Neues Vertrauen. Neue Chancen

MEHRHEIT 2009 2010 „Neues Vertrauen. Neue Chancen.“ Zur Zukunftsdiskussion der NRWSPD Kampagnen-Handbuch Projekt Mehrheit 2009/2010 der NRWSPD Band ...
Author: Carsten Kaufman
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„Neues Vertrauen. Neue Chancen.“ Zur Zukunftsdiskussion der NRWSPD Kampagnen-Handbuch Projekt Mehrheit 2009/2010 der NRWSPD Band 2

Wir wollen neue Zeiten denken. Die weltweiten Veränderungen wirken sich immer unmittelbarer auf die Menschen in NordrheinWestfalen aus. Die Chancen und Herausforderungen des Wandels für unser Land zu erkennen und diesen Wandel politisch und gesellschaftlich zu gestalten, ist unser gemeinsamer Auftrag. Der ökonomische Strukturwandel, der Weg in die Wissensgesellschaft wie auch der soziale und demografische Wandel fordern die Sozialdemokratie in ihrem Gestaltungsanspruch heraus. Als Werte- und Programmpartei geht unser Ansatz über die Tagespolitik hinaus und muss mittel- und langfristige Perspektiven mit konkreten Reformschritten verknüpfen. Dabei können wir immer nur so überzeugend sein, wie wir uns praktisch an der Lebensrealität der Menschen in NRW orientieren. Wir wollen neue Zeiten denken: Dazu führen wir die Zukunftsdiskussion der NRWSPD und orientieren uns an Leitfragen, die am Anfang dieses Bandes stehen. Wichtige Elemente und Schritte unserer programmatischen Diskussion sind:

Der erste Schritt: Die politischen Leitbilder Ausgangspunkt der konzeptionellen Erneuerung sind gesellschaftspolitische Leitbilder, die von fünf Arbeitsgruppen unter Leitung des Landesvorsitzenden und der stellvertretenden Landesvorsitzenden erarbeitet wurden. Diese Entwürfe für politische Leitbilder stehen im Mittelpunkt dieser Broschüre. Sie werden zusammen mit den Leitfragen im Rahmen der Zukunftsdiskussion der NRWSPD auf regionalen Zukunftskonventen, in Anhörungen und Foren öffentlich debattiert und weiterentwickelt.

Der zweite Schritt: Der politische Orientierungsrahmen der NRWSPD Zukunftsentwurf NRW 2010 In Verantwortung des Landesvorsitzenden entsteht bis zum Zukunftskonvent am 18.November 2006 ein politischer Orientierungsrahmen mit dem Arbeitstitel „Zukunftsentwurf NRW 2010“. Eckpunkte für den Orientierungsrahmen berät der Landesvorstand auf einer Klausurtagung im September 2006. Der Beschluss ist nach gründlicher öffentlicher Diskussion für den Herbst 2007 geplant.

Parallel 2006 und 2007: Die Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD Wir haben alle Gliederungen der SPD aufgerufen, sich aktiv an der Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms der SPD zu beteiligen. Wir laden an Grundsatzfragen sozialdemokratischer Politik interessierte Menschen in NordrheinWestfalen ein, an dieser Programmdebatte teilzuhaben, auch wenn sie nicht Mitglied der SPD sind.

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2009 2010 Für die NRWSPD ist Ausgangspunkt und Grundlage unseres Beitrags zur Programmdebatte das „Leitbild Gerechtigkeit“, das der Landesparteitag 2004 beschlossen hat. Hinzu kommt der Diskussionsbeitrag unserer Arbeitsgruppe „Grundsatzprogramm“ in diesem Band. Wir weisen den liberalen Begriff von Gerechtigkeit zurück, der sich auf Rechtsgleichheit und Gleichheit der Startchancen beschränkt und den Rest dem freien Spiel der Kräfte überlässt. Nach unserem sozialdemokratischen Verständnis bedarf Gerechtigkeit der Gleichheit der Lebenschancen. Der Markt kann auf keinen Fall die letztgültige Instanz zur Verteilung von Lebenschancen sein. Gerade deshalb setzen wir auf einen handlungsfähigen Staat. Nur er eröffnet Chancengleichheit, gewährleistet soziale Teilhabe und Sicherheit und ist Voraussetzung für Demokratie. Wir haben mit der programmatischen Erneuerung der NRWSPD begonnen. Erneuerung heißt vor allem: Schärfung unseres sozialdemokratischen Profils. NRW braucht die Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Wir sind starke Opposition und klare Alternative zu Schwarz/Gelb in Düsseldorf. In unserem politischen Orientierungsrahmen Zukunftsentwurf NRW 2010 wollen wir unsere Politik als mutigen Entwurf - basierend auf den Werten und dem Menschenbild der Sozialdemokratie - formulieren. Nicht abgehoben theoretisch, sondern konkret und klar verständlich, offen für neue Erfahrungen und Erkenntnisse, um das Land voranzubringen.

Jochen Dieckmann Landesvorsitzender

Mike Groschek Generalsekretär

PS: Die Zukunftskonvente der SPD werden durch eine öffentliche Diskussion im Internet der SPD begleitet: www.nrwspd.de/zukunftskonvent Internet: http://www.nrwspd.de Blog: http://blog.nrwspd.de

Zu dieser Diskussion und zu unserem Zukunftskonvent am 18. November 2006 laden wir ein. Herausgeber: NRWSPD Verantwortlich: Mike Groschek, Generalsekretär 1. Auflage 2006

Jochen Dieckmann Landesvorsitzender

Mike Groschek Generalsekretär

Redaktion: Rudolf Hartung, Christa Becker-Lettow, Ruth Meiß, Stefan Mühlhofer, Gisela Lehwald Gestaltung: Oliver Dentges

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Inhaltsverzeichnis

I. Neues Vertrauen. Neue Chancen. Die Zukunftsdiskussion der NRWSPD: Neun Themen und Leitfragen. II. Fünf gesellschaftspolitische Leitbilder als Ausgangspunkte für die Zukunftsdiskussion der NRWSPD: Texte, Organisationshinweise und Literatur.

Leitbild 1: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität: Unsere Anforderungen an ein neues Grundsatzprogramm Karsten Rudolph Aktualisierung sozialdemokratischer GrundwerteSoziale Gerechtigkeit in neuen ZeitenBildungspolitik als Chancenpolitik: Vorschulische Bildung - Schulische Bildung - Berufliche Bildung Hochschule - Lebensbegleitendes Lernen und politische Bildung Soziale Marktwirtschaft im globalen Kapitalismus: Globalisierung - Nachhaltigkeit - Arbeit - Wirtschaftsdemokratie - Staatliche Verantwortung - Bürgerschaftliches Engagement.

Leitbild 2: Aktiver Staat - Staat und Bürger in NRW Jochen Dieckmann

Handlungsfähiger Staat - Partnerschaftlicher, aktiver Staat - Zivilgesellschaft als dritte Säule - Prinzip der Subsidiarität - Aufgabe der SPD als Volkspartei.

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Leitbild 3: Aktive Bürgergesellschaft und Partnerschaftlicher Staat Birgit Fischer

Damit es gerecht bleibt - Gerechte Lebenswelten schaffen. Fliehkräfte in unserer Gesellschaft: Arbeitsmarkt - Wissensgesellschaft - Generationen Kulturen - Die Chancen sehen - Gerechtigkeit schaffen - Soziale Innovationen - Im Mittelpunkt der Mensch Aktivieren statt bevormunden - Chancen der Bürgergesellschaft - Administration verändern Gesellschaftlicher Fortschritt durch sozial verantwortliche Politik.

Leitbild 4: Soziale Stadt Britta Altenkamp

Städte brauchen soziale Stabilität - Armutsinseln und ethnisch geprägte Nachbarschaften - Wandel der Bevölkerungsstruktur - Initiative fördern Eigeninitiative fordern. - Integration: Prozess auf Gegenseitigkeit.

Leitbild 5: NRW in Europa: Spitze sein und Spitze bleiben. Industrie und Innovationen für die Menschen und den Standort Karl Schultheis Industrielle Entwicklung - Wirtschaftlicher Strukturwandel - Bessere Produkte und SystemlösungenQualitäts- und Preiswettbewerb - Rheinischer Kapitalismus - Politik für Chancen-gleichheit, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt Innovation statt Verlagerung.

I. Die Zukunftsdiskussion der NRWSPD Neun Themen und Leitfragen Ziel der NRWSPD ist es, die Gestaltungsmacht in Nordrhein-Westfalen zurückzugewinnen. Um beim Bürger neues Vertrauen zu bekommen, greifen wir die inhaltlichen Fragen unserer Zeit auf und stellen unsere Antworten auf die Probleme der Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens zur öffentlichen Diskussion. Denn: Nur wer ein klar erkennbares Profil hat, kann erfolgreich sein. Ein Profil entsteht durch Eindeutigkeit und klare Abgrenzung gegen politische Mitbewerber. Wir betreiben keine Klientelpolitik, sondern wollen für die gesamte Gesellschaft gestalten. Unsere sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität müssen immer erkennbar bleiben. Wir können nicht uferlos diskutieren. Wir müssen uns Schwerpunkte setzen. Unsere Schwerpunkte sind die Themen, mit denen sich Zukunft gestalten lässt und die den Menschen auf den Nägeln brennen.

I.

¡ Welche Rolle spielt das Ehrenamt in diesem System?

2. Die Gesellschaft in Deutschland wird immer älter. Denn mit nur noch 1,36 Kindern pro Frau hat Deutschland mittlerweile eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU. Zugleich sterben wir alle Dank des medizinischen Fortschritts - immer später. Dies wirkt sich nicht nur auf die Rentenversicherung aus, mittelfristig wirkt sich dies auch auf viele andere Politikfelder aus. ¡ Wie wirken sich demographische Prozesse (Stichwort: „Überalterung der Gesellschaft“) aus? ¡ Wie wirkt sich dies auf unsere Kommunen aus und wie können wir die dadurch entstehenden Probleme in den Griff bekommen? ¡ Wie wirken sich immer erkennbarere Wanderungsbewegungen raus aus den ländlichen Gebieten und rein in die Städte und deren Speckgürtel aus? Deshalb hat die NRWSPD eine Leitbilddiskussion ¡ Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für die gestartet, die Eingang in einen politischen Politik - auf Landesebene und in den Kommunen? Orientierungsrahmen Zukunftsentwurf NRW 2010 fin- ¡ Wie kann ein generationengerechtes den soll. Rentensystem gestaltet werden, das dem Einzelnen Hier haben wir eine Auswahl von Fragen und Flexibilität ermöglicht und Sicherheit gewährt? Themen zusammengestellt, die in Zukunft die Politik bestimmen werden und die wir für eine Diskussion in 3. Familien sind Grundbaustein unserer Gesellschaft. euren Ortsvereinen, Stadtverbänden und Ihre Förderung muss eines unserer vordringlichsten Unterbezirken vorschlagen. Aufgaben sein. ¡ Wie sieht für uns ein modernes Familienbild aus? Themen und Leitfragen zur Zukunftsdiskussion der ¡ Wie sieht eine moderne Familienpolitik im 21. NRWSPD Jahrhundert aus? ¡ Wie erreichen wir eine bessere Vereinbarkeit von 1. Seit längerer Zeit wird nur noch vom Abbau staatli- Familie und Beruf? cher Leistungen geredet, Staat wird grundsätzlich als etwas dargestellt, was auf - nicht näher definierte 4. Bildung und Wissen sind die Basis der sozialen Kernaufgaben reduziert werden muss. Diese SichtDemokratie. Sie sind ein elementarer Baustein für ein weise muss hinterfragt werden. selbst bestimmtes Leben und das Fundament ¡ Wie viel staatliches Handeln wollen wir in für den Zusammenhalt und die Leistungsfähigkeit Zukunft? unserer Gesellschaft. Entweder gelingt es uns, mit vie¡ Was soll der Staat leisten und was soll in len hervorragend ausgebildeten Menschen eine weltEigenverantwortung der BürgerInnen liegen? weit exzellente Stellung in Wirtschaft, Wissenschaft ¡ Wie viele Leistungen werden heute noch von städ- und Kultur zu erlangen, oder unser Land fällt zurück. tischen Betrieben erbracht (Wasser, Strom, Abfall) und welche dieser Aufgaben soll die Kommune in Zukunft selbst noch erbringen? 5

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2009 2010 ¡ Welches Bildungssystem ist zukunftsfähig? ¡ Wie schaffen wir es, dass die soziale Herkunft nicht mehr der bestimmende Faktor für die „Schullaufbahn“ ist? ¡ Wie können wir den Prozess des lebenslangen Lernens ausbauen und vertiefen? 5. Seit Jahren diskutieren wir unser Bild von einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem. Alle Fachleute postulieren, dass wir mit dem jetzigen System unseren Standard nicht halten können, über neue Wege in der Gesundheitspolitik gibt es aber - über Parteigrenzen hinweg - sehr unterschiedliche Ansichten. ¡ Wie schaffen wir ein zukunftsfähiges, finanzierbares Gesundheitssystem, in dem jeder Bürger/jede Bürgerin die notwendige medizinische Hilfe erhält unabhängig von der Krankenkassenzugehörigkeit? 6. Wirtschaft und Arbeitsgesellschaft befinden sich in einem massiven Umbau. Die Globalisierung wird meist als Grund genannt. Oft bestimmen die Diskussion allein die Neoliberalen, deren vorrangiges Ziel das Schleifen von Arbeitnehmerrechten ist. Wir als NRWSPD setzen dem unsere Vorstellungen für eine modere, gerechte und mitbestimmte Arbeitswelt entgegenstellen. ¡ Wie entwickeln wir unsere soziale Marktwirtschaft fort? ¡ Wie bauen wir Mitbestimmung in den Betrieben aus? ¡ Wie integrieren wir mehr Frauen in der Arbeitswelt? ¡ Welche Mittel stehen uns zur Verfügung, um bessere Rahmenbedingungen für weniger Arbeitslosigkeit zu bekommen? ¡ Welche Mittel einer aktiven Arbeitsmarktpolitik stehen uns zu Verfügung, damit die Menschen so wenig Zeit wie möglich in der Arbeitslosigkeit verbringen? ¡ Welchen Stellenwert hat für uns die ökologische Ausrichtung von Wirtschaft? ¡ Welche Politik erwarten wir im Themenspektrum „Arbeitsmarkt“ von der EU (Angleichung oder Nivellierung der Sozialstandards)? ¡ Wie schaffen wir mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, sowohl im Sozialen als auch in Forschung, Wissenschaft und Technik? 6

7. Mobilität ist ein Motor unserer Wirtschaft. Ohne eine vernünftige Verkehrsinfrastruktur geht gar nichts. Zugleich ist Nordrhein-Westfalen ein Land der Pendler. Viele nehmen täglich weite Strecken in Kauf, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. ¡ Wie gestalten wir eine effiziente, an ökologischen Kriterien orientierte Verkehrsinfrastruktur in einer immer mobiler werdenden Gesellschaft? 8. Die Industrienationen verbrauchen zu viel Energie. Gleichzeitig schwinden die Öl- und Gasreserven in besorgniserregendem Tempo. ¡ Wie versorgen wir unsere Gesellschaft mit ausreichend Energie, wenn die Öl- und Gasvorräte schwinden? ¡ Wie können wie den Anteil alternativer Energiequellen erhöhen? ¡ Welche Rolle spielen heimische fossile Energieträger? ¡ Bleibt die Kernenergie eine Energieform von Gestern? 9. Nordrhein-Westfalen ist ein Einwanderungsland. Davor haben wir lange die Augen verschlossen. Die damit einhergehenden sozialen und kulturellen Spannungen lösen sich nicht von alleine auf. Vielmehr bedarf es aktiven Handelns, um zu einem dauerhaften friedlichen Miteinander und langfristig zu einer Integration zu kommen. ¡ Soziale Spannungen entstehen in unseren Stadtteilen. Wie können wir dem begegnen? ¡ Was würde helfen, um unsere Migranten besser zu integrieren? ¡ Welche präventiven gemeinsamen Maßnahmen der staatlichen Organe können helfen, die Probleme rechtzeitig zu erkennen und Unruhen wie in Frankreich erst gar nicht entstehen zu lassen? ¡ Welche Probleme haben wir mit rechtsextremen Kreisen in unserer Kommune? ¡ Welche Lehren lassen sich ganz konkret aus den Ausschreitungen in Frankreich ziehen?

Leitbild 1: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Verantwortlich: Dr. Karsten Rudolph MdL, stellvertretender Landesvorsitzender Unsere Anforderungen und Erwartungen an ein neues Grundsatzprogramm Das neue Grundsatzprogramm muss ¡ eine politische Haltung deutlich machen, die aktiv und offensiv die Herausforderungen unserer Zeit, insbesondere die Globalisierung und den demografischen Wandel annimmt ¡ den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch und die Bereitschaft der SPD, Regierungsverantwortung zu übernehmen, dokumentieren, ¡ den Willen zur politischen Meinungsführerschaft und die strategische Fähigkeit zur Mehrheitsbildung aufzeigen. Das neue Grundsatzprogramm soll konzeptionelle Ausführungen u.a. enthalten über: ¡ die Fortentwicklung einer sozialen Marktwirtschaft, die sich unter anderem vom Gedanken der Mitbestimmung leiten lässt und ökologisch ausgerichtet ist. ¡ die Nutzbarmachung wachsenden wirtschaftlichen Reichtums und technischen Fortschritts für alle Teile der Gesellschaft, ¡ ein soziale Nachteile ausgleichendes und Chancen förderndes Bildungswesen, ¡ die Erhöhung der Erwerbsquote, insbesondere der Frauenerwerbsquote, ¡ den Ausbau sozialer Dienstleistungen und die Förderung hoch qualifizierter Dienstleistungen, insbesondere in Forschung, Wissenschaft und Technik, ¡ den Umbau der nicht länger zeitgemäßen Elemente der Sozialversicherung zugunsten eines stabilen, grundrechtsgestützten Systems, der dem Einzelnen Flexibilität ermöglicht und Sicherheit gewährt, ¡ eine stärkere Verschränkung von Sozial- und Familienpolitik, ¡ eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung und sozialen, politischen und individuellen Rechten, ¡ die Regulierung der internationalen Kapital- und Finanzmärkte, um Anleger und Investoren stärker in die soziale Verantwortung gegenüber den Beschäftigten zu nehmen.

II.

Wir wollen diese unterschiedlichen Handlungsfelder im Rahmen einer umfassenden Modernisierungsstrategie miteinander in Einklang bringen. Das neue Grundsatzprogramm soll unsere zukunftsorientierte, sozialdemokratische Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit - national wie international - sein. Programmatische Schwerpunkte Die NRWSPD wird sich in der Programmdebatte auf folgende Themen konzentrieren: ¡ ¡ ¡ ¡ ¡

Die Aktualisierung sozialdemokratischer Grundwerte: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit Soziale Gerechtigkeit in neuen Zeiten Bildungspolitik als Chancenpolitik Soziale Marktwirtschaft im globalen Kapitalismus Staatliche Verantwortung - bürgerschaftliches Engagement

1. Die Aktualisierung sozialdemokratischer Grundwerte: Freiheit - Solidarität - Gerechtigkeit Gute und erfolgreiche Politik erfordert solides Handwerk, professionelle Kommunikation und überzeugende Wertorientierungen. Mehr als andere Parteien bildet die SPD eine Wertegemeinschaft. Gemeinsame Werte begründen das Engagement und das Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder und Anhänger. Die Politik der Veränderung, zugespitzt im Agenda-Prozess, wurde vielfach als Widerspruch zu traditionellen sozialdemokratischen Gewissheiten empfunden. Die SPD braucht einen neuen Begründungszusammenhang ihres politischen Handelns, der sich auf ihre Grundwerte bezieht. In Zeiten der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit suchen die Menschen nach sicheren Wertmaßstäben und Wertorientierungen. Die Wertorientierungen der klassischen Industriegesellschaft lassen sich nicht gegen den Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft, des Arbeitslebens und des Lebensalltags fortschreiben.

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2009 2010 Der Rückgriff der Konservativen und populistischer Strömungen auf traditionelle Wertorientierungen täuscht nur Sicherheit vor. Dagegen setzen wir auf die Aktualisierung unserer Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität! In einem neoliberalen Verständnis wird Freiheit einseitig als die negative Freiheit der unbegrenzten Handlungschancen interpretiert. Gerechtigkeit wird auf die Verteilungsmechanismen des sich selbst überlassenen Marktes verkürzt. Solidarität wird folglich durch die Mechanismen einer allein auf Konkurrenz orientierten Gesellschaft gefährdet. Dem gegenüber lautet das sozialdemokratische Credo: Die Freiheit zuerst! Keine politische Bewegung der deutschen Geschichte hat sich mehr für die Freiheit eingesetzt als die Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Freiheitsbegriff basiert auf einem besonderen Verständnis von Freiheit und Sicherheit. Frei zu sein bedeutet für uns, nicht nur frei zu sein von Zwang, sondern Zugang zu vielen voneinander abhängigen Beziehungen zu haben. Teilhaben und Teilnehmen zu können, bedeutet Freiheit und schafft Sicherheit. Deswegen will die SPD Menschen stärken und ihnen Wege öffnen. Solidarität als die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen, bleibt aktuell. Solidarität als Tugend zu stärken, bedeutet, ihre soziale Perspektive hervorzuheben. Diese führt zu einer aktiven, verantwortungsbewussten Bürgergesellschaft, die weder einer etatistischen noch einer marktförmigen Logik folgt. Sie ermöglicht sozialen Zusammenhalt in Freiheit. Gerechtigkeit verlangt Gleichheit, denn sie gründet in der gleichen Würde aller Menschen. Gerechtigkeit verlangt gleiche Teilhabechancen an Politik, Arbeit, Wohlstand, Bildung und Kultur. Sie verlangt gleichen Zugang zu öffentlichen Gütern und zu den Ergebnissen des Fortschritts und sie erfordert mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Eigentum und Macht. 2. Soziale Gerechtigkeit in neuen Zeiten Soziale Erneuerung als Symbiose aus Fortschritt und Solidarität immer wieder neu zu formulieren und 8

umzusetzen, dies ist ein Kerngedanke sozialdemokratischer Politik. Der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Solidarität ist es, der unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit prägt. Dabei steht nicht nur die gerechte Verteilung von Eigentum und Einkommen im Mittelpunkt unseres Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit, sondern auch die Verteilung von Macht und der Zugang zu Kultur, Bildung und Ausbildung. Soziale Gerechtigkeit sorgt in diesem umfassenden Sinne für gleiche Zukunftschancen und ist nicht eine einmalige Chancenvergabe, sondern ein fortwährender Prozess. Erst die Kombination aus Chancengleichheit und einer gerechten Verteilung von Gütern und Privilegien kann soziale Gerechtigkeit in der demokratischen Gesellschaft dauerhaft sichern. Die SPD ist und bleibt die Partei der Freiheit in Solidarität. Daher schreiben wir den Menschen nicht vor, wie sie zu leben haben. Wir wollen aber den sozialen Zusammenhalt stärken, Gemeinsinn fördern und die Würde der Schwachen achten. Märkte mit ihren Tendenzen zur Vermachtung, zum Hier und Heute und zur Blindheit gegenüber kulturellen Voraussetzungen dürfen nicht über die Verteilung von Lebenschancen entscheiden. Es muss die Gesellschaft sein, die über einen zeitgemäßen Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit entscheidet. Gerade angesichts härter werdender Verteilungskonflikte bleibt eine Korrektur der Primäreinkommen unverzichtbar. Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht die Menschen für die Wirtschaft. Wir SozialdemokratInnen setzen uns dafür ein, dass soziale Gerechtigkeit der Hauptpfeiler einer modernen Reformpolitik bleibt - sowohl bei der Verteilung von Lasten wie auch von Chancen. Gravierende Verteilungsungerechtigkeit und wachsende Ungleichheit behindern dagegen wirtschaftliches Wachstum und erhöhen die Arbeitslosigkeit. Sie behindern mehr Wohlstand für alle. Soziale Gerechtigkeit hat viele Facetten. Sie gegeneinander auszuspielen kann daher nicht zu einer gerechten Gesellschaft führen. Chancengleichheit, Verteilungs-, Beschäftigungs-, Geschlechter- und

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2009 2010 Generationengerechtigkeit sind Teile eines Gesamtbildes. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur dann zu tolerieren, wenn sie sozial und wirtschaftlich nützliche Energien mobilisieren und die unteren sozialen Schichten von dieser wirtschaftlichen Dynamik profitieren. In diesem Sinne schließt soziale Gerechtigkeit Leistungsbereitschaft nicht aus, sondern sie schafft die Grundlage dafür, dass die verschiedenen Talente und Fähigkeiten der Menschen unabhängig von deren Herkunft gefördert werden können und der gesellschaftlichen Entwicklung zugute kommen. Soziale Gerechtigkeit ist somit ein tragender Pfeiler einer modernen und solidarischen Leistungsgesellschaft. Arbeit ist der bestimmende Faktor unseres Lebens. Für uns ist es daher ein zentrales Ziel gerechtigkeitsorientierter Politik, Arbeitslosigkeit zu verhindern. Arbeitslosigkeit lässt sich nicht mit Transferzahlungen lösen. Es stellt vor allem eine ethische Herausforderung dar. Arbeitslosigkeit, und noch stärker Langzeitarbeitslosigkeit, beschädigt die individuelle Autonomie, führt zu einer Verletzung des Selbstwertgefühls und in der Regel auch zu nicht mehr auszugleichenden Nachteilen bei der Wahrnehmung von Lebenschancen. Solange in den entwickelten Gesellschaften nicht nur Einkommen, sondern auch Status, Selbstwertgefühl und soziale Zugehörigkeit primär über die Erwerbsarbeit verteilt werden, muss der Inklusion in den Arbeitsmarkt besondere politische Aufmerksamkeit gelten. Aber Arbeit ist nicht alles. Wir streiten für eine Gesellschaft, die Erwerbsarbeit für alle ermöglicht und mit Familienarbeit und Freizeit vereinbaren kann. Wir streiten für eine Gesellschaft, die allen jungen Menschen eine berufliche Ausbildung ermöglicht und für ein Bildungssystem, das Zukunftschancen nachhaltig fördert und absichert auch nach dem Einstieg in das Berufsleben. Unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit macht nicht halt bei der Absicherung von Lebensrisiken. Wir wollen Teilhabe ermöglichen - am Erwerbsleben, am gesellschaftlichen Leben und an Bildungschancen.

3. Bildungspolitik als Chancenpolitik Bildung und Wissen sind die Basis der sozialen Demokratie. Sie sind ein elementarer Baustein für ein selbst bestimmtes Leben und das Fundament für den Zusammenhalt und die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Bildung ist unerlässlich für eine Orientierung in unserer immer komplexer werdenden Welt. In der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist Bildung ein entscheidender Wirtschaftsmotor. Entweder gelingt es uns, mit vielen hervorragend ausgebildeten Menschen eine weltweit exzellente Stellung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu erlangen, oder unser Land fällt zurück. Deshalb müssen wir unseren Kindern das Wichtigste mitgeben, das sie für eine gute Zukunft brauchen: eine zeitgemäße Bildung. Alle Studien belegen, dass die soziale Herkunft Bildungs- und Zukunftschancen bestimmt. Das darf nicht so bleiben. Bildung endet aber nicht mit Kindheit und Jugend, sie prägt und begleitet uns ein Leben lang. Vorschulische Bildung Die Bildung eines jeden Einzelnen beginnt nach der Geburt. Deshalb ist es wichtig, das vorschulische Angebot für die Kinder auszubauen und qualitativ zu verbessern. Kindergärten und Kindertagesstätten müssen integrativer Bestandteil unseres Bildungssystems werden. Die ersten Lernschritte sind die wichtigsten. Deswegen müssen wir mehr in vorschulische Einrichtungen und Grundschulen investieren. Ein Ausgleich von Herkunftsvoraussetzungen ist in einer frühen Lebensphase besonders Erfolg versprechend. Deshalb treten wir für einen qualitativ hochwertigen, allen Kindern offen stehenden, obligatorischen Elementarbereich ein, der von Elternbeiträgen absieht. Schulische Bildung Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass eine integrative Form des Lernens der beste Ansatz für ein modernes Schulwesen ist. Eine Schule, die die Strategie der individuellen Förderung für jeden Schüler konsequent umsetzen will, muss sich von der Vorstellung vorgeprägter Schulkarrieren und homogener Lerngruppen lösen. Unser weiterführendes Schulwesen ist 9

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2009 2010 zersplittert und wenig leistungsfähig. Alle Studien zeigen eindrücklich, dass weder die frühe Aufteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen noch die vermeintliche Homogenität Voraussetzungen für gute Schülerleistungen und hohe Bildungsbeteiligung sind. Vielmehr muss es Ziel sein, durch eine Kultur des individuellen Förderns möglichst viele Schüler so weit wie möglich mitzunehmen auf dem Weg zu einer umfassenden Bildung und Erziehung. Wir treten für ein integrierendes und integratives Schulsystem ein. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir den klaren und eindeutigen Willen zur Veränderung, aber auch die Sensibilität der richtigen Schrittfolge im geeigneten Tempo. Alle müssen auf diesem Weg mitgenommen werden. Ganztagsangebote müssen verbreitert aber auch qualitativ verbessert werden. Gerade für bildungsferne Schichten ist ein qualitativ gutes Ganztagsangebot ein wichtiger Baustein für bessere Bildung und damit für sozialen Aufstieg. Berufliche Bildung Das duale System der beruflichen Ausbildung in Deutschland mit seinen Lernorten Ausbildungsbetrieb und Berufskolleg hat internationalen Vorbildcharakter. Viele Ausbildungsgänge müssen sich veränderten Berufsbildern anpassen. Entscheidend dafür war immer, dass sich die Wirtschaft ihrer Mitverantwortung für die Ausbildung qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gestellt hat. Unsere Aufgabe ist es, Unternehmen aller Größenordnungen an diese Verantwortung zu erinnern. Wir setzen uns für eine Bildungsfinanzierung ein, die Lasten zwischen Staat und Wirtschaft und innerhalb der Wirtschaft gerechter verteilt. Hochschule

leichter ermöglichen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Hochschule ist ein erstklassiger Standortfaktor. Wir brauchen eine arbeitsteilig organisierte, durch verbindliche Kooperationen verflochtene Hochschullandschaft, in der jede Hochschule ein eigenständiges Profil besitzt. Das bestehende breite Fächerangebot darf dabei nicht auf ein vermeintlich ausreichendes Mindestangebot gekürzt werden. Eine Unterteilung von Universitäten in verschiedene Klassen konterkariert diese Bemühungen. Lebensbegleitendes Lernen und politische Bildung Die Wissensgesellschaft braucht über exzellente allgemeine Abschlüsse hinaus passgenaue Anschlüsse; sie braucht weniger fremdgesteuertes, mehr selbst gesteuertes, Problem lösendes Lernen. Neben dem Ersterwerb von Wissen und Kompetenzen kommt der Auffrischung, Aktivierung und Erweiterung von bereits vorhandenen Kenntnissen und Fähigkeiten steigende Bedeutung zu, um die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und um gesellschaftliche Problemlösungskompetenzen zu erhöhen. Weiterbildung in allen Lebenslagen ist gesellschaftlich und individuell geradezu existenziell wichtig. Die Förderung von Erziehungs-, Medien- und Alltagskompetenz für alle gesellschaftlichen Gruppen ist Grundlage für eine engagierte, solidarische und informierte Gesellschaft der Zukunft. Zur Realisierung eines stringenten und planvollen lebensbegleitenden Lernens für alle Bürgerinnen und Bürger muss ein Rahmen gesetzt, müssen ausreichend Möglichkeiten gegeben werden. Der zweite Bildungsweg war und ist unverzichtbarer Bestandteil der Weiterbildung. Die politische Bildungsarbeit muss wieder gestärkt werden.

4. Soziale Marktwirtschaft im globalen Kapitalismus Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik soll für Um in der globalisierten Wissensgesellschaft eine kon- Wohlstand, Wachstum, Vollbeschäftigung und kurrenzfähige Position auszubauen oder mindestens Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Jeder Erwerbsfähige zu behaupten, brauchen wir mehr Menschen mit hat einen Anspruch auf Erwerbsarbeit und damit auch einem Hochschulabschluss. Dabei wollen wir Menauf ein Einkommen oberhalb des Existenzminimums, schen aus bildungsfernen Schichten den Zugang zum das auch aus zusätzlichen staatlichen Zuschüssen Hochschulstudium erleichtern. Deshalb lehnen wir all- bestehen kann. Die Grundlage von Einkommensgemeine Studiengebühren ab. Auch sollte eine qualigerechtigkeit bleibt gleicher Lohn für gleiche Arbeit. fizierte Berufsausbildung den Hochschulzugang Unser Ziel ist eine nachhaltige Wirtschaftsweise. 10

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2009 2010 Sie beinhaltet die Wahrung der natürlichen wie auch der ökonomischen Grundlagen und die Schaffung eines sozialen Ausgleichs, damit die Zukunftschancen nachfolgender Generationen gewahrt werden. Gerade für eine soziale Marktwirtschaft spielt der demokratische Staat eine zentrale Rolle. Er schafft Voraussetzungen, Regeln und einen verlässlichen Rahmen für wirtschaftliche Prozesse, fragt Güter nach und investiert. Neben Staat und Wirtschaft hat der Dritte Sektor eine wichtige Aufgabe insbesondere für die Vertretung von Konsumenten und besondere Zielgruppen sowie für die Versorgung mit sozialen Dienstleistungen. Durch seine gemeinnützige Ausrichtung ist er ein nicht-kapitalistisches Element unserer Marktwirtschaft. Globalisierung Die Wirksamkeit von Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene ist durch den beschleunigten Globalisierungsprozess eingeschränkt. Deshalb müssen ergänzende oder neue Regulierungsmechanismen auf trans- und supranationalen Ebenen geschaffen werden, vor allem um die Kapital- und Finanzmärkte zu regulieren und internationale soziale Standards zu etablieren. Regeln für eine positiv gestaltete Globalisierung müssen die staatliche Handlungsfähigkeit erhalten und erweitern und die globale, soziale, politische und ökologische Einbettung der offenen Märkte gewährleisten. Den Entwicklungsländern muss ein fairer Marktzugang ermöglicht werden. Gemeinsam mit einer nachhaltigen Entwicklungspolitik können so die Entwicklungschancen aller Menschen verbessert werden. Dazu gehört die Verwirklichung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, in der auch die Menschen in weniger entwickelten Ökonomien Chancen auf eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung bekommen. Nachhaltigkeit Nachhaltiges Wirtschaften berücksichtigt sowohl die Ansprüche aller Länder als auch die Ansprüche nachfolgender Generationen an gerechter Teilhabe am materiellen, sozialen und ökologischen Wohlstand. Das Setzen von Rahmenbedingungen, die die Nutzung der Umwelt auch für zukünftige

Generationen ermöglichen, und das Ausschöpfen von Potenzialen einer effizienten Energie- und Ressourcennutzung sind zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen unabdingbar. Eine nachhaltige Finanz- und Investitionspolitik sichert die Gestaltungsfreiheiten der zukünftigen Generationen. Nachhaltige Sozial- und Gesundheitspolitik erkennt die Notwendigkeit dieser Systeme zum Erhalt einer sozialen Gesellschaft, sieht dabei aber die Notwendigkeit von Reformen angesichts sich verändernder Rahmenbedingungen. Von der Industrie- zur Wissensgesellschaft Strukturpolitik ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wissenschaft, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren. Strukturpolitik muss mögliche Entwicklungen und gesellschaftliche Bedürfnisse zusammenführen. Bildungsinvestitionen sind in einer Wissensgesellschaft die wichtigste Voraussetzung für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Eine Wissensgesellschaft ist in vielen Bereichen eine zeitlich und örtlich hoch flexibilisierte Arbeitswelt, die den ArbeitnehmerInnen auch Einschränkungen in ihrem sozialen Umfeld auferlegt. Gerade hier sind innovative Organisationsformen, die den individuellen Anforderungen der ArbeitnehmerInnen Rechnung tragen und soziale Rahmenbedingungen notwendig. Eine gezielte Politik für Existenzgründer und kleine Unternehmen ist wichtig, um eine Grundlage für das Wachstum der Wirtschaft zu schaffen. Zusätzlich ist eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik auf mittelständische Unternehmen zu fordern statt auf die geringer werdende Zahl an Großbetrieben. Die Unterstützung regionaler Wirtschaftskreisläufe gerade im Bereich von Lebensmitteln und Dienstleistungen unterstützt kleine Anbieter und stärkt die regionale Stabilität. Der öffentliche Sektor, insbesondere die Kommunen, müssen für die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur ausreichende Finanzmittel erhalten. Die Wettbewerbsfähigkeit wird durch die Erhöhung der Produkt- und Prozessinnovationen und Bildungsinvestitionen erhalten und ausgebaut. Von diesen 11

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2009 2010 Innovationen hängen die Zahl und die Qualität der Arbeitsplätze von morgen ab. Die produktionsnahen Dienstleistungen wachsen mit den Investitionen in Forschung und Entwicklung und dem Übergang von der Massenproduktion zu einer Produktion von kundenorientierten Qualitätsprodukten. Die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen (Erziehung, Bildung, Pflege, etc.) steigt in einer nachhaltig orientierten und gleichzeitig alternden Gesellschaft. Die Finanzierung dieser Dienstleistungen darf nicht allein vom individuellen Einkommen abhängen, sondern muss in wesentlichen Teilen über staatliche Finanzierung und steuerliche Unterstützung sichergestellt werden.

Arbeit Erwerbsarbeit ist die zentrale Grundlage für die Sicherung des Einkommens. Sie dient der Entwicklung einer eigenen Identität und der Erlangung gesellschaftlicher Anerkennung. Arbeit findet aber auch in Form von bürgerschaftlichem Engagement und Eigenund Familienarbeit statt. Sozialdemokratische Politik will allen Menschen die Möglichkeit geben, verschiedene Formen von Arbeit auszuführen. Dies beinhaltet die Bekämpfung der Erwerbsarbeitslosigkeit, eine gerechte Verteilung der Familienarbeit und die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. Wir müssen für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frau und Mann sorgen. Dies geht nur mit bedarfsgerechten Kinderbetreuungsangeboten und flexibleren Arbeitszeiten. Angesichts der schlechten Chancen von Geringqualifizierten auf dem Arbeitsmarkt muss der Staat gesellschaftlich sinnvolle Erwerbsarbeit ermöglichen und das Existenzminimum ausreichend sichern. Jeder der erwerbsfähig ist, muss eine angemessene, angebotene Arbeit annehmen, falls diese staatliche Unterstützung ablösen kann. Wirtschaftsdemokratie Die Demokratisierung unserer Wirtschaftsordnung ist ein wichtiges Element unserer Wirtschaftspolitik. Alternative Betriebsformen und Organisations12

strukturen sowie moderne Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Beteiligung von ArbeitnehmerInnen am Betriebsvermögen müssen mehr demokratische Teilhabe am Wirtschaftsprozess schaffen. 5. Staatliche Verantwortung - Bürgerschaftliches Engagement Demokratie braucht den aktiven Staat Die Demokratie braucht den Staat. So positiv der Begriff der Demokratie belegt ist, so negativ wird vielfach die Rolle des Staates gesehen. Er wird in der Öffentlichkeit als bürokratisches Monster, als „Abzocker“ der Bürger und Geldverschwender etc. gesehen. Mit einem „schlanken Staat“ glauben die Konservativen und Liberalen die Probleme der Globalisierung und der demografischen Entwicklung in den Griff zu bekommen. Für uns stellt sich stattdessen die zweifache Aufgabe: Der Staat muss den Menschen die Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und das Solidarprinzip stärken. Dies kann er nur leisten, wenn wir ihn handlungsfähig halten. Dafür reicht es nicht aus, nur Anstöße zu geben und Rahmenbedingungen zu setzen. Insbesondere für diejenigen, die sich trotz aller Anstrengungen nicht selbst helfen können, muss der Staat tätig sein. Wir brauchen einen aktiven und aktivierenden Staat. Wir sind für so viel Staat wie nötig, so viel Markt wie erforderlich und so wenig Bürokratie wie möglich. Dabei gilt es die Wohlstand fördernden Wirkungen des Marktes zu sichern und auszubauen. Aber der Markt sorgt nicht automatisch für bessere und preisgünstigere Produkte und Dienstleistungen und er sichert nicht aus sich heraus zukunftfähige Arbeitsplätze. Der Markt ist durch Partikularinteressen bestimmt. Er vernachlässigt wichtige Grundlagen des Sozial- und Rechtsstaates. Um unseren Anspruch auf Nachhaltigkeit im umfassenden Sinne und das Gebot der Gerechtigkeit sicherzustellen, bedarf es ausreichender staatlicher Regulierung und staatlicher Durchsetzungskraft gegenüber Einzelinteressen.

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2009 2010 Die SPD tritt Bestrebungen entgegen, öffentliche Aufgaben generell dem Markt zu überlassen. Daseinsvorsorge bleibt für uns grundsätzlich eine öffentliche Aufgabe. Gerade auf der europäischen Ebene, in der Diskussion über die Rolle des ÖPNV und anderen Dienstleistungen, treten wir für diese Position vehement ein. Dabei sind wir offen für eine Fortentwicklung der Inhalte, Formen und Instrumente staatlichen Handelns. Wir werden diese Veränderungen aber nicht von oben „dekretieren“, sondern in einem bürgerschaftlichen Diskurs entwickeln. Staatliches Handeln kann nicht auf reine Daseinsvorsorge beschränkt bleiben. Wir Sozialdemokraten wollen staatliches Handeln auch auf dem Arbeitsmarkt, in der Schul- und Bildungspolitik, bei der Qualifizierung und Ausbildung und in anderen Bereichen und dies sowohl auf kommunaler, regionaler, nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Der Prozess der Globalisierung prägt immer stärker Handlungsspielräume. Einerseits erwachsen aus der weltweiten Arbeitsteilung, aus der Öffnung von Märkten für Kapital und Arbeit, Güter und Dienstleistungen, aus dem Austausch zwischen unterschiedlichen Gesellschaften mit unterschiedlichen Kulturen viele neue Möglichkeiten. Aber gleichzeitig hat der Wettbewerb aller gegen alle zu einem Kosten- und Steuersenkungsdruck geführt, der die Nationalstaaten zusehends zwingt, öffentliche Leistungen abzubauen oder zu privatisieren. Die Diskussion über die Folgen der Globalisierung muss unseren Blick daher verstärkt auf die öffentlichen Güter lenken, von deren Gebrauch niemand ausgeschlossen werden darf. In dem Maße wie durch die globale Verflechtung soziale und persönliche Sicherheit, stabile Finanzen, eine gesunde Umwelt oder eine gute Gesundheitsversorgung immer stärker zu globalen Gütern werden, sind auch Institutionen und Regeln für das Zusammenleben notwendig, die auf verschiedenen Ebenen diese berechtigten Anliegen garantieren. Es stellt sich die Frage, wie wir ein Wirtschafts- und Sozialmodell verwirklichen können, in dem auch wirtschaftliche Prozesse demokratischer Gestaltung unterliegen und besser mit sozialen und ökologischen

Bedürfnissen in Einklang gebracht werden können. Das europäische Sozialmodell, das gerade von der Sozialdemokratie maßgeblich geprägt und weiter entwickelt wurde, beinhaltet den Zugang aller Menschen zu öffentlichen Gütern. Neoliberalen Bestrebungen, öffentliche Güter zu zerstören oder nur wenigen zugänglich zu machen, treten wir aktiv entgegen. Der Kern der sozialdemokratischen Idee und der sozialen Demokratie war und ist die Überzeugung, dass durch gemeinschaftliches Handeln im demokratischen Prozess die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Allgemeinheit verbessert werden können. In diesem Sinne bestehen wir auf den Vorrang demokratischer Politik gegenüber den Mächten der Wirtschaft. Demokratie braucht Teilhabe und Teilnahme Die Entwicklung vom „Vater Staat“ zum „Partner Staat“ beschreibt nicht den Rückzug des Staates, sondern vielmehr den Weg durch konzertiertes Handeln politischer und gesellschaftlicher Akteure, sozialstaatlichen und anderen Aufgaben gerecht zu werden und neue Wege zu beschreiten. Der aktivierende Staat will verantwortliches Handeln in unserer Gesellschaft fördern, bürgerschaftliches Engagement unterstützen und durch Vernetzung einzelner Handlungsfelder die Effizienz sozialstaatlicher Aufgaben und wirtschaftlicher Herausforderungen stärken. Der Ansatz zur Aktivierung und Vernetzung bezieht sich auf verschiedene Politikfelder und Handlungsebenen und ist nicht auf Sozialpolitik begrenzt, dort aber bisher besonders erfolgreich. Aktivierend meint in diesem Zusammenhang dauerhaftes, zielgerichtetes politisches Handeln statt einmaliger Aktion. Dabei geht es nicht um Staatsentlastung oder schleichende Privatisierung, sondern um Verantwortungsteilung mit den gesellschaftlichen Akteuren und darum, Menschen ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Unser Staat ist ein föderaler Staat, in dem Bund, Länder und Kommunen eine klar zugeordnete Verantwortung tragen sollen. Viele Herausforderungen lassen sich nur vernünftig lösen, wenn sie von Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam angegan13

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2009 2010 gen werden. Der Staat kann nicht alles alleine regeln. Er braucht Kooperationspartner. Er findet sie in der Bürgergesell-schaft in all ihren Organisationsformen. Die Spielregeln der Bürgergesellschaft wie Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Eigenverantwortung, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung werden ihre Ausstrahlung, Wirkung und normative Gestaltungskraft auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche haben. Die Öffnung der staatlichen Institutionen und Entscheidungsprozesse für bürgerschaftliche Mitwirkung und die Stärkung der Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe gehören zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Bund, Ländern und Gemeinden. Die Teilnahme und das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in Verbänden, Vereinen, Organisationen, Initiativen ist die Klammer, die unsere Gemeinwesen zusammenhält und soziale Demokratie lebendig macht. Leitbild 1: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität: Organisationshinweise, Arbeitshilfen, Literatur ReferentInnen für Veranstaltungen: Karsten Rudolph, Renate Drewke, Cornelia Tausch, Gabriele Frechen, Stefan Mühlhofer Ansprechpartner bei der NRWSPD: Stefan Mühlhofer, Tel.: 0211-13622-342 e-mail: [email protected] Vertretung: Gisela Lehwald, Tel.: 0211-13622-343 Raoul Machalet, Jusos Literaturhinweise: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hgg.): Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie. Bonn 4. Auflage 2004. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die neue SPD. Menschen stärken - Wege öffnen. Bonn 2004. Thomas Meyer/Lew Hinchman: Theorie der Sozialen Demokratie. Wiesbaden 2005. Thomas Meyer/Nicole Breyer: Die Zukunft der Sozialen Demokratie. Bonn 2005. (Gibt's kostenlos bei der Friedrich-Ebert-Stiftung!) Hubertus Heil/Juliane Seifert (Hrsg.): Soziales Deutschland. Für eine neue Gerechtigkeitspolitik. Wiesbaden 2006. Viele weitere Informationen und Positionspapiere zur Programmdebatte der SPD im Internet unter: http://www.programmdebatte.spd.de/servlet/PB/menu/103 9849/index.htm

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Leitbild 2: Aktiver Staat - Staat und Bürger in NRW Verantwortlich: Jochen Dieckmann MdL, Landesvorsitzender 1. Wir wollen einen handlungsfähigen Staat. Unsere Demokratie ist nicht nur ein freiheitlicher, sondern auch eine solidarischer Rechtsstaat in der Tradition des europäischen Sozialmodells. Das europäische Sozialmodell in seinen verschiedenen Varianten ist eine der großen europäischen Kulturleistungen. Es unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von anderen Kontinenten. Die soziale Abfederung der Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien beigetragen. In ihnen haben alle Bürgerinnen und Bürger faire Chancen auf Teilhabe. Von Konservativen und Liberalen wird der Staat vielfach als bürokratisches Monster, als „Abzocker“ und Geldverschwender, bestenfalls als ein notwendiges Übel diffamiert. Mit ihrer Vorstellung vom „Schlanken Staat“ glauben die Neoliberalen alle gesellschaftlichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, Finanzierung der Sozialsysteme etc. in den Griff zu bekommen. In der Privatisierung, im Wettbewerb sehen sie einen Ausweg für alle Probleme, nach dem Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Nach dem Verständnis der SPD hat der Staat eine zweifache Aufgabe: Der Staat muss einerseits den Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und andererseits das Solidarprinzip in unserer Gesellschaft stärken. Das kann er aber nur leisten, wenn wir ihn handlungsfähig halten und ihm die nötigen finanziellen Ressourcen sichern. Einnahmen dürfen nicht stetig nach unten „geschraubt“ werden. Im europäischen Vergleich liegt die deutsche Steuerquote im Mittelfeld. Der Staat muss mehr leisten können als Anstöße zu geben und Rahmenbedingungen zu setzen. Insbesondere für diejenigen, die sich trotz aller Anstrengungen nicht selbst helfen können, trägt er Verantwortung. In diesem Sinne brauchen wir einen aktiven Staat. Andererseits wollen wir keine Allzuständigkeit des Staates. Wir wollen so viel Staat wie nötig, so viel Markt wie sinnvoll und so wenig Bürokratie wie mög-

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2009 2010 lich. Dabei gilt es die wohlstandsfördernden Wirkungen des Marktes zu sichern und auszubauen. In der Sozialen Marktwirtschaft, wie wir sie wollen, spielt der Wettbewerb eine zentrale Rolle, zum einen im Hinblick auf eine verbraucherorientierte Produktionslenkung, zum anderen im Hinblick auf verbraucherfreundliche Preise. Markt und Konkurrenz sorgen für die Freisetzung von Kreativität und Dynamik zur Verbesserung von Produktionsverfahren, die zu niedrigeren Kosten und Preise führen, und zur Entwicklung von Produktinnovationen. Aber der Markt sorgt nicht automatisch für bessere und preisgünstigere Produkte und Dienstleistungen und er sichert nicht aus sich heraus zukunftsfähige Arbeitsplätze. Europa- und weltweit wächst die Einsicht, dass Wettbewerb nicht mehr automatisch das beste wirtschaftspolitische Instrument ist. Er muss seine Tauglichkeit einer plausiblen Folgeabschätzung unterwerfen lassen. Die Marktlogik mit der Verfolgung von Partikularinteressen kann allein keine innergesellschaftliche Verteilungsgerechtigkeit herstellen und „Daseinsvorsorge“ betreiben. Sie vernachlässigt wichtige materielle Staatsziele des Grundgesetzes. Um unseren Anspruch auf Nachhaltigkeit im umfassenden Sinne und das Gebot der Gerechtigkeit sicherzustellen, bedarf es ausreichender staatlicher Regulierung und staatlicher Durchsetzungskraft. Hier ist die Ausgleichsfunktion des Staates unerlässlich. Die NRWSPD tritt Bestrebungen entgegen, öffentliche Aufgaben generell dem Markt zu überlassen. Daseinsvorsorge bleibt für uns im Grundsatz eine öffentliche Aufgabe, eine Kernaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Gerade auf der europäischen Ebene z.B. in der Diskussion über die Rolle des Öffentlichen Nahverkehrs treten wir für diese Position vehement ein. Dabei sind wir offen für eine Fortentwicklung der Inhalte, Formen und Instrumente. Wir „dekretieren“ diese Veränderungen aber nicht von oben, sondern wollen sie in einem bürgerschaftlichen Diskurs entwickeln. Staatliches Handeln darf aber nicht auf reine Daseinsvorsorge beschränkt bleiben. Das ist in der Schul- und Bildungspolitik unbestritten. Aber wir Sozialdemokraten wollen staatliches Handeln auch in Bereichen wie Arbeitsmarkt, Qualifizierung und

Ausbildung sowohl auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zur Geltung bringen.Den neoliberalen Bestrebungen mit ihren weitgehenden „Entstaatlichungen“ müssen wir offensiv mit dem europäischen Gesellschaftsmodell als Alternative gegenüber treten, auch in Nordrhein-Westfalen. Wir lehnen die von der schwarz-gelben Landesregierung verfolgte Politik „Privat vor Staat“ um des Prinzips willen, die auf den Ausverkauf kommunaler Unternehmen zielt, ab. Danach werden alle Aufgaben im Rahmen der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger, die auch Private erledigen können, den Kommunen entzogen. Das würde bedeuten, die Kommunen übernehmen die unprofitablen Aufgaben, die Privaten die profitablen. Die NRWSPD wird es nicht zulassen, die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu gefährden, sei es bei Wasser oder Strom, bei Bus und Bahn oder im Bereich der Gesundheit. Neoliberale Ideologie darf nicht die Wettbewerbsfähigkeit kommunaler Unternehmen gefährden. Der Kern der sozialdemokratischen Idee, die soziale Demokratie, war und ist die Überzeugung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Allgemeinheit verändert werden können. Dabei gilt: Gesellschaftliche Ziele müssen Vorrang vor den Zielen privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung haben. In diesem Sinne bestehen wir auf dem Vorrang der Politik gegenüber der Wirtschaft. Das ist das sozialdemokratische Verständnis von Staat. 2. Wir wollen einen partnerschaftlichen, aktiven Staat in NRW. Staat und Verwaltung müssen ihre Aufgaben und ihre Verantwortung unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen neu definieren, auch in NRW. Das Leitbild des aktiven Staates beinhaltet eine neue Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft. Es räumt der Selbstregulierung Vorrang vor staatlicher oder hierarchischer Steuerung ein. Der aktivierende Staat fördert und unterstützt Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement und stärkt die Vernetzung einzelner Handlungsfelder. Das bedeutet keinen Rückzug des Staates, sondern 15

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2009 2010 einen Funktionswandel der Rolle des Staates. Dieser muss seine Rolle im Kontext der Anbieter öffentlicher Leistungen neu definieren. Er ist künftig immer weniger Alleinentscheider, sondern vielmehr Moderator und Impulsgeber von gesellschaftlichen Entwicklungen, die in einem bürgerschaftlichen Diskurs bestimmt werden. Im Vordergrund staatlichen Handelns muss deshalb das Zusammenwirken staatlicher, gemeinnütziger und privater Akteure zum Erreichen gemeinsamer Ziele stehen. Die NRWSPD strebt einen bürgerorientierten und partnerschaftlichen Staat an. Durch mehr Bürgerteilhabe wird der Staat für die Bürgerinnen und Bürger wieder zu ihrem Staat. Die NRWSPD will Strukturwandel durch Partnerschaft. NRW hat sich in den letzten 30 Jahren stärker verändert und modernisiert als jede andere traditionelle Industrieregion. Aus dem Land von Kohle und Stahl ist ein modernes Industrieland mit einer zunehmenden Dienstleistungsgesellschaft geworden.Dieser Wandel basiert zum einen auf den Entscheidungen von Unternehmen, aber er wäre ohne aktive Begleitung und aktives Handeln der Landespolitik nicht zustande gekommen. Um den Strukturwandel in NRW weiter voranzutreiben ist eine Politik nötig, wie sie von der SPD-geführten Landesregierung schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der regionalisierten Strukturpolitik konzeptionell entwickelt worden ist. Diese muss auf den Grundsätzen von Kooperation, Koordination und möglichst breitem Konsens der gesellschaftlichen Kräfte basieren. Ziel einer bewährten sozialdemokratischen Strukturpolitik muss auch zukünftig die Herausbildung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze sein. Dabei sind die regionalen Akteure aus Unternehmen, Politik und Verwaltung, Gewerkschaften und Verbänden so miteinander zu vernetzen, dass eine gemeinsame Grundorientierung entsteht. So wird eine ganzheitliche Betrachtung von Sachverhalten und damit auch eine bessere Folgeabschätzung von Entscheidungen ermöglicht. Die NRWSPD wird sich für einen Ausbau und die Förderung von PublicPrivate-Partnership-Projekten einsetzen.

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3. Wir wollen die Zivilgesellschaft als 3. Säule stärken. Zivilgesellschaft als dritter Sektor neben Staat und Markt ist unverzichtbar zur Organisation gesellschaftlichen Lebens. Markt, Staat und staatliche Institutionen haben dabei unterschiedliche Kompetenzen und vor allem Legitimationen. Bürgerschaftliches Engagement in der Zivilgesellschaft, eine Kultur des „Sich-Einmischens“ und des Mitgestaltens ist für uns elementarer Bestandteil bei der Bewältigung und „Zivilisierung“ des gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Wandels. Wir verstehen Zivilgesellschaft nicht allein als einen abgegrenzten Bereich von Organisationen, sondern sie ist darauf angelegt, Prinzipien wie Demokratie und Selbstorganisation gesellschaftlich aufzuwerten. Dazu brauchen wir eine Politik, die das ehrenamtlichen Engagement fördert. Es geht nicht nur um die Förderung von Infrastruktur, sondern auch um die Etablierung eines beteiligungsfreundlichen Verwaltungs- und Politikstils, der Betroffene zu Beteiligten macht. Das Ausmaß und die Bedeutung von zivilgesellschaftlichem Engagement bemessen wir dabei nicht alleine an der reinen Anzahl von Vereinen, Organisationen und ihren Aktivitäten. Es geht vielmehr um die gesamt-gesellschaftliche Geltungskraft und Reichweite von Leitprinzipien wie Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit. Die Spielregeln der Bürgergesellschaft wie Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Eigenverantwortung, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung werden ihre Ausstrahlung, Wirkung und normative Gestaltungskraft auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche haben. Dabei dürfen Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement nicht Lückenbüßer für einen Staat sein, dessen Handlungsfähigkeit in Frage steht, wegen seiner hoch verschuldeten Haushalte und seiner sich in der Krise befindenden sozialen Sicherungssysteme. Die Teilnahme und das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in Parteien, Verbänden, Vereinen, Organisationen, Initiativen ist die Klammer, die unser Gemeinwesen zusammenhält und soziale Demokratie erst möglich macht.

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2009 2010 Allerdings muss der Staat sich vor „falscher Professionalisierung“ hüten, die kaum noch Raum lässt zwischen staatlichem Handeln und Markt. Der offene Bürgerstaat garantiert vielmehr die Absicherung der elementaren Lebensrisiken und ermuntert zu gemeinschaftlicher Verantwortung. Die NRWSPD wird sich für eine Politik einsetzen, die die Möglichkeiten der politischen Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure an der Meinungs- und Entscheidungsfindung zu erweitern sucht. Wir folgen dabei einem Politikverständnis, das sich nicht auf Parteien und Verbände reduziert. Das bedeutet für uns auch, dass wir die Partei stärker für die Diskussionen aus dem Bereich zivilgesellschaftlicher Akteure öffnen. In Land und Bund, aber insbesondere in den Kommunen, wollen wir eine Politik betreiben, die moderierend die unterschiedlichen Milieus der bürgerschaftlich Engagierten zusammenbringt, mit dem Ziel der stärkeren kommunalen und regionalen Vernetzung. 4. Die NRWSPD bekennt sich zum Prinzip der Subsidiarität. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die verschiedenen staatlichen Ebenen ermöglicht, dass politische Entscheidungen möglichst dezentral und damit nahe am Bürger getroffen werden. Jede Regelung zur Zuordnung von Aufgaben und Finanzen muss eine Balance zwischen dem Subsidiaritäts- und dem Solidaritätsprinzip finden. Die Demokratie lebt davon, dass die politischen Strukturen und Entscheidungsprozesse auf allen politischen Ebenen transparent sind. Das bedeutet eine klare Zuordnung von Aufgaben und politischen Handlungsbefugnissen. In einer zunehmend globalisierten Welt existieren Fragestellungen, auf die nur in grenzüberschreitender Zusammenarbeit Antworten gefunden werden können. Ein Beispiel hierfür ist das Bestreben, Steuer dumping zwischen den Nationalstaaten zu verhindern. Der Wunsch nach gleichwertigen Lebensbedingungen und Chancengleichheit, wie zum Beispiel in den Bereichen sozialer Einrichtungen, Umwelt,

Zugang und Standards von Bildung sowie materieller Unterstützung, setzen dem reinen Wettbewerb der politischen Modelle Grenzen. Menschen können nicht ihren Wohnsitz so flexibel wechseln, wie sie sich bessere Angebote aus Supermärkten aussuchen können. Der reine Wettbewerb zwischen Kommunen oder Ländern kann schon aufgrund unterschiedlicher Ausgangsbedingungen zu sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen führen. Die Aufgabenverteilung zwischen staatlichen Ebenen ist im Sinne der Subsidiarität und der Solidarität immer wieder neu zu überprüfen und die Beteiligung der Parlamente zu stärken. Dies wird von uns als ständiger Prozess verstanden. Ziel der Föderalismusreform muss es sein, die Kompetenzen von Bund und Ländern zu entflechten und klare Verantwortlichkeiten festzulegen. Eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss die Ausstattung der politischen Ebenen mit den für ihre Aufgaben notwendigen Ressourcen sicherstellen. Die kommunale Selbstverwaltung ist ein Eckpfeiler unseres Gemeinwesens. Die NRWSPD setzt sich für starke Kommunen ein. Wer die Wettbewerbsfähigkeit kommunaler Unternehmen dem neoliberalen Dogma „Privat vor Staat“ unterordnet, schädigt die Kommunen und gefährdet deren verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmung. Die Dezentralisierung und Verlagerung von Aufgaben und Kompetenzen auf kleine Einheiten erhöhen die politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger gehen über die Teilnahme an Wahlen hinaus. Bürger- und Volksentscheide sind Instrumente einer erweiterten Mitbestimmung. Die partizipative Demokratie zieht sich bis hin in die Gremien der Beteiligung und Selbstverwaltung, z.B. in Schule und Hochschule. Projekte wie die Selbstständige Schule und die Möglichkeiten der dezentralen Ausgestaltungen der Offenen Ganztagsschule stärken den Einfluss der einzelnen Bürgerinnen und Bürger und der dezentralen politischen Entscheidungsebenen. Angebote im kulturellen, sozialen, gesundheitlichen und sportlichen Bereich, die durch 17

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2009 2010 bürgerschaftliches Engagement in freier Trägerschaft organisiert werden, müssen auch zukünftig gefördert werden. Bestehende Strukturen sind in Bezug auf ihre Wirksamkeit, Vernetzung und Legitimation zu überprüfen. 5. Die Aufgabe der SPD als Volkspartei in NRW Die NRWSPD hat Zukunft, wenn ihre Politik die Menschen im Land wieder erreicht. Dazu müssen die vielen Menschen auch uns erreichen. Deswegen sind wir offen für all diejenigen, die mit uns anpacken wollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen die Gesellschaft möglichst breit an unserem Entwurf für die Zukunft beteiligen. Wir beziehen noch mehr als bisher die Probleme, Ansprüche, den Willen der Bürger mit ein. Unser Ziel ist es, in NordrheinWestfalen mit gemeinsamen Werten in einer offenen, freien und solidarischen Kultur leben zu können. Wir schätzen die Interessenvertreter in Vereinen und Verbänden, die Bürgergruppen, Experten und Fachleute aus Universitäten und den Verwaltungen Nordrhein-Westfalens. Und wir schätzen das Gespräch mit ihnen. Doch Vernetzung ist für uns mehr als der Austausch von Informationen. Mit der Vernetzung über öffentliche Ebenen hinweg und gleichberechtigt mit der Zivilgesellschaft schaffen wir die Grundlage, die Gesellschaft in unserem Sinne nachhaltig zu gestalten.

Leitbild 2: Aktiver Staat - Staat und Bürger in NRW: Organisationshinweise, Arbeitshilfen, Literatur Mitglieder der Arbeitsgruppe: Jochen Dieckmann (verantwortlich), Alexander Bercht, Hans-Werner Bertl, Jörg Hennerkes, Gisela Lehwald, Stefan Mühlhofer, Michelle Schumann, Rolf Stöckel, Cornelia Tausch Ansprechpartnerin bei der NRWSPD: Gisela Lehwald, Tel.: 0211-13622-343 e-mail:[email protected] Vetretung: Stefan Mühlhofer Marc Overmann(Jusos)

Literaturhinweise Auslaufmodell Staat? TB. Erhard Eppler. edition suhrkamp 2462, 1. Auflage 2005. Ausblicke auf den aktivierenden Staat. Von der Idee zur Strategie. Hrsg. Fritz Behrens, Rolf G. Heinze, Josef Hilbert, Sybille Stöbe-Blossey. edition sigma. Modernisierung des öffentlichen Sektors, Sonderband 23. Berlin 2005. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung. Öffentliche Güter und Sozialdemokratie. Materialien zur Programmdiskussion. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Berlin 2003. Der Aktivierende Staat. Positionen, Begriffe, Strategien. Studie für den Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wolfgang Lamping, Henning Schridde, Stefan Plaß, Bernhard Blanke. Bonn 2002, über: http://fesportal.fes.de/pls/portal30/docs/FOLDER/BUERGER GESELLSCHAFT/038.pdf Wandel von Governance im Sozialstaat. Zur Implementation aktivierender Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, Dänemark und Großbritannien. Sfb 597 Staatlichkeit im Wandel“ „Transformations of the State“, Bremen 2005. Kopie im Landesbüro erhältlich. Die Zukunft der Sozialen Demokratie. Thomas Meyer. Hg. Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 2005. Das nordische Modell als Vorbild für ein europäisches Sozialmodell? Beitrag der dänischen, finnischen und schwedischen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Brüssel, Mai 2005. Hg. Jutta Haug MdEP, Bernhard Rapkay MdEP.

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Leitbild 3: Aktive Bürgergesellschaft & Partnerschaftlicher Staat Verantwortlich: Birgit Fischer MdL, Stellv. Landesvorsitzende

Für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaates ist sowohl die Stärkung und Unterstützung des Bürgerschaftlichen Engagements als auch ein neues Aufgaben- und Rollenverständnis eines partnerschaftlichen Staates maßgeblich. Die SPD will die damit verbundenen Herausforderungen gestalten und nutzt diese Debatte, um das eigene Profil zu schärfen, ihre Zukunfts- und Innovationsfähigkeit unter Beweis zu stellen und wirbt mit ihrer Programmatik für Mitstreiter bei der Realisierung ihrer gesellschaftlichen Ziele und Perspektiven.

Politische Entscheidungen sind dabei nie wertfrei. Sie werden sich dabei an den ihr zu Grunde liegenden Werten messen lassen müssen. Somit ist jede aktuelle Positionierung zu gesellschaftlichen Herausforderungen und Lösungsstrategien für die SPD zugleich immer auch eine Frage der Auseinandersetzung mit den Grundwerten „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ unter den veränderten Bedingungen einer Wissens- und Informationsgesellschaft, der Globalisierung und der demografischen Veränderungen. Die Sicherung und Stabilisierung des Sozialstaates setzt dabei unter den veränderten Rahmenbedingungen voraus, dass eine Konzentration auf die wesentlichen Veränderungsnotwendigkeiten erfolgt. Diese betreffen den konsequenten Ausbau von Bildung und Forschung, die Erweiterung und Förderung von Arbeit vor allem im Niedriglohnbereich in öffentlicher Verantwortung als auch der Frauenerwerbsarbeit und den Umbau der bisher allein erwerbsorientierten sozialen Sicherungssysteme. Wesentliches Gestaltungsinstrument ist dabei die Sozialpolitik, die als Innovationsmotor Veränderungsprozesse initiiert, gestaltet und Partizipation gewährleistet. Sie ist das Instrument das dem Ziel der Teilhabe aller Bürger an den sozialen Gütern (Bildung, Arbeit, Gesundheit) und an gesellschaftlichen Möglichkeiten verpflichtet ist. Damit es gerecht bleibt.

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2009 2010 Heute kommt es mehr denn je darauf an, dass die Menschen die Gewissheit haben: ¡ Trotz aller Veränderungen hält diese Gesellschaft zusammen, trotz aller Veränderungen geht es gerecht zu. ¡ dass Leistung zählt und starke Schultern mehr tragen als schwache ¡ dass Menschen teilhaben können an den Möglichkeiten dieser Gesellschaft. ¡ dass sie mitwirken und Einfluss nehmen können. ¡ dass sie die Chance bekommen, ihr Leben nach eigenen Zielen zu gestalten, auch dann noch einmal, wenn etwas nicht gelungen ist. Dieses Vertrauen will die SPD als Bürgerpartei schaffen, vorrangig bei den Zukunftsfragen von Bildung, Beschäftigung und der verlässlichen Sicherung vor den großen Lebensrisiken. Aber das allein reicht nicht. Es kommt ebenso darauf an, Gerechtigkeit und gleiche Lebenschancen, Teilhabe und Partizipation, Integration und Zusammenhalt in der Alltagswelt der Menschen zu verwirklichen: In den Stadtteilen, in den Nachbarschaften, in den konkreten Möglichkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren, bürgerschaftliche Solidarität und Engagement zu zeigen und zu erfahren, im Miteinander der Generationen, praktische Hilfe und neue konkrete Chancen zu erhalten. Gerechte Lebenswelten schaffen Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche halten an. Unsere Gesellschaft wird freier und offener, aber sie verliert auch Bindungskraft. Neue Chancen und Optionen entstehen, aber auch Risiken. Individuelle Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität sind neu auszugleichen. Die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft nehmen zu. Zwischen denen, die Arbeit haben, und jenen, die keine Beschäftigung finden. Zwischen den Generationen und innerhalb der Generationen, zwischen denen, die in der Wissensgesellschaft gut mithalten und jenen, denen das nur schwer gelingt, und zwischen den Menschen der verschiedenen Kulturen und Religionen in unserem Land. Ein neues Gleichgewicht, eine neue Ordnung, Orientierung und Verlässlichkeit in diesen Veränderungen ist noch nicht gefunden. Der Handlungsdruck in Politik und Gesellschaft besteht 19

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2009 2010 fort. Verunsicherung ist die Folge. Der Ruf nach Gerechtigkeit ist allgegenwärtig. Gerechtigkeit ist heute wie früher Freiheit von Not, aber nicht nur. Sondern mehr als zuvor auch Freiheit zum eigenen Leben, Teilhabe an der Vielfalt der Möglichkeiten und Verantwortung für das eigene Tun. Gerechtigkeit, Zusammenhalt und Solidarität bedeuten heute, die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu bändigen. Niemand hält die ökonomische Globalisierung auf, den demografischen Wandel, Pluralisierung, Wissensgesellschaft und kulturelle Vielfalt. Aber die Chancen wirtschaftlicher Dynamik, einer Gesellschaft des langen Lebens, biografischer und kultureller Vielfalt müssen wir nutzen. Die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft nehmen zu. Auf dem Arbeitsmarkt Es gelingt uns in Deutschland bisher nicht, die Arbeitslosigkeit entscheidend zu verringern. Schon in den 80er Jahren, aber erst recht seit der deutschen Einigung entstehen nicht genug neue Arbeitsplätze, die im globalen Wettbewerb auf Dauer aus eigener Kraft bestehen. Die neuen EU-Beitrittsländer werden den Wettbewerbsdruck jetzt noch einmal erhöhen. Zu viele suchen zu lange vergeblich Arbeit. Das kann uns auseinander treiben: Ostdeutsche und Westdeutsche, Frauen und Männer, deutsche und zugewanderte, ältere und jüngere Beschäftigte. In der Wissensgesellschaft Wissen ist zu dem entscheidenden Rohstoff geworden: Wenn es darum geht, uns im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften zu behaupten, aber auch als Grundlage für persönlichen Erfolg im Beruf und Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten. Scheinbar offen zugänglich, ist dieses Wissen keineswegs für alle gleich erreichbar. Soziale und kulturelle Herkunft, Geschlecht und Alter entscheiden wesentlich mit darüber, ob jemand reich an Wissen werden kann, ob sich der Zugang zu hochwertigen, zukunftsfähigen Jobs, zu den modernen Kommunikationswelten und neuen Alltagshilfen öffnet - oder nicht. 20

Zwischen den Generationen Die zunehmende Lebenserwartung und die rückläufige Geburtenrate verändern den Altersaufbau der Gesellschaft und auch die biografischen Strukturen. Das Verhältnis der Generationen, ihres gesellschaftlichen und politischen Gewichts, ihrer Ansprüche und Leistungen verändert sich. Nur mit großen Anstrengungen lassen sich unsere sozialen Sicherungssysteme in der bisherigen Form überhaupt noch stabilisieren. Weiterer erheblicher Anpassungsbedarf kommt hinzu: Bei der altersspezifischen Qualität öffentlicher Infrastruktur, bei den wachsenden und teils überbordenden Anforderungen an die Familien und der immer größeren Spannweite vor allem gesundheitlicher Lebenslagen in unserer Gesellschaft. Die Generationengerechtigkeit muss neu austariert werden. Innerhalb der Generationen Die biografischen Möglichkeiten nehmen weiter zu, zugleich vermitteln soziale Milieus und Schichten immer weniger Halt und Orientierung. Neue Freiheit und Offenheit entsteht, aber auch ein neues Maß individueller Unsicherheit. Lebensziele und Werte, Geschlechterrollen und Familienbilder, die Balance zwischen beruflichem, privatem und bürgerschaftlichem Engagement werden vielfältiger. Das Normalarbeitsverhältnis des familiären Alleinverdieners beschreibt längst nicht mehr die Normalität, einige wenige gemeinsame Vorstellungen von menschlichem Glück ebenso wenig. Umso mehr fehlen verlässliche Trennlinien zwischen Freiheit und Egoismus, Toleranz und Gleichgültigkeit, Eigenverantwortung und sozialer Kälte - Trennlinien, die Wertedebatten bislang vergeblich zu ersetzen suchen. Zwischen den Kulturen Deutschland ist seit Jahrzehnten Zuwanderungsland. Und wird es, muss es bleiben. Dennoch leben die Menschen verschiedener Herkunft in unserem Land zumeist mehr nebeneinander als miteinander. In den vergangenen Jahren ist das nicht besser geworden, eher schlechter. Die bisherige Zuwanderung ist eher

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2009 2010 verdrängt als bewältigt - auf beiden Seiten. Wir sind darauf angewiesen, dass weiterhin Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen. Damit das gelingt, braucht es auf beiden Seiten Bewusstsein der eigenen Identität, es braucht Gemeinsamkeit und es braucht die wechselseitige Anerkennung. Deshalb darf die Sprachlosigkeit nicht zunehmen: Weder zwischen den Menschen verschiedener Kulturen, und auch nicht zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen.

Gesellschaft trotz aller Veränderungen zusammenhält, dass es trotz aller Veränderungen gerecht zugeht. Soziale Gerechtigkeit zielt über die Gleichheit der Startchancen hinaus auf die Gleichheit der grundlegenden Lebenschancen für alle Menschen, gleich welchen Alters, Geschlechts oder Nationalität. Solidarität ist dabei nicht nur der Zusammenhalt der Schwachen und Benachteiligten untereinander, Solidarität fordert die besondere Verantwortung der Starken für die Entwicklung der Gesellschaft. Das Ideal der Sozialdemokratie bleibt, allen Menschen Freiheit von materieller Not zu gewährleisten, ihnen Die Chancen sehen Chancen zur gleichberechtigten Teilhabe am Sagen Vieles von dem, was für uns das soziale Gesicht unse- und Haben in Staat und Wirtschaft zu eröffnen und rer Gesellschaft ausmacht, ist nicht mehr sicher. Aber das Solidarprinzip zur Grundlage der gesellschaftliwir können die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft bän- chen Lastenverteilung zu machen. Dies ist die Grundlage dafür, dass alle Menschen in die Lage verdigen und zugleich den Blick öffnen auf die Chancen, setzt werden, individuelle Lebensentwürfe für sich zu die mit ihnen verbunden sind. entwickeln und eine realistische Chance für ihre Der globalisierte Wettbewerb birgt Risiken für soziale Umsetzung zu erhalten. und wirtschaftliche Errungenschaften aber auch Die Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit bedingt die immer wieder neue Zukunftschancen für alle. Die Bereitschaft zu sozialer Verantwortung. Solidarität ist rasante Zunahme des Wissens und der weltweite Wettbewerb der Ideen können keine Sicherheit geben keine Einbahnstraße. Wer Solidarleistungen der Gesellschaft empfängt, muss sich bereit erklären, seiwie die einstmals dominierenden physischen nerseits Leistungen für die Solidargemeinschaft zu Rohstoffe. In einer Gesellschaft des langen Lebens erbringen. Soziale Gerechtigkeit und Verantwortung besteht aber die Chance zu einem echten gemeinsam stiften sozialen Frieden. Er ist das Miteinander der Generationen durch die Auflösung Fundament unserer Demokratie und zugleich wichtider allein erwerbsorientierten Gestaltung der ger Produktionsfaktor, denn sozialer Friede ist eine Lebensphasen. Gleiche Chancen für Frauen und Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Ohne ihn Männer sowie die Vereinbarkeit von Familie und werden wir in Deutschland den notwendigen Beruf sind positive Folgen neuer Möglichkeiten. Die Veränderungs- und Erneuerungsprozess nicht erfolggewachsene biografische Offenheit schafft auch die reich gestalten können. Voraussetzung für das Entstehen einer neuen, gleichermaßen freiheitlich wie solidarisch geprägten, aktiDieses Verständnis von Gerechtigkeit muss sich vor ven Bürgergesellschaft. Darüber hinaus gibt es die allem bei den Zukunftsfragen von Wachstum und große Chance, dass Menschen unterschiedlicher Beschäftigung und den sozialen Sicherungssystemen Kulturen, Sprachen, Abstammungen und Religionen beweisen: miteinander im wechselseitigen Respekt leben und ¡ Indem wir unternehmerische Chancen öffnen, damit die Grundlagen für den persönlichen und aber auch unternehmerische Verantwortung fordern. gesellschaftlichen Erfolg in einer globalisierten Welt Indem wir auf dem Arbeitsmarkt Beschäftigung besschaffen. ser organisieren, aber auch persönliches Engagement verlangen. Gerechtigkeit schaffen ¡ Indem wir die Solidarität der Generationen absichern, aber auch private Vorsorge voraussetzen. Damit diese Chancen Wirklichkeit werden, müssen die Menschen darauf vertrauen können, dass diese 21

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2009 2010 ¡ Indem wir das medizinisch Notwendige für alle gewährleisten, aber dafür auch Beiträge aller heranziehen. ¡ Und indem wir Steuern einfacher machen, aber gleichwohl an der Leistungsfähigkeit festmachen. Verlässlicher materieller Schutz gegen die großen Lebensrisiken und die richtigen Anreize in den sozialen Sicherungssystemen sind entscheidende sozialpolitische Herausforderungen unserer Zeit. Soziale Grundrechte und die Möglichkeiten zur aktiven Teilhabe und Partizipation am gesellschaftlichen und politischen Leben sind die Substanz der Sozialen Demokratie. Daher kommt es ebenso darauf an, persönliche Teilhabe und Entfaltung konkret möglich zu machen: Durch Bildung und Weiterbildung, Kinderbetreuung und Unterstützung Pflegender. Durch frühe, effektive und passgenaue Hilfe: In familiären Krisen, bei Überschuldung oder Wohnungslosigkeit, bei Drogensucht oder AIDS, bei häuslicher Gewalt, durch häusliche Hilfe oder stationäre Versorgung. Soziale Innovationen wagen In den großen öffentlichen Diskussionen ist die Krise des Sozialstaats mehr oder minder eine Krise der sozialen Sicherungssysteme und umgekehrt. Qualität und Perspektiven der örtlichen sozialen Infrastruktur, der vielfältigen Beratungs- und Hilfeeinrichtungen, sozialen Versorgungsdienste und bürgerschaftlichen Initiativen spielen hingegen kaum eine Rolle. Es sei denn als Kostenfaktor und Argumentationshilfe im andauernden Ringen der Kommunen um eine angemessene Finanzausstattung. Das greift unter Gerechtigkeitsaspekten zu kurz, weil überschätzt wird, was finanzielle Hilfen leisten können, und unterschätzt wird, welche Bedeutung eine konkrete Chancenpolitik im örtlichen Sozialraum für den Alltag vieler Menschen hat. Aber auch unter konzeptionellen Aspekten greift das zu kurz. Verstanden wird zunehmend, dass unsere großen Sicherungssysteme nicht bleiben können wie sie sind. Die Zukunft der Sozialen Demokratie hängt maßgeblich vom Erfolg notwendiger Umstrukturierungsreformen ab. Aber dasselbe gilt 22

auch für die soziale Infrastruktur vor Ort. Weil die Lebensbedingungen der Menschen sich dramatisch verändert haben, ist es nicht in erster Linie eine Frage des Mehr oder Weniger sozialer Angebote, sondern vor allem eine Frage des „Wie“. Der Reformbedarf ist dort kaum geringer als in den großen Sicherungssystemen. Oder mit anderen Worten: Unser Land braucht nicht nur eine ökonomisch-technische Innovationsoffensive, sondern ebenso dringlich eine soziale Innovationsoffensive. Dabei drohen allerdings vorschnelle Vorbehalte ebenso wie voreiliger Beifall. Manche sehen in „sozialen Innovationen“ nur eine Rechtfertigung für soziale Kürzungen. Aber wenn eine Innovation ein bestimmtes Ergebnis klüger, effizienter und auch mit weniger Aufwand erreichbar macht: Was sollte daran falsch sein? Andere werden „soziale Innovationen“ entschieden befürworten, weil sie darin in erster Linie einen zeitmodisch ansprechend formulierten Weg zum unveränderten Ziel einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Umverteilung sehen. Aber genau diese Gleichsetzung von materiellen Ressourcen für soziale Gerechtigkeit mit der Qualität der sozialen Infrastruktur reicht eben nicht. Mehr Geld „von oben nach unten“ bedeutet eben nicht schon mehr Gerechtigkeit, mehr Geld für die soziale Infrastruktur nicht automatisch mehr Leistungsqualität für die Bürgerinnen und Bürger. Eine sozialpolitische Innovationsstrategie, die auf neue konkrete Chancen zielt, wird von Ort zu Ort und Land zu Land und auch in den einzelnen Handlungsfeldern unterschiedlich ausfallen. So unterschiedlich, wie es die örtlichen Bedingungen, Problemlagen und Ressourcen auch sind. Aber die Leitideen können und müssen gemeinsam sein, darauf kommt es an. Das Zusammenwirken der Landes- und Bundespolitik mit den kommunalen Handlungsmöglichkeiten muss dabei im Vordergrund stehen. Im Mittelpunkt der Mensch Die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, das klingt so banal wie selbstverständlich. Aber das ist es nicht.

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2009 2010 ¡ Warum konzentrieren wir uns sonst in der Sozialpolitik mehr auf die Begründung der Notwendigkeit der Hilfen (kausal) anstatt in erster Linie die Ergebnisse und die Wirksamkeit der Unterstützungsleistungen (final) zu bewerten? ¡ Tun wir wirklich schon alles, um Menschen zu aktivieren statt sie fürsorglich zu bevormunden? ¡ Ist die viel zitierte neue Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürgergesellschaft tatsächlich so einfach? Es kommt auf die Ergebnisse an Ergebnisorientierung in der Sozialpolitik meint den ganz konkreten Zugewinn an menschlicher Lebensqualität, an sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlicher Teilhabe: ¡ Wenn Eltern ihre Balance von Beruf und Familie verwirklichen können, weil sie ein Ganztagsangebot für ihre Kinder finden. ¡ Wenn Familien durch Beratung und aktivierende Begleitung einen Weg aus verfahrenen Situationen finden, die sonst häufig in Vernachlässigung und Gewalt enden. ¡ Wenn gewaltgeneigte Jugendliche lernen, Konflikte ohne Fäuste zu lösen. ¡ Wenn ältere Menschen durch altersgerechte Anpassung ihrer Wohnungen die verfrühte stationäre Unterbringung vermeiden können. ¡ Wenn chronisch kranke Menschen zusammen mit anderen Hilfe und Selbsthilfe organisieren. Diese Ergebnisse lassen sich häufig nicht einfach messen. Wer sagt, was erreicht werden soll, sagt damit auch, was zurückgestellt wird. Das heißt, zu unterscheiden, wer in erster Linie Hilfe bekommen soll und wer nicht. Aber daran geht kein Weg vorbei, unter den heutigen Bedingungen nicht, aber auch nicht in besseren Zeiten. Lebenslagen sind nicht gleich schwierig. Und jedem ein bisschen zu helfen, hilft niemandem.

Hilfe ganzheitlich gestalten Über die Jahre sind die sozialen Beratungs- und Hilfeangebote immer weiter ausdifferenziert worden. Das ist nicht falsch, weil ja auch die Lebens- und Bedarfslagen immer vielfältiger geworden sind. Aber zugleich ist auch das System der sozialpolitischen Einrichtungen und Träger immer komplexer und vielschichtiger geworden. Diesen Gleichschritt müssen wir durchbrechen. Denn sonst zwingen wir immer häufiger Menschen, die Rat und Hilfe suchen, das Zusammenspiel der einzelnen Leistungen selbst zu erkennen und zu organisieren. Das überfordert viele. Und wir verzichten nicht nur auf wirtschaftliche Synergien, sondern auch auf Qualitätsgewinne, die eine interdisziplinäre, ganzheitliche und präventive Vorgehensweise böte. Familienpolitische Akteure sind beispielsweise rückblickend häufig nicht überrascht, wenn bestimmte familiäre Konflikte eskalieren. Zumeist haben sich diese Entwicklungen in vielen kleinen Schritten bereits angedeutet, in Gewalttätigkeiten, in der Unfähigkeit zum Umgang mit eigenen Konflikten, in Schulversagen oder Kontaktunfähigkeit von Kindern. Aber allein in ihrem speziellen Aufgabenspektrum, im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft, beim Arzt oder der Ärztin, sind sie überfordert, frühzeitig zu helfen. Deshalb müssen, um die bestehenden Angebote zu integrierten, soziale Frühwarnsysteme entwickelt werden, in die zum Beispiel Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer und weitere Berufsgruppen als wichtige „Sensoren“ einbezogen werden. In denen die einzelnen nicht auf ihre Möglichkeiten zurückgeworfen werden, sondern Hilfen aus anderen Einrichtungen, anderen Institutionen, anderen Berufsgruppen herangezogen werden können. Und die entsprechend schnell und sofort handeln, sobald sich Konflikte anbahnen. Zugleich werden wir so auch wieder den Menschen als ganzheitlichen Personen gerecht. Der neuere Begriff „Case management“ beschreibt die Notwendigkeit, einzelne Bedarfe und Lebensaspekte zu erkennen, aber den Blick vor allem auf deren Zusammenspiel und deren Wechselwirkungen zu richten.

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2009 2010 Erst eine ganzheitlich angelegte soziale Infrastruktur rückt wieder den Menschen und nicht die Einrichtung, die eine bestimmte soziale Leistung anbietet, in den Mittelpunkt. Um nichts anderes geht es beispielsweise auch in unserem Gesundheitswesen. Gerade angesichts der wachsenden Zahl chronisch Kranker und mehrfach erkrankter älterer PatientInnen genügt es nicht, spezielle Einzelmaßnahmen unverbunden aneinander zu reihen. Sondern es kommt darauf an, diese Einzelleistungen zu berufs- und sektorenübergreifenden Versorgungswegen zu verbinden, in deren Mittelpunkt die einzelne Patientin oder der einzelne Patient steht. Erst dann öffnet sich der Blick über den einzelwirtschaftlichen Erfolg hinaus auf die Qualität und Wirtschaftlichkeit der gesamten Versorgung, erst dann lassen sich Behandlungsabläufe systematisch und patientengerecht optimieren. Aktivieren statt bevormunden Sozialpolitik muss zuvorderst Chancenpolitik sein. Denn die meisten Menschen wollen nicht, dass der Staat ihnen die Verantwortung für ihr Leben abnimmt, sondern dass er die Rahmenbedingungen schafft, unter denen sie ihr Leben eigenverantwortlich gestalten können. Die SPD bleibt bei ihrem Weg: weg von einer „reparierenden“ fürsorgenden Sozialpolitik hin zu einem gleichermaßen aktiven und aktivierenden Sozialstaat, der die Fähigkeit und die Bereitschaft der Menschen stärkt, sich selbst zu helfen, der auf effektive Hilfe, auf Prävention, Partizipation und Teilhabe zielt.

zen und qualifizieren auch die professionellen Versorgungsangebote - aber auch Staat und Politik als ExpertInnen in eigener Sache in unverzichtbarer Weise. Dieses Engagement gilt es daher zu stärken und systematisch in die soziale Infrastruktur einzubinden. Die Aktivierung von Menschen ist nicht allein eine Frage der Überzeugung, sondern auch der gezielten Stärkung ihrer Fähigkeiten, in neuer Begriffswahl: des „Empowerments“. Deshalb wäre es verhängnisvoll, in der erfreulich intensiven Diskussion um Bildung und Wissen den Bildungsbegriff zu verkürzen. Es ist ja richtig: Bildung hat auch eine ökonomische Dimension für den Einzelnen und die Gesellschaft. Aber Bildung muss auch mehr bleiben als kurzfristig ökonomisch verwertbares Wissen und Können. Sie ist beispielsweise auch ein entscheidender Hebel für ein „Empowerment“. Ohne soziale Weiterbildung, sei es Familienbildung, sei es Qualifizierung in Selbsthilfe oder bürgerschaftlichem Engagement wird der aktivierende Sozialstaat nicht gelingen. Auch diese sozialen Bildungsangebote gilt es daher konsequent als Säule integrierter sozialer Infrastrukturen zu verstehen und zu entwickeln. Wer genau hinsieht entdeckt überdies, dass selbst Unternehmen und Wirtschaft von einem solchen sozialen Empowerment unmittelbar profitieren können. Zum Beispiel wenn es Familienbildung und Betrieb gemeinsam gelingt, familiäre Konflikte zu erkennen und zu beheben, die sonst unterschwellig Arbeitszufriedenheit und betriebliche Leistung vermindern würden. Die Chancen der Bürgergesellschaft ausschöpfen

Die vielfältigen Aktivitäten von Selbsthilfegruppen sind ein besonders beeindruckendes Beispiel für die Potenziale eines solchen aktivierenden Ansatzes. Ob in den Ursprüngen der frauenpolitischen Initiativen, in der Familienselbsthilfe, in den vielen auf bestimmte Krankheiten spezialisierten Gruppen oder der Sucht- und AIDS-Hilfe, in der Migrationspolitik: In der Selbsthilfe befreien sich Betroffene von der passiven, entmündigten Rolle eines Hilfeempfängers. Sie finden und geben menschliche Wärme und Solidarität. Aber zugleich ist über die Jahre immer deutlicher geworden: Die Engagierten in der Selbsthilfe ergän24

Das konsequente Bemühen, Sozialpolitik als Motor für gesellschaftliche Entwicklungen zu nutzen, um die Freiheit des Einzelnen sowie Eigenverantwortung und solidarische Verantwortung für das Gemeinwesen zu stärken, ist im Sinne der Teilhabechancen richtig und aus einem weiteren Grund geboten. Denn der Staat alleine kann soziale Gerechtigkeit nicht schaffen. Zumindest nicht in einem umfassenden Sinne. Gerechtigkeit erfordert Teilhabe, Partizipation, Selbstbestimmung. Umfassende Gerechtigkeit setzt deshalb eine aktive Bürgergesellschaft (starke Zivilgesellschaft) vor-

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2009 2010 aus, in der Staat und Politik nicht mehr vorrangig hoheitlich lenken, sondern als Partner agieren, Teilhabe und Partizipation ermöglichen, Sozialstaatlichkeit gewährleisten, aber auch Eigenverantwortung einfordern. Umgekehrt gilt es ebenso: Eine starke Zivilgesellschaft ist nur möglich, wenn umfassende Gerechtigkeit, also auch Teilhabe und Selbstbestimmung besteht. Die Art und Weise, wie sich Menschen freiwillig und ehrenamtlich engagieren wollen, und die Bedingungen, unter denen sie dazu bereit sind, haben sich zwar gewandelt. Aber die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement besteht in veränderter Form fort. Auf diese Bereitschaft kann und muss eine moderne Sozialpolitik vertrauen, diese Bereitschaft muss sie ermutigen und stärken. Das spielt vor allem in der entstehenden Gesellschaft des langen Lebens eine wichtige Rolle. Solange zeitlich gestreckte Übergänge zwischen Arbeit und Ruhestand die Ausnahme sind, stehen viele SeniorInnen am Beginn ihrer dritten Lebensphase ohne neue Ziele, ohne eine wirkliche Lebensplanung. Das große Interesse, sich in diesem Alter für andere, für die Gemeinschaft zu engagieren, ist gleichermaßen aktivierende Hilfe und zivilgesellschaftliche Stärkung. Gewonnene Lebens- und Berufserfahrungen sowie erworbene Kompetenzen in ein neues Bürgerengagement einzubringen ist für den Einzelnen ein Sinn stiftender Gewinn, der die eigene Zufriedenheit und Lebensfreude stärkt und für die Gesellschaft eine unglaublich große Bereicherung und Ressource, die ein großer Gewinn im Vergleich zu früheren Generationen ist. Allerdings kommt es dabei auf klare Rollenzuweisungen und auch klare Übergänge an. Bürgerschaftliches Engagement ergänzt und bereichert den Sozialstaat, ersetzt ihn aber nicht. Es ist gut, wenn Ältere sich in der Kinderbetreuung engagieren, aber sie ersetzen keine ErzieherInnen. Es ist wichtig, wenn sich Menschen in der Betreuung Kranker oder Sterbender engagieren. Aber sie ersetzen nicht die qualifizierte medizinische Pflege. Diese je eigenen Aufgaben und Rollen von professioneller sozialstaatlicher Hilfe und ehrenamtlichem Engagement gilt es zu wahren.

Über diese Grenze hinweg kann es auch keine neue sozialpolitische Verantwortungsteilung geben. Professionelle sozialstaatliche Dienstleistung und bürgerschaftliches Engagement sind aber auch zugleich eng miteinander verbunden. Denn bürgerschaftliches Engagement ist auf eine professionelle Infrastruktur angewiesen, die Qualität sichert, Qualifikation ermöglicht und Wirksamkeit organisiert. Die individuelle Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern, sich über ihre eigenen Angelegenheiten hinaus für die Gemeinschaft einzusetzen, bliebe wirkungslos, wenn nicht Wohlfahrtsverbände und Selbsthilfeorganisationen die hierfür erforderlichen strukturellen Voraussetzungen bieten, Qualifikationen vermitteln und die Übergänge von ehrenamtlicher Tätigkeit zur professionellen Dienstleistung organisieren würden. Zu häufig wird noch verkannt, dass gerade der moderne Sozialstaat, der bürgerschaftliches Engagement fördert und fordert, auf lebendige und leistungsstarke Sozialverbände und Selbsthilfeorganisationen angewiesen ist. Administration verändern Eine solche bürgerorientierte, zivilgesellschaftlich verankerte soziale Infrastruktur verlangt auch Veränderungen innerhalb des öffentlichen bzw. staatlichen Sektors, vor allem unter zwei Aspekten: Weil es für viele Fragen konkreter Gerechtigkeit und Teilhabe auf den örtlichen Sozialraum ankommt, lassen sich Innovative, passgenaue Lösungen nicht von oben herab vorschreiben. Sondern Politik ist dabei angewiesen auf die Ideen, auf das Wissen und die Erfahrungen der Menschen vor Ort. Eine Politik konkreter Chancen muss deshalb bei den Kommunen ansetzen, muss auf starke Städte und Gemeinden bauen. Aber: Kommunale Stärke ist nicht Selbstzweck, Ideen Raum geben etwas anderes als Deregulierung wie es die CDU/FDP immer wieder propagiert. Gerechtigkeit und gleiche Lebenschancen enden nicht an den Grenzen der Städte und Gemeinden. Die Länder, in erster Linie, sind deshalb gefordert, diese Einheitlichkeit zur wahren, interkommunale Vernetzungen zu organisieren, Impulse für eine Weiterentwicklung zu setzen und den Erfahrungstransfer zu organisieren. 25

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2009 2010 Nur so werden Menschen auch in den verschiedenen Regionen gleiche Chancen bekommen. Zugleich müssen sich Staat und Kommunen von der langjährigen Orientierung auf Inputvorgaben und Standards lösen. Wenn es zu Recht auf Ergebnisse ankommt, dann ist der Weg dorthin nachrangig. Staatliche Förderung muss deshalb mehr als bislang auf Zielvereinbarungen setzen. Ziele vereinbaren heißt dann aber auch: Ergebnisse, insbesondere Qualität kontrollieren. Die „neue Gestaltungsfreiheit“ der Fördernehmer ist also nur für den Preis einer neuen Qualität und Intensität der Rechenschaftslegung - in Controllingverfahren - zu haben. Das gebieten ökonomische Klugheit und demokratische Verantwortung gleichermaßen. Deshalb: Wir brauchen nicht nur eine technischökonomische, sondern ebenso eine soziale Innovationsoffensive. Das, was wir in Wirtschaft und Technik erreichen wollen, von den Unternehmen erwarten und von den Gewerkschaften, von Forschern und von Entwicklern, das müssen wir auch in der Sozialpolitik von uns verlangen: Neue Wege suchen und finden. Ergebnisorientiert. Ganzheitlich. Aktivierend. Emanzipierend. Damit es im Alltag der Menschen gerecht zugeht. Gesellschaftlicher Fortschritt durch sozial verantwortliche Politik Für uns Sozialdemokraten sind individuelle Chancen, der Zusammenhalt der Gesellschaft und sozialer Frieden gleichermaßen Herausforderung wie Verpflichtung. Nicht nur aus sozialstaatlicher Verpflichtung des Grundgesetzes, sondern gleichermaßen aus Gründen ökonomischer Vernunft ist die solidarische Gesellschaft ein politischer Auftrag ohne Alternative. Wir können weder einen Schutzraum gegen die Auswirkungen der Globalisierung errichten noch durch staatliches Handeln allein ihre negativen Auswirkungen ausgleichen. Aber wir werden durch eine Politik gesellschaftlicher Verantwortung alle Akteure in die Bewältigung zukunftsorientierter Entwicklungen einbeziehen. 26

Entgegen der neoliberalen Ideologie der Privatisierung individueller Lebensrisiken und des Zurückdrängen staatlichen Handelns, ist für die SPD der aktivierende, gestaltende und partnerschaftliche Staat eine Grundsubstanz der Entwicklung der sozialen Demokratie. Davon unabhängig bleibt der integrierende Sozialstaat, der sich um die Menschen kümmert, die vorübergehend oder dauerhaft nicht aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt sorgen können, unverzichtbar. Mehr denn je kommt es aber nicht nur auf die eigene (materielle) Leistungsfähigkeit des Staates an, sie muss in vielen Bereichen durch die Gewährleistung sozialer und technischer Standards ergänzt werden. Die Entwicklung vom „Vater Staat“ zum „Partner Staat“ beschreibt nicht den Rückzug des Staates, sondern vielmehr den Weg, durch konzertiertes Handeln staatlicher und gesellschaftlicher Akteure, sozialstaatlichen Aufgaben gerecht zu werden und neue Wege für Arbeit und Innovation zu beschreiten. Wir sehen den Staat in der Verantwortung, gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren Rahmenbedingungen für das Zusammenleben zu gestalten. Es kommt darauf an, persönliche Teilhabe und Realisierungschancen eigener Lebensentwürfe konkret möglich zu machen und den sozialen Zusammenhalt zu wahren. Der aktive und aktivierende Staat will eine Kultur des verantwortlichen Handelns in unserer Gesellschaft fördern, bürgerschaftliches Engagement unterstützen und durch Vernetzung einzelner Handlungsfelder die Effizienz sozialstaatlicher Aufgaben und wirtschaftlicher Herausforderungen stärken. Gerechtigkeit erfordert Teilhabe, Partizipation und Selbstbestimmung. Bürgerschaftliches Engagement ist auf eine professionelle Infrastruktur angewiesen, die Qualität sichert, Qualifikation ermöglicht und Wirksamkeit organisiert. Verkannt wird häufig, dass die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement wirkungslos bliebe, wenn nicht Wohlfahrtsverbände und Selbsthilfeorganisationen die hierfür notwendigen strukturellen Voraussetzungen böten. Wer die notwendigen Rahmenbedingungen für Ehrenamt und Bürgerengagement einschränkt, wie wir es zurzeit bei der CDU/FDP in NRW erleben, reduziert den Mehrwert des Engagements, anstatt ihn zu vermehren.

Leitbild 4: Soziale Stadt Maßstab für staatliche Aufgaben ist der Schutz und die Gewährleistung von Bürgerrechten. Sie sind zugleich Maßstab für soziale Gerechtigkeit. Wenn die Krise der sozialen Sicherungssysteme nicht zur dauerhaften Krise des Sozialstaates führen soll, sind institutionelle Reformen notwendig, die den Weg vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat ebnen. Leitbild 3: Aktive Bürgergesellschaft & Partnerschaftlicher Staat: Organisationshinweise, Arbeitshilfen, Literatur Mitglieder der Arbeitsgruppe: Fischer, Birgit (verantwortlich); Schumann, Michelle; Vöge, Horst; Koschorreck, Liesel; Rahe, Ernst-Wilhelm; Stadler, Wolfgang ;Scheffler, Michael; Daldrup, Bernhard Ansprechpartnerin bei der NRWSPD: Christa Becker-Lettow, Tel.: 0211-13622-340 e-mail: [email protected] Vertretung: Ruth Meiß, Tel.: 0211-13622-220 Robin Baranski (Jusos)

Literaturhinweise: Entwicklungen einer lebendigen Bürgergesellschaft- Bilanz und Perspektiven AG Bürgerschaftliches Engagement Hrsg. SPDBundestagsfraktion. Berlin 2005. Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Enquete-Kommission „ Zukunft des Bürgerschaftliches Engagement“ Hrsg.: Deutscher Bundestag Schriftreihe: Band 4, Verlag Leske und Budrich. Berlin 2002 (432 Seiten). NRW. Die Chancen des demografischen Wandels nutzen. Impulse aus NRW: Reihe der Friedrich Ebert Stiftung (Kapitel zu Generationengerechtigkeit, nachhaltige Familienpolitik, Bürgerschaftliches Engagement;). Bonn 2005. Demographie konkret. Handlungsansätze für die kommunale Praxis Hrsg. Bertelsmann-Stiftung. Gütersloh 2005. Das nordische Modell als Vorbild für ein europäisches Sozialmodell? Hrsg.: Jutta Haug, Bernhard Rapkay PSE Sozialdemokratische Fraktion im Europa Parlament. Brüssel 2006. Internetadressen: www.fes.de/buergergesellschaft www.wegweiser-buergergesellschaft.de (Stiftung Mitarbeit)

Verantwortlich: Britta Altenkamp MdL stellvertretende Landesvorsitzende Städte brauchen soziale Stabilität. „Die Städte sind Orte, in denen die meisten Menschen unseres Landes leben, in denen sich das soziale Leben entfaltet, in denen die Menschen arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Die Städte sind die Kristallisationspunkte unseres kulturellen Lebens, Knotenpunkte des Handels, der Dienstleistungen und die Standorte der Wirtschaft. Die Städte sind Orte der Kommunikation und der Integration. Städte stiften Identität. Ohne die Städte sind Staat und Gesellschaft nicht funktionsfähig.“ (Deutscher Städtetag) Die Funktionsfähigkeit unseres Gemeinwesens mit seinen Chancen und Risiken und der rasante wirtschaftliche und soziale Wandel konkretisieren sich alltäglich in den Städten unseres Landes. Entscheidungen anderer staatlicher Ebenen werden dort spürbar. Trotzdem verfügen die Städte sowohl politisch als auch administrativ oft nicht über ausreichende Instrumente, um mit diesen Entscheidungen bzw. deren Konsequenzen sinnvoll umzugehen. Ein Beispiel dafür ist die Finanzausstattung der Kommunen. Soziale Stabilität in unseren Städten ist nicht alles aber ohne sie ist auf Dauer alles nichts. Das Soziale ist für uns in diesem Zusammenhang nicht nur Sozialpolitik im engeren Sinne. Es umfasst alles, was den Bürgern Zugang zu gleichen Lebenschancen eröffnet oder auch verschließt. Die Herausforderung, soziale Stabilität in unseren Städten zu gewährleisten bzw. herzustellen ist im Prinzip eine Querschnittsaufgabe. Wirtschaftspolitik wie Umweltpolitik, Migrationspolitik wie Bildungspolitik, Wohnungspolitik wie Integrationspolitik müssen sich in unterschiedlicher Weise an der Bewältigung der sozialen Dimension beteiligen. Das ist nicht nur im Interesse jener, die von Sozialpolitik und von sozialen Leistungen profitieren. Es ist die Umsetzung und Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzip auf kommunaler Ebene und so wesentlicher Teil einer zukunftsorientierten Politik. 27

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2009 2010 Sozialdemokraten haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Blick auf diese Aspekte gelenkt. Nicht zuletzt ist in NRW das Handlungskonzept für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf entstanden. Daraus wurde auf Bundesebene das Programm „Soziale Stadt“. Allerdings räumen wir ein, dass in einigen Stadtteilen maximal eine Stabilisierung erreicht werden konnte, von einer Revitalisierung aber in den meisten Bereichen kaum die Rede sein kann. Deshalb müssen die vorhandenen Programme und Instrumente daraufhin überprüft werden, wie zielgenau sie in der Vergangenheit gewesen sind, ob sie angepasst, neu formuliert oder gänzlich verändert werden müssen. „Denn der Problemdruck in unseren Städten wird verstärkt durch das Zusammentreffen ethnischer, demografischer und sozialer Segregation: wo die meisten Zuwanderer leben, leben die meisten Kinder, und dort ist die Armut am größten.“ (Strohmeier) Im Bild der Wohnquartiere wird deutlich, wer vom Wandel profitiert und wer nicht. Auch in deutschen Städten gehören Armutsinseln und ethnisch geprägte Nachbarschaften längst zur Realität. Dabei hat die sozialräumliche Differenzierung in den letzten Jahren noch zugenommen, zwischen Städten, Regionen und Stadtteilen. Geringe Wahlbeteiligung, sowie relativ hohe Stimmenanteile rechts- und linksextremer Parteien sind Ausweis für das geringe Vertrauen der Menschen in die demokratischen Strukturen unseres Staates. In besonders belasteten Stadtquartieren leben die Einwohner mit den geringsten Einkommen, den schlechteren Bildungsabschlüssen, die Langzeitarbeitlosen und Sozialhilfeempfänger und Empfänger von Grundsicherung. In vielen Städten wächst in diesen Sozialräumen beinahe die Hälfte der Kinder einer Stadt auf. Schulen und Bildungseinrichtungen in einer Stadt differenzieren sich immer weiter aus. Auch in deutschen Städten gibt es schon sog. schwarze Schulen, in denen sich die Kinder unterschiedlicher ethnischer Herkunft konzentrieren. Die geplante Abschaffung der Schulbezirke würde diese Tendenz weiter verstärken. 28

In NRW verändert sich die Bevölkerungszahl und -struktur allmählich, aber regional sehr unterschiedlich. Insbesondere die Städte des Ruhrgebiets werden noch erhebliche Einwohnerverluste verkraften müssen. Es bleiben die Einwohner, die nicht mobil sind, nicht über die finanziellen Mittel verfügen oder die älteren Einwohner. Während in den eher ländlich geprägten Regionen und im Ballungsrand tendenziell mehr Familien leben, die über bessere finanzielle Mittel verfügen. Welche Auswirkungen der demografische Wandel gesamtgesellschaftlich hat, ist zwar vielfältig untersucht worden. Die konkreten Auswirkungen vor Ort, in den Kommunen und Stadtteilen und der notwendige Anpassungsbedarf sind allerdings nach wie vor unklar. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wird vor allem in den Städten wachsen. Schon in 10 Jahren hat jedes dritte Kind in NRW einen Migrationshintergrund. Schon heute leben in manchen Sozialräumen bis zu 50% Migranten. Die Zahl dieser Quartiere wird zunehmen. Die in den Kernstädten lebende, zumeist ältere deutsche Wohnbevölkerung empfindet die Konfrontation mit fremden Kulturen und Sprachen eher als Bedrohung statt als Bereicherung. Der Zugang zur Infrastruktur, insbesondere zur Bildungsinfrastruktur, ist in den Stadtteilen einzelner Städte sehr unterschiedlich. Ebenso wie die Bereitschaft, sich bürgerschaftlich zu engagieren. Kinder, die in benachteiligten Stadtteilen aufwachsen, haben oft keine Aussicht auf einen Bildungsabschluss und eine Berufsausbildung. Sie wachsen in Sozialräumen auf, in denen der Bezug von staatlichen Transferleistungen in der dritten Generation keine Seltenheit ist. Strategien der Vergangenheit in Zukunft? Es muss gelingen, neue Strategien zu entwickeln bzw. bisherige Strategien so anzupassen, um diese Stadtteile zu stabilisieren und zu revitalisieren. Ein Erfolg dieses Weges könnte beispielgebend für unser gesamtes Gemeinwesen sein. Ein Scheitern dürfte die Spaltung der Gesellschaft in den Städten und Stadtteilen noch sehr viel dramatischer werden lassen.

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2009 2010 Initiative fördern - Eigeninitiative fordern Der Ansatz „Fördern und Fordern“ hat erst in den letzten Jahren in der SPD breiteren Niederschlag gefunden. Zuvor war es nicht selbstverständlich, vom Empfänger staatliche Transferleistungen zu erwarten - wo möglich - Eigeninitiative zu entfalten, die den Bezug dieser Transferleistungen auf Dauer überflüssig machen. Der Ansatz über Best-Practice-Modelle für Städte Anreize zu schaffen, ihre kommunale Praxis sukzessive umzustellen, ist ein langwieriger Weg. Die Frage ist, ob die Menschen in benachteiligten Quartieren die Zeit haben, darauf zu warten, bis auch in ihrer Kommune die Notwendigkeit solcher innovativer Ansätze erkannt wird. Hinzu kommt, dass falsche Ansätze nicht zwangsläufig aufgegeben werden (BadPractice). Die soziale Stabilisierung von Stadtteilen und zwar nicht nur derjenigen, die heute schon als benachteiligte Stadtteile gelten, muss noch stärker als öffentliche Aufgabe erkannt werden und in den Fokus der Politik rücken. Dabei geht es darum, Leitmotive zu formulieren und Schwerpunkte zu bilden. Diese Schwerpunkte sind für uns Bildung und Familie. ¡ Wohnungsbauförderung darf nicht dazu führen, dass Stadtteile noch weiter entmischt werden. Für Familien müssen Anreize geschaffen werden, in den Städten und Quartieren zu bleiben. Deshalb ist der Ansatz, die Fehlbelegerabgabe in kommunale Verantwortung zu geben, zu begrüßen. In Anbetracht der aktuellen Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt sind Allianzen gegen den Ausverkauf preisgünstiger Mietwohnbestände notwendig. Zwar ist die Privatisierung der Bestände über sozialverträgliche Mieterprivatisierung durchaus vertretbar und stärkt gleichzeitig auch die jeweiligen Wohnbestände, wenn man ein steigendes Engagement der Käufer unterstellt. Aber die drohenden Privatverkäufe an private equity fonds bergen auch die Gefahr der Spekulation und der Verdrängung von Mieterinnen und Mietern. Wir müssen überforderten Nachbarschaften beistehen und solidarische Nachbarschaften fördern.

Daneben ist das Risiko nicht zu unterschätzen, dass die mit den Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) verbundenen Zwangsumzüge (in „angemessen große Wohnungen“) zu einer weiteren Konzentration von sozial Benachteiligten in Wohngebieten führen. ¡ Stadtplanungspolitik und Wohnungspolitik muss noch viel stärker Kinder- und Familienfreundlichkeit berücksichtigen. Die Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur ist für sozial stabile Bevölkerungsgruppen ein entscheidendes Kriterium zu kommen, zu bleiben oder zu gehen. ¡ In sozial benachteiligten Stadtteilen müssen Schulen, Kinderbetreuungs-Einrichtungen und Familienhilfen gezielt und stärker gefördert werden. Gut ausgestattete Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sind in der Lage, mit multiethnischen Gruppen umzugehen. ¡ Bildung bedeutet gesellschaftliche Teilhabe und muss als Ziel der stadtteilorientierten Politik im Mittelpunkt stehen. Nur dann können wir ein Abkippen weiterer Quartiere verhindern. Wir müssen uns gerade hier verstärkt der Frage widmen, wie bildungsfördernde Milieus geschaffen bzw. unterstützt werden können. Welche landespolitische Strategie ist erforderlich, welche Arbeitsteilung mit den Kommunen, um Kindern aus bislang bildungsfernen Schichten gerade in diesen Stadtteilen eine gerechte Startchance zu garantieren? ¡ Integration ist ein Prozess auf Gegenseitigkeit. Er verlangt verbindliche Absprachen von Migranten einerseits aber auch der Gesellschaft. Es muss also eine Definition von Zielen der Integrationspolitik in einer Kommune erfolgen, deren Einhaltung dann verbindlich abgesichert wird und von beiden Seiten gleichermaßen ein hohes Maß an Bereitschaft erfordert, sich auf diesen Prozess auch einzulassen.

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2009 2010 ¡ Sprachförderung ist der Schlüssel zu einer breiteren gesellschaftlichen Teilhabe. Dies gilt für die deutsche Unterschicht gleichermaßen wie für die Migranten der 3. Generation, besonders aber für die Neuzuwanderer. Dabei sollten wir den Mut haben, bei der Sprachförderung zum einen mehr finanzielle Mittel zu aktivieren, zum anderen aber auch mehr Verbindlichkeit bei der Wahrnehmung der Angebote zu schaffen. Dabei hat die Förderung der Kinder Vorrang vor der Förderung der Erwachsenen. ¡ Subjektives Sicherheitsempfinden und objektive Sicherheitslage werden in benachteiligten Stadtteilen selten zur Zufriedenheit aller Bewohner übereinander gebracht werden können. Identifikation mit dem Stadtteil schafft Engagement, welches wiederum erheblich zur Sicherheit beiträgt. Eine Strategie, die Verstöße toleriert oder verharmlost, kann nicht erfolgreich sein und verstärkt die Entfremdung der Menschen mit unserer Gesellschaft. ¡ Der Ansatz, Migranten nicht nur als Objekt von Stadtpolitik zu betrachten, sondern als Subjekt, muss viel konsequenter verfolgt werden. Noch immer haben Migranten nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten an der Stadtpolitik teilzunehmen. Alle Beteiligungsstrategien sind bislang nur eingeschränkt erfolgreich gewesen und müssen auf den Prüfstand. Andererseits gibt es ermutigende Beispiele z.B. in Dortmund und Duisburg, wo sich Migranten sehr offensiv und phantasievoll mit der Situation in ihren Stadteilen auseinandersetzen. Auch hier liegen Chancen, die dem gängigen Vorurteil von permanenter Abschottung widersprechen. Chancen, die wir nicht ungenutzt lassen sollten. Die Situation der Städte ist nur schwer vergleichbar. Jede Stadt hat ihre Stärken, die sie für die Menschen attraktiv und lebenswert macht. Die beschriebenen Probleme und Tendenzen sind zwar fast überall spürbar. Den Königsweg für alle Städte dürfte es trotzdem kaum geben. Notwendig sind strategische Zukunftsentwürfe und Entwicklungsziele vor Ort. Das gilt für die großen Städte unseres Landes ebenso wie für die kleineren Kommunen. 30

Leitbild 4: Soziale Stadt: Organisationshinweise, Referenten, Literatur Mitglieder der Arbeitsgruppe: Altenkamp, Britta (verantwortlich); Burgsmüller, Bernd; Esser, Frank; Gebauer-Nehring, Gisela; Geier, Jens ; Hack, Ingrid MdL ; Kapschack, Ralf; Klare, Arno; Körfges, Hans-Willi MdL; Kolkau, Sebastian ; Koschorreck, Elisabeth MdL; Krüger, Hans-Ulrich MdB; Ott, Jochen; Paetzel, Ulrich; Pelizäus, Katja ;Rahe, Ernst-Wilhelm ; Reineke, Johannes ; Schiefner, Udo, Schumann, Michelle; Schwabe, Frank; Stotz, Marlies MdL ; Tsalastras, Apostolos, Wißen, Bodo MdL; Zerlin, Kay; Zwilling, Peter In der Teilarbeitsgruppe Kreisangehörige Gemeinden und Kreise arbeiten mit: Bergmann, Dietmar ; Burgsmüller, Bernd ; Fingerhut, Reinhard; Haase, Ulrike ; Hülsmann, Reinhard ; Kratzsch, Ernst ; Kuhn, Marco; Meurer, Ulla ; Peetz, Wolfgang ; Thiel, Rainer ; Schiefner, Udo ; Zwilling, Peter Ansprechpartnerin bei der NRWSPD Ruth Meiß, Tel.: 0211-13622-220 e-mail: ruth.meiß[email protected] Vertretung: Christa Becker-Lettow Sandra Schubert (Jusos) Literaturhinweise: „Die Stadt als Ort der Integration von Zuwanderern“, Hartmut Häußermann/ Walter Siebel: Vortrag bei der Verleihung Schader-Preises in Darmstadt am 06. November 2003, PDF über www.schaderstiftung.de. „Die Zuwanderungsgesellschaft demokratisch gestalten Die Weiterentwicklung der Integrationspolitik in Umsetzung der Integrationsoffensive des Landtages NRW“, Bericht der Landesregierung 2002, PDF über http://www.integration.nrw.de/grundlagen/politik/ schwerpunkte.html „Integrationsarbeit effektiv organisiert Ein Handbuch für Kommunen“, Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes NRW, PDF über www.mgffi.nrw.de/pdf/integration/integrationsarbeithandbuch.pdf „Zukunft der Städte in NRW Empfehlungen an die Landespolitik“, Bericht der Enquetekommission des Landtags NRW, zu bestellen über den Webshop des Instituts für Landes- und Stadtentwick-lungsforschung und Bauwesen http://www.ils-shop.nrw.de „Anforderungen an Städtebau- und Stadtentwicklungspolitik Beschluss des Bundesvorstandes vom 8. November 2002“, Diskussionspapier des Bundes-SGK, PDF über http://www.sgkonline.net/servlet/PB/menu/1240355/ „Auf dem Weg zur sozialen Stadt“, Eberhard Mühlich/ Ulrich Pfeiffer, erschienen in der Frankfurter Rundschau vom 1.4.2003, S.7. „Leitbild der Stadt der Zukunft“, Beschluss der 32. ordentlichen Hauptversammlung des Deutschen Städtetages am 15. Mai 2003 in Mannheim - o. O. : o. V., 2003. - 32 S. BP: Deutscher Städtetag, SY: B-RA3202. „Zukunftssicheres Wohnen und Leben in vitalen Städten“ Rede von Burghard Schneider in der Mitgliederversammlung am 28.Sept. 2004, Verbandstag des VdW Westfalen. Jan Wehrheim: „Städte im Blickpunkt Innerer Sicherheit“. In: aus Politik und Zeitgeschichte B44/2004 - PDF über die Website der Bundeszentrale für Politische Bildung www.bpb.de „Zweiter fachpolitischer Dialog zur Sozialen Stadt. Ergebnisse der bundesweiten Zwischenevaluierung und Empfehlungen zum Ergebnistransfer“, Deutsches Institut für Urbanistik, PDF über http://www.difu.de/archiv/Ber-05-3.pdf „Zusammenfassung des Handlungskonzeptes Demografischer Wandel“ , Landesregierung NRW: www.nrw.de

Leitbild 5: Spitze sein und Spitze bleiben: Industrie und Innovationen für die Menschen und den Standort Verantwortlich: Karl Schultheis MdL, stellv. Landesvorsitzender Ein zukunftsfähiges Nordrhein-Westfalen braucht eine industrielle Entwicklung, die auf die Sicherung und Schaffung von hochwertigen und gut bezahlten Arbeitsplätzen gerichtet ist. Ein handlungsfähiger Staat muss dafür aktivierender Wegbereiter, verlässlicher Dienstleister und den sozialen Zusammenhalt stärkende Kraft der Entwicklung sein. Der neoliberale Ansatz der Wirtschaftspolitik konzentriert sich hingegen auf die Grundidee: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“. Unsere Region hat im Gegensatz zum Gesellschaftsentwurf des „Laissez faire“ ihre Spitzenposition dadurch erreicht, dass Leistungswille, gesellschaftliche Solidarität und staatliches Handeln zusammen gehörten. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Das heutige hohe Qualitätsniveau, die hohe Qualifikation der Beschäftigten und die kontinuierliche Entwicklung innovativer Produkte, Verfahren und Dienstleistungen - entstanden in einem Klima der Solidarität und eines verantwortungsbewussten Unternehmertums - haben die industrielle Spitzenstellung der Region begründet. 1. Der wirtschaftliche Strukturwandel bleibt eine stetige Herausforderung. Nur in offensiver Auseinandersetzung und im Dialog sind Chancen zu nutzen und Risiken zu mindern. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben in diesem Sinne bereits Beispielhaftes geleistet, was einen selbstbewussten Blick nach vorn begründet. Die Wertschöpfungen aus Kohle und Stahl, aber auch anderen industriellen Schwerpunkten dieses Bundeslandes haben das Fundament für den Wohlstand vergangener Jahrzehnte in NordrheinWestfalen ausgemacht. Die gesamte deutsche Volkswirtschaft hat hiervon nachhaltig profitiert. Die heutigen besonderen Kompetenzen in der Stahlerzeugung und -verarbeitung, der Chemieindustrie, dem Automobilbau, dem Maschinenbau und vielen anderen industriellen

Clustern belegen die anhaltende Entwicklungsfähigkeit, die von Menschen in den Unternehmen dieses Landes getragen wird. Die industrielle Geschichte prägt auch die heutigen wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und ökologischen Strukturen: Vorhandene Stärken konnten für Anpassungen an veränderte Bedingungen genutzt werden - geradezu beispielhaft in fast vierzig Jahren sozialdemokratisch geführter Landesregierungen. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass es in der Neuausrichtung von Unternehmen im Land NRW, besonders im Ruhrgebiet, noch erhebliche Schwächen, beispielsweise unzureichende Aufwendungen, insbesondere der Wirtschaft, für Forschung und Entwicklung im Vergleich zu anderen deutschen und europäischen Entwicklungszentren zu überwinden gilt. Der grundlegende Strukturwandel seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wäre ohne einen handlungsfähigen Staat nicht so erfolgreich, geordnet und ohne soziale Brüche verlaufen. Andere Regionen in Europa mit ursprünglich vergleichbaren Ausgangsbedingungen belegen das. In NRW wurde eine (verkehrs-)technische, wissenschaftliche, kulturelle und soziale Infrastruktur geschaffen, die unserem Land im Wandel vom klassischen Industriestandort zu einer modernen Industrie-, Dienstleistungs- und Wissenschaftsregion seinen Platz in der Weltspitze gesichert hat. Die hohe Bevölkerungsdichte, die zu einem großen Teil industriell und großstädtisch geprägte Siedlungsstruktur, die Anziehungskraft für Menschen aus allen Teilen der Welt sind eine kulturelle Bereicherung und ein Zukunftspotenzial, das große Chancen bietet. Größere Anstrengungen für Integration, Bildung und sozialen Zusammenhalt sind damit ein Gebot der Stunde. NRW hat viel getan, aber es bleibt noch viel zu tun: So sind Bildungschancen auch heute noch - und zwar auf allen Ebenen des Bildungssystems - vor allem von der sozialen Herkunft geprägt. Das Bildungsniveau insgesamt und der Anteil von hochschulreifen Schulabgängerinnen und Schulabgängern bleibt deutlich hinter den industriellen/wirtschaftlichen Anforderungen zurück. Die völlig unzureichende Integration Jugendlicher mit Migrationshintergrund in Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, 31

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2009 2010 Studium und Beruf macht eine ganz besondere Herausforderung künftiger wirtschaftlicher und sozialer Leistungsfähigkeit aus. NRW weist gute Voraussetzungen auf, auch künftig eine der innovationsfähigsten europäischen Regionen zu bleiben. Allerdings sehen wir uns mit einer Reihe von alten und neuen Herausforderungen konfrontiert, der sich die SPD stellen wird: ¡ Die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit: Eine Gesellschaft ist umso innovationsfähiger, je mehr sie allen Talenten eine Chance eröffnet, ihre Fähigkeiten zu entfalten. ¡ Die Flucht von Teilen des Kapitals aus der gesellschaftlichen Verantwortung: Nur wenn Unternehmensleitungen und Eigentümer auch für die Arbeitsplätze und die Region Verantwortung übernehmen, können sie auf das volle Engagement und die uneingeschränkte Loyalität ihrer MitarbeiterInnen zählen, die Voraussetzungen für Innovation sind. ¡ Die abnehmende Handlungsfähigkeit des Staates: Innovation ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft. Für die langfristige Innovationsfähigkeit NRWs ist es unerlässlich, dass der Staat, jenseits betriebswirtschaftlicher Interessen Innovation voranbringt. Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat. ¡ Wachsende Anforderungen an das Lernen: Die Notwendigkeit ständig Neues zu lernen erfordert höhere Aufwendungen für die Qualifikation am Arbeitsplatz und die individuelle Fort- und Weiterbildung. 2. Industrielle Zukunft wird es in Nordrhein-Westfalen nur geben, wenn es gelingt, von hier aus die jeweils besseren Produkte und Dienstleistungen, vor allem aber Systemlösungen auf die Märkte zu bringen. Auf Wettbewerbsvorteilen allein aus billigeren Arbeitskräften lassen sich künftige industrielle Entwicklungen nicht aufbauen. Immer findet sich in einem solchen Wettbewerb eine Konkurrenz, die es noch billiger macht. 32

Deutschland und NRW haben ihre Weltgeltung erreicht durch Verarbeitungsqualität, Funktionssicherheit, innovative Spitzentechnik, wegweisendes Design, individuelle, kundenbezogene Problemlösungskompetenz, Service und nachhaltige Produktion, die dem Umwelt- und Verbraucherschutz einen hohen Stellenwert geben, nicht über den Preiswettbewerb. Anhaltende Wettbewerbsfähigkeit gewinnen wir nur durch Qualitätsvorsprünge und zusätzliche Investitionen in besondere Kompetenzen der Beschäftigten, nach dem Prinzip des lebensbegleitenden Lernens. Wirtschaftlicher Erfolg, der sich nicht auch an den Erfolgen für die Einkommensentwicklung der Beschäftigten bemisst, wäre nicht als solcher zu bilanzieren. Der künftige Unternehmenserfolg wird geprägt sein von der Fähigkeit, besondere Kompetenzen in ein Gesamtsystem zu integrieren und dieses System aus einer Hand anzubieten. Dies ist nur möglich, wenn sich die Kompetenzen inhaltlich und auch räumlich bündeln lassen. Die damit verbundene Neuausrichtung von Unternehmen bedeutet einen erheblichen zusätzlichen Forschungs- und Entwicklungsaufwand. So viel besser zu sein als andere heißt: ¡ wir müssen unsere Stärken weiter stärken, ideenreicher sein als die anderen, besser ausgebildet sein, motivierter sein ¡ wir müssen Qualität und Innovation als zentralen Bestandteil der Marke „Made in NRW“ fördern und weiterentwickeln. Und: selbstbewusst zum Standort Deutschland/NRW stehen. ¡ wir müssen mit dem, was man uns in der Welt als unsere Kompetenz abnimmt, den Preis wert sein. 3. Für unser Selbstverständnis tragen wir alle Verantwortung: Politik und Wirtschaft, aber auch Ich und Du. Das ist nicht nur ein Auftrag an die Politik, das ist ein Auftrag an die Gesellschaft insgesamt. Ein Auftrag in Bezug auf das Engagement, die Leistungsbereitschaft jeder und jedes Einzelnen, aber auch ein Auftrag, unsere Leistungen selbstbewusst in der Welt zu vertreten, so wie Amerikaner und Franzosen dies ganz selbstver-

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2009 2010 ständlich tun. Der Auftrag an die Politik ist es, den Rahmen zu schaffen, in dem sich das Potenzial an Wissen, Leistungsbereitschaft, Motivation und Erfindungsreichtum am besten entfalten kann. 4. In der Liga der High-Tech-Anbieter müssen wir uns dem Qualitäts- und dem Preiswettbewerb stellen und die Potenziale strategischer Kooperationen nutzen. Nordrhein-Westfalen steht im harten internationalen Wettbewerb. Auch in der „Premium-Klasse“ sind wir nicht allein. Auf Dauer wollen die selbstbewusster werdenden Wachstumsregionen der Welt die Spitzenproduktion nicht einigen wenigen Industrienationen überlassen. Das stellt uns fortwährend vor neue Herausforderungen in Bezug auf unsere Innovationsfähigkeit, aber auch in Bezug auf die Kostenstrukturen für das produzierende Gewerbe in Deutschland und NRW. Und: In Bezug auf unsere Kooperationsfähigkeit in einem zusammenwachsenden Europa. In dem Maß, in dem andere qualitativ und damit beim Image (z.B: japanische Autos) aufholen oder überholen, wächst der Druck auf neue Qualität, innovative Lösungen und Kostenstrukturen. Nicht die Forderung nach Einkommensverzicht der Beschäftigten, sondern die Investition in neue Produkte, Prozesse und Kompetenzen der Beschäftigten gehört auf die Tagesordnung. Nur besser, nicht billiger ist die Antwort auf neue Herausforderungen. Mit dem „richtigen Riecher“ für die Produkte von morgen, mit der erfolgreichen Innovationskultur in den Unternehmen, mit der verbesserten Zusammenarbeit von Betrieben und Wissenschaft sowie der effizienteren Umsetzung von Ideen und Vorteilen für die Kunden durch marktfähige Spitzenprodukte und Dienstleistungen ist der neue Wettbewerbsdruck erfolgreich aufzugreifen. Es ist eine Anforderung an die Unternehmen und an die Gewerkschaften, Arbeit in Deutschland besser statt billiger zu machen. Der Anteil der industriellen Produktion an der gesellschaftlichen Wertschöpfung beträgt in NRW 28%. Der Innovationsprozess wird diesen Anteil verringern.

Dennoch werden die industriellen Branchen auch in Zukunft im Zentrum der Wertschöpfung stehen. Sie bilden den Kern für vor- oder nachgelagerte Dienstleistungen, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sowie den Vertrieb. Die wachsende Arbeitsproduktivität in der Industrie wird auch künftig nicht durch Wachstum zu kompensieren sein. Deshalb ist es wichtig, dass neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen entstehen: im Gesundheitswesen, im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Bereich. Vielfältigen Formen des Arbeitens und Wirtschaftens gehört die Zukunft. Aber immer muss es darum gehen, dass sich die Menschen durch ihre eigene Tätigkeit eine menschenwürdige Existenz aufbauen können. Dabei kann Nordrhein-Westfalen keinen isolierten Weg gehen. Wesentlich für die Erfolge ist eine europäische Industrie- und Wirtschaftspolitik die auf den Wettbewerb durch Innovation statt auf den Wettlauf um billigste Arbeitskräfte, Arbeitsschutz-, Sozial- und Umweltstandards gerichtet ist. Bereits jetzt wird beispielsweise in China oder Indien relativ mehr für die Entwicklung neuer Ingenieurskompetenz getan, als das derzeit in Europa der Fall ist. Jeder Verzicht auf anspruchsvolle Innovationsstrategien und jeder Versuch die Unternehmenserfolge über scheinbar einfache Entgeltkürzungen bei den Beschäftigten zu realisieren, würde in der Abkopplung von weltweiter Wettbewerbsfähigkeit münden. Um kurzfristige Wettbewerbsvorteile, günstigste Kosten und höchste Renditen findet heute ein ruinöser, globaler Wettbewerb statt . Diese Praxis führt dazu, dass die Zahl der Verlierer weltweit zunimmt. Die Sicherung des Wohlstands in den OECD- Staaten und die aufholende Entwicklung in anderen Teilen des Globus kann langfristig nur dann zum Vorteil Aller sein, wenn der ökonomische Wettbewerb unter Einhaltung bestimmter Spielregeln erfolgt: soziale Mindeststandards, Umweltnormen, die Einhaltung der Menschenrechte statt Sozialdumping, Naturzerstörung und inhumaner Arbeitsbedingungen.

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2009 2010 Wir erleben heute auch in NRW, wie die sozialen Interessen der Menschen weltweit der kurzfristigen Jagd nach immer höherer Rendite untergeordnet werden. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und ihre Existenzgrundlage. Leistungsfähige Unternehmen werden durch Anlegerinteressen zugrunde gerichtet. Eine solche Entwicklung ist weder nachhaltig und gefährdet langfristig die Innovationsfähigkeit unseres Landes, noch ist sie mit dem Verständnis der SPD von sozialer Marktwirtschaft vereinbar. Dieser Entwicklung stellt die SPD ein Bild von Wirtschaft und Innovation entgegen, das sich von folgenden Zielen leiten lässt: ¡ Die Wirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft ist nicht nur ihren Eigentümern gegenüber verantwortlich; sie hat auch Verantwortung für ihre MitarbeiterInnen und die Gesellschaft wahrzunehmen. ¡ Die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts lehren, dass der freie Wettbewerb alleine keine Ergebnisse hervorbringt, die „Wohlstand für Alle“, Beschäftigung und soziale Sicherheit gewährleisten. Aus diesem Grunde muss der Staat auch in der Wirtschaftspolitik wieder eine gestaltende Rolle spielen. Ansonsten wird die Demokratie Schaden leiden. ¡ Eine globale Wirtschaft braucht globale Regeln. Aus diesem Grunde unterstützen wir die Bestrebungen für eine gerechtere Weltwirtschafts- und Handelsordnung und fordern Regeln zur Begrenzung des spekulativen Finanzkapitals und des Steuerdumpings. Das kurz- oder bestenfalls mittelfristige, vorrangig am jeweiligen Quartalsergebnis orientierte Unternehmenshandeln, zu dem die Renditeerwartungen der oft weit weg vom Standort agierenden Shareholder Unternehmensführungen zwingen, gefährdet langfristig nicht nur die jeweilige betriebliche Existenzgrundlage, es gefährdet die komplex entwickelten industriellen Beziehungen.

5. Der „rheinische Kapitalismus“ hat uns stark gemacht. Wenn Politik, Unternehmen und Gewerkschaften sich auf dieser Grundlage neuen Herausforderungen stellen und neue Antworten entwickeln, bleibt er ein attraktiver Weg. Nordrhein-Westfalen hat seine Stärke durch verantwortungsbewusste, langfristig denkende und handelnde UnternehmerInnen und ArbeitnehmerInnen erlangt, die wussten und wissen, wie wichtig Zusammenhalt im Unternehmen und in der Gesellschaft ist. Die Kultur, der Rechtsrahmen und die Praxis der Mitbestimmung am Arbeitsplatz, im Betrieb und im Unternehmen war entscheidend für die bisherigen Erfolge. Es ist unser Selbstverständnis, dass auch ArbeitnehmerInnen, ihre Betriebsräte und Gewerkschaften ihre Verantwortung für Innovationen und Wachstum in den Unternehmen tragen. Das entlässt UnternehmerInnen und ihre Anteilseigner nicht aus ihrer Verpflichtung, für das Wohl ihrer Unternehmen zu sorgen. Die überwiegende Mehrheit der nordrhein-westfälischen Unternehmen, vor allem der kleinen und mittleren, aber auch vieler der großen Konzerne mit Weltruf und ihrer Beschäftigten sind sich auch heute darüber im Klaren, welche Bedeutung der Heimatmarkt und der Heimatstandort für das Unternehmensimage, für die Innovationskraft und die Qualitätssicherung haben. Diese Vorteile nicht schlecht zu reden, sondern positiv herauszustellen, bietet die Chance hieraus neue Erfolge zu schöpfen. Für Politik und Wirtschaft muss es oberste Pflicht sein, der jungen Generation die Bedingungen zu bieten, die sie in die Lage versetzen, ihre Leistungsfähigkeit voll auszuschöpfen. Die Chance zu guter schulischer Bildung und wissenschaftlicher und beruflicher Ausbildung, die keine Talente brach liegen lässt, ist das A und O für unsere Zukunft. Wir SozialdemokratInnen in NRW wollen auch in Zukunft Leistungsbereitschaft und soziale Verantwortung stärker miteinander verbinden. Wir stehen für einen handlungsfähigen Staat, der allen die Chance gibt, durch Leistung zum Erfolg zu kommen. Für unternehmerisches Handeln ist eine solide Ausstattung mit Eigen- und Fremdkapital wichtig.

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2009 2010 Wenn Finanzinvestoren Beteiligungen an Unternehmen nur als kurzfristige Renditequelle betrachten, geraten auch gesunde Unternehmen in die Krise. Aus diesem Grunde sind aufsichtsrechtliche Maßnahmen erforderlich, um den Einfluss von anonymen Finanzinvestoren zu begrenzen. Gleichzeitig muss im Rahmen des bestehenden Bankensystems eine ausreichende Kapitalversorgung gewährleistet werden. Dem Erhalt des eigenständigen Sparkassensystems mit öffentlichen Eigentümern kommt für die Versorgung der klein- und mittelständischen Unternehmen in NRW mit Finanzmitteln eine große Bedeutung zu. 6. NRWSPD: Politik für Chancengleichheit, Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenhalt in einer sich ändernden Welt Um unsere Ziele zu erreichen, werden wir neue Wege beschreiten, ohne die grundlegenden Prinzipien unserer Politik aufzugeben: Wenig Staat können sich nur Wohlhabende leisten. Wir wollen einen handlungsfähigen Partner Staat, der sich als Dienstleister versteht, aber auf dessen Autorität sich die Menschen auch verlassen können. Ein handlungsfähiger Staat braucht solide Einnahmen. Eine Voraussetzung dafür ist ein transparentes und gerechtes Steuersystem, das starken Schultern mehr zumutet als schwachen. Mehr industrielle Entwicklungskraft erfordert Anstrengungen von den Unternehmen und Rahmenbedingungen, die diese stützen. Unterschiedliche Wertschöpfungsketten, Branchen und Fachzweige in Nordrhein-Westfalen bergen spezifische Risiken und Chancen für die Entwicklung von Arbeitsplätzen und Einkommen. In enger Kooperation mit Betriebsräten und Gewerkschaften wird die NRWSPD sie zu Schwerpunkten innovations- und qualifikationsfördernder Entwicklungsinitiativen machen. Es gilt auch, kooperierende Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft in besonderen Kompetenzfeldern und bei Systemlösungen zu unterstützen, um Kompetenzvorsprünge von der Grundlagenforschung bis zur Markteinführung entsprechender Produkte zu sichern

und zu erzielen. Wir brauchen einen arbeitsorientierten Ausbau der Infrastruktur auf den Feldern Energie und Rohstoffe, Verkehr, Technologie, Bildung, Wissenschaft und Forschung. ¡ Deshalb muss an unserem Energiestandort Nordrhein-Westfalen in die Zukunft investiert werden, auf der Basis der Stein- und Braunkohle, in Ergänzung mit den erneuerbaren Energiequellen. Saubere, umweltverträgliche Kraftwerke und Kraftwerkstechnologien sind hier zu entwickeln, zu erproben, zu produzieren und in den Weltmarkt einzuführen. Zudem brauchen wir eine langfristig angelegte Politik der Rohstoff- und Versorgungssicherheit national wie international. ¡ In die Verkehrsinfrastruktur, den öffentlichen Personennahverkehr, die Straßen und Schienenwege Nordrhein-Westfalens muss investiert werden, damit wirtschaftlicher Aufschwung nicht im Stau stecken bleibt. Die zur Verfügung stehenden Regionalisierungsmittel müssen ungekürzt in den ÖPNV/SPNV fließen. ¡ Wirtschafts-, Technologie-, Forschungs- und Qualifizierungspolitik müssen noch besser miteinander verzahnt und auf Zukunftsthemen und -felder konzentriert werden, in denen wir in Nordrhein-Westfalen über ausbaufähige Potenziale verfügen. Gegenüber wichtigen Wettbewerbern innerhalb der EU und auf weltweiten Märkten wird in Nord-rheinWestfalen zu wenig in die Aus- und Weiter-bildung der Beschäftigten und Berufseinsteiger investiert. Bei den betrieblichen Investitionen in Weiter-bildung und der Weiterbildungsbeteiligung rangiert Deutschland auf den untersten Rängen innerhalb der EU. Ein wesentlich zu hoher Anteil der Schulabgänger erreicht nicht die Voraussetzungen für eine fachlich qualifizierende Berufsausbildung. Der Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife ist zu gering. Soziale Nachteile bei Bildungszugängen werden zunehmend zementiert statt überwunden. Ein erheblicher Mangel an Fachkräften wie beispielsweise Ingenieuren ist absehbar und droht zum Risiko für eine weitere industrielle Entwicklung zu werden. 35

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2009 2010 Beschäftigten, die gefordert sind, sich neuen beruflichen Anforderungen zu stellen, fehlt es an lernförderlichen Arbeitsbedingungen und frühzeitigen Zugängen zu zielführenden Weiterbildungsangeboten. Erforderlich sind eine nüchterne Bildungsbilanz im Vergleich zu konkurrierenden Wirtschaftsstandorten und eine umfassende Bildungsoffensive, die besonders die in ihrer Teilhabe an Bildung benachteiligten Heranwachsenden und Beschäftigten erreicht. Innovationspolitik braucht einen breiten Ansatz. Innovationen entziehen sich einer geradlinigen Planbarkeit. Deshalb kommt es darauf an, den Entwicklungsprozess von Innovationen durch eine innovationsfreundliche Organisationskultur der Unternehmen umfassend zu begünstigen. Denn es kommt auf die Menschen an. Innovativ sind nur die Menschen. Nicht die Technik ist innovativ, sie ist allenfalls Ergebnis von Innovation. Innovation ist ein Prozess, in dem besonders die so genannten weichen Faktoren Bildung, Wissen, Qualifikation, Teamfähigkeit und Teamarbeit, Netzwerke, Kommunikation und Information, Managementsysteme und Organisationsstrukturen eine Treiberfunktion haben. 7. Innovation statt Verlagerung - Wettbewerb statt Steuerdumping Gegen einen Verlagerungsdruck zu Standorten mit billigen Arbeitskräften gilt es, verstärkt die Betriebsräte zu unterstützen, die in ihren Unternehmen Innovations- statt Verlagerungsstrategien bewirken wollen. Dazu zählt ein für die Betriebsräte nutzbarer Zugang zur entsprechenden Wissenschafts- und Beratungskompetenz. EU-Subventionen und differenzierte Steuersätze der Mitgliedsstaaten sind sinnvoll, soweit sie in den Mitgliedsländern zur Schaffung neuer wirtschaftlicher Tätigkeit und neuer Arbeitsplätze beitragen. EU-Mittel dürfen nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet werden, für die anderswo in der EU Arbeitsplätze abgebaut werden. Mit EU-Förder-mitteln und politischen Rahmensetzungen ist der Wettbewerb um die innovativsten Lösungen industrieller Entwicklungen zu stärken, nicht um die billigsten. 36

Eine Verlagerung von Arbeitsplätzen, die sich nur aus den EU-Subventionsvorteilen begründet, ist durch die entsprechende Änderung der EU-Subventionsrichtlinien und eine Kontrolle der Subventions- und Besteuerungspraxis in den Mitgliedsstaaten auszuschließen. Beim Einsatz von EU-Förderhilfen sind förderbedingte Arbeitsplatzverlagerungen durch veränderte Förderrichtlinien und durch die Beteiligung von Betriebsräten und ihren Gewerkschaften an deren Kontrolle auszuschließen. Europaweite Standards für einen gesundheitsförderlichen und nachhaltigen Arbeits- und Umweltschutz müssen auch auf dieser Ebene einen Dumpingwettlauf zwischen den Standorten industrieller Entwicklung verhindern. Erforderlich ist ein aktiver Staat der Lohn-, Umwelt-, Steuer- und Sozialdumping verhindert und mit sozialer Sicherheit die Entwicklungskräfte und den Zusammenhalt in Europa steigert. Landes- und Regionalpolitik dürfen nicht die Hände in den Schoß legen - sie sind verantwortlich für die regionale Arbeitsmarkt-, Struktur- und Innovationspolitik. Eine moderne Strukturpolitik lässt sich immer weniger als eine Politik des Staates für die Betriebe und Unternehmen, die Fachzweige und Branchen konzipieren. Sie muss vielmehr als eine Angelegenheit der wirtschaftlichen Akteure angegangen werden. Wir wollen den Strukturwandel mit den UnternehmerInnen und ArbeitnehmerInnen, mit den Bürgerinnen und Bürgern in den Regionen unseres Landes gestalten. Dafür brauchen wir ¡ eine integrierte regionale Wirtschafts- und Arbeitspolitik ¡ die Förderung interkommunaler Kooperation im regionalen Konsens ¡ eine sozialintegrative regionale Innovationspolitik (statt Spaltung in neue Jobs für einpendelnde Akademiker und ALG 2 für die verbleibenden Einheimischen). Wir können und wollen für diese Prozesse nicht auf die Strukturförderung der Europäischen Union verzichten.

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2009 2010 ¡ Wir brauchen in Europa die Begrenzung des Wettlaufs um die niedrigsten Steuern. Wir brauchen einheitliche und transparente Bemessungsgrundlagen für die Steuern in Europa. Keinesfalls dürfen EU-Subventionen Billigsteuersysteme finanzieren und den Wettbewerb der Systeme verzerren. ¡ Wir müssen über Finanzierungsquellen in Partnerschaft mit Privaten nachdenken, die dem Staat helfen, seinen Auftrag zu erfüllen, ohne die Prinzipien gerechter gesellschaftlicher Teilhabe zu verletzen (PPP bei öffentlichen Investitionen, Beteiligung von Stiftungen im Bildungsbereich etc.). 8. Staatliche Grundversorgung auf hohem Niveau - vor allem im Bildungsbereich - muss allen offen stehen. Die Inanspruchnahme darf nicht am Geldbeutel scheitern. Schulgeld und Studiengebühren sind für die Finanzierung des allgemeinen Bildungssystems ungeeignet, weil sie eine soziale Vorauswahl zur Folge haben und viele Talente von einer Bildungskarriere ausschließen. In der Bildung brauchen wir ein solides Grundlagenangebot für alle und zugleich Spitzenangebote für Hochbegabte. Ein früher Beginn und ein schneller Verlauf von Bildungskarrieren darf nicht durch staatliche Bevormundung behindert werden. Frühzeitiger Förderunterricht, insbesondere zum Erwerb der unabdingbar notwendigen Sprachkompetenz muss selbstverständlich werden. 9. Wir brauchen den Ausbau der Spitzen-Forschungsinfrastruktur. In diesem Bereich können wir noch mehr Leistungs-, vor allem aber Motivation zur marktorientierten Verwertung von Forschungsergebnissen fördern, etwa durch mehr unternehmerische Freiheit und Abbau unnötiger Bürokratie in Forschung und Lehre. Junge NachwuchswissenschaftlerInnen müssen Möglichkeiten zur eigenverantwortlichen Forschung erhalten. NRW liegt bei den öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in etwa im Durchschnitt der übrigen Länder. Die privaten F+E-Ausgaben liegen

allerdings deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Auch hierbei könnten Anreize über PPP-Modelle wie durch Science to Business-Center einen Aufholprozess auslösen. Technologietransfer für eine schnellere Umsetzung von Ideen und Entwicklungen in marktfähige Produkte (Wissenstransfer) ist in NRW deutlich voran gekommen. Neben höheren wirtschaftlichen Anreizen für staatlich finanzierte Forscherinnen und Forscher brauchen wir eine noch engere Vernetzung von anwendungsorientierter wissenschaftlicher Forschung, vor allem mit kleinen und mittleren Unternehmen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Dialog, der die Offenheit der Gesellschaft für neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen fördert und Ängste abbaut, in dem er sie ernst nimmt. 10. Wir brauchen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene ein selbstbewusstes Standortmarketing, das aufbauend auf dem guten Ruf der wirtschaftlichen Leistungskraft zu einer positiven Imagestärkung beiträgt. Ausländischen Produzenten müssen wir nicht nur die Marktgröße, sondern auch den Wert von hoch qualifiziertem und motiviertem Personal sowie von Forschung, Entwicklung und Produktion in NordrheinWestfalen für das eigene Unternehmensimage deutlich machen. Unsere hoch anerkannten Stärken müssen für uns Ansporn sein, sie als ökonomisches Fundament weiter auszubauen. Nur so sichern wir unseren Vorsprung. Deshalb müssen wir Strukturen stärken, die für noch mehr Produktqualität, für ein noch höheres technisches Niveau, für wegweisendes Design, ständig verbesserten Service und individuelle Problemlösung und für mehr statt weniger Nachhaltigkeit sorgen. Unsere ökologische Sensibilität hat das Image unserer Produkte und Verfahren und unserer Problemlösungskompetenz weltweit positiv beeinflusst. Wir brauchen eine Ressourcen schonende Kreislaufwirtschaft. Ressourcenschonung ist nicht nur ethisch geboten und eine Voraussetzung für unsere langfristi37

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2009 2010 ge Existenzsicherung. Sie gehört zu den Qualitätsmerkmalen deutscher Produkte aus der Sicht vieler unserer Kunden. Dieser Erwartung gerecht zu werden, ist unsere Chance auf dem Weltmarkt. Deshalb brauchen wir eine nationale Rohstoffbilanz, die dazu beiträgt, den Einsatz von Rohstoffen zu evaluieren und Recycling- und Entsorgungstechnologien weiterzuentwickeln. 11. Eine noch so hohe Leistungsfähigkeit des Standortes Deutschland kann ihren Beitrag zur Wohlstandssicherung nicht nur über Exportrekorde entfalten. Wir brauchen eine Belebung der Binnenkonjunktur, die nur dann eintritt, wenn die Menschen Vertrauen in die Zukunft gewinnen. Notwendige Reformen müssen erkennbar werden lassen, wohin sie für den Einzelnen führen. Das schafft Motivation für die Zukunftsvorsorge - und Kauflust. Überlegene Leistungsfähigkeit entsteht aus Kooperation und Partizipation, nicht aus Konfrontation. Teilhabe und Mitbestimmung sind entscheidende Voraussetzungen für die schnellere Umsetzung neuen Wissens in wettbewerbsfähige Produkte. Kooperative Strukturen beschleunigen den wirtschaftlichen Wandel zum Wohle aller, das gilt für die Unternehmen und für die Gesellschaft. Es geht nicht darum, statisch besser zu sein, es geht darum, dynamisch immer besser zu werden. Steigende Arbeitnehmereinkommen sind eine Stärke, keine Schwäche unserer Volkswirtschaft. Wir wollen den ArbeitnehmerInnen und ihren Familien mehr Möglichkeiten aufzeigen, als mit letzter Kraft einen erreichten Besitzstand zu verteidigen - wir wollen Entwicklungsperspektiven. Konkret heißt das: Die Lohnpolitik muss mindestens Produktivitätsgewinne in Kaufkraft umwandeln. Die Arbeitseinkommen in Nordrhein-Westfalen sind kein Mangel, der kompensiert werden müsste. Sie sind für die Menschen Ziel und Perspektive und zugleich das Rückgrat der Binnenkonjunktur.

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Die Haushaltspolitik muss die Binnennachfrage steigern statt kaputt sparen. Die Geldpolitik muss Maastricht relativieren: Der Maastricht-Vertrag verlangt von der Geldpolitik, die Beschäftigungspolitik zu unterstützen. Das ignoriert die Europäische Zentralbank. Gleichzeitig wird die 3%-Defizitgrenze der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt verabsolutiert. Hier muss Stabilitätspolitik im Interesse von Beschäftigungspolitik vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

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2009 2010 Leitbild 5: Spitze sein. Spitze bleiben. : Organisationshinweise, Referenten, Literatur Mitglieder der Arbeitsgruppe: Karl Schultheis (verantwortlich), Martin Hennicke, Wolfgang Nettelstroth, Werner Kindesmüller, Sascha Vogt, Marc Jan Eumann, Robert Guntlin, Norbert Walter Borjans, Ralf Bartels, Claudia Schare, Markus Gluch, Ansprechpartner bei der NRWSPD: Rudolf Hartung, Tel.: 0211- 13622-332 e-mail: [email protected] Vertretung: Waltraut Onnertz, Tel.: 0211- 136223- 315 Raoul Machalet (Jusos) Literaturhinweise: Positionspapier der Industriepolitischen Initiative für NRW (18.03.2005), http://www.nrw.dgb.de/themen/industriepolitik/index Industriepolitischer Kongress NRW von FES, IG BAU, IG Metall. IGBCE u.a. -Dokumentation der Tagung vom 21.06.2004, http://www.fes.de/industriepolitischerkongress/ Über die Website der Friedrich-Ebert-Stiftung (www.fes.de) können folgende Publikationen kostenfrei bestellt und teilweise als PDF heruntergeladen werden: Die EU braucht eine neue Wirtschaftspolitik! : Auftakt zur Debatte / Arbeitsgruppe Europäische Integration. - Bonn : Friedrich-Ebert-Stiftung, Internat. Politikanalyse, 2006. 6 S. = 117 KB, PDF-File. - ( Europäische Politik)

Veranstaltungsservice der NRWSPD für örtliche Zukunftskonvente Banner/Rückwände für Saalveranstaltungen in den Maßen 295 x 220 cm - Hintergrund Blau mit den Titeln der Leitbilder - Logo NRWSPD können bei der NRWSPD ausgeliehen werden. Ansprechpartner: Anita Schneider/Hans Bruckhaus Tel.: 0211-13622-102 e-mail: [email protected] Tipps und Hinweise für die Veranstaltung von regionalen Zukunftsforen gibt es bei: Jörg Biesterfeld Tel.: 0211-13622-347 e-mail: [email protected] Die für die einzelnen Leitbilder zuständigen hauptamtlichen Mitarbeiter/innen (Kontaktdaten jeweils am Ende des jeweiligen Kapitels) helfen bei der Referentenvermittlung. Zu jedem Leitbild gibt es ein Einführungsreferat (Powerpoint-Vortrag).

Mitbestimmung in Zeiten der Globalisierung : Bremsklotz oder Gestaltungskraft? ; Basierend auf einer Veranstaltung anlässlich des 10-jährien Bestehens des Arbeitskreises Arbeit - Betrieb Politik am 19. Mai 2005 in Bonn. - Bonn : Wirtschafts- und Sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt, Wirtschaftspolitik, 2005. - 46 S. = 770 KB, PDF-File. - Electronic ed.: Bonn : FES, 2005,ISBN 3-89892404-1. Erfolgreiche Industriepolitik für ein soziales Europa / Angelica Schwall-Düren. - Paris : Friedrich-Ebert-Stiftung, 2005. - 115 KB, PDF-File. - ( Frankreich-Info ; 2005,2) Electronic ed.: Bonn : FES, 2005. - Title only online available Die französische Ausnahme: immer noch die Regel? : Industriepolitik, Gesellschaftsreform und soziales Europa / Winfried Veit. - Paris : Friedrich-Ebert-Stiftung, 2005. - 160 KB, PDF-File. - Electronic ed.: Bonn : FES, 2005. - Title only online available. - Parallelausg. u.d.T.: Frankreich - immer noch die Ausnahme Über die Website der Bundeszentrale für Politische Bildung (www.bpb.de) können viele Publikationen kostenfrei bestellt, als PDF heruntergeladen werden oder sie sind online verfügbar. Über die Website der Hans-Böckler-Stiftung können Publikationen (www.boeckler.de) als PDFs heruntergeladen werden.

Zukunftskonvent der NRWSPD Samstag, 18. November 2006 Information und Anmeldungen unter www.nrwspd.de/Zukunftskonvent 39

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2009 2010 V.i.S.d.P.: Michael Groschek NRWSPD Kavalleriestraße 16 40213 Düsseldorf Tel.: 0211/13 622 300 Fax: 0211/13 622 301 www.nrwspd.de eMail: [email protected]