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Bergleute beim Transport im Stollen: „Die Zeit der deutschen Steinkohle ist vorbei – und sie wird nicht mehr wiederkommen“ B E RGBAU

„Nach uns die Sintflut“ Seit fast 50 Jahren wird in Deutschland der unwirtschaftliche Steinkohlenbergbau zu Lasten der Steuerzahler betrieben. Eine verhängnisvolle Allianz von Politik, Gewerkschaften und Unternehmensbossen vernichtet Milliarden – und bringt Tausende Menschen in Gefahr.

Ü

ber die Kohle spricht Jutta Spranger-Nowaczyk, 46, am liebsten, wenn sie mit ihrem Vater Gerd, 75, und Tochter Ann-Kathrin durch die stillgelegten Schachtanlagen der Zeche Zollverein in Essen geht, die jetzt ein Bergbaumuseum ist. Dann wird die Geschichte der Kohle zur Familiengeschichte. Mit dem Finger fährt sie auf einer Karte zum ehemaligen Schacht 4/11 im Norden. Hier arbeitete ab 1891 ihr Urgroßvater Heinrich Bachmann unter Tage. Weiter südlich, am alten Schacht 6, begann ihr Großvater Hermann 1913 als Bergmann. Und mit einem Schraubenschlüssel, wie er auf einer Werkbank ausgestellt ist, machte Vater Gerd Spranger nach 1945 Karriere auf der Zeche – arbeitete sich vom einfachen Schlepper hoch zum Chef über den gesamten Maschinenpark unter Tage. „Wenn’s der Kohle gut ging“, sagt die Tochter der Bergmannsfamilie in der dritten Generation mit „locker über 20 Bergleuten“ in der Verwandtschaft, „ging’s auch der Familie gut.“

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Wenn Theo Brosthaus, 66, über die Kohle spricht, bittet er den Besucher in das Wohnzimmer seines Hauses in Walsum am Niederrhein. Dort legt er eine Bierflasche auf den Boden. Wie von Geisterhand bewegt, beginnt die Flasche zu rollen. Doch eines Zaubertricks bedarf es nicht: Der Fußboden hat ein Gefälle von 22 Zentimetern. In den vergangenen 30 Jahren ist das Eigenheim des Rentners nebst Garage sechs Meter in die Tiefe gerutscht, steht nun wie auf einer abschüssigen Rampe. Und konnte Brosthaus früher von seiner Terrasse aus auf den Rhein schauen, endet der Blick heute an einer grünen Mauer: Das Bett des Flusses muss hier seit Jahren durch immer höhere Deiche künstlich auf dem alten Niveau gehalten werden, damit der Fluss nicht die ganze Gegend in ein gewaltiges Binnenmeer verwandelt. Der Kohlenabbau und die Bergabsenkungen durch einstürzende Flöze, klagt Brosthaus, hätten sein Heim „zu einer tödlichen Falle gemacht“. Erinnerung, die auch eine Verpflichtung zum Weitermachen bedeutet – oder nur d e r

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noch ein Fluch? Das ist das Dilemma, in dem die Kohlenförderung in Deutschland steckt. Was einst Symbol für den Wiederaufstieg Deutschlands in der Nachkriegszeit war, ist heute zum Synonym aberwitziger Verschwendung von Steuergeldern geworden. Ökonomen erklären die Kohlensubventionen inzwischen sogar zum schlimmsten Feind der Volkswirtschaft. Der Bergbau belastet nicht nur aktuell die ohnehin klammen Haushalte – er zeitigt auch Folgeschäden für die Ewigkeit. Heimische Steinkohle ist rund dreimal so teuer wie importierte. Sie wurde so quasi zum Luxusgut – das allerdings keiner mehr braucht. Der Anteil am Primärenergieverbrauch liegt bei gerade mal sechs Prozent. Der wahre Wert steht dabei im krassen Gegensatz zum Aufwand für den Steuerzahler. Den kostete das schwarze Gold seit Kriegsende über 300 Milliarden Euro, derzeit wird jeder Bergmann pro Jahr mit mehr als 75 000 Euro subventioniert. Und was bleibt am Ende?

Wirtschaft

Abgebaut

Steinkohlenpreise

Steinkohlenbergwerke in Deutschland, Stand Oktober 2003

in Euro pro Tonne

davon Subvention pro Tonne:

45*

141 ¤*

1. Osnabrück Ibbenbüren

*Grenzübergangspreis/ Listenpreis 2002

160*

Kohle aus Drittländern

Deutsche Industriekohle

R

6.

he

in

KampLintfort 3.

4. 2.

Ahlen

Dorsten

Marl

Li p p e

7.

Hamm

8.

Dinslaken

5.

Herne Bottrop Duisburg Essen Bochum

Dortmund R u hr

Saarlouis

Bergwerke

r aa

4,6

9.

S

Bergwerke zur Stilllegung 2006/ 2007 vorgesehen

Neunkirchen Saarbrücken

10.

1. Ibbenbüren 6. Auguste Victoria/ Blumenthal 2. West 7. Lippe 3. Lohberg/ Osterfeld 8. Ost 4. Walsum 9. Ensdorf 5. Prosper-Haniel 10. Warndt/Luisenthal

607,3

4,7 4,5

Steinkohlensubventionen

insgesamt bis zum Jahr 2005

4,4 4,0

34,8

3,7

1997 bis 2005, jährliche Zuschüsse insgesamt in Milliarden Euro*

Belegschaft

377,0 202,3

3,3

im deutschen Steinkohlenbergbau in Tausend

166,2

3,0

92,6 36

2,7

*Bund und Länder 1997

1999

2001

2003

2005

1957 1965

1975

1985

1995

2005* *geplant

THOMAS KRECKEL / TRIASS

Quelle: GVSt

Kohlenfreund Schröder, Kumpel*: Wo eine Klientel ist, sind die Parteien nicht weit d e r

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Am Rhein und an der Saar gibt es Ortschaften, in denen kaum ein Haus von Bergschäden verschont wurde, oft hilft nur der Abriss. Mitunter tun sich gewaltige Krater in der Erde auf, wie in Bochum, als im Jahr 2000 ein Haus nebst Garagen und Auto in den Untergrund sank. Bautrupps sind ständig unterwegs, um die Schäden zu beseitigen und mit gewaltigen Betonmengen den Boden zu befestigen. Bei einer Flutkatastrophe am Niederrhein, die Experten nicht mehr ausschließen, wäre für viele Menschen die Rettung unmöglich (SPIEGEL 47/2003). Lange haben die Bürger die Unbill als gottgegeben hingenommen. Die Kohle stand für einen sicheren Arbeitsplatz und bescheidenen Wohlstand in vielen Familien. So wie bei den Sprangers, die aus dem Fenster auf den 60 Meter hohen Förderturm der Zeche blicken, der im Volksmund der „Eiffelturm des Ruhrgebiets“ heißt: 1956 das erste Auto, ein alter Ford. 1959 die Dienstwohnung mit Heizung. „Bergmann“, sagt Gerd Spranger, „war damals noch ein Beruf mit Zukunft.“ Wo eine Klientel ist, sind auch die großen Parteien nicht weit. Die Kohlenfraktion im NRW-Landtag bilden der Gewerkschaftssekretär Werner Bischof (SPD) und Fritz Kollarz (CDU), der einst selbst als Bergmann unter Tage war. Über die Jahre entstand so ein Polit-Netzwerk auf allen Ebenen, das die Kohle offenbar dringender benötigt als der Verbraucher. Wenn, wie am vorvergangenen Freitag, Steinkohlenboss Bernd Tönjes die Forderung nach staatlicher Unterstützung mit der Androhung von sonst anstehenden Entlassungen verknüpft, knicken die Politiker jedenfalls schnell ein, vor allem die seit über 37 Jahren in Düsseldorf regierenden Sozialdemokraten. Doch inzwischen wächst die Wut auf die Kohle und ihre Unterstützer. Denn die Zeche für diesen Wahnsinn zahlen die Steuerzahler – seit bald 50 Jahren. Im Februar 1958 gab es die ersten Feierschichten im Revier. Öl und später Gas läuteten das Ende des Kohlenzeitalters ein, waren billiger und viel einfacher zu haben. Seither wird mit Milliardenaufwand die unwirtschaftliche Steinkohle künstlich am Leben erhalten und volkswirtschaftliches Kapital für eine Technologie verpulvert, die ihre Zeit längst hinter sich hat. Seit den siebziger Jahren wurden über 120 Milliarden Euro Subventionen für die Steinkohle gezahlt. Und wo heute überall der Rotstift regiert, kann die Kohle weiter aus dem Vollen schöpfen. Gut drei Milliarden Euro soll die RAG, die frühere Ruhrkohle, allein dieses Jahr kassieren, das ist der größte aller Subventionsbrocken, fast doppelt so viel, wie Landwirtschaft und Verbraucherschutz zusammen erhalten. Die Fördertöpfe und Programme für die Kohle sind so vielfältig wie unübersicht* Im Juni 2002 in Marl.

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Bergschaden in Bochum (2000)

GERO BRELOER / DPA

„Warum bringt man uns in Gefahr?“

Folgenschwerer Abbau vor der Bergsenkung

nach Kohlenabbau und der folgenden Bergsenkung

Fluss

Fluss

Kosten durch: Gebäudeschäden

Deicherhöhung

Deiche dauerhaften Betrieb von Wasserpumpen

Pumpwerk

Steinkohlengebirge in 800 bis 1200 m Tiefe

Bergsenkung

lich: Anpassungsgeld, Verstromungshilfe, Bergarbeiterwohnungsbau, Stilllegungsprämie. Mitunter werden die Verbraucher auch direkt zur Kasse gebeten, etwa mit der 1960 zum Schutz der Kohle vor Konkurrenz eingeführten Heizölsteuer. Wenn gar nichts mehr geht, wirkt der Geist eines Schutzgesetzes gegen den Fortschritt aus den sechziger Jahren nach: Damals wurde die Einfuhr von Heizöl genehmigungspflichtig, im vergangenen Jahr wollte die SPD ein Gaskraftwerk in Hürth bei Köln verhindern, um die Chancen der Kohle zu stärken. Und dann sind da noch mehr als 180 Milliarden Euro, die aus Steuermitteln an die Bundesknappschaft geflossen sind. Damit fällt der Staatszuschuss für die Bergarbeiterrenten weit üppiger aus als für alle anderen Arbeitnehmer. Die Kumpel dürfen schon mit 50 Jahren in den Vorruhestand gehen. Bis zum Erreichen ihres „normalen“ Rentenalters von 60 Jahren bekommen sie erst ein Anpassungsgeld, danach eine Knappschaftsausgleichsleistung (etwa 85 Prozent vom letzten Nettolohn). „Die Kohlensubventionen sind ein Schaden für die Volkswirtschaft“, urteilt Viktor Steiner, Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Seiner Ansicht 84

nach wäre es volkswirtschaftlich vernünftiger, die verbliebenen Kumpel mit einem normalen Gehalt auszustatten und nach Mallorca in die Sonne zu schicken. So würden sie erheblich weniger kosten – und keinen Schaden mehr anrichten. Denn was von der Kohlenlobby gern verschwiegen wird: Der Abbau verursacht Kosten ohne Ende, Pumpen müssen die abgesunkenen Gebiete trocken halten, Deiche gesichert und Schäden an Gebäuden und Straßen ständig repariert werden. Derzeit sind es 500 Millionen Euro pro Jahr. Der Verwaltungsrechtler Helmut Siekmann von der Ruhruniversität in Bochum wünscht sich eine sehr viel engere Auslegung des Haushaltsrechts, um der Steinkohle den Geldhahn zuzudrehen: „Danach darf der Staat grundsätzlich nichts verschenken.“ Die „Irrsinnssummen“, mit denen die Kohle künstlich am Leben gehalten wird, sind für ihn „Geldgeschenke an Industrie und Beschäftigte“. Für einen schnellen Ausstieg, „am besten morgen“, setzt sich auch Clemens Fuest, Professor für Finanzwissenschaften an der Uni Köln, ein, der die kohlekritische Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft berät. Mit dem Geld könnten, hat der Wissenschaftler ausgerechnet, rund 50 000 Lehrer eingestellt werden – eine echte Investition in die Zukunft. d e r

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Wie es ohne Kohle geht, zeigt das Schicksal der drei vergleichbaren Kohlenbergwerke, die Anfang der sechziger Jahre in Bayern arbeiteten. Die Bayern legten ihre Steinkohlenzechen still, sobald absehbar war, dass das Land auf Dauer für deren Betrieb zahlen musste. Sicher war es sehr viel einfacher, 3 Bergwerke zu schließen, als 60, die es damals im Revier gab. Jedenfalls hat sich das bayerische Bruttoinlandsprodukt im Gegensatz zu den Kohlenländern prächtig entwickelt. NRW dagegen liegt derzeit 0,3 Prozentpunkte unter dem Bundesschnitt. Woran das liegt, bilanziert der langjährige Minister und Fraktionschef der SPD in NRW, Friedhelm Farthmann: „Wir waren das wirtschaftlich stärkste Bundesland und hinken heute hinterher. Die Kohlensubventionen haben uns arm gemacht.“ Die verhängnisvolle Monokultur ist hausgemacht. Die Ansiedlung anderer Industriezweige wurde sogar blockiert, weil sich die Kohle ihren Einfluss auf Politik und Arbeiter nicht durch andere schmälern lassen wollte. Als die Ford-Werke um 1960 ein neues Zweigwerk in Herten errichten wollten, schlossen sich flugs sieben Montanunternehmen zusammen und kauften den Autobauern das Grundstück vor der Nase weg. Drei der am Coup beteiligten Montanfirmen gehörten damals dem Bund. Die Ford-Arbeitsplätze wurden anschließend in Belgien geschaffen. Um ein Haar wäre auch Opel nicht nach Bochum gekommen. Die Harpener Bergbau AG drohte 1966 mit einem Kohlenabbau in unmittelbarer Werksnähe. Da durch den Bergbau die Erde im wahrsten Sinnes des Wortes bebt, hätten die Maschinen des Autobauers ständig versagt. Großzügig bot die Bergbaugesellschaft der Stadt an, auf den – ohnehin bis zum Bekanntwerden des Opel-Projektes nicht geplanten – Kohlenabbau zu verzichten. Gegen die Zahlung von 1,5 Millionen Mark jährlich, auf die Dauer von 20 Jahren. Opel konnte schließlich doch investieren und ist mit seinen 10 000 Arbeitsplätzen einer der wenigen großen Arbeitgeber im Revier. Auch heute noch sei der Bergbau ein „Investitionshemmnis erster Güte“, sagt Steffen Himmelmann, Justiziar der Stadt Voerde am Niederrhein. „Wer soll sich hier niederlassen und seine Präzisionsmaschinen aufbauen, wenn bei uns ständig die Erde wackelt?“ Die wachsende Hochwassergefahr verdirbt ihm zusätzlich das Geschäft. Dabei war bereits dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, klar, dass mit einer Technologie von gestern morgen kein Staat zu machen ist. Der CDU-Politiker mit der Vorliebe für dicke Zigarren war der Erste, der 1958 eine Ali-

WERNER OTTO / ULLSTEIN BILDERDIENST

UMFRAGE: SUBVENTIONEN

Kohlenkraftwerk bei Voerde am Niederrhein

„Geldgeschenke an die Industrie“

mentierung der Kohle zur Disposition stellte. Für ihn ging es schon damals um Fortschritt oder Stillstand. Wenig später aber wollte Erhard Bundeskanzler werden – und da wurden die Stimmen der 380 000 Kumpel und ihrer Familien gebraucht. Das Geld für die Kohle, die damals schon billiger importiert als selbst gefördert werden konnte, floss weiter – bis heute. Die Lage der Kohle hat sich dabei nie verbessert. Nach der ersten Krise 1957/58 wurde ein Dauerzustand mit Dauertropf daraus. In den verbliebenen zehn Zechen arbeiten heute noch 41 000 Kumpel, 20 000 sollen es 2012 sein, in vermutlich noch fünf oder sechs Betrieben. Dennoch bildet die RAG immer noch mit großem Aufwand junge Menschen aus – um viele nach der Ausbildung mit Hilfe teurer Qualifizierungskurse für den Arbeitsmarkt außerhalb des Pütts fit zu machen (SPIEGEL 49/1999). Der Vertrauensschutz für Bergleute, klagt Subventionsexperte Fuest, könne nicht rechtfertigen, „dass dieser Unsinn ad infinitum fortgeführt“ werde. Die RAG möchte sogar noch einen draufsetzen und 3300 neue Fachkräfte einstellen – zur „Blutauffrischung“. Reiner Priggen, Fraktionsvize der Grünen im Landtag von Düsseldorf und Befürworter eines schnellen Endes der Kohlensubvention, glaubte zuerst an einen „schlechten Scherz“. Niemand könne doch heute junge Menschen einstellen, die man bis zur Rente alimentieren müsse. Inzwischen weiß Priggen, dass es der RAG völlig ernst damit ist. Da gleichzeitig keiner ins „Bergfreie fallen“ darf (der euphemistische Branchenjargon bedeutet, dass niemandem gekündigt werden kann), kostet die Aktion „frisches Blut“ den Steuerzahler knapp acht Milliarden Euro bis zur Frühverrentung, nach heutigen Preisen gerechnet. Diese enormen Kosten haben die heimische Steinkohle zum teuersten fossilen 86

„Der Steinkohlenbergbau wird in diesem Jahr in Deutschland mit Subventionen in Höhe von rund drei Milliarden Euro gefördert. Sollte diese Subvention möglichst bald aufhören?“

56 %

Ja

29 %

Nein

14 %

Weiß nicht

TNS Infratest für den SPIEGEL vom 3. bis 5. Februar; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

Energieträger gemacht: In Deutschland gewonnen, kostet Steinkohle mit über 150 Euro je Tonne rund dreimal so viel wie gleichwertige Ware aus Polen, Südafrika oder Amerika, Transport inklusive. Damit macht die deutsche Steinkohle so viel Sinn wie die Ananaszucht auf den ostfriesischen Inseln. Die Kohlenlobby sieht das natürlich anders. Die Steinkohle sei unverzichtbar, weil Deutschland im Ernstfall womöglich von allen Energielieferanten abgeschnitten werden könnte – für Fachleute ein absurdes Szenario. Zudem, so die Kohlenfreunde, drohe bei Schließung aller Zechen eine Massenarbeitslosigkeit. Wenn 41 000 entlassene Kumpel zur Massenarbeitslosigkeit führen, was bedeuten dann jene 400 000 Arbeitsplätze, die bundesweit im vergangenen Jahr verloren gingen? 2003 wurden allein im Baugewerbe 90 000 Jobs gestrichen, 30 000 im Einzelhandel. Und niemand kam auf die Idee, für sie ein Füllhorn voller Dauersubventionen zu besorgen. Als letztes Argument werden stets die 10 400 Jobs bei den Produzenten von Untertagetechnik ins Feld geführt. Unbestritten werden in den Revieren die besten Hightech-Geräte der Branche gebaut, die schnellsten Kohlenhobel, die effizientesten Walzenschrämlader und Panzerkettenförderer. Nur: Der Umsatz der Untertagebranche macht eine Milliarde Euro aus – zwei Drittel davon im Ausland. Gemessen d e r

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an mehr als drei Milliarden Steuersubventionen ist das eine recht aufwendige Form der Wirtschaftsförderung. „Politiker lassen sich alles Mögliche einfallen, um diesen Unfug zu rechtfertigen“, spottet der Berliner Ökonom Viktor Steiner über solche Argumente. Als Schutzpatron der Kumpel hat sich Wolfgang Clement (SPD) bewährt. Im Schatten von Fördertürmen und Zechen in Bochum aufgewachsen, kämpft der Bundeswirtschaftsminister jetzt von Berlin aus für einen „leistungs- und lebensfähigen Steinkohlenbergbau“ – Seit’ an Seit’ mit seinem alten Bekannten Hubertus Schmoldt, dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE). Der zahlt mit seiner Unterstützung für den Reformkanzler Gerhard Schröder zurück. In Nordrhein-Westfalen selbst beginnt die Kohlenfront zu bröckeln. Nach etlichen Kursänderungen in den vergangenen Jahren verlangt die Landes-FDP heute als einzige Partei den Verzicht auf jedwede Kohlensubvention ab 2006. Auch in der CDU hat ein vorsichtiges Umdenken eingesetzt. Landeschef Jürgen Rüttgers forderte kürzlich, fünf Milliarden von der Kohle in den Hochschulbereich umzuschichten. Generell möchte er die Kohlenförderung halbieren und langfristig auf null bringen. Die Frage ist nur: Ist es Einsicht oder der Druck der leeren Kassen? 511 Millionen Euro muss das Land jährlich für die Steinkohle lockermachen, dazu 53 Millionen für den De-luxe-Vorruhestand der Kumpel. Eine teure Hypothek für ein klammes Land, in dem vorvergangene Woche 30 000 Schüler gegen Mittelkürzungen um 15 Millionen Euro bei den Privatschulen demonstriert haben. Vielleicht schätzt Rüttgers aber auch die Stimmung in der Bevölkerung realistischer ein, als das die regierenden Genossen tun. Eine Mehrheit der Menschen im Ruhrgebiet hält die Zeit des Bergbaus für „ablaufend oder bereits abgelaufen“, fand das Bochumer Meinungsforschungsinstitut Bifak im vergangenen Jahr heraus. 56 Prozent der Deutschen, ergab eine SPIEGELUmfrage, sind für die baldmöglichste Streichung der Steinkohlensubvention. Gerd Spranger, der bei einer Rationalisierungswelle 1979 mit 52 Jahren in die Frührente geschickt wurde, gibt sich keinen Illusionen hin. Gern, sagt er, hätte er noch länger gearbeitet. Aber er sagt auch: „Die Zeit der deutschen Steinkohle ist vorbei. Und sie wird nicht mehr wiederkommen.“ In seiner alten Dienstwohnung hat er sich sein eigenes kleines Bergbaumuseum geschaffen. Wie in so vielen Häusern und Kleingärten im Revier haben die Erinnerungsstücke an die Kohlenromantik der frühen Jahre – von der heute unter Tage nichts mehr zu spüren ist – Ehrenplätze. Über Sprangers Wohnzimmercouch erinnert ein Tonteller mit dem Schriftzug „Glück auf“ an den letzten Arbeitstag.

Wirtschaft

STEFAN ENDERS

Von so viel vordergründigem Symbolwert sind vor allem die Genossen auch heute noch ganz ergriffen. „Wir können immer noch nicht rational und ideologiefrei mit dem Thema umgehen“, klagt Michael Müller, Vizevorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Gerade die SPD in NRW würde sich in Diskussionen beinahe reflexartig in die Verteidigungsposition begeben. So gehört der Rheinländer Müller zu den wenigen in seiner Partei, die sich für ein Umdenken einsetzen: „Wenn die Kohle nicht effizienter und innovativer in der Energiegewinnung und insgesamt umweltfreundlicher wird, dann hat sie keine Zukunft.“ Harald Schartau, SPD-Landeschef und Wirtschaftsminister, sieht dagegen langfristig keine Alternative: „Wir werden auch weit nach dem Jahr 2012 hier im Land Zechen haben und Kohlenkraftwerke. Oder wollen wir wirklich Atomstrom aus Frankreich und der Ukraine importieren?“ Sein Kanzler Gerhard Schröder scheint das genauso zu sehen. Im vergangenen November ließ er sich von jubelnden Berg-

Ex-Bergmann Spranger*

„Schnelles Ende statt ewiger Zitterpartie“

leuten auf dem Deutschen Steinkohlentag feiern. Der Spitzengenosse hatte ein imposantes Geschenk dabei: knapp 16 Milliarden Euro Subventionen für die Steinkohle bis 2012 – und eine Bestandsgarantie für einen Sockelbergbau. Blankes Entsetzen machte sich bei den grünen Koalitionspartnern in Düsseldorf und Berlin breit, die bis dahin damit gerechnet hatten, dass spätestens 2010 der letzte Bergmann das Grubenlicht löscht. Fassungslosigkeit löste das Kanzlerversprechen erst recht in den von gewaltigen Bodenabsenkungen betroffenen Bergbaugebieten aus. Im saarländischen Lebach etwa, wo immer mal wieder Menschen aus ihren einsturzgefährdeten Häusern eva* Mit Enkelin Ann-Kathrin und Tochter Jutta SprangerNowaczyk vor der Zeche Zollverein in Essen. d e r

kuiert werden müssen. Besondere tektonische Bodenverhältnisse im Abbaugebiet der Zeche Ensdorf erhöhen dort die Gefahr erheblich: Stürzen ausgekohlte Stollen ein, bebt die Erde mit einer Stärke von drei und mehr auf der Richterskala. Besonders dramatisch aber ist die Lage am Niederrhein. International renommierte Forscher, die der vom Bergbau betroffene Unternehmer Emil Underberg um sich geschart hat, kommen zu einem alarmierenden Ergebnis: Infolge der Klimaveränderung werde das Hochwasserrisiko in Deutschland enorm steigen, Überflutungen wie in den letzten Jahren an Elbe und Oder könne es dann jederzeit auch am Rhein geben. „Warum bringt man uns in Gefahr, wenn die Deutsche Steinkohle nach eigenen Angaben noch Vorräte für 400 Jahre hat?“, fragt Klaus Friedrichs, Chef der Bürgerinitiative Bergbaubetroffener am Niederrhein. Bei einem solchen Kohlenvorrat müsse das Grubengold doch auch anderswo zu finden sein als ausgerechnet unter dem Rhein. Stattdessen werde nach dem Motto gegraben: „Nach uns die Sintflut“. Gegenüber von Walsum, auf der anderen Rheinseite, wühlen sich die Stollen des Bergwerks West durch den Boden, unter dicht besiedelten Städten wie Rheinberg und Kamp-Lintfort. Bei einer Flutkatastrophe wären hier bis zu 350 000 Menschen betroffen; eine schnelle Evakuierung gilt unter Fachleuten als unmöglich. Auf den Rheinberger Annaberg haben sich bei Gefahr seit Jahrhunderten die Menschen am Niederrhein mit ihrem Hab und Gut geflüchtet: Die kleine Anhöhe war weit und breit der einzige Schutz vor dem Hochwasser des Rheins. Wenn in einigen Jahren, wie man Karten des Bergbaus entnehmen kann, der Hügel um fast zwei Geschosshöhen in den Boden gesunken ist, wird der Annaberg als Zufluchtsort Geschichte sein. Die Sprangers werden dann noch immer mit der Kohle zu tun haben, wenn auch auf andere Weise als in den drei Generationen zuvor. Der viel beschworene Strukturwandel im Ruhrgebiet hat längst auch die Familie erreicht. Sprangers Tochter Jutta ist Englischlehrerin, ihr Mann, ebenfalls Spross einer Bergarbeiterfamilie, ist Bauingenieur. Enkelin Ann-Kathrin besucht das Gymnasium, will später „bestimmt nichts mit Kohle“ machen. Die Sorge um den Cousin, der noch unter Tage arbeitet, sieht Jutta Spranger-Nowaczyk ganz realistisch. Ihr wäre „ein schnelles Ende der Steinkohle sogar lieber als diese ewige Zitterpartie“. Dann wäre sie die Letzte am Schacht. Seit 1999 zeigt die Pädagogin regelmäßig in- und ausländischen Gästen die stillgelegten Förderanlagen der Zeche Zollverein – als Touristenführerin.

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Andrea Brandt, Barbara Schmid 7 / 2 0 0 4

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