und gelebt. Das wird nur in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. ZEIT: Und welchen Anteil hat Ihre Universität daran? Niehuss: Einen entscheidenden. Zum Konzept des Staatsbürgers in Uniform gehört die akademische Ausbildung des gesamten Offizierskorps. Bei uns in Deutschland gibt es nicht mehr die einseitige Militärkarriere von der Kadettenschule bis zum Generalstab. Unsere Offiziere haben eine fundierte technische oder gesellschaftswissenschaftliche Fachausbildung und einen weiten akademischen Horizont. Sie verhalten sich anders in der Truppe und können sich auch nach ihrer mi-

litärischen Verwendung viel besser eingliedern in die Gesellschaft. Nur 20 Prozent derer, die sich für zwölf Jahre als Zeitsoldaten verpflichtet und bei uns studiert haben, werden ja Berufssoldaten. ZEIT: Die Bundeswehr-Universitäten waren einmal als Reformhochschulen konzipiert mit einem kompakten Turbo-Studium, der Organisation des Studiums in Trimestern statt in Semestern, Kleingruppenarbeit und Campus-Atmosphäre. Warum hat das in der deutschen Hochschullandschaft nicht Schule gemacht? Niehuss: Ein so intensives Studium wie bei uns ist nur möglich, wenn die Studierenden bezahlt werden. Sie bekommen ja bei uns schon einen ganz normalen Offizierssold. Dafür stehen die jungen Leute unter starkem Druck. Nebenher Zeitungen austragen, das läuft bei uns nicht. Die Landesuniversitäten können solch einen Einsatz

BUNDESWEHRUNIVERSITÄTEN Die Bundeswehr-Universitäten in München und Hamburg dienen der akademischen Ausbildung des deutschen Offizierskorps. Sie wurden auf Initiative des damaligen Verteidigungsministers Helmut Schmidt 1972 per Bundestagsbeschluss ins Leben gerufen und nahmen am 1. Oktober 1973 den Lehrbetrieb auf. München ist der größere Standort. Auf dem Campus in München-Neubiberg sind etwa 3000 Studenten eingeschrieben, davon 250 Frauen, 31 zivile Studenten und rund 50 ausländische Offiziere. Sie werden von 166 Professoren und 145 wissenschaftlichen Mitarbeitern betreut. Es gibt zehn universitäre und drei Fachhochschulstudiengänge. Der Schwerpunkt liegt auf technischen Fächern. Gelehrt werden aber auch Pädagogik, Staats- und Sozialwissenschaft, Sportwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften. Bezahlt werden die beiden Universitäten vom Bundesverteidigungsministerium; hochschulrechtlich unterstehen sie den jeweiligen Bundesländern. Merith Niehuss, Jahrgang 1954, ist seit November 2005 Präsidentin in München. Arbeitsschwerpunkte der habilitierten Historikerin sind Sozial- und Parlamentarismusgeschichte sowie Genderforschung. Seit 1994 lehrt sie an der Münchner Bundeswehr-Uni deutsche und europäische Geschichte. Von 1999 bis 2003 war sie hier Vizepräsidentin. ETS

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von ihren Studierenden nicht erwarten. Aber für private Universitäten sind wir durchaus ein Vorbild. ZEIT: Haben Ihre Studierenden überhaupt noch Zeit, um über den Tellerrand ihres Faches hinauszublicken? Niehuss: Um den Horizont unserer Studentinnen und Studenten zu erweitern, gibt es bei uns das »studium plus«. Das fließt sogar in die Abschlussnote mit ein. Im »studium plus« lernen unsere Studierenden, mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen umzugehen. Dazu gehören historische Seminare, etwa zur Geschichte des Nationalsozialismus oder der DDR, Kurse über andere Kulturen und Religionen, Politikseminare. ZEIT: Wie wirkt sich bei Ihnen die Reform der Studiengänge, die Einführung von Bachelor und Master, aus? Niehuss: Wir haben das Handicap, dass wir auch hier wieder kürzere Studienzeiten anbieten müssen als die Landesuniversitäten. Sonst würde sich das Studium für die Bundeswehr ja nicht mehr auszahlen. Zurzeit dauert ein Diplomstudium bei uns etwa dreieinviertel Jahre, gegenüber fünfeinhalb Jahren an einer Landesuniversität. Wir wollen künftig Bachelor und Master in drei Jahren und neun Monaten anbieten. Das ist dann ein knappes Jahr weniger als an den Landesunis. Der Vorsprung schrumpft etwas, dafür wird die Kombination von Bachelor und Master inhaltlich mehr bieten als das bisherige Diplom. ZEIT: Welchen Stellenwert hat die Forschung an der Bundeswehr-Universität? Niehuss: Einen entscheidenden. Leider ist das in der Öffentlichkeit auch zu wenig bekannt. Wir sind weltweit führend in der Satellitennavigation. Einer unserer besten Leute, Professor Günter W. Hein, betreut federführend das europäische Galileo-Programm, die Konkurrenz zum US-Navigationssystem GPS. In der gesamten Weltraumforschung haben wir eine starke Position. Die Venussonde ist zu großen Teilen bei uns entwickelt worden. ZEIT: Betreiben Sie Rüstungsforschung? Niehuss: Nein, nicht im eigentlichen Sinne. Aber natürlich sind viele Forschungsergebnisse dual, also zivil wie militärisch verwendbar. Ich möchte betonen, dass Forschung und Lehre bei uns frei sind, wie an allen Universitäten. Wir unterstehen der bayerischen Hochschulgesetzgebung. ZEIT: Wie können Sie sich in der Forschungslandschaft noch besser profilieren? Niehuss: Wir wollen bei uns eine Art Dach konstruieren mit der Überschrift »Sicherheit in Technik und Gesellschaft«. Unter diesem Dach können alle Fakultäten ihre Beiträge leisten. Die Sensorik, die sich mit der Stabilität etwa von Brücken befasst, die Mikroelektronik mit dem sicheren Telefonieren oder, ein Beispiel aus den Gesellschaftswissenschaften, die Soziologie mit dem

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Thema Sicherheit respektive Unsicherheit von modernen Biografien. ZEIT: Wie wirkt sich die Reform der Bundeswehr – weg von der Gammeltruppe, hin zur weltweit tätigen Einsatzarmee – auf Ihre studentische Klientel aus? Kommen jetzt doch wieder mehr »Haudegen« zu Ihnen? Niehuss: Nein, das stellen wir nicht fest. Solch eine Entwicklung befürchte ich nur für den Fall, dass wir eine Berufsarmee bekommen. ZEIT: Was halten Sie von einer Berufsarmee? Niehuss: Gar nichts. Zurzeit rekrutieren wir 60 Prozent der Offiziersbewerber über die Wehrpflicht. Die sind uns äußerst willkommen, weil sie die Bundeswehr schon kennen und keine unrealistischen Vorstellungen vom Soldatenberuf haben. Eine Berufsarmee hat sich in den Ländern, in denen sie eingeführt wurde, nicht bewährt. Da werden vor allem sozial Schwache rekrutiert. ZEIT: Sie nehmen seit einiger Zeit auch Zivilisten auf, so genannte Industriestudenten, die von ihrem Unternehmen ein Stipendium für die Bundeswehr-Universität bekommen. Wird diese Öffnung fortgesetzt? Niehuss: Zivile Studenten können über ein Industrie-Stipendium bei uns studieren, wenn in den Studiengängen freie Kapazitäten vorhanden sind. Ferner wollen wir uns im Rahmen der Studienreform stark in der Weiterbildung engagieren und so genannte Weiterbildungsmaster anbieten. Dieses Angebot richtet sich dann auch an Nichtmilitärs. Wir hoffen, auf diese Weise etwas Geld einzunehmen. Das können wir angesichts des allgegenwärtigen Sparzwangs dringend gebrauchen. Natürlich darf dabei unser Grundauftrag der akademischen Offiziersausbildung nicht gefährdet werden. ZEIT: Fühlen Sie sich als Frau in dieser – immer noch – Männerwelt eigentlich als Exotin? Niehuss: Überhaupt nicht. Schon als ich 1994 als Professorin hierher kam, wurde ich voll und ganz akzeptiert. ZEIT: Was bedeutet Ihre Wahl zur UniversitätsPräsidentin? Niehuss: Ein Stück mehr Normalität für die deutsche Hochschullandschaft. Und es betont den zivilen Charakter der Bundeswehr-Universität. Ich gebe zu, dass wir damit jetzt auch ein bisschen hausieren gehen. ZEIT: Haben Sie eigentlich schon mal ein Gewehr in den Händen gehalten? Niehuss: Ob Sie es glauben oder nicht: Ja. Ich besitze den Jagdschein und habe zu Hause sogar einen Waffenschrank. DIE FRAGEN STELLTE GEORG ETSCHEIT i Weitere Informationen über die Bundeswehr-Universitäten finden Sie im Internet: www.zeit.de/2006/21/bw-uni

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richtungen, die Interesse an polnischer Kultur und gegenseitigem Austausch haben. Bewerbungsschluss ist am 1. Juni. www.gfps.org

»Wir sind eine ganz normale Uni« DIE ZEIT: Die Münchner Bundeswehr-Universität

DER BESONDERE TIPP

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Musikjournalismus auf Bachelor kann man mit Beginn des Wintersemesters an der Hochschule für Musik Karlsruhe studieren, und zwar »für Rundfunk und Multimedia. Der Studiengang ist zusammen mit dem sich anschließenden Masterprogramm aus dem Aufbaustudiengang »Rundfunk-Musikjournalismus« am Institut LernRadio hervorgegangen. Die Bewerbungsfrist zur Aufnahmeprüfung läuft bis zum 15. Juni. www.lernradio.de

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ZEIT Chancen STELLENMARKT UND BILDUNGSANGEBOTE SEMINARPLANER: Diesmal mit dem Spezialplaner Training & Coaching Sprachen z. B. Ferienkurse Französisch und

Englisch am Lemania Institut, Lausanne TOP-JOB BASF sucht Manager Communication Research (m/w) LEHRE UND FORSCHUNG Deutschlands Stellenmarkt mit den meisten Angeboten für Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden FÖRDERER DER WISSENSCHAFT z.B. Promotionsprogramm Sprachtheorie und Angewandte Sprachwissenschaft an der LMU München STELLENGESUCHE Fach- und Führungskräfte suchen eine neue beruliche Herausforderung

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Prozentualer Anteil der 15-Jährigen, die nicht richtig lesen können, nach Migrationsstatus

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im Ausland geboren

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im Inland geboren, Eltern im Ausland geboren

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Ohne Migrationshintergrund

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RALF SÖREN MARQUART, 42, Geschäftsführer Verband für Schiffbau und Meerestechnik

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Lesekompetenz der Einwanderer im internationalen Vergleich

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Die Auftragsbücher der Schiffbauer sind auf Jahre hinaus gut gefüllt. Gibt es überhaupt noch genügend Nachwuchskräfte?

Bis 2010 gehen wir von einem Bedarf von 300 Ingenieuren pro Jahr aus, bezogen auf alle Fachrichtungen. Allein bei der Fachrichtung Schiffbau liegt der Bedarf jährlich bei 120 Ingenieuren. In Deutschland gibt es aber lediglich sechs Hochschulen, die diesen Studiengang anbieten, mit insgesamt nur 70 Absolventen im Jahr. 2005 war ein Rekordjahr für die deutschen Werften. Was bescherte diesen Aufwind?

Der wachsende Welthandel spielt dabei eine große Rolle. Davon profitieren alle Schiffbauer weltweit. Die Asiaten etwa bei den Öltankern, die deutschen Schiffbauer vor allem bei Kreuzfahrtschiffen, Yachten und Marinefahrzeugen. Wie behaupten sich die europäischen Schiffbauer gegen die Konkurrenz aus Asien?

Durch unsere Konzentration auf hoch technologische Marktsegmente. Bei Kreuzfahrtschiffen haben wir gar keine Konkurrenz, da kommen 99 Prozent der Neubauten aus Europa. Die europäischen Schiffbauer sind schneller mit Innovationen als die Wettbewerber mit Kopien. Eigentlich nur wunderbare Nachrichten, dennoch starten die europäischen Schiffbauer eine Imagekampagne. Warum?

Wir wollen zeigen, dass unsere Branche für junge Leute attraktive Arbeitsplätze mit anspruchsvollen Aufgaben bereit hält, die vernünftig vergütet werden. Hier hat man eine große Nähe zu einem interessanten Produkt, das nicht in Massen produziert wird: Schiffe sind beeindruckend, sie haben einen Namen, manche behaupten sogar, dass sie trotz industrieller Herstellung auch eine Seele haben. Das bietet Identifikationspotenzial. Wo arbeiten Schiffbauer?

In einem internationalen Umfeld, Schiffbau war schon immer eine globale Branche mit Kontakten zu Partnern aus aller Welt. Ohne Englischkenntnisse und interkulturelle Offenheit kommt man nicht mehr aus. Ingenieure werden auf den Werften überall eingesetzt, in Forschung und Entwicklung, in der Konstruktion bis zur Abnahme. INTERVIEW: CORINA WEBER

20 % 30 % 40 % 50 % ZEIT-Grafik/Quelle: OECD Pisa-Datenbank

Hohe Motivation, schwache Leistungen Ein OECD-Bericht vergleicht die Erfolgschancen von Einwandererkindern in 17 Ländern

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ie gute Nachricht vorweg: Schüler mit Migrationshintergrund sind motiviert und haben eine positive Einstellung zur Schule. Ihre Motivation ist sogar, auch hierzulande, größer als die der einheimischen Mitschüler. Das zeigt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die diese Woche in Berlin vorgestellt wurde. Die schlechte Nachricht ist altbekannt: Trotz ihrer hohen Lernbereitschaft schneiden die Einwandererkinder in vielen Ländern in der Schule viel schlechter ab als ihre einheimischen Mitschüler. »Wo haben Schüler mit Migrationshintergrund die größten Erfolgschancen?« lautet die Leitfrage der neuen Untersuchung, die auf Grundlage von Daten aus der Pisa-Studie 2003 erstellt wurde. Zusätzlich haben die Wissenschaftler nach Anhaltspunkten dafür gesucht, warum die Einwandererkinder in einigen Staaten besser abschneiden als in anderen. 17 Länder wurden untersucht, die eines gemeinsam haben: einen großen Anteil von Migranten unter ihren Schülern. Dazu gehören neben den klassischen Einwanderungsstaaten wie Kanada, Australien und Neuseeland auch Nationen wie Deutschland, die Niederlande, Schweden, Frankreich, Dänemark. Die Forscher haben herausgefiltert, wie Schüler mit Migrationshintergrund in Mathematik

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und in der Lesekompetenz bei Pisa 2003 im Vergleich zu den einheimischen Schülern abgeschnitten haben. Und haben außerdem nach Lernmotivation und Einstellung zur Schule gefragt. Unterschieden wurde dabei zwischen Migranten der ersten Generation (aus dem Ausland zugewandert) und der zweiten Generation (die Eltern kommen aus dem Ausland, die Kinder sind im Land geboren). »Die Studie soll in erster Linie die Situation von Migranten in den einzelnen Ländern beschreiben«, sagt Petra Stanat, Koautorin des Berichts und Professorin für Empirische Unterrichtsforschung der Uni Erlangen-Nürnberg. »Zu den Ursachen der Unterschiede liefert sie nur einige Anhaltspunkte, keine gesicherten Schlussfolgerungen.« In Deutschland sei die Situation der Schüler mit Migrationshintergrund alarmierend, sagt Stanat. Beispiel Mathematik: Hier beträgt der Rückstand von Einwandererkindern der zweiten Generation gegenüber Einheimischen 93 Punkte. Nach einer Daumenregel entsprechen 40 Punkte in etwa dem, was ein Schüler normalerweise in einem Schuljahr lernt. Das heißt, die Migrantenkinder hinken mehr als zwei Jahre hinterher. Damit findet sich Deutschland zusammen mit Belgien abgeschlagen am Ende der Tabelle wieder. In den Niederlanden beträgt der Rückstand lediglich 59

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VON ARNFRID SCHENK

Punkte, in Schweden nur 34, in Kanada und Australien gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Einwanderern und Einheimischen. Bei der Lesekompetenz ergibt sich ein ähnliches Bild. Besonders schlecht stehen die Schüler türkischer Herkunft da. In Deutschland beträgt ihr Rückstand gegenüber den Einheimischen 120 Punkte, also drei Schuljahre. Die türkischen Schüler haben auch in der Schweiz, Dänemark und Österreich große Schwierigkeiten, aber in Deutschland und Belgien ist der Abstand zu den einheimischen Schülern besonders groß. Schüler aus dem ehemaligen Jugoslawien haben lediglich einen Rückstand von 78 Punkten. Hoch ist unter den Einwanderern der Anteil der so genannten Risikoschüler. Das sind diejenigen Schüler, die beim Eintritt ins Berufsleben Schwierigkeiten haben werden, weil sie in Mathematik und im Lesen nicht einmal über grundlegende Kompetenzen verfügen (siehe Grafik oben). In Deutschland sind das von den Einwandererkindern der zweiten Generation in Mathematik 47 Prozent, im Lesen 44 Prozent. In den meisten europäischen Ländern haben die Schüler aus Migrantenfamilien einen weniger günstigen sozioökonomischen Hintergrund als die einheimischen Schüler, und auch der Bildungsstand der Eltern ist geringer. In Kanada etwa gibt es diese Unterschiede nicht. Und das wirkt

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sich aus. »Je kleiner die Differenz beim Bildungshintergrund ist, desto kleiner ist der Leistungsunterschied«, sagt Petra Stanat. Aber auch nach Berücksichtigung dieser Merkmale bleiben in vielen Ländern Leistungsunterschiede zwischen Einwandererkindern und Einheimischen bestehen. Die Studie widerlegt die Annahme, dass sich ein hohes Zuwanderungsniveau im Allgemeinen negativ auf die Integration auswirkt. Es besteht also kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Zahl der zugewanderten Schüler und der Größe der Leistungsunterschiede zwischen Migrantenkindern und einheimischen Schülern. Der Bericht zeigt außerdem, was Deutschland von anderen Ländern lernen kann. Denn in der Regel haben diejenigen Länder, in denen die Leistungsunterschiede relativ gering sind, etablierte Programme für die Sprachförderung. So gibt es in Schweden ein Schulfach Swedish as second language für Schüler mit Migrationshintergrund. Auch Kanada, das eine hochselektive Einwanderunspolitik betreibt, hat klar strukturierte Sprachförderprogramme. In Deutschland dagegen habe man weniger selektiv Migranten aufgenommen und trotzdem keine strukturierten Förderprogramme entwickelt, sagt Petra Stanat. »Wir haben in dieser Hinsicht lange Zeit viel zu wenig getan, jetzt sehen wir die Folgen.«

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s ist, als sei mit einem Mal ein Tor aufgestoßen: Sechs Jahre nach Kolumbus’ erster großer Reise segelt der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama nach Indien. Zwanzig Jahre später umrunden die Schiffe des Spaniers Fernando de Magellan schon den Globus, erobern seine Landsleute Hernán Cortéz und Fernando Pizarro die Reiche der Azteken und Inkas. Plötzlich hat die Welt sich verdoppelt. Sie verliert ihre Grenzen, muss täglich neu beschrieben und vermessen werden. Gerhard Kremer aus dem Städtchen Rupelmonde bei Antwerpen zählt 18 Jahre, als er sich am 29. August 1530 zum Studium der Philosophie an der Universität Löwen einschreibt. Es scheint ihm der ideale Ort, die neue Sicht auf Erde und Himmel zu studieren. An die berühmte Akademie der reichen flandrischen Tuchhändlerstadt, die in den Augen westeuropäischer Intellektueller nur von der Pariser Sorbonne übertroffen wird, strömen Tausende von Studenten. Neben Deutschen und Niederländern hören Spanier und Portugiesen, Italiener und besonders viele Engländer die Vorlesungen über Astronomie, Theologie oder Mathematik, die in der Wissenschaftssprache Europas gehalten werden, dem Lateinischen. Der junge Kremer bringt dafür beste Voraussetzungen mit. Dreieinhalb Jahre haben ihn die frommen »Brüder vom gemeinsamen Leben« im weiter nördlich gelegenen ’s-Hertogenbosch mit Latein und Griechisch, Logik, Grammatik und Rhetorik gemästet, sind die Bibel und die Schriften der Kirchenväter, der antiken Philosophen und Dichter seine tägliche Lektüre gewesen. Stolz auf seine Bildung, latinisiert er seinen Namen und nennt sich fortan Gerardus Mercator Rupelmundanus. Damit macht er, der jüngste Sohn eines Schusters, einen großen Schritt die soziale Stufenleiter hinauf. Zu seinem Talent und Fleiß kommt allerdings noch das Geld eines wohlhabenden Onkels, der erst die Lateinschule und dann das Studium des begabten Neffen bezahlt.

Er baut den größten Globus, den die Welt bis dahin gesehen hat Zwei Jahre später, 1532, erwirbt Mercator den Grad eines Magisters, wechselt aber in einen anderen Beruf, in eine wahre Boombranche jener Zeit: Er wird Kartograf, Globenbauer und Konstrukteur astronomischer Instrumente. Ein gewiss aussichtsreicheres Unternehmen als die Philosophie. Jahrhundertelang kam das christliche Europa mit einer simplen Dreiteilung der Welt aus, die sich theologisch wohl begründen ließ und jedermann einleuchtete. Der Heiligen Dreifaltigkeit, Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, entsprachen die drei Kontinente Europa, Afrika und Asien, in deren Mitte die Heilige Stadt lag: Jerusalem. Doch diese gedachte Mitte existierte nicht mehr, seitdem die »Entdecker« die Welt zu erkunden begannen. Nicht genug und noch bestürzender für die Zeitgenossen geriet auch der Himmel ins Wanken, die Vorstellung eines Universums, in dessen Zentrum die Erde unverrückbar ruht, während in schöner Sphärenharmonie Sonne, Planeten und Fixsterne auf exakten Bahnen um sie kreisen. Ein Geistlicher, der Domherr Nikolaus Kopernikus aus Thorn an der Weichsel, entzauberte den Kosmos und berechnete die Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems – just in jenen Jahren, als nach Luthers Wittenberger Thesenanschlag auch die Einheit der Kirche zerbrach. Kopernikus’ Idee widersprach indes so offensichtlich der Bibel, dass sich Katholiken und Protestanten in ihrer Ablehnung ausnahmsweise einig waren. Mochten die Gelehrten und Theologen streiten, die Kapitäne auf den neuen Überseerouten und ihre Reeder berührte es weit mehr, dass gute Karten der fernen Länder und Meere fehlten. Das lag nicht nur an den noch ungelösten mathematischen Problemen der Kartenprojektion, sondern auch daran, dass die jungen Kolonialmächte Spanien und Portugal überhaupt nicht daran dachten, möglichen Konkurrenten den Zugang zu ihren Besitzungen in Amerika und Indien zu öffnen. Die Padron Real, die offizielle Seekarte Spaniens, von einem eigens gegründeten kartografischen Amt in Sevilla herausgegeben, unterlag allerstrengster Geheimhaltung. Der Wechsel von der Philosophie zur Geografie fällt Mercator offenbar leicht. Er habe sich, bekennt er später einmal, seit seiner Jugend für das Fach interessiert.

In dem Leidener Mathematiker Gemma Frisius findet er einen hervorragenden Lehrer, der das Verfahren der Landvermessung, die Triangulation, entwickelt hat, selbst Globen baut und Mercator daran beteiligt. Dabei zeigen sich dessen Fähigkeiten als Kupferstecher, Kalligraf und Konstrukteur. Einen Globus zu bauen war ausgesprochen kompliziert. Allein die Kugel aus Papiermaché und Gips zusammenzuleimen erforderte äußerste Sorgfalt. Das Kartenbild, gestochen auf Kupferplatten und dann gedruckt, bestand aus zwölf keilförmigen Segmenten, die passgenau auf die Oberfläche geklebt werden mussten. Anschließend wurde die Weltkugel koloriert und lackiert und in ein Holzgestell eingepasst. Globen waren teuer. Ihr Besitz zeugte von Reichtum und Bildung. Umgerechnet auf heutige Preise, kosteten gute Arbeiten leicht 50 000 Euro. Nach vier Jahren Zusammenarbeit mit Frisius tut der jetzt 24-jährige Mercator den entscheidenden Schritt seines Lebens: Er macht sich selbstständig. Dafür gibt es vier Gründe. Zum einen, berichtet 1595 sein Freund und Biograf Walter Ghim, »wurden seine Künste allenthalben von den Gelehrten empfohlen«. Zweitens stellen sich genügend Auftraggeber bei ihm ein. Drittens ist er zu der Überzeugung gekommen, dass sein kartografisches Bild der Welt die Wirklichkeit besser erfasst als die Arbeiten seiner Konkurrenten, und viertens hat ihm ein Besuch Antwerpens klar gemacht, dass man nirgendwo mit Karten und Globen so reich werden kann wie dort. Die Metropole an der Scheldemündung ist damals eine der größten Städte Europas und zählt um die 100 000 Einwohner. Mit ihrem Hafen, in dem jede Woche 2500 Schiffe vor Anker liegen, den 10 000 Wagenladungen, die wöchentlich durch die Stadttore rollen, wickelt sie 75 Prozent des Handels der Niederlande ab. Und dessen Umfang beträgt mehr als doppelt so viel wie der des Königreichs England. Antwerpen ist auch eine Stadt der Bücher, und das Urteil von Christophe Plantin, der hier die größte Druckerei Nordeuropas mit 16 Pressen und 55 Angestellten aufgebaut hat, trifft auf das Gewerbe des Globen- und Kartenmachers gleichfalls zu: »Keine andere Stadt der Welt bietet mehr und bessere Möglichkeiten. Sie ist leicht zu erreichen, und auf ihren Marktplätzen begegnet man vielen Nationen.« Hier kann Mercator aus erster Hand die neuesten geografischen Informationen erhalten, die er dann in seiner Löwener Werkstatt in Karten umsetzt. Der Erfolg gibt ihm Recht. Gleich sein erstes Werk, eine historische Karte Palästinas, die Gläubige aller Konfessionen zum Studium der Bibel benötigen, wird ein Best- und Longseller. Sie kommt 1537 heraus, und noch 1568 (Plantins Geschäftsbücher haben sich erhalten) liefert Mercator hundert Exemplare an den Buchhändler; weitere Drucke lassen sich bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts nachweisen. Im folgenden Jahr entwirft er eine kleinformatige Weltkarte, die er seinem Publikum als »neuer und korrekter« empfielt, »als die, welche bis jetzt im Umlauf waren«. Wenig später revolutioniert er die Kartenschrift. In Antwerpen erscheint sein Schreibbüchlein, in dem er statt der bis dahin üblichen Fraktur eine Kursivschrift entwickelt hat. Sie ist ungemein fein, dabei doch sehr gut zu lesen und ermöglicht es so, die Zeilen dichter zu setzen und mehr Text in die Karte einzutragen. 1541 wagt Mercator sich an sein Meisterstück. Er baut den größten Globus, den die Welt bis dahin gesehen

Wie Gerhard Mercator in der Epoche der Entdeckungen, der Glaubenskrisen und -kriege mit seinen Globen und Atlanten unser Bild der Welt entwarf VON RALF-PETER MÄRTIN

hat: 41 Zentimeter im Durchmesser. Er sticht dafür Karten von nie erreichter Präzision, und er zeichnet auf ihnen (zum ersten Mal auf einem gedruckten Globus) Loxodrome ein, Hilfslinien, die in Kombination mit einem verstellbaren Quadranten es erlauben, den Kurs eines Schiffes zu bestimmen. Mercators Werk macht ihn mit einem Schlag berühmt. Die Nachfrage ist enorm und hält sein ganzes Leben hindurch an. Zehn Jahre später baut er noch einen Himmelsglobus und akzeptiert fortan nur noch paarweise Bestellungen. Es sind seine Brotartikel, und wiewohl er darüber klagt, dass ihre Herstellung wegen des großen Aufwands sich nicht lohne, verdient er gut daran. Nur ihren eigentlichen Zweck erfüllen sie nicht. Kein Kapitän nimmt die zerbrechlichen Kostbarkeiten mit an Bord. Während der Kartograf zum geachteten Gelehrten und wohlhabenden Mann aufsteigt, die Löwener Bürgertochter Barbara Schellekens heiratet und Vater von drei Mädchen und drei Jungen wird, vertiefen sich die religiösen Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten immer mehr. Der Herrscher über die Niederlande, Kaiser Karl V., ist fest entschlossen, die Einheit des Glaubens, wenn es denn sein muss, mit Gewalt durchzusetzen. Das Mittel gegen die »Ketzerei« ist die Inquisition, die jeden festnehmen und vor Gericht stellen kann. Irgendwie gerät auch Mercator in ihre Mühlen und findet sich 1544 als der »Lutherey« angeklagt

in den Verliesen des Schlosses von Rupelmonde wieder, seinem Geburtsort, wo er gerade eine Erbschaftsangelegenheit regeln wollte. Der Protest der akademischen Welt lässt nicht lange auf sich warten: Klerus und Universität von Löwen intervenieren, der Rektor, selbst Inquisitor, wendet sich an die Statthalterin der Niederlande, und nach siebenmonatiger Haft kommt Mercator wieder frei. Acht Jahre verbringt er noch in Löwen. Dann organisiert er den einzigen Umzug seines Lebens. Mit seiner Familie, mit Druckplatten und Instrumenten übersiedelt er 1552 gen Osten ins rechtsrheinische Städtchen Duisburg. Frühere Biografen haben Mercator gern zum »Glaubensflüchtling« stilisiert, der sich vor der Inquisition nach Deutschland gerettet hätte. Tatsächlich ist sein neuer Landesherr, Herzog Wilhelm V. von Kleve, tolerant in Religionsdingen, und noch mehr ist es Duisburg, wo in der mächtigen städtischen Salvatorkirche Protestanten und Katholiken sich beim Feiern von Messe und Gottesdienst wöchentlich abwechseln. Aber schon ein Blick auf Mercators Kundenliste oder die Widmungsadressen seiner Karten zeigt, wie sehr sich der Geograf dem kaiserlichen Hof und dem katholischen Glauben verbunden fühlt. Für Karl V. fertigt er astronomische Instrumente und Globen, ebenfalls für zwei seiner Minister, Vater und Sohn Granvelle, der eine Kardinal, der andere Bischof von Arras, und seinen Himmelsglobus widmet er dem Bischof von Lüttich. Auch nach seinem Umzug an den Rhein arbeitet er weiter für den Kaiser, der ihn am 3. Mai 1554 sogar nach Brüssel zur Audienz bittet, weil ihm die Protestanten im Krieg die von Mercator gebauten Instrumente zerschossen haben. Er bestellt neue, dazu noch ein Globenpaar, und diskutiert mit dem Meister ausführlich das Problem der exakten Positionsbestimmung auf See. Naheliegender als die religiöse ist eine andere Erklärung für Mercators Wechsel ins Klevische. Herzog Wilhelm bemüht sich seit Jahren darum, in Duisburg eine Universität zu gründen. Gut möglich, dass man dem Herrn der Karten Aussichten auf einen Lehrstuhl gemacht hat.

Nicht nur Geograf – Kosmograf will er sein Der Gegensatz des ländlichen Duisburg zu der lebhaften Universitätsstadt Löwen und der Metropole Antwerpen kann größer kaum sein. Die Ackerbürgerstadt zählt gerade 3000 Einwohner, statt der Hochschule wird nur ein Gymnasium gegründet (erst der Große Kurfürst wird, als Duisburg brandenburgisch geworden ist, 1655 den Ort zum Universitätssitz machen). Doch Mercator, der bald ein geräumiges Anwesen in bester Lage erwirbt, findet hier die Ruhe, um das zu tun, was er am besten kann: studieren, Karten stechen, Globen bauen. Fast will es scheinen, als seien seine ersten vierzig Jahre, seine Zeit in den Niederlanden, nur die Vorbereitung gewesen für dieses zweite Leben in Duisburg, das noch 42 Jahre währen und in dem er seine bedeutendstenWerke schaffen wird: die Europakarte, die Weltkarte und das Riesenunternehmen seines Atlas, der bis heute einem ganzen Buchgenre den Namen gibt. Mercators Europakarte von 1554 ist die erste, die diesen Namen wirklich verdient. Seit 1538 hat er an ihr gearbeitet, die

Lage jeder Stadt berechnet und Ptolemäus, den bedeutendsten Geografen der Antike und immer noch eine Autorität, dabei behutsam korrigiert. Mercators Mittelmeer misst in der Länge tausend Kilometer weniger als das des Ägypters. Die Karte wird zum Vorbild für alle Konkurrenten und Nachfolger und bleibt es zur Freude der Buchhändler von Antwerpen und Frankfurt anderthalb Jahrhunderte lang. Die große Weltkarte bringt Mercator dann 15 Jahre später, 1569, heraus. Perfektionistisch hat er Land für Land, Küste für Küste, Ozean für Ozean alle Informationen geprüft und gegeneinander abgeglichen. Aber die eigentliche Sensation ist eine neue Art der Darstellung, nach ihm Mercator-Projektion genannt, die ihn unsterblich machen soll. Jeder Kartograf steht vor derselben Aufgabe: Er muss das kugelförmige Bild der Erde in der Fläche abbilden, was ohne Verzerrungen unmöglich ist. Die bisherige Lösung war eine Zylinderprojektion, die ein Netz immer gleich großer Planquadrate abbildete. Für die Berechnung kompassgesteuerter Kurse ist jedoch Winkeltreue Voraussetzung. Mercator erreicht sie, indem er die Breiten nach den Polen hin vergrößert. Die Verzerrungen in der Fläche nimmt er bewusst in Kauf. Die Karte löst das Problem der Navigation und lässt sich zudem, anders als ein Globus, leicht mitnehmen auf großer Fahrt. Dennoch dauert es rund hundert Jahre, bis die Erfindung in ihrer Bedeutung für die Schifffahrt erkannt wird. Erst von der Mitte des 17. Jahrhunderts an setzt sich die Mercator-Projektion für die Seekarten durch. Heute wird sie auch bei der Fernerkundung mittels Satellit verwandt. Des Meisters eigentlicher Ehrgeiz entfaltet sich freilich jenseits allen praktischen Nutzens seiner mathematischen und erdkundlichen Forschungen. Nicht nur Geograf will er sein, sondern Kosmograf, nicht nur das Antlitz der Erde will er beschreiben, sondern die ganze Welt und ihre Entstehung schildern. Das ist höchst christlich gedacht, denn der tiefere Sinn seines Tuns darf nicht Selbstzweck, sondern muss Gotteserkenntnis sein. Naturwissenschaft und Bibel bilden für Mercator keinen Widerspruch, sie ergänzen einander. Das große Werk plant Mercator in fünf Teilen. Mit der Erschaffung der Welt will er beginnen, dann zur Beschreibung des Himmels übergehen, dann sollen Karten aller Länder und Meere folgen, die politische Geschichte und endlich eine Chronologie vom Anfang bis in seine Zeit. Als Titel des Ganzen wählt er den Namen eines maurischen Königs, den er als weltweisen Astronomen und Geografen aus der griechischen Mythologie kennt: Atlas oder kosmographische Überlegungen über die Erschaffung der Welt und die Form des Geschaffenen. Von 1568 bis zu seinem Tode ist Mercator rastlos mit diesem Opus magnum beschäftigt – und dennoch bleibt es ein Torso. Aus 123 Büchern gleicht er chronologische Daten ab und errechnet nebenbei, dass die Welt 1588 untergehen müsse (es ist dann aber nur die spanische Armada, die beim Angriff auf England sinkt). 102 neue Karten, alle im gleichen Format und bis ins letzte Detail akkurat, kann er noch stechen, bis ihn Anfang der 1590er Jahre ein Schlaganfall diese Arbeit unmöglich macht. Halb gelähmt schreibt er bis zu seinem Tod am 2. Dezember 1594 weiter an seiner Darstellung vom Ursprung der Welt. Als sein Sohn Rumold 1595 den Atlas posthum herausgibt, sind es die in Buchform gebundenen Karten und nicht die kosmografischen Aufsätze, die den Erfolg des Werkes ausmachen. In der Folgezeit erscheinen 31 Folio-Ausgaben seines Atlas Gerardi Mercatoris in fünf Sprachen, ergänzt durch einen Atlas minor in kleinerem Format, der vor allem an den Universitäten ein großer Erfolg wird. In Duisburgs gotischer Salvatorkirche liegt Gerhard Mercator begraben, ein prächtiges Epitaph kündigt davon. Es trägt sein Porträt, das Porträt eines Kartografen, der mehr war als nur ein Kartenmacher: ein Menschheitslehrer, der uns auf seinen Globen und Atlanten erstmals gezeigt hat, wie grenzenlos die Welt wirklich ist. Und wie klein. Der Autor ist Historiker und Publizist und lebt in Frankfurt am Main. Mehr zum Thema bietet das Kultur- und Stadthistorische Museum Duisburg, das die größte Mercator-Sammlung der Welt besitzt (Tel. 0203/283 26 40). Außerdem zeigt die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel noch bis zum 4. Juni die Ausstellung »Europas Weltbild in alten Karten. Globalisierung im Zeitalter der Entdeckungen«. Der Katalog mit 10 prachtvollen Faksimiles im Schuber kostet 30,– € (Tel. 05331/80 82 14).

Das MEISTERSTÜCK – der Erdglobus von 1541. Oben: Mercators Porträt auf dem Epitaph in der Duisburger Salvatorkirche

Nr. 21 DIE ZEIT 2. Fassung

S.102

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Fotos: [M] Kultur-und Stadthistorisches Museum Duisburg/Marc Damen

Der Herr der Karten