muss man feststellen, dass die Hauptlast der geplanten Reformen zur Entlastung der Sozialversicherungssysteme

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Editorial Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Der Irakkrieg, die größten Demonstrationen gegen diesen völkerrechtswidrig...
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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Editorial

Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Der Irakkrieg, die größten Demonstrationen gegen diesen völkerrechtswidrigen Krieg seit dem Nato-Doppelbeschluss in den 80-iger Jahren, weiterhin steigende Arbeitslosenzahlen, leere Staatskassen, der ausbleibende Wirtschaftsaufschwung, die AGENDA 2010, das steigende Finanzierungsdefizit der GKVen, das angekündigte Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG), eine erneute Diskussion um Renten usw. haben das 1. Halbjahr der politischen Diskussion bestimmt. Wie der Irakkrieg von Seiten der USA mit voller Unterstützung von England und Spanien gegen die UNO und somit gegen das Völkerrecht durchgesetzt wurde, ist beispiellos in der Geschichte. Die Massendemonstrationen in der ganzen Welt, insbesondere in England, Spanien und Italien und auch hier in Deutschland, haben gezeigt, dass gegen Krieg viele Menschen mobilisiert werden können. Das macht auch etwas Mut. Wie wir jetzt scheibchenweise erfahren, war der eigentliche Kriegsgrund, Massenvernichtungswaffen im Irak, die die Welt unmittelbar bedrohen, nicht gegeben. In England und in den USA wird immer offener die Frage gestellt, ob die Parlamente nicht wissentlich von den Kriegsbefürwortern betrogen wurden. Immer wird klarer, dass der eigentliche Kriegsgrund nicht die Massenvernichtungswaffen waren, sondern Saddam Hussein loszuwerden und sich dann einen geostrategisch wichtigen Platz im Nahen Osten zu sichern. Wie es in dieser Region weitergehen wird, ist vollkommen unkalkulierbar. Wenn man die Entwicklung im Iran verfolgt, hat man ein ungutes Gefühl. Krieg zur Lösung derartiger Probleme ist und bleibt der falsche Weg. Im Irak herrschen derzeit chaotische Zustände. Das Land braucht dringend internationale Hilfe, und zwar über die UNO. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme steht derzeit in fast allen europäischen Ländern auf dem Prüfstand. In Österreich und Frankreich gibt es täglich Massenproteste gegen die geplanten Rentenreformen. Wo bleibt der Protest in Deutschland? Die Gewerkschaften wehren sich gegen die AGENDA 2010, da insbesondere gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes, gegen die Verkürzung der Zahlung von Arbeitslosengeld, gegen die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, gegen die Ausgliederung der Lohnfortzahlung aus der GKV. Eine Mobilisierung ihrer Mitglieder zum offenen Protest gelingt nicht oder ist gar nicht beabsichtigt. Liegt es daran, dass wir im Vergleich zu Frankreich und Österreich über keine „konservative“ Regierung verfügen? Insge-

samt muss man feststellen, dass die Hauptlast der geplanten Reformen zur Entlastung der Sozialversicherungssysteme von der rot/grünen Bundesregierung auf dem Rücken der Arbeitnehmer und der sozial Schwachen in unserer Gesellschaft ausgetragen wird. Das Finanzierungsdefizit der GKVen entwickelt sich immer mehr zum Desaster (1,6 % weniger Einnahmen und 0,2 % mehr Ausgaben im 1. Quartal 2003, gegenüber 2002). Der Entwurf des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG) von Ulla Schmidt liegt inzwischen vor. Die Rürupkommission tritt kaum mehr in Erscheinung. Die Vorschläge, insbesondere die zwei Finanzierungsmodelle haben keinen Eingang in das GMG gefunden. Alternative 1: Eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle Einkunftsarten und alle Erwerbstätigen, auch Beamte und Selbstständige einbezogen sind. Alternative 2: Ein Pauschalprämienmodell mit völliger Abkopplung der Finanzierung von den Löhnen, in dem alle Bürger eine Gesundheitsprämie zu zahlen haben und es ggf. einen steuerfinanzierten sozialen Ausgleich für den Einzelnen gibt. Die Prämie wird je nach den Gesamtleistungsausgaben der einzelnen Krankenkasse 170 € bis 220 € betragen, Kinder zahlen nichts. Die Alternative 1 ist das vom VDÄÄ seit Jahren vertretene Modell. Wiederholt haben wir dies auch auf Deutschen Ärztetagen eingebracht und immer nur wenig Zustimmung unter unseren Kolleginnen und Kollegen dafür bekommen. Das BMG und die jetzige Regierung drücken sich um einen Systemwechsel in der Finanzierung der GKVen, der langfristig die Finanzierung auf eine solide Grundlage stellen würde. Ulla Schmidt betont wiederholt, dass erst die nötigen Strukturänderungen vollzogen werden müssen und dann das Finanzierungsproblem. Um mehr Gerechtigkeit zu erreichen, halte ich es für dringend geboten, das Finanzierungsmodell Alternative 1 der Rürupkommission einzuführen. Selbst Horst Seehofer bekennt sich inzwischen öffentlich zu diesem Modell und bekommt vom Arbeitnehmerflügel seiner Partei volle Unterstützung. Die

1 CDU/CSU-Fraktion hat kurz vor Beginn der Debatte im Bundestag am 18. Juni ein eigenes Konzept, vorgestellt, das in der Kommission unter Leitung von Altpräsident Roman Herzog erarbeitet wurde. Horst Seehofer lehnt diese Vorschläge als unsozial und familienfeindlich ab. Er hat sich nicht einmal bei der Abstimmung in seiner Fraktion beteiligt. 10 % Selbstbeteiligung bei allen medizinischen Leistungen und die totale Ausgliederung des Zahnersatzes sowie die generelle Ablehnung des Zentrums für Qualität in der Medizin sind die wesentlichen Inhalte. Die Beratung im Bundestag am 18. Juni 2003 hat gezeigt, dass doch ein Lahnstein II möglich ist. Wir dürfen gespannt sein, was im Beratungsverfahren des GMG am Schluss übrig bleibt. Prof. Hoppe hat in seiner Eröffnungsrede zum DÄT in Köln der Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt vorgeworfen, dass durch das geplante GMG eine Rationierung von Gesundheitsleistungen eintreten wird. Ulla Schmidt hat sich in einem offenen Brief an den Ärztetag vehement gegen diesen Vorwurf zur Wehr gesetzt. Inzwischen wird diese Debatte offener den je geführt. Der Konstanzer Volkswirtschaftler Prof. Breyer hat in der ARD-Sendung Report vorgeschlagen, dass Patienten ab 75 Jahre keine lebensrettenden Maßnahmen mehr erhalten sollen, die über die GKV finanziert werden. Die Debatte um Rationierung von Gesundheitsleistungen wird uns in der nächsten Zukunft intensiv beschäftigen, gerade im Zusammenhang mit der bevorstehenden Diskussion um das GMG. In diesem Rundbrief ist der Schwerpunkt die aktuelle Diskussion um das GMG. Wir haben daher zur Vorbereitung der JHV großzügig wichtige Vorlagen und Eckpunkte dazu abgedruckt. Die Ergebnisse der Verhandlungskommission von Regierung und Opposition liegen inzwischen vor. Das vorgelegte Eckpunktepapier, was Grundlage für das Gesetzgebungsverfahren sein wird, trägt deutlich die Handschrift der Opposition. Eindeutige Belastung der Patientinnen und Patienten durch Zuzahlungen und Ausgliederung von GKV-Leistungen, wenig Strukturänderung. (Eckpunkte abrufbar im Internet: www.bmgs.bund.de) In diesem Sinne allen einen schönen Sommer. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser

Impressum Rundbrief 2/2003 hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Listen demokratischer Ärztinnen und Ärzte in den Ärztekammern und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte Geschäftsstelle: Wielandstraße 10 • 60318 Frankfurt am Main Tel. 0 69-77 93 66 • Fax: 0 69-7 07 39 67 • E-Mail: [email protected] Internet: www.vdaeae.de Bankverbindung: Kto.-Nr. 137 47-603, Postbank Frankfurt, BLZ: 500 100 60 Herstellung/Satz: AG Text & Publikation im VAS, Wielandstraße 10, 60318 Frankfurt am Main Tel. 0 69-77 93 66 • Fax: 0 69-7 07 39 67 • E-Mail: [email protected] Internet: www.vas-verlag.de Redaktion:

Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser Wittelsbacher Str. 19 • 80469 München Tel. 0 89-77 52 92 • E-Mail: [email protected]

Bildnachweis: Daniel Rühmkorf Titelbild Daniel Rühmkorf Gestaltung: AG Text & Publikation im VAS

Der VDÄÄ ist bundesweit organisiert und hat Sitz und Stimme in den Ärztekammern. Sollten Sie weiterhin von uns informiert werden wollen, so setzen sie sich bitte mit unserer Geschäftsstelle in Verbindung. Wir werden Sie dann weiterhin auf dem Laufenden halten. Der Rundbrief ist das Vereinsblatt, das viermal jährlich erscheint. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Vereinsmeinung wieder.

VDÄÄ intern

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

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Einladung zur Jahreshauptversammlung des VDÄÄ Freitag, 24.10. bis Sonntag, 26.10.2003 Ort: Burckhardt-Haus Herzbachweg 2, 63571 Gelnhausen, Tel. 06051-89-0 Tagesordnung Freitag:

Anreise, gemeinsames Abendessen (18.00–18.30)

abends

Thema: Irak nach dem Krieg/Eindrücke einer Reise in den Irak, Bernhard Winter Eingeladen sind auch einige Exiliraker Moderation: Bernhard Winter

Samstag: 9 Uhr

Begrüßung durch Winfried Beck

9.30 Uhr

Podiumsdiskussion zum Thema Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG) Auf dem Podium: Hans Ulrich Deppe, Prof. für Medizinsoziologie Franz Knieps, Abteilungsleiter für Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium Monika Knoche, zuständig bei ver.di für das Gesundheitswesen Norbert Schmacke, Leiter der Stabsabteilung Gesundheit beim AOK-Bundesverband (bis Ende September 2003) Diskussionsleitung: Winfried Beck, Vorsitzender des VDÄÄ

12.30 Uhr

Mittagspause

14–15 Uhr

Fortsetzung der Diskussion im Plenum/Arbeitsgruppen

15.45 Uhr

Kaffeepause

16.15 Uhr

Plenumsdiskussion VDÄÄ Bilanz und Perspektiven

18 Uhr

Abendessen: Büfett vor dem Plenumsraum

19 Uhr

Unterhaltung – gemütliches Beisammensein

Sonntag: 9:00 Uhr

Vorstellung des Buches von Winfried Beck: Nicht standesgemäß durch Hans Ulrich Deppe Rechenschaftsbericht Kassenbericht Entlastung des Vorstands Anträge Vorstandswahlen

13.00 Uhr

Mittagessen Abreise



Hiermit melde ich mich zur JHV vom 24. bis 26.10.2003 an. Anreise am: Anzahl der Personen:

Abreise am: /Kinder:

Einzelzimmer – einfache Ausstattung (pro Tag 44,50 €) Einzelzimmer – mit Du/WC (pro Tag 57,50 €) Doppelzimmer – einfache Ausstattung (pro Tag 39,50 €) Doppelzimmer – mit Du/WC (pro Tag 52,50 €) Tagesverpflegung ohne Übernachtung (pro Tag 23,50 €) (Kurzbelegungszuschlag für eine Übernachtung = 6,00 €) ❏ Kinderbetreuung gewünscht

❏ ❏ ❏ ❏ ❏

Ort, Datum, Unterschrift

Absender (in Druckbuchstaben):

Name, Vorname Straße PLZ und Ort

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Inhalt

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Inhaltsverzeichnis Editorial ................................................................................................................................................................................. 1 VDÄÄ intern Einladung Jahreshauptversammlung 2003 ............................................................................................................... 3 Protokolle .................................................................................................................................................................... 6 Geburtstaggruß für Winfried „Kammer oder Lobby: Beides zugleich geht nicht ................................................. 9 Gesundheitsparlament ............................................................................................................................................. 11 Bilder zum 60. Geburtstag von Winfried Beck ........................................................................................................ 11 Ärztliches Einkommen Wir verdienen genug ................................................................................................................................................ 14 Chronologie ............................................................................................................................................................... 15 Fehldiagnose .............................................................................................................................................................. 19 Ärzte ohne Grenzen ................................................................................................................................................. 20 Krankes Gesundheitswesen: 2 Tabubrüche erforderlich ....................................................................................... 22 In diesem Geschäft ist nichts heilig: Interview mit Winfried Beck ........................................................................ 26 Igel-Angebote aus dem Labor .................................................................................................................................. 31 Kampf um Pfründe ................................................................................................................................................... 32 Kein Arzt kann es sich leisten .................................................................................................................................. 33 Gesundheits- und Sozialpolitik Presseerklärung GMG vom VDÄÄ 7. Mai 2003 ...................................................................................................... 34 Netzwerk Gesundheit .............................................................................................................................................. 35 Gesundheitsreform unsozial und unausgereift. Ersatzkassen feiern 50 Jahre Selbstverwaltung .................. 36 Wem nutzt der Wettbewerb? ................................................................................................................................. 37 Eckpunkte zur Modernisierung des Gesundheitswesens ...................................................................................... 38 Eckpunkte des DGB zur Gesundheitsreform 2003 ................................................................................................. 40 Gesundheits-System-Modernisierungsgesetz ........................................................................................................ 46 Ergebnisse Rürup-Kommission ................................................................................................................................. 50 Vorbild mit Selbstzweifeln – Schweizer Gesundheitswesen .................................................................................. 51 Das Milliardending .................................................................................................................................................... 55 GMG-Stellungnahme BÄK ........................................................................................................................................ 59 Deutschland und Europa auf Wachstumskurs bringen .......................................................................................... 61 Der lange Weg zur Bürgerversicherung .................................................................................................................. 61 Unter dem Diktat der Ökonomie ............................................................................................................................ 62 Leserbriefantwort Prof. Schmacke, Winfried Beck ................................................................................................ 63 Lebenswertes Leben ................................................................................................................................................. 65 Pläne der Rürup-Kommission ................................................................................................................................... 65 Rürup-Kommission: Außer Spesen nichts gewesen ................................................................................................ 65 Lauterbach legt sich mit der PKV an ....................................................................................................................... 66 Rationierung von Gesundheitsleistungen ............................................................................................................... 66 Union streitet heftig über Gesundheitspolitik ....................................................................................................... 67 Die Verwandlung des Horst S. ................................................................................................................................. 67 Im Land der Scheinsparer ......................................................................................................................................... 68 Arzneimittel Totale Konfusion in der Arzneimittelpolitik ........................................................................................................... 69 Jede Apotheke muss auf 42000 € verzichten ........................................................................................................ 69 Milliardenspiel ........................................................................................................................................................... 70 DRG Fallpauschalen können zur Zwei-Klassen-System führen ...................................................................................... 71 DRGs werden Schwerverletzten nicht gerecht ....................................................................................................... 71 Aus dem Ausland US-Ausgaben für Gesundheit sind drastisch gestiegen ......................................................................................... 72 Bushs Versagen in der Gesundheitspolitik – eine Chance für demokratische Präsidentschaftskandidaten? ................................................................................................................................... 72 Operation mit dem Teelöffel ................................................................................................................................... 73 Sonderärztetag 18.2.2003 Presserklärung .......................................................................................................................................................... 74 Leserbrief Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser ....................................................................................................... 74 Stellungnahme Christa Blum .................................................................................................................................... 75 Notfalls legen wir das System lahm ........................................................................................................................ 76

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Inhalt

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DÄT Köln Einladungsschreiben zum Vorbereitungstreffen .................................................................................................... 78 Bericht DÄT von Nico und Stephan, Fachschaft Medizin ........................................................................................ 78 Und sie bewegt sich doch ......................................................................................................................................... 79 Interview mit Daniel Rühmkorf ............................................................................................................................... 80 Deutscher Ärztetag diesmal mit Kindern ............................................................................................................... 81 Verlogenes Ritual ...................................................................................................................................................... 81 Scharfe Kritik der Medizinzer .................................................................................................................................. 82 Streit um Qualitätssicherung ................................................................................................................................... 82 Eingebrachte Anträge von Mitgliedern aus den„oppositionellen Listen“ ........................................................... 83 Patienten Patientenfürsprecher aus der Sicht eines Arztes ................................................................................................... 87 Gutachteraufruf ........................................................................................................................................................ 88 Aufgaben eines Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Patientinnen und Patienten ........... 89 Patienten in der Profitfalle ...................................................................................................................................... 90 Patienteninitiativen kämpfen für Patienteninteressen ........................................................................................ 91 Frauen Erfunden Krankheiten Das Lehrstück der Wechseljahre Norbert Schmacke ...................................................... 92 Hormonsubstitution erhöht Demenzrisiko ............................................................................................................. 93 Bremer Erklärung: Wechsel sind gesund ................................................................................................................. 93 Irakkrieg Vor Terror und Krieg schützt keine Impfung .......................................................................................................... 95 Risiken und Nebenwirkungen .................................................................................................................................. 96 Im Kriegsfall droht eine humane Katastrophe ....................................................................................................... 98 Spendenaufruf Haukari ............................................................................................................................................ 99 Der Krieg der Dinosaurier. Von Matthias Jochheim ............................................................................................... 99 Was wusste der Präsident ...................................................................................................................................... 101 Verbotene Fragen ................................................................................................................................................... 102 Fakten verbogen, Beweise gefälscht ..................................................................................................................... 103 Flüchtlinge/Internationales Bundesinnenminister wollen Ärzte zu Abschiebe-Gehilfen machen .................................................................. 105 Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Untersuchung von Flüchtlingen vor Abschiebungen ............................................................................................................................ 105 Ausländeramt stellt Ärzte eigens für Abschiebe-Gutachten ein ........................................................................ 105 Flugbegleitung in Hamburg .................................................................................................................................... 105 GKV-Transfers ins Ausland? AOK stellt Zahlen klar ............................................................................................. 106 Verschiedenes ................................................................................................................................................................... 106 Bücher ................................................................................................................................................................................ 107

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VDÄÄ intern

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

VDÄÄ Intern Zur Diskussion zum Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz(GMG) im Rahmen der Jahreshauptversammlung Das (GMG) wird unser von Bismarck geprägtes Gesundheitswesen stärker verändern als alle vorausgegangenen Gesetze zusammen: Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen – gegenfinanziert durch höhere Tabaksteuer, Leistungsausgrenzungen von Sterilisation, Reproduktionsmedizin, rezeptfreie Arzneimitte, Sehilfen, Zuzahlungen durch Praxiseintrittsgebühr bei Direktbesuch von Fachärzten, höherer Selbstbehalt bei Arzneien und Klinikaufenthalt, Hausarztmodelle gefördert durch reduzierte Zuzahlungen,

Ausdünnung des ambulanten Facharztsektors durch Einzelverträge mit Kassen ohne Beteiligung der Kven, Reform der Kven durch Professionalisierung, Zentrum für Qualität, Leitlinienmedizin, Rezertifizierung, Positivliste und vierte Hürde für Arzneimittel, Stärkung der Patientensouveränität … Die Modernisierung kostet 3 Mrd., die Kürzungen betragen 17 Mrd. zu Lasten der Versicherten. Die Privatisierung des Krankengeldrisikos führt zu einem Verhältnis der Belastungen von Versicherten gegenüber Arbeitgebern von 54 % zu 46 %, die Senkung

der Beiträge zur GKV kommzt beiden Seiten mit ca. 2 % zu Gute. Und das GMG ist nicht getrennt von der Agenda 2010 zu sehen, nicht nur weil dadurch wieder einmal Zahlungen an die GKV z.B. durch Umwandlung von Arbeitslosenhilfe in Sozialhilfe vermindert werden, sondern weil sich die soziale und damit auch die gesundheitliche Lage der Bevölkerung verschlechtern wird. Über diese dramatische Entwicklung, ihre Folgen und mögliche Alternativen wollen diskutieren. Winfried Beck

Ergebnisprotokoll der Vorstandssitzung vom 28.2.2003 Procedere verhindert – wodurch angenommen werden kann, dass die Rednerliste manipuliert war. Ebenso ist z.T. das Verfahren in den LÄKn betr. der Benennung von Delegierten rechtlich äußerst fragwürdig. (Brigitte Ende will diesbezüglich eine Anfrage an die Hess. LÄK richten.) Erörtert wird eine Klage vor dem Verwaltungsge– „Primärsichtung von Unterla- richt. gen“ und – gutachterliche Tätigkeit 4. Fachtagung Medizin erstellt werden Philip Schweinfurth berichtet über die (zuständig: Gerhard Schwarz- Aktivität der Fachtagung Medizin. kopf) Derzeit wird sehr intensiv und zeit-

Anwesend: Karl-Heinz Balon, Winfried Beck, Erni Balluff, Brigitte Ende, Dorothee Löber-Götze, Jörg Peters, Sonja Pilz, Philipp Schweinfurth (Med. Fachtagung), Gerhard Schwarzkopf, Bernhard Winter, Vertreter der Notgemeinschaft der Medizingeschädigten: Josef Roth (BW), Gisela Bartz (NRW), Albert Karschti (NRW), Peter Heller (B), Ewald Kraus (B), Ewald Siebert (B) Entschuldigt: Wulf Dietrich, Hans-Ulrich Deppe, Constanze Jacobowski, Helga Lemme, Daniel Rühmkorf, Jürgen Seeger, Dieter Scheuch, Nicolas Hoffmann (Med. Fachtagung) 1. Gespräch mit der Notgemeinschaft der Medizingeschädigten In Zusammenhang mit dem gemeinsamen Erfahrungsaustausch wurden folgende Punkte gemeinsam beschlossen: • Die „alte“ gemeinsame Presseerklärung soll aktualisiert werden (zuständig: Winfried Beck). • Die Weitergabe von Gutachterlisten soll nur an die Notgemeinschaft erfolgen, nicht mehr vonseiten der GS an Betroffene selbst. Dadurch soll gewährleistet werden, dass einzelne Gutachter nicht mehr direkt von Betroffenen angerufen und ggf. mit Anfragen überflutet werden. Die Notgemeinschaft setzen sich im Vorfeld mit Gutachtern in Verbindung, einvernehmlich wird dann die Adresse des Gutachters an Betroffene weitergegeben. • Nach Meinung der Notgemeinschaft sollen Tätigkeiten der Gutachter honoriert werden. • Neben der reinen gutachterlichen Tätigkeit ist es in einigen Fällen auch notwendig, eine Sichtung der Unterlagen vorzunehmen, um zu bewerten, ob eine gutachterliche Tätigkeit überhaupt sinnvoll ist. • Allen Notgemeinschaften soll die derzeitig aktuelle „Gutachterliste“ zugesandt werden. (zuständig: GS) • Für den kommenden Rundbrief soll ein modifizierter Aufruf auf der Grundlage der genannten Gesprächsergebnisse für:

2. aktuelle gesundheitspolitische Diskussion (Winfried Beck) Mittlerweile schon wieder überholt durch den Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz – GMG) mit: Deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin, Ärzte-TÜV, Bruch des KV-Monopols durch Einzelverträge von Fachärzten mit GKV im Sinne eines Qualitätswettbewerbs und nicht um Preise!! (müssen wir aufpassen), andere Einkünfte heranziehen, Erhöhung der Bemessungsgrundlage, Pflichtversicherungsgrenze anheben, Steuerfinanzierung, Krankengeld nur noch in Form privater Absicherung in der GKV, Mutterschaftsgeld steuerfinanziert …

lich aufwendig über eine Zusammenlegung von Fachtagung Medizin und DFA (Deutscher Famulanten Austausch) diskutiert. Weitere Diskussionspunkte sind: Approbationsordung, Gesundheitsreform, Studienreform, AIP, Mobilisierung der Fachschaften. Die gesundheitspolitischen Kongresse GPK mussten zweimal ausfallen wegen fehlenden Interesses!! Dagegen hatten andere Aktivitäten (z.B. Kuscheltiere – Krankenhäuser) einen guten Erfolg. Die Fachtagung Medizin findet derzeit kaum Gehör im Bundesgesundheitsministerium. Auf der nächsten Fachtagung in Würzburg, 9.–11. Mai 2003, wird Winfried Beck teilnehmen.

3. Sonderärztetag Gerhard Schwarzkopf berichtet: Es waren ca. 20 Personen am Vorbereitungstreffen. Eine einheitliche Positionierung war nicht möglich. Somit wurde auch keine gemeinsame Pressekonferenz durchgeführt. Die Darstellung in der Presse über den Ärztetag war äußerst dünn. Die Möglichkeit für oppositionelle Stellungnahmen auf dem Ärztetag wurde durch das gesamt

5. Jahreshauptversammlung 2003 Für Freitag abend soll evtl. das Thema Irak auf der Tagesordnung stehen. Bernhard Winter könnte hierzu einen Beitrag leisten. Für Samstag ist eine Diskussion im Plenum geplant zum Thema Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz – GMG) und seine Umsetzung bzw. Folgen:

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Moderation: Winfried Beck ReferentInnen: Monika Knoche (ver.di), Franz Knieps (Bundesministerium für Gesundheit), Norbert Schmacke (AOK). – (Die vorgesehene Einladung eines Mitgliedes der Rürup-Kommission, z.B. Lauterbach, ist nicht möglich!) Die GS soll diesen Personenkreis einladen für die Zeit von ca. 9.30 bis 17 Uhr. Ob nur im Planum diskutiert wird oder auch in Arbeitsgruppen, soll vor Ort entschieden werden. Für Sonntag steht auf der Tagesordnung: • Buchvorstellung, U. Deppe, W. Beck • Rechenschaftsbericht • Kassenbericht • Anträge • Entlastung des Vorstandes • Vorstandswahlen

VDÄÄ intern • Gerhard Schwarzkopf erklärt sich bereit, in Zusammenarbeit mit der GS diesen Rundbrief zu erstellen. Er erhält von der GS Unterlagen im monatlichen Turnus. • Der Pressespiegel wird durch das Institut von Hans-Ulrich Deppe thematisch und digital erstellt. (Winfried Beck kümmert sich darum.) • Daniel Rühmkorf stellt Bilder zur Verfügung. 7. Kontroverse Mörle–Lauterbach Dieser Punkt wird nicht behandelt. 8. Kritik an ver.di-Gesundheitspolitik Dieser Punkt wird vertagt auf die nächste Vorstandssitzung, damit sich alle Vorstandsmitglieder intensiver mit der Vorlage beschäftigen können.

6. Rundbrief Nr. 2/2003 – Ausliefe9. Vorstandssitzung Berlin, 15.8.03 rung Juni/Juli 2003 • Der RB soll nach dem DÄT (20–23. Die Vorstandssitzung soll mit einer MV verbunden werden. Weiteres soll auf Mai 2003) erstellt werden.

7 der nächsten Vorstandssitzung am 11.4.03 besprochen werden. 10. Protokoll der Jahreshauptversammlung 2002, Wulf Dietrich Auf der kommenden Vorstandssitzung soll dieses Protokoll weiter diskutiert und über einzelne Punkte entschieden werden. 11. DÄT vom 20. bis 23 Mai 2003 Es wird als sinnvoll erachtet, dass der VDÄÄ wieder ein Vorbereitungstreffen organisiert. Die GS soll mit Christiane Schlang Kontakt aufnehmen, ob sie die inhaltliche und organisatorische Koordination mit Unterstützung der GS übernehmen wird. Falls nicht, soll der enge Vorstand informiert werden, um andere Lösungsmöglichkeiten zu finden. 12. Anfrage M. Froßbohm: Pockenschutz G. Schwarzkopf bearbeitet diese Anfrage. Karl-Heinz Balon

Ergebnisprotokoll der Vorstandssitzung vom 11.4.2003 Anwesend: Karl-Heinz Balon, Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Sonja Pilz, Daniel Rühmkorf Entschuldigt: Erni Balluff, Wulf Dietrich, Brigitte Ende, Dorothe Löber-Götze, Constanze Jacobowski, Helga Lemme, Med. Fachtagung: Nicolas Hoffmann/Philipp Schweinfurth, Mike Ohnesorge, Jörg Peters, Jürgen Seeger, Dieter Scheuch, Gerhard Schwarzkopf, Bernhard Winter 1. Jahreshauptversammlung 03 Für Freitag wurde überlegt, dass Gottstein von der IPPNW eingeladen wird. Winfried Beck erklärt sich bereit, zunächst Bernhard Winter anzusprechen, falls dieser für eine Einladung von Gottstein votiert, will Winfried ihn für die JHV am Freitag einladen. Die Referenten für die JHV 03 am Samstag wurden von der GS am 13.3.03 angeschrieben – bisher noch keine Rückmeldung. Winfried Beck übernimmt die Aufgabe, alle Referenten tel. zu kontaktieren: Monika Knoche (macht Daniel Rühmkorf), N. Schmacke und F. Knieps. Falls Knieps absagte, sollte H. Reimers oder J.U. Niehoff angesprochen werden. Am Samstag soll die Plenumssitzung mit den Referenten gegen 16 Uhr beendet werden. Von 16.15 bis 18 Uhr soll der Punkt: VDÄÄ – Bilanz und Perspektiven im Plenum behandelt werden. Das Abendessen soll nicht im Speisesaal stattfinden sondern, als Büfett vor dem Plenumsraum eingenommen werden können, um den möglichen weiteren Diskussionsbedarf nicht unnötig zu unterbrechen. 2. Deutscher Ärztetag in Köln/Vorbereitungstreffen Es wird als sinnvoll erachtet, dass ein Vorbereitungstreffen stattfindet.

Da im Moment noch kein inhaltlicher Koordinator feststeht, wird beschlossen, dass diesbezüglich Sonja Pilz mit Christiane Schlang und anderen hess. Delegierten (Moritz Hartfeil/Brigitte Ende/Dorothea LöberGötze) Kontakt aufnimmt und Daniel Rühmkorf mit Volker Pickerodt (Fraktion Gesundheit Berlin). Die GS wird dann mit dem inhaltl. Koordinator die Organisation für das Vorbereitungstreffern in Absprache übernehmen. Falls sich kein inhaltl. Koordinator findet, wird auf die Organisation eines Vorbereitungstreffens verzichtet. Winfried Beck wird den 2. Entwurf „Konsenspapier“ nochmals überarbeiten und an die GS senden und den Verteiler, an den das Papier versandt werden soll, mit der GS besprechen. 3. Presseerklärung mit Notgemeinschaften Winfried Beck wird die alte Fassung der Presseerklärung nochmals überarbeiten und zur Weiterleitung an die Presse und die Notgemeinschaften an die GS senden. 4. Thesenpapier von Wulf Dietrich Das Thesenpapier soll auf der kommenden Vorstandssitzung, wenn Wulf Dietrich anwesend ist, weiter diskutiert werden.

5. Kritik an ver.di-Gesundheitspolitik Eine einheitliche Einschätzung durch den Vorstand ist nicht möglich. 6. Rundbrief Nr. 2/2003 Der Rundbrief wird zwischen Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser und der GS erstellt nach dem DÄT in Köln 2003. Mittlerweile hat Gerhard von der GS diesbezüglich schon Unterlagen erhalten. Winfried Beck will mit Nadja Rakovic, Institut von H.-U. Deppe, nochmals Kontakt aufnehmen, die einen themenzentrierten Presseteil für den Rundbrief erstellen und digitalisieren will. 7. Netzwerk Gesundheit, DGB-Konferenz am 9.4.03 in Berlin Winfried Beck und Daniel Rühmkorf berichten über die Konferenz, bei der es jedoch bezüglich einer weiteren Verzahnung der gesundheitspolitischen Aktivitäten zwischen DGB und VDÄÄ zu keinen nennenswerten Ergebnissen kam. Es handelt sich um eine Protestveranstaltung gegen den Sozialabbau durch Rot-Grün. 8. Fachtagung Medizin Winfried Beck wird an der kommenden Fachtagung in Würzburg teilnehmen. Weitere Informationen wurden nicht gegeben, da beide Fachtagungsvertreter (entschuldigt) nicht anwesend waren. 9. Stern-Interview: Erni Balluf und Winfried Beck Einhellig wird die Meinung vertreten im Vorstand, dass dieser Artikel gut und notwendig war.

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VDÄÄ intern

Die vielfältigen – zum größten Teil briefe Nr. 1/ 2001 und fortlaufend zur reaktionären – Antworten auf dieses Ergänzung. Interview sollen im nächsten Rund- • Folgende Schreiben prinzipiell ins Netz gestellt werden: brief zusammenfassend wiedergege– Einladung zum Sonderärztetag ben werden. 2003 + Konsenspapier – Einladung zum Ärztetag 2003 in 10. VDÄÄ-Hompage Köln (noch nicht erstellt) Daniel Rühmkorf kritisiert den Zustand – Einladung zur MV 03/Programm der Homepage. (vorläufige Fassungen auch) Der Vorstand beschließt folgende – alle Presseerklärungen (es fehlen Verfahrensweise: alle aus 2003) • Forum soll mit Veröffentlichung des – Termine (Vorstand/JHV) nächsten Rundbriefs durch Roman Beck wieder eingeschaltet werden. GS übersendet Roman Beck fehlende Im Rundbrief soll ein entsprechender Unterlagen. Weitere Hinweise, die Daniel RühmHinweis erfolgen, den D. Rühmkorf korf auch Roman Beck mitgeteilt hat, entwirft und an die GS sendet. sollen direkt von Roman Beck ausge• Rundbriefe Die GS sendet an Roman Beck die U1 führt werden: und das Inhaltsverzeichnis der Rund- • alte Termin blinken noch mit „neu“

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 • Neue Kontaktadressen (Berlin/Rheinland-Pfalz) • Protokolle der Vorstandssitzungen sollen nicht ins Netz gestellt werden. • Protokolle der MVs sollen ins Netz gestellt werden (GS an R.B.). Die GS schlägt vor, dass Roman Beck halbjährlich von seiner Seite einen Check durchführt und die Geschäftsstelle anfragt. Zur Vereinfachung des Informationsflusses zwischen Geschäftsstelle und Roman Beck erhält Roman alle Protokollnotizen, in denen Termine und Informationen enthalten sind (siehe die abgehandelten Punkte), die ins Netz gestellt werden sollen. Die GS steht Roman Beck für Fragen gerne zur Verfügung. Karl-Heinz Balon

Ergebnisprotokoll der Vorstandssitzung vom 27.6.2003 Anwesend: Karl-Heinz Balon, Winfried Beck, Erni Balluff, Hans-Ulrich Deppe, Wulf Dietrich, Constanze Jacobowski, Dorothee Löber-Götze, Helga Lemme, Jörg Peters, Sonja Pilz, Michael Roser, Daniel Rühmkorf, Bernhard Winter Entschuldigt: Brigitte Ende, Mike Ohnesorge, Jürgen Seeger, Dieter Scheuch, Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser, Vertreter der Med. Fachtagung Constance Jacobowski und Da0. Sektempfang durch die GS zum 60. Geburtstag von Winfried niel Rühmkorf erklären sich bereit, der Geschäftsstelle bis zum 7.7.03 Beck die genauen Örtlichkeiten und Zei1. Mitgliederversammlung 2003/ ten durchzugeben, auch als Info für den Rundbrief. Freitag, 24.10.2003 Bernhard Winter erklärt sich bereit, den Abend am Freitag inhaltlich und 3. Rückblick DÄT 2003 Vorbereitungstreffen war zum Kenpersonell zu gestalten. nenlernen ganz sinnvoll. Ansonsten Beginn: 19.30 Uhr Thema: Irak nach dem Krieg/Eindrücke keine nennenswerten gemeinsamen einer Reise in den Irak, Bernhard Win- Aktivitäten der oppositionellen Listen. ter Bernhard Winter wird weiterhin 4. Arzneimittelsammlung für Irak versuchen, einige Exiliraker (z.T. Ärz- Bernhard Winter hat diesbezüglich Kontakt aufgenommen. te) für diesen Abend zu gewinnen. Bernhard Winter erklärt sich bereit, bis spätestens zum 7.7.03 ei- 5. Pharma-unabhängige Fortbildung nen Text für die Einladung zur MV Anlage: Brief Phönix oHG & Anschreiben von Siegmund Drexler zu verfassen. Dieser Punkt wird auf die nächste 2. Öffentliche Vorstandssitzung Vorstandssitzung verlegt. Berlin, 15.8. bis 16.8.03 Constanze Jacobowski berichtet, dass 6. Einladung zur Geburtstagsfeier von Winfried Beck für die öffentliche Vorstandssitzung im Moment zwei Themen alternativ dis- Vorstand begibt sich zum Libanesen, Hanauer Landstr. 7. kutiert werden: Bei hervorragendem Wein, Essen, • Erfahrungen mit dem GesundheitsArrak … Musik & Bauchtanz und lebkonzern Vivantis und • Solidarische ambulante Gesund- hafter und lustiger Unterhaltung wird bis spät in die Nacht gefeiert. heitsversorgung. Am Freitag, 15.8.03: Vorstandsitzung 20 bis 22 Uhr, Kneipe Nähe Wohnung von Daniel Rümkorf Am Samstag: 16.8.03: öffentliche Vorstandssitzung, 14 bis 18 Uhr, Praxis Stefan Hochfeld (Themen, siehe oben)

Karl-Heinz Balon

Nähere Informationen zur

Öffentlichen Vorstandssitzung in Berlin 15. bis 16. August 2003 über: Constanze Jacobowski Kaiserdamm 6, 14057 Berlin Tel: 030-3223046 E-Mail: [email protected] und Daniel Rühmkorf Köpenicker Straße 8a 10997 Berlin Tel.: 030-61286987/0175-2606136 E-Mail: [email protected]

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

VDÄÄ intern

Winfried Beck zum 60. Geburtstag gewidmet Sozialismus 6/2003 Kammer oder Lobby: Beides zugleich geht nicht! Zur Mitgliedschaft von Ärztekammer in Verbänden der Freien Berufe von Gine Elsner und Gerhard Stuby Der Bundesverband der Freien Berufe (BFB) hält die Ankündigungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Reform des Kündigungsschutzes für gut. Das verwundert nicht, wenn man sich die überwiegend mittelständischen Interessen seiner Klientel – Rechtsanwälte, Notare, Architekten, Steuerberater u.a. – vor Augen hält. Ein klein wenig stutzt man zunächst, dass einem derselbe politische Geist entgegenweht, wenn BFB-Präsident Dr. med. Ulrich Oesingmann eine Ausbildungsplatzabgabe für überflüssig hält.1 Oesingmann, ein Allgemeinmediziner, war früher Präsident der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KbV) und damit oberster Vertreter der niedergelassenen Ärzteschaft. Eine nur zufällige Verbindung zwischen BFB und Ärzteschaft? Mitglieder im BFB sind die Landesverbände der Freien Berufe, die sich in den einzelnen Bundesländern etabliert haben. Als Zweck dieser privaten Verbände ist in den Satzungen sehr allgemein formuliert, „alle berufsübergreifenden Bestrebungen der Angehörigen der freien berufe in einem allgemeinen Sinn zu verfolgen und für die Erhaltung und den Ausbau des freien Berufs einzutreten“. So werden die aufgeführten konkreten Äußerungen zur Sozialreform als Verwirklichung dieser Zielsetzung betrachtet. Nachdem Roland Koch (CDU) in Hessen das Rundfunkgesetz änderte, das eine neue Zusammensetzung des Rundfunkrats des Hessischen Rundfunks vorsah, wurde jener erheblich vergrößert. Seitdem hat auch der hessische Landesverband der Freien Berufe in ihm Sitz und Stimme. Vertreten wird er durch Dr. med. Alfred Möhrle, Präsident der hessischen Landesärztekammer.2 Sollte auch hier diese Verknüpfung mit der Ärzteschaft, zudem noch mit der öffentlich-rechtlichen Institution Ärztekammer, ebenfalls vom Zufall diktiert sein oder könnte nicht Absicht mit System vorherrschen? Selbstverständlich ist es nicht, dass in den 1970er und 80er Jahren die Ärztekammern ein Ort kontroverser politischer Auseinandersetzung wurden. Aber was sind Ärztekammern überhaupt? Sie stellen den zwangsmäßigen, weil gesetzlich bestimmten, Zusammenschluss aller approbierten Ärzte in einem Bundesland dar. Die Einrichtung derartiger öffentlich-

rechtlicher Zwangsverbände ist in Deutschland aus vorparlamentarischer Zeit überkommen. Trotz dieser korporatistischen und berufsständischen Herkunft sind sie als Organisationsform sowohl unter der Weimarer Verfassung als auch unter dem Grundgesetz weiterhin üblich (auch bei anderen Berufsgruppen wie Rechtsanwälten, Architekten) gewesen und nach wie vor verbreitet. Unter ganz bestimmten Kautelen, auf die noch zurückzukommen sein wird, sieht das Bundesverfassungsgericht derartige Zwangszusammenschlüsse als mit dem Grundgesetz vereinbar an. Damals also gärte es in den Landesärztekammern, die bislang in ihrer politischen Grundeinstellung eher konservativ ausgerichtet waren. In einigen von ihnen hatten sich jedoch oppositionelle Gruppen herausgebildet, die eher dem rot-grünen Spektrum zuzurechnen waren. In Berlin war Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal mit Ellis Huber ein Arzt aus diesem Spektrum zum Präsidenten einer Landesärztekammer gewählt worden. Unter seiner Ägide beschloss die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer, aus dem Verband der Freien Berufe auszutreten. Ellis Huber begründete den Austritt mit dem Argument, dass die Mehrheit der Berliner Ärzte in angestellter Position tätig sei. Es sei somit nicht zu verantworten, dass die Kammer, die auf das im Heilberufsgesetz normierte Gemeinwohl verpflichtet sei. Mitglied in einem private Partikularinteressen verfolgenden Lobbyisten-Verband ist, der die Belange der freien Berufe vertrete.3 Auch andere Landesärztekammern waren Mitglieder im jeweiligen Landesverband der Freien Berufe. Der Mitgliedsbeitrag an den Landesverband wurde aus dem Haushalt der jeweiligen Ärztekammer gezahlt, der aus den Zwangsbeiträgen ihrer Mitglieder bestand. Dass aus diesen Beiträgen nun auch eine bestimmte Lobby-Politik finanziert wurde, erboste den oppositionellen Teil der Ärzteschaft, und so trat nach der Berliner Ärztekammer auch die Ärztekammer Hamburg, in der sich eine ähnliche Pluralisierung in ihren Organen vollzogen hatte wie in Berlin, aus dem Hamburger Verband der Freien Berufe aus.4

9 Aber nicht nur die Verknüpfungen zwischen Ärzteschaft und Freiberuflerverband auf Landesebene waren eng. Auch die Bundesebene zeigte enge Verbindungen zwischen dem Bundesverband der Freien Berufe, dem Zusammenschluss der einzelnen Landesverbände auf Bundesebene und der Bundesärztekammer (BÄK), dem privat gestalteten Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Landesärztekammern. So wurden die Kosten für Sekretärin und Dienstwagen des BFB-Präsidenten (seit 1984 war das Prof. Johann Friedrich Volrad Deneke) von der Bundesärztekammer übernommen. Diese verlangte schließlich von Deneke (der 1974 Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer war), seinen Dienstsitz von Bonn-Bad Godesberg nach Köln, dem Ort der Bundesärztekammer, zu verlegen.5 auch hier also auf Bundesebene dieselbe Verzahnung wie in den Ländern. Solange die Ärzteschaft politisch homogen, d.h. konservativ zusammengesetzt war, hatte niemand an diesen Verflechtungen Anstoß genommen. In einigen Landesärztekammern errangen die oppositionellen Gruppierungen keine Mehrheit, sodass sie den Austritt aus dem Landesverband Freier Berufe nicht durch Beschluss der Mitgliederversammlung erreichen konnten. Sie versuchten daher, diesen Austritt gerichtlich zu erzwingen. In einigen Fällen waren sie erfolgreich. Gine Elsner (damals stellvertretende Vorsitzende des Vereins Demokratischer Ärzte und Ärztinnen) erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht Bremen gegen die Ärztekammer Bremen, vertreten durch ihren Präsidenten, Dr. Karsten Vilmar, der zu dieser Zeit zugleich Präsident der Bundesärztekammer war. Sie machte geltend, sie sei zwar als approbierte Ärztin zu Recht Zwangsmitglied in der Bremer Ärztekammer. Als Universitätsprofessorin sei sie jedoch weder selbstständig noch niedergelassen, noch sonst als Angehörige eines so genannten freien Berufs zu betrachten. Ihre Beiträge, die sie an die Ärztekammer zu leisten habe, würden zu Unrecht für eine Lobby-Politik verwandt, die sich z.B. explizit um die „Steuergerechtigkeit freier Berufsausübung“ (so die Satzung des BFB und die entsprechende Übernahme in der Satzung des Landesverbandes Bremen)6 kümmere. Das Bremer Verwaltungsgericht (AZ: 5 A 43/89) verurteilte die Ärztekammer, „aus dem Landesverband der Freien Berufe in der Freien Hansestadt Bremen“ auszutreten. Bei den der Bremer Ärztekammer durch das Heilberufsgesetz7 zugewiesenen Aufgaben handele es sich entsprechend

10 den vom Bundesverfassungsgericht (BverfG 38, 281, 297 m.w.N.) aufgestellten Kautelen um solche, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft bestehe. Sie seien auch so geartet, dass sie weder im Wege der privaten Initiative (z. B. durch private Vereine) wirksam wahrgenommen werden könnten noch zu den im engeren Sinne staatlichen Aufgaben zu zählen seien, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrzunehmen habe. Eine Pflichtmitgliedschaft der Klägerin in der Ärztekammer sei unter dem Gesichtspunkt des Schutzes vor einem „unnötigen“ Verband zwar gerechtfertigt. Zugleich müsse aber die Tätigkeit des Verbands selbst am Schutzbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geprüft werden. Unter diesem Aspekt sei die mitgliedschaftliche Betätigung der Ärztekammer im Landesverband der Freien Berufe rechtswidrig. Sie verletze die Klägerin in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. „Der durch die Pflichtmitgliedschaft gegebene Eingriff in das Grundrecht der Klägerin ist … nur gerechtfertigt, wenn die Körperschaft legitime öffentliche Aufgaben unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu erfüllen hat“ und auch im konkreten Fall erfüllt. Der Mitgliedschaft der Ärztekammer im Landesverband der Freien Berufe fehle es aber gerade „an der die Pflichtmitgliedschaft legitimierenden berufsspezifischen Zielsetzung, die beruflichen Belange der Gesamtheit der Kammerangehörigen zu wahren“. Dass sich der Verband nicht auf die Interessen der Angehörigen des ärztlichen Berufs beschränke, bedürfe keiner Darlegung. Zahlreiche Aktivitäten hätten überhaupt keinen Bezug zum Arztberuf. Durch derartige Aktivitäten sei die Mitgliedschaft der Ärztekammer im Landesverband der Freien Berufe rechtswidrig. Aufgrund ihrer Pflichtmitgliedschaft in der Ärztekammer und durch die rechtswidrige Mitgliedschaft der Ärztekammer im Landesverband müsse die Klägerin eine Interessenvertretung des Verbands für die „wirtschaftlich selbstständig freiberuflich Tätigen mittragen“. Dadurch werde ihre Handlungsfreiheit beeinträchtigt und sie selbst in rechtlich unzulässiger Weise in Anspruch genommen. Gegen dieses Urteil legte die Bremer Ärztekammer Berufung ein. Aber das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen bestätigte das Urteil (AZ: OVG1 BA 7/92). Die Bremer Ärztekammer musste daraufhin aus dem Landesverband der Freien Berufe austreten. „Dem Bundesverband der Freien Berufe droht das Aus“ – titelte die Ärztezeitung.8 Und

VDÄÄ intern an anderer Stelle hieß es: „Würden Ärztekammern per Gerichtsbeschluss wie jüngst in Bremen vom BFB ferngehalten, drohe der Organisation der finanzielle Kollaps. Die Freien Verbände … seien kaum in der Lage, den damit verbundenen Aderlass aufzufangen.“9 Auch im Land Nordrhein-Westfalen äußerte sich prozessualer Widerstand in zwei Instanzen. Auf Klage eines niedergelassenen Arztes hin verurteilte das Verwaltungsgericht die Ärztekammer Nordrhein, aus dem regionalen Landesverband der Freien Berufe auszutreten. Denn – so das das erstinstanzliche Urteil bestätigende Oberverwaltungsgericht Münster (AZ: 8 A 395/97) und damit fast wörtlich der Bremer Linie folgend – durch die Beteiligung der Ärztekammer beim Verband Freier Berufe erhalte die Mitgliedschaft des klagenden Arztes eine neue Qualität. Er trete nicht mehr nur für die gruppenspezifischen Interessen der Ärzte ein, „sondern (trage) die Interessenwahrung für alle freien Berufe und einzelne andere freie Berufe mit“. Dies sei ihm nicht zuzumuten. Er werde dadurch in seinen Rechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne des Artikels 2, Abs. 1 Grundgesetz verletzt. In Hessen allerdings unterlag ein Kläger in erster Instanz vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Hans-Ulrich Deppe, ebenfalls Mitglied des Vereins Demokratischer Ärzte und Ärztinnen, Professor für Medizinische Soziologie im Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang-Goethe-Universität, störte die Lobby-Politik der hessischen Ärztekammer für die freien Berufe. Doch die hessischen Verwaltungsrichter mochten den anderen Gerichten nicht folgen. Sie interpretierten das hessische Heilberufsgesetz recht eigenwillig. Es sei rechtlich unbedenklich, dass eine Zwangskörperschaft wie die Ärztekammer mit gesetzlich fest umschriebenen Aufgaben diese Aufgaben von sich aus so erweitere, dass sie sich als politischer Lobbyist für die freien Berufe wie im vorliegenden Fall betätigen könne (AZ: 12 B 2790/95 (3)). Ob di4e nächste Instanz – der Kläger ist in Berufung gegangen – ebenso entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Gottes und der Gerichte Mühlen mahlen langsam. Seit Jahren wartet der Berufungskläger auf die Festsetzung eines Verhandlungstermins vor dem Oberverwaltungsgericht. Insgesamt vier Landesärztekammern sind heute nicht mehr Mitglied im regionalen Landesverband der Freien Berufe; zwei Ärztekammern sind freiwillig ausgetreten – durch jeweiligen mehrheitlichen Beschluss ihrer Delegiertenversammlung, zwei Ärztekammern wurden durch Gerichts-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 beschluss gezwungen, den LobbyistenVerband zu verlassen. Im Falle der hessischen Landesärztekammer steht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts noch aus. Zwischenzeitlich besteht die Verflechtung zwischen der Ärzteschaft und dem Freiberuflerverband weiter. Wie eh und je werden die Zwangsbeiträge der Kammern benutzt, um eine „liberale“ Politik im Sinne der Freiberufler zu unterstützen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit der Ärzte in der Bundesrepublik in angestellter Position arbeitet, werden ihre Pflichtbeiträge für eine Lobby-Politik verwandt, die sie von ihrer Interessenlage her nicht wollen können und die zudem mit dem Arztberuf, ausgerichtet am von den Heilberufsgesetzen definierten Gemeinwohl, nichts zu tun hat. Liberalisierung des Kündigungsschutzes mag von Freiberuflern gutgeheißen werden. Niedergelassene Ärzte mögen dieser Zielsetzung etwas abgewinnen können. Weniger sicherlich angestellte, zudem gewerkschaftlich organisierte Ärzte. Weder die eine noch die andere politische Zielsetzung gehört zum Tätigkeitsbereich der Ärztekammern. Aktivitäten in beiden Stoßrichtungen sind auf die private Durchsetzung und die ihnen von unserer Verfassung garantierten Freiheiten (Grundrechte) verwiesen. Es gibt gute Gründe, die andere Organisationsformen des öffentlichen Guts Gesundheit zu plädieren, als es die Ärztekammern in Deutschland sind. Auch sie wurden in den 1970er und 80er Jahren diskutiert. Damals konzentrierte sich die oppositionelle Ärzteschaft jedoch auf die Pluralisierung der Ärztekammern und verzichtete auf die Propagierung weitergehender Zielsetzungen. Aber auch in dieser realistischen Beschränkung scheint die „Rebellion“, die sich fast drei Jahrzehnte lang in den oppositionellen Ärztekammer-Listen widerspiegelte, zum Stillstand gekommen zu sein. Es finden sich kaum noch Kläger gegen eine rechtswidrige Funktionalisierung der Ärztekammern; und dort, wo noch Verfahren laufen, scheint die Justiz von Ladehemmungen befallen zu sein, ohne dass sich nennenswerter Widerstand dagegen regt. Der sich selbst generierende Zirkel ausgewählter Personen im Verschmelzungstiegel BFB/BÄK kümmert sich wenig um die bislang erfolgte richterliche Schelte und betreibt seine Geschäfte unbeirrt weiter. Das darf nicht nur resignatives Schulterzucken hervorrufen. Winfried Beck, lange Jahre prononcierter Wortführer der erwähnten Rebellion, dem diese Zeilen gewidmet sind, dürfte auch heute noch zornig genug sein, mit uns die-

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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 sen Zustand als unerträglich zu empfinden und dagegen vorzugehen. Gine Elsner ist Professorin für Arbeitsmedizin und Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin im Fachbereich Medizin der Johann WolfgangGoethe-Universität, Frankfurt a.M. Gerhard Stuby ist Professor i.R. für Öffentliches Recht und wissenschaftliche Politik im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Diesen Beitrag widmen wir Dr. med. Winfried Beck, Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärzte und Ärztinnen (VDÄÄ), zu seinem 60. Geburtstag am 2. Juni 2003.

Gesundheitsparlament e. V. www.gesundheitsparlament.net Vorsitzender: Theo Petzold Stellvertr. Silvia Heyer c/o Pro Familia, Kalckreuthstr. 4, 10777 Berlin, Tel: 0 30-21 47 64 21 Marketing/Projektmanagement Konferenz: Reinhardt Stefan Tomek, Schatzmeister Gesundheitsparlament 19395 Hof Retzow, Tel 03 87 37-30 40 Fax 03 87 37-3 04 14 email: [email protected] in Zusammenarbeit mit Regina Richter/Büro Berlin: Vorstandsmitglied/Presse, Tel/Fax 0 30-6 54 12 53, 01 73-7 98 53 33, email: [email protected] Vorstandsmitglied für Koordination und Sitz des Vereines: Dr Hans Jürgen Schütt c/o Volkssolidarität BV 10119 Berlin Alte Schönhauserstr. 16 (U-Bahn Wittenau) Tel 0 30/27 89 (0) Durchwahl 125

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Deutsches Ärzteblatt vom 28.3.2003, Jg. 100, H 13, S. B 684. Frankfurter Rundschau vom 20.3.2000, „Politische Kampfansage“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.2.2001; Hooges Wiederwahl frag ich. Ärzte-Zeitung vom 9.3.1987: Huber will den Austritt aus dem Landesverband der Freien Berufe. Ärzte-Zeitung vom 24.1.1988: Ärztekammer Hamburg, Austritt aus dem Verband der Freien Berufe. Deutsches Ärzteblatt vom 14.11.1996, Jg. 83, H 46, S. B 3219. Ärzte-Zeitung vom 7.5.1988: Freie Berufe, Kritik an der Vormachtstellung der Ärzteverbände, der Gelbe Dienst vom 27.4.1988, Nr. 11; Bundesverband der Freien Berufe. Bundes-Ärztekammer demonstrierte ihren Einfluss.

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Satzung des Bundesverbands der Freien Berufe (BFB) vom 28.4.1980 - geändert durch Beschluss der Mitgliederversammlung des BFB vom 15.9.1986. Gesetz über die Berufsvertretung, die Berufsausübung, die Weiterbildung und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker (Heilberufsgesetz) in der Fassung vom 14.11.1977, Gesetzblatt der Freien Hansestadt Bremen vom 15.12.1977, Nr. 44, S. 369–380. Ärzte-Zeitung vom 8.7.1993: Landesärztekammer Bremen muss den Verband der Freien Berufe verlassen; Deutsches Ärzteblatt vom 9.8: 1993, Jg. 90, H. 31/32, S. C 1411. Ärzte-Zeitung vom 13.4.1992: Schlacht gewonnen, Image angekratzt; Ärzte-Zeitung vom 25.2. 1996: Bundesverband der Freien Berufe, Auswahl unter mehreren Bewerbern ist „normal“.

Bilder zum 60. Geburtstag von Winfried Beck

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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

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Ärztliche Einkommen Stern 14/2003 Seite 196 Einige Ärzte machen aus ihrem Einkommen kein Geheimnis mehr. Ihren protestierenden Kollegen raten sie: Hört auf zu jammern

„Wir verdienen genug“ Eine Nullrunde für Ärzte – seit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt diesen Plan verfolgt, schreien Deutschlands Kassenärzte auf. Das werde die Doktoren ruinieren, barmte ihr Verbandschef Manfred Richter-Reichhelm. Ein Münchner Hautarzt klagte öffentlich: „Jeder Friseur verdient in 20 Minuten mehr als wir.“ Erni Balluff, Hausärztin aus Frankfurt, kann sich über so viel Scheinheiligkeit „richtig ärgern“. Schließlich verdienen wir immer noch gut“. Den Ärzten, die sich mit Streiks, Boykotts und Demonstrationen gegen die zaghaften Sparbemühungen wehren, attestiert die 58-Jährige Wahrnehmungsstörungen: „Das ist Jammern auf hohem Niveau.“ Zum Beweis legte sie dem stern ihre Steuererklärung 2001 vor. Brutto blieben der Ärztin 87000 Euro Gewinn, macht ein Monatsgehalt von 7.250 Euro brutto für eine 40Stunden-Woche. Ein Friseurmeister verdient 1.800 Euro.

denschaft. Sie nimmt sich Zeit für ihre Patienten – obwohl Redezeit mies vergütet wird. Auch bei Medikamenten hält sie sich an die Sparvorschriften. Großzügig darf sie nur noch bei Privatpatienten sein, deren Versicherung mehr bezahlt. Doch die wohnen meist nicht in Frankfurt-Nordend, nur etwa 15 Prozent der Einnahmen machen die Privathonorare aus. Der Haupterlös stammt von rund 1.100 Kassenpatienten, die jedes Quartal ihre Chipkarte vorlegen. Zusatzleistungen, die die Patienten aus eigener Tasche bezahlen müssen und die viele Kassenärzte als lukrative Nebenerwerbsquelle entdeckt haben, bietet Balluff nicht an: „Die schleichende Umwandlung der Praxen in Verkaufsstätten“ missfällt ihr.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Autoritätshörige Klienten sind pflegeleichter Beck begrüßt viele der angedachten Reformen, etwa die Leistungsüberwachung von Ärzten oder die geplante Kontrolle regelmäßiger Fortbildungen. Auch die umstrittenen Desease-Management-Programme, wonach chronisch Kranke nach wissenschaftlich fundierten Leitlinien behandelt werden müssen, findet er richtig: „Unsere Kassenärztliche Vereinigung hat solche Innovationen und Reformen bisher blockiert. Unter dem Argument ‚ Therapiefreiheit’ fordert sie, dass jeder weiter seinen Mist machen darf.“ Hier sieht Beck auch die Patienten gefordert, die als aufgeklärte Verbraucher auftreten müssten. Er ahnt, dass es manchen Kollegen davor graust: „Autoritätshörige Klienten, die nicht am Halbgötterimage kratzen, sind pflegeleichter.“ Was rät Beck Patienten gegen streikende Ärzte? „Den Arzt wechseln oder klarstellen: Ich kämpfe nicht für Ihr höheres Einkommen.“ Brigitte Zander

Boykotthaltung einer Berufsgruppe

Zeit für Patienten nehmen Dabei nutzt Frau Doktor Balluff keinen der Tricks, die das Gesundheitssystem zulässt. Sie kuriert im kleinbürgerlichen Frankfurter Nordend. Ein störanfälliger Aufzug bringt die Patienten in die Praxis im zweiten Stock, die sie zusammen mit zwei Kollegen betreibt. Man teilt sich die Kosten und den kleinen Gerätepark: ein EKG, einen Lungenfunktions- und einen Inhalationsapparat für Asthmatiker und Bronchialkranke. Frau Balluff ist Ärztin aus Lei-

Erni Balluff ist das Lobbyistengeschrei der Ärztefunktionäre peinlich – wie allen ihren Kollegen im Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ). Die 800 Mitglieder wollen nicht mitmachen bei der „zunehmenden Kommerzialisierung des Arztberufs“. Die Abzocke vieler Kollegen lehnen sie ab. VDÄÄ-Bundesvorsitzender ist Winfried Beck, 60, Orthopäde in Frankfurt-Seckbach, 130 000 Euro Bruttoeinkommen. Er schämt sich für die Boykotthaltung einer Berufsgruppe, die sich in einer „hochprivilegierten Situation“ befinde. „Als Vertragsärzte der Kassen sind wir stärker gegen Wirtschaftsflauten gefeit als andere Selbstständige.“ Natürlich weiß der VDÄÄ-Vorsitzende, dass es „auch arme Mediziner gibt“. Verlierer des Systems sind unter den niedergelassenen Medizinern vor allem Landärzte im Osten und Hausärzte in sozialen Brennpunkten. 106. Deutscher Ärztetag in Köln

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Ärztliche Einkommen

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Chronologie eines kleinen und dennoch standesärztlich unverzeilichen Tabubruchs Von Winfried Beck Erni Balluf – Allgemeinärztin und ich – Orthopäde hatten genug von der Geheimistuerei um die Einkommen niedergelassener Ärztinnen und Ärzte. Die Anfrage der Illustrierten Stern kam uns da gerade recht und so titelten wir am 27.3.03: „Wir verdienen genug.“ Und weil Frau Balluffs Einkommen mit 87 000 € ungefähr dem Durchschnitt entspricht, ich mit 130 000 € unter dem Orthopädenschnitt liege und weil dies durch so genannte individuelle Gesundheitsleistungen mehr oder weniger umfangreich und mehr oder weniger legal aufgestockt wird, forderten wir die Kolleginnen und Kollegen auf: „Hört auf zu jammern!“ Was haben doch viele Kollegen den Stern im Wartezhimmer liegen und lesen den auch noch. Die jedenfalls teilten der Redaktion mit, nun sei Schluss mit diesem Hetzplatt gegen Ärzte. Der Stern wird abbestellt. (Wenn die auch noch erfahren hätten, dass die Gesundheitsministerin Ulla Schmitt bei einer KV-Konferenz den Anwesenden den Sternartikel unter die Nase gehalten hatte?) Aufmerksam geworden und einen Zugriffsboom witternd stellte der online Dienst für Fachärzte: „facharzt.de“ (>20 000 user) den Sternbeitrag ins Internet. Die Redaktion hatte Recht, mehr als 50 Mitteilungen kamen, übrigens überwiegend von Nichtfachärzten, alle vernichtend negativ. Der online Dienst setzte noch einen drauf und machte mit mir ein Interview zu gesundheitspolitischen Fragen. Und jetzt ging erst richtig die Post ab. Die Gürtelinie war nur gelegentlich die Oberkante des Argumentationsniveaus. Dann folgte eine offizielle Stellungnahme des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung von BadenWürtemberg, Herr Baumgärtner: „Links reden und rechts leben.“ Auch dazu gab es dann einige Zustimmungen – und eine kleine politologische Betrachtung (siehe Anhang). Bleibt nachzuschicken, dass sich die „Medical Tribune“ und die „Orthopädischen Nachrichten“ auch noch mit eigenen Berichten zum Thema meldeten und das WDR Fersehen in der Sendung „Hart aber Fair“ mich am 16.4. 2003 interviewte. Im Mai 03 jedenfalls war die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Ab und zu trudeln noch ein paar anonyme Briefe mit wüsten Drohungen und Beschimpfungen ein. Schade, diesen Kollegen hätte ich gerne einmal in die bösen Augen geschaut. Fazit: Fachärzte reagierten gar nicht, weil sie mein Einkommen wohl eher mit Mitleid erfüllt. Der Rest leidet unter Existenzängsten, neidet den Konzernchefs die Millionen, fühlt sich generell schlecht behandelt, von der Gesellschaft vernachlässigt, enttäuscht

und verbittert. Positive Zuschriften gab es keine. Wer hat, der schweigt. Das Ganze also ein Lehrstück über die Befindlichkeit von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland im Jahre 2003.

Briefe an facharzt.de Diese Leute reißen bereits seit Jahren ihren Mund auf und versuchen, sich als eine Art „letzten Retter der Menschheit“ darzustellen“. Sie haben keinen blassen Schimmer Ahnung von den tatsächlichen Kostenstrukturen in spezialisierten Praxen wie etwa ambulanten OP-Zentren. Ihre Ausführungen sind einfach beleidigend. Beim Stern mit schlampig und tendenziös geschriebenen Artikeln (der Unterschied zwischen einer Gemeinschaftspraxis und einer Praxisgemeinschaft ist der Artikelschreiberin offensichtlich nicht bekannt) finden solche „Kollegen“ derzeit ein offenes Ohr. Für mich war die Konsequenz, das Stern-Abo nach 15 Jahren aufzukündigen.

Nestbeschmutzer gibt es leider überall. Ich kann mit meinen Kasseneinnahmen von € 25 000 im Quartal für die Betreuung von über 1.400 Patienten noch nicht einmal meine Miete und Personalkosten decken (Hautarzt und Allergologe). Die Verschiebungen zu Gunsten der Hausärzte muß noch viel krasser ausgefallen sein, als ich mir bisher bewußt war. Dennoch, ohne Privat und IGEL wäre ich seit Jahren pleite! Es ist an der Zeit, dem Kollegen zu folgen. Kündigt Eure Abonnements links-ideologischer Zeitschriften und legt diese auch nicht mehr in Euren Wartezimmern aus. Wir müssen endlich anfangen uns an allen Fronten zu wehren! Auch Nestbeschmutzern sollte die kollegiale Zusammenarbeit verwehrt werden Dr. med. Andreas Klare, 28.03.03

Von der rot/grünen politischen Mafia gewollt, gefördert und zur Spaltung der Ärzteschaft sich prostituierend, zeigen solche „Kollegen“, wohin die Hausärzte gekommen sind. Es wird Dr. med. Hans Josef Könen, 28.03.03 deutlich, dass es keine Gemeinsamkeiten von Haus- und Fachärzten mehr geDie Peinlichkeit und offensichtliche Unben kann. kenntniss der vom LINKEN STERN zitierten LINKEN Kollegen ist kaum noch zu Dr. med. Klaus Winkler, 28.03.03 überbieten.

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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Beck: „KV im Kampf gegen Abzocker und Flaschen gescheitert“ Interview mit Dr. Winfried Beck, Vorsitzender des Verbandes der demokratischen Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) Facharzt.de: Herr Beck, ist es richtig, dass Sie Ihre Zulassung abgegeben haben und eine Privatpraxis betreiben? Dr. Winfried Beck: Nein, ich habe meine Praxis vor sechs Monaten verkauft und mache seitdem nur noch Gutachten für die Sozialgerichte. Außerdem lehne ich Privatpraxen grundsätzlich ab. Warum? Weil mir meine Ausbildung von dieser Gesellschaft bezahlt wurde – und zwar die teuerste Ausbildung, die es gibt. Es wäre nicht angemessen, nur noch ein Zehntel der Bevölkerung zu behandeln. Aber Ihre Praxis frühzeitig verkaufen konnten Sie trotz teurer Ausbildung? Ich konnte nach 9 Jahren Klinik und 26 Jahren Praxis psychisch nicht mehr, war ausgebrannt. Außerdem hatte sich, als ich einen Nachfolger für meine Praxisgemeinschaft suchte, ein Ehepaar gemeldet, was mir einen guten Preis für beide Praxen geboten hat. Diesen Preis hatte ich nicht erwartet, da habe ich zugeschlagen. Sie beschreiben die Situation der Ärzte als „hochprivilegiert“. Mit einem Burnout-Syndrom sind Sie sicherlich nicht der einzige unter Ihren Kollegen. Würden Sie das wirklich als „hochprivilegierte Situation“ bezeichnen? Meine Frau ist Sozialarbeiterin, hat einen noch viel härteren Job und verdient einen Bruchteil von dem, was Ärzte verdienen. Ich will mich ja nicht mit Managern vergleichen, sondern mit Berufsgruppen, die am Menschen arbeiten. Und da gibt es niemanden, der privilegierter ist. Gehört dazu auch, dass der Vertragsarzt rund ein Viertel seiner Leistung ohne Bezahlung erbringt? Das ist völliger Quatsch. Wir Ärzte müssen das Komplexhonorar, den Durchschnittswert sehen, der am Ende des Quartals herauskommt. Es ist ein Fehler, auszurechnen, wieviel man für welche Leistung bekommt. Wenn ich zehn Patienten habe, die Einlagen brauchen, dann habe ich für diese zehn furchtbar viel Honorar bekommen – viel zu viel! Dafür kommen wiederum andere Patienten, bei denen ich drauflegen muss. Entscheidend ist, was am Ende rauskommt. Nochmal zur „hochprivilegierten Situation“: Sie haben Ihre Praxis, wie sie sagten, sehr gut verkauft. Wenn der Gesetzentwurf von Ulla Schmidt in der jetzigen Form realisiert wird, werden viele Kollegen ihre Praxis nicht mehr verkaufen können. Da kann man jetzt natürlich sagen „der hat gut reden“. Das ist sicherlich nicht

schön, aber wir können das Gesundheitswesen nun mal nicht danach gestalten, was den Ärzten nutzt, sondern müssen das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen. Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass es Entschädigungen für die Ärzte geben muss, die ihre Praxis nicht mehr verkaufen können. Das wäre auch sicherlich vorm Verfassungsgericht einklagbar. Was halten Sie generell von dem Gesetzentwurf aus dem BMG? Ich befürworte uneingeschränkt ein Institut für Qualität in der Medizin, weil die Ärzteschaft nicht in der Lage ist, die Qualität zu steuern. Sowohl bei der Bundesärztekammer als auch bei den Kassenärztlichen Vereinigungen stehen andere Interessen im Vordergrund. Deswegen muss diese Aufgabe von einer unabhängigen Institution übernommen werden, wie es beispielsweise in den USA und Schweden gehandhabt wird. Auch ein Einzelvertragssystem halte ich für sinnvoll. Denn die KV hat es nicht geschafft, zwei Sorten von Ärzten das Handwerk zu legen: Zum einen den Abzockern, die hemmungslos die Gebührenordnung ausnutzen, zum anderen den „Flaschen“, also den qualitativ schlechten Ärzten. Das ist nur zu schaffen, wenn Konkurrenz herrscht. Den Erstzugang zum Allgemeinmediziner befürworte ich ebenfalls, weil eine doppelte Facharztvorhaltung – in Klinik und Praxis – ein nicht mehr zu bezahlender Luxus ist. Damit wird im Grunde das fachärztliche Tun auch aufgewertet. Ich musste als Orthopäde oft Hausarztfunktion übernehmen, beispielsweise bei Patienten mit leichten Rückenschmerzen. Dafür bin ich eigentlich überqualifiziert. Sie sagten, eine reine Privatpraxis lehnen Sie ab. Wie steht’s mit IGeL? Davon halte ich genauso wenig. Wenn eine Leistung notwendig ist, dann muss sie in den GKV-Katalog. Es sind mit Sicherheit nicht alle Leistungen, die notwendig sind, im Leistungskatalog der GKV. Wenn eine Leistung nicht im GKV-Katalog ist, dann sollte ich sie auch nicht anbieten. Das führt zu einer Zwei-Klassen-Medizin. Auch wenn es sinnvolle Leistungen sind wie Hautkrebsvorsorge, Glaukomvorsorge etc.? Mir persönlich fällt keine Leistung ein, die sinnvoll ist und nicht im Leistungskatalog steht. Oft wird von den Ärzten ja auch nur behauptet, die Kasse würde eine Leistung nicht bezahlen, damit Sie privat abrechnen können. Genau

hierfür brauchen wir im Übrigen die staatliche Qualitätskontrolle. Wenn dieses geplante Institut für Qualität in der Medizin entscheidet, eine Leistung gehöre nicht in den GKV-Katalog, dann gehört sie da auch nicht rein. Dann sollte sie auch nicht als Kostenerstattung angeboten werden. Dann habe ich als Patient keine Chance, frei zu entscheiden, ob ich eine Hautkrebsvorsorge machen möchte? Genau, denn das würde wiederum zu einer Zwei-Klassen-Medizin führen, da viele Menschen aus finanziellen Gründen gar nicht die Wahl haben, sich für eine solche Leistung zu entscheiden. Warum sollten Sie diese Wahl also haben. Und sobald ein Verdacht auf Hautkrebs besteht, wird die Leistung ja von der Kasse bezahlt. Ich nehme an, ein Kostenerstattungssystem halten Sie ebenfalls für unsozial? Ja, die Kostenerstattung lehne ich völlig ab. Dabei wird doch nur der Punktwertabsturz auf die Patienten abgewälzt. In der Begegnung mit meinen Patienten will ich nicht an Geld denken müssen, geschweige denn darüber reden. Ärzte, die Kostenerstattung fordern, wollen sich aus der Gesamtverantwortung ausklinken nach dem Motto „Hauptsache, ich bekomme mein Geld – was der Patient am Ende von der Kasse erstattet bekommt, ist mir egal.“ Sie würde aber das Kostenbewusstsein der Patienten enorm stärken. Patienten mit einer „Freibiermentalität“ habe ich nur sehr selten erlebt. Und gerade bei bedürftigen, wirklich kranken Patienten würde ich mich schämen, über Geld zu sprechen.

Weitere REAKTIONen Wer sein Schäfchen im Trockenen hat, kann sehr gut Lieder mit Lauterbach über die vorgesehene Staatsmedizin singen. Es sind diese autoaggressiven Moralapostel und Ethikwächter, die sehr stark an der jetzigen ärztlichen Misere ursächlich beteiligt sind, weil sie einen enormen Existenzschaden für die gesamte Ärzteschaft begünstigen. Jedem Kollegen muss jetzt auch klar sein, welche gefährlichen Auswirkungen die Überstrapazierung der Begriffe Moral und Ethik in der Medizin gehabt haben – was in letzter Konsequenz zu der gesetzlich vorgesehenen Schließung unserer Praxen führen wird.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Im Übrigen ist der Verband demokratischer Ärzte besser bei der Caritas oder bei der Inneren Mission oder noch besser bei der PDS aufgehoben. Die Honorierung dieser Ärzte könnte z.B ja auch zur Besserung des GKVPunktwertes von dort erfolgen. Sie geben dem Arztberuf noch einen Tritt hinterher, nachdem Sie Ihr Schäfchen ins Trockene gebracht haben durch Abzocke eines Kollegen. Warum haben Sie Ihre Praxis ihm nicht geschenkt, sie war doch abbezahlt! Wieviel Schizophrenie wollen Sie den Ärzten noch zumuten, Sie wandelnder „vorurteilsloser“ Apostel? Wieviel Schizophrenie wollen Sie den armen Ärzten zuteil werden lassen, wenn Sie als Sozialrichter noch weiterhin urteilen. Treten Sie sofort zurück und lassen Sie ab sofort die Finger von allen ärztlichen Themen!

Ärztliche Einkommen Schande über solche Kollegen! Ich habe selten ein Interview gelesen, dem ich in ALLEN Punkten entschieden wiederspreche. Dr. med. Andreas Klare, 07.04.03

Dr. med. Matthias Solga, 07.04.03 19:01 Das ganze Interview ist ein Bewerbungsgespräch bei der Politik Dr. med. Martin Seitz, 07.04.03 Diesen realitäts- und weltfremden PDSSpinner, der seine Schäfchen offensichtlich noch rechtzeitig ins Trockene gebracht hat sollte man aus allen ärztlichen Gremien ausschließen. Also so isolieren, wie er sich mit seinen linksideologischen und gänzlich falschen Ansätzen selbst isoliert.

sent. Er hat dort immer gegen die ärztliche Freiberuflichkeit und gegen die Selbständigkeit gesprochen. Er handelte nach dem Motto: „Links reden, rechts leben“, so ist auch seine Einlassung bezüglich seiner armen Frau zu sehen, die als Sozialarbeiterin viel arbeiten muss und wenig verdient. Wenn Herr Beck das Angestelltenverhältnis so glorifiziert, verstehe ich nicht, dass er sich nicht vor 35 Jahren bereits für eine Karriere als angestellter Arzt entschieden hat, er hätte dann die Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken mit seinen Ideologien beglücken können und die Freiberufler verschont.

Sich über IGeL und Privatpraxen zu erheben, nachdem man einem jungen Kollegen viel Geld für die eigene Praxis abgenommen hat und dies auch noch öffentlich preist: Respekt, Herr Kollege, Wasser predigen, Wein saufen, und das in Reinform. Hier entlarvt sich ein Alt-68er, wie schon vor ihm ein Steinewerfer, der sich jetzt staatstragend in gepanzerten Dr. med. Werner Baumgärtner Limousinen herumkutschieren läßt. Vorsitzender des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung NordDr. med. Peter Grotmann, 07.04.03 Württemberg Dazu fällt mir nur eins ein: Arschloch. Dipl. med. Olaf Karl, 07.04.03

Dr. med. Alex Bernd, 07.04.03 16:12 Wette ein Kistchen Sekt, daß wir in einem Jahr diesen Menschen in einer politisch anspruchsvollen, natürlich auch dementsprechend dotierten, Position wiederfinden. Warum sonst hätte er wohl, so furchtbar psychisch ausgebrannt wie er war, dann nicht doch eher sein Pöstchen bei den demokratischen Ärzten aufgegeben, sondern den Arztberuf? Ein Gutachter ist lediglich als Mediziner tätig, als Arzt nicht. Werde mal meinen Autoreparateur fragen, ob der am Ende mit 50 Euro zufrieden ist, egal, was er da so macht. Oder meinen Rechtsanwalt und Notar, auch ein freier Beruf. Die kriegen garantiert einen Lachkrampf. Der Werdegang scheint mir der des Huber sehr zu ähneln. Ich kann leider nichts dagegen tun, bei mir kommt Übelkeit hoch, wenn ich an solche Typen denke. Daher jetzt Schluss. Sich im Detail mit diesen pseudosozialistisch-likedeelerischen Ideen des Beck auseinanderzusetzen, halte ich für vergeudete Zeit. Eine Schande, daß Ärzte solche Typen für irgend Etwas wählen.

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Entweder handelt es sich um ein fiktives Interview, oder der psychische Schaden des Herrn Kollegen Beck ist größer, als selbst von ihm angenommen. Ein sachlicher Kommentar auf diesen Unsinn ist nicht möglich. MfG, Dr.Ch.Schüürmann, Chirurg

Baumgärtner: „Beck redet links und lebt rechts“ Leserbrief des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg, Dr. Werner Baumgärtner zum Facharzt.de-Interview mit Dr. Winfried Beck, Vorsitzender des Verbandes der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ): Das Interview zeigt einen Linken, der rechts und kapitalistisch lebt und handelt und dennoch seine freiberuflichen Kolleginnen und Kollegen seit Jahren mit seinen linken Ideologien zwangsbeglücken möchte. Dies alles unter dem Namen der Demokratie, denn es gibt demokratische Ärzte und undemokratische Ärztinnen und Ärzte. Geradezu desavouierend ist, dass Beck alle Maßnahmen der Staatsmedizin dieser Bundesregierung verteidigt und verherrlicht. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, wie in seinem bisherigen Leben auch nach seinem eigenen Vorteil zu trachten und zum Beispiel seine Praxis zu dem Zeitpunkt zu verkaufen, wo er noch einen Gewinn dafür erzielen kann. Er kämpfte seit Jahren dafür, dass seine Kolleginnen und Kollegen in Zukunft keine Gewinne mehr für den Praxisverkauf erzielen können, er selbst aber setzt sich frühzeitig ab unter Mitnahme des Erlöses für seine bisher freie Praxis. Beck war ja als Chefideologe und Politprofi in allen Medien prä-

Als jener Kollege Beck mal wieder einen Blödsinn erster Ordnung gefaselt hatte – war wieder irgend eine staatsmedizinische Maßnahme – hatte ich ihn per eMail gefragt, warum nicht er und seine Anhänger geschlossen in die DDR übergesiedelt sind, wenn er Staatmedizin so „demokratisch“ findet. Die Deutsche „Demokratische“ Republik war genau so eine Lüge wie dieser so genannte demokratische Ärzteverband. Bei seinem Chef ist es nun heraus, ganz wie Honnecker und Konsorten – Sozialismus verordnen und abgeschottet in Wandlitz mit den kapitalistischen Errungenschaften dank Schalck-Golodkowski leben. Ich habe diese Typen in Schule, Studium und Beruf erleben und erleiden müssen. Ein Trost bleibt: die DDR hat sich selbst überholt, warten wir noch eine Weile, Herrn Beck seinem Verein wird’s ähnlich gehen. Erhöhte Aufmerksamkeit und Presse nutzt nur ihm!! Dr. med. Heiner Loos, 14.4.03

Dass Herr Beck „rechts“ lebt, scheinen Sie darauf zurückzuführen, dass er als niedergelassener Arzt ein selbständiger Unternehmer war. Das ist eine interessante Sicht der kapitalistischen Gsellschaft. Während sich die bürgerliche Klasse in der Regel eher für demokratisch und deshalb nicht für rechts hält, wird hier ganz offen gesagt, dass eine kapitalistische Existenz per se rechts ist. Dass die kapitalistische Gesellschaft so beschrieben wurde, ist schon einige Zeit her. Meines Wissens gab es nur wenige Fraktionen in der linksradikalen Debatte, die dies so rigoros behauptet haben. Heute traut sich nicht einmal mehr die Gewerkschaft, den Unternehmern prinzipell rechte Positionen zu unterstellen. Danke für diese klaren Worte. Max Horkheimer („Wer vom Faschismus

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Ärztliche Einkommen

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redet, darf vom Kapitalismus nicht Balluff, die auch Mitglied im Verein Jammerlappen oder hoch demokratischer Ärztinnen und Ärzte privilegiert? schweigen… “) hätte sich gefreut. (VDÄÄ) ist, dem Stern ihre SteuererDr. Nadja Rakowitz, 15.04.03 klärung 2001 vor, die auch abgedruckt Greifen Sie zur Feder! wurde. Zunächst wollen wir die beiden KolleAllerwertester Herr Beck; gen Balluff & Beck zu ihrem Erfolg, zu Hohes Einkommen auch ohne dem sie sich öffentlich bekennen, beIch lese Ihr peinliches und devotes Ge- IGeL glückwünschen. Schließlich haben sie tingel nun schon seit fast zwei Jahrder Bundesgesundheitsministerin beDann folgen Beschreibungen, die unterzehnten. wiesen: Es geht doch! Sogar ohne IGeL streichen, dass Frau Balluff dieses EinMeine Frau(Allgemeinmedizinerin) und ich haben zusammen über 36 Be- kommen erwirtschaftet, obwohl sie und mit sprechender, schlecht bezahlrufsjahre in Kliniken (zusammen 14 Jah- keine IGeL-Leistungen anbietet („Die ter Medizin – trotz quietschendem Prare die damals übliche Sklavenarbeit schleichende Umwandlung der Praxen xisaufzug und kleinbürgerlichem Ummit erst 12- und dann 8-Tag-Nacht- in Verkaufsstätten“ missfällt ihr), sich feld. Wenn man sich nur ein bisschen Tag-Diensten) und zusammen 22,5 Jah- die „Ärztin aus Leidenschaft Zeit für die Apparate mit Kollegen teilt, rollt re einer überdurchschnittlich großen ihre Patienten nimmt – obwohl Rede- auch der Rubel. Den „Jammerlappen zeit mies vergütet wird“ – und sie eine und Heulsusen“, die sich in den letzten Praxis hinter sich. Was wir für uns erwirtschaftet ha- Praxis im kleinbürgerlichen Frankfur- Jahren auf die Straße gestellt haben, ben, ist die Schuldenfreiheit der (Neu- ter Nordend mit störanfälligem Auf- um gegen den gesundheitspolitischen gründungs-)Praxis und eine 1987 für zug betreibt. „Den Ärzten, die sich mit Sparkurs und das wirtschaftliche Aus 180 000 DM gekaufte Eigentumswoh- Streiks, Boykotts und Demonstratio- von Praxen zu demonstrieren, haben es nung mit heute noch 60 000 DM Schul- nen gegen die zaghaften Sparbemü- die beiden ordentlich gezeigt. Und sie den. Der Wert dürfte jetzt 150 000 € hungen wehren, attestiert die 58-Jäh- haben bewiesen: Auch eine Minderheit sein. Das kleine Reihenhaus, in dem rige Wahrnehmungsstörungen“, so der von 800 Ärzten, die Mitglieder im Verwir wohnen, ist voll und risikovoll fi- Stern. Hier wird Erni Balluff zitiert: ein der demokratischen Ärztinnen und nanziert. Wir sind 54 und 42 Jahre alt. „Das ist Jammern auf hohem Niveau.“ Ärzte sind, kann sich in der Politik GeWir haben anfangs sehr bescheiden Und was meint der Verein demokrati- hör verschaffen. Das, was sie sagen, und später angenehm ohne jeglichen scher Ärztinnen und Ärzte zu dem Be- muss halt nur auf Linie der Regierung Luxus gelebt,und in ca. 8 Jahren kei- richt? „In dem Beitrag wird schon die sein. Oder haben die Kollegen, die KBV ne Urlaube gemacht.Eines von den Haltung des Vereins wiedergegeben“, oder die KVen jahrelang gelogen und beiden Normalo-Autos ist ein Ge- erklärt VDÄÄ-Geschäftsführer Karl- das ärztliche Einkommen unter den Heinz Balon gegenüber MT und ver- Scheffel gestellt? Was meinen Sie? schenk meines Schwiegervaters. Eifernde Wichtigtuer aller Art sind weist wegen weiterer Details an den Schreiben Sie uns Ihre Meinung an folVDÄÄ-Vorsitzenden Dr. Winfried Beck. gende Adresse: mir zuwider. Dieser wird im Stern-Beitrag ebenfalls Redaktion Medical Tribune Hochachtungsvoll zitiert und hat demnach in 2001 ein z. Hd. Frau Regine Jacobsen, Bruttoeinkommen von 130 000 Euro RB,Kinderarzt Stichwort „Jammerlappen“, erwirtschaftet. Im Artikel „schämt er Unter den Eichen 5, 65195 Wiesbaden, sich für die Boykotthaltung einer BeFax: (06 11) 97 46 443 rufsgruppe, die sich in einer hoch priviE-Mail: [email protected] Medical Tribune Bericht legierten Situation befindet“. Der 59jährige Orthopäde, der im Jahr 2000 Hausärztin fordert im Stern: seine Praxis verkauft hat und mittlerweile von Gutachten und dem Geld aus Kollegen, hört auf zu jammern! dem Praxisverkauf lebt, räumt aber ein, dass es durchaus Ärzte gibt, denen WIESBADEN – „Wahrnehmungsstöes wirtschaftlich nicht so gut geht. Verrungen“ attestierte Hausärztin Erni lierer des Systems seien vor allem LandBalluff denjenigen Kollegen, die sich ärzte im Osten, Hausärzte in sozialen mit Streiks, Boykotts oder DemonstBrennpunkten und die Psychotherarationen gegen die gesundheitspolipeuten. tischen Einsparungen wehren. Zumindest wurde die Hausärztin so im Kollegen fehlt Sinn für die „Stern“ zitiert. Auf die MT-Nachfrage, ob die Aussagen im Stern-Beitrag kor- Realität rekt sind, meint die 58-Jährige nur: So Mit dem Artikel und den Äußerungen hätte ich das niemals rausgegeben. hat der Orthopäde kein Problem. „Es Die Gelegenheit, zum Thema Stellung handelt sich lediglich um einen Versuch, zu nehmen, wollte die genervte Haus- Transparenz zu schaffen.“ Und: „Das ärztin nicht wahrnehmen. „Nein, ich sind Fakten“, meint Dr. Beck, und so will nichts mehr dazu sagen, es ist manchen Ärzten sei der Blick für die schon genug geschrieben worden“, Wirklichkeit verloren gegangen. In legte Erni Balluff den Telefonhörer Schweden, erklärt Dr. Beck weiter, sei kurzerhand auf. Schade, denn schließ- es schließlich gang und gäbe, dass Ärzlich wird in dem Beitrag ganz schön te ihre Steuererklärungen bzw. ihren dick aufgetragen: Für eine 40-Stun- Verdienst offen legen. Und dass Bunden-Woche bleiben der Ärztin im Jahr desgesundheitsministerin Ulla Schmidt 87 000 Euro Gewinn vor Steuern, was bei ihrem Besuch der KV Nordrhein einem Monatsgehalt von 7250 Euro den Stern-Artikel den dortigen Ärzten brutto entspricht. Zum Beweis legte wärmstens ans Herz legte, findet Dr. 106. Deutscher Ärztetag in Köln Beck „toll!“.

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Fehldiagnose Winfried Beck und die Kollegen von facharzt.de Die Nerven der Ärzteschaft liegen blank. Die Zerschlagung der bisher bekannten Strukturen, die geplante Abschaffung der Kassenärztliche Vereinigung (KVen), Rückgang der Gewinne und ein Imageproblem machen die Arbeit wahrlich nicht zu einem Vergnügen. Wie gut, dass es eine Seite im Netz gibt, die sich um das angekratzte Seelenheil der Ärzte kümmert. Die Rede ist hier von „facharzt.de“, einem Informationsdienst und Internet-Portal für Ärzte. Hier scheint sich die Ärzteschaft zum OnlineStammtisch zu treffen. Ausgerechnet diesem Internet-Dienst gab Winfried Beck, Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), ein Interview. Darin beklagte Beck die scheinheilige Jammerei der niedergelassenen Ärzte. Gleichzeitig befürwortete er die Einführung eines Instituts für Qualität in der Medizin, forderte die lebenslange Weiterbildung und plädierte für die Abschaffung der niedergelassenen Fachärzte zugunsten von angestellten Ärzten in Polikliniken.

Die Herren punkten als ForumRambos Was für eine Idee, ausgerechnet bei „facharzt.de“ diese Gedanken auszubreiten. Und so droschen völlig ungebremst von der Redaktion dieser Internet-Seite, die „Betroffenen“ los. Geprägt ist der Stammtisch von einigen Herren (über 90 Prozent der Beiträge sind männlich), die anscheinend ob ihrer unflätigen Art alle sonstigen Sozialkontakte verloren haben und jetzt als Forum-Rambos punkten. Diese Kollegen meinen, ein Arzt solle sich nach seinem Rückzug aus dem Arbeitsleben politisch zurückhalten, und erkennen in der Argumentation Winfried Becks ein psychisches Krankheitsbild. Und so fragt ein Dr. Bernd: „Wie viel Schizophrenie wollen Sie den Ärzten noch zumuten, Sie wandelnder ,vorurteilsloser’ Apostel?“ Dr. med. Hans Ulrich Jabs rät ihm außerdem: „Treten Sie sofort zurück und lassen Sie ab sofort die Finger von allen ärztlichen Themen.“ Andere, wie ein Dr. Andreas Klare, wollen Beck nicht einmal die freie Wahl lassen, sondern sofort entmündigen: „Diesen realitäts- und weltfremden PDS-Spinner, der seine Schäfchen offensichtlich noch rechtzeitig ins Trockene gebracht hat, sollte man aus allen ärztlichen Gremien ausschließen.“ Dr. med. Gerhard Pernice schrieb: „Die Schizophrenie der Gedanken (immer sozial, wenn es das Geschwafel über das Gemeinwohl betrifft, aber schön an sich selbst denken, wenn’s um das eigene Wohl geht) erinnert mich an die Studenten, welche in der KPD waren.“ Auch der Chirurg Dr. C. Schürmann versucht sich in der psychiatrischen Diagnostik: „Entweder handelt es sich um ein fiktives Interview, oder der psychische Schaden des Herrn Kollegen Beck ist größer als selbst von ihm angenommen.“ Soweit die Fachwelt.

Ethische Dauervollbäder? Dr. Friedhelm Heber hat da einen Verdacht: „Herr Beck ist ein ewig Gestriger. … Seltsam, wie sein Verband überleben kann, den Geldgeber, der früher Werbung auf Hochglanzpapier gesponsert hat, gibt es seit 1990 nicht mehr.“ Dr. med. Mabuse diagnostiziert: Nur durch unbändige Geistesstörungen konnten die Mitglieder des VDÄÄ das über Jahre ausblenden … Nachdem ein Dr. Schele in vielen Punkten den Beckschen Ausführungen zustimmte, kam von Dr. Bernd sofort die volle Breitseite: „Wo ethisch genebelt wird, können Sie sich nicht zurückhalten! … Treten Sie doch diesem Verband der demokratischen Ärzte oder besser noch einem sonstigen Sozialverband bei, um Ihre ethischen Dauervollbäder mit Gleichgesinnten ausgiebig nehmen zu können … Oder machen Sie hier den Kasper?“ Dagegen zieht

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Dr. Peter Grotmann den Kommunistenvergleich bis zum Außenminister: „Respekt, Herr Kollege, Wasser predigen, Wein saufen, und das in Reinform. Hier entlarvt sich ein Alt-68er, wie schon vor ihm ein Steinewerfer, der sich jetzt staatstragend in gepanzerten Limousinen herumkutschieren lässt.“ Dr. med. Matthias Solga entpuppt sich als Soziologe: „Die Beckschen demagogisch-sozialistischen Versatzstücke einer pseudophantastischen Propaganda erinnern in jedem Quentchen so fatal an die sozialfaschistischen Ideen speziell deutscher jüngster und nicht mehr ganz so junger Vergangenheit …“. Bleibt am Ende nur noch die Frage, wie viele Ärzte muss Beck aufsuchen, um seiner wahren „Erkrankung“ auf die Spur zu kommen? Daniel Rühmkorf geb. 1966, Weiterbildungsassistent Allgemeinmedizin, Gesundheitsmanager, freier Journalist, 2. Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte in Berlin.

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Tagesspiegel 4.4.2003 Ärzte ohne Grenzen „Vor wenigen Jahrzehnten noch war die Welt der Ärzte heil. Ausgestattet mit einem unverzichtbaren gesellschaftlichen Auftrag, mit dem Ruf der Uneigennützigkeit und dem Nimbus der Bewahrer von Gesundheit und Hoffnung erlebten sie während der ersten Nachkriegsjahrzehnte den Zenit professioneller Erfüllung. Wie kaum ein zweiter Berufsstand verkörperte die Ärzteschaft die bundesdeutsche Leistungselite; ihr anzugehören wurde zum Traum hunderttausender junger Menschen. Leidenschaftlich, gewissenhaft, unermüdlich waren die Attribute einer mächtigen Kaste, der Bürger und Politiker Bewunderung zollten. Noch bargen Krankheitskosten, Arzneimittelpreise und Arzthonorare keinen politischen Sprengstoff. Noch waren die Möglichkeiten der Medizin vergleichsweise begrenzt und unbelastet von konfliktreichen ethischen Fragen, die der Einführung von Reanimation, Organtransplantation und künstlicher Lebensverlängerung folgen sollten. Noch war die Führungsrolle der Ärzteschaft unumstritten und ihr ein nie gekanntes Maß an materieller Prosperität beschieden. „Selbst mit einer Kreuzberger Internistenpraxis“, so ein Berliner Doktor im Ruhestand „ließ sich in jenen Jahren ein Anwesen auf Sylt erwirtschaften.“ Eine Profession im Einklang mit sich selbst und der Gesellschaft: Fürwahr – ein goldenes Zeitalter. Dahin ist es, unwiederbringlich. Seit Mitte der 70er Jahre schon sucht eine Lawine von Gesetzen und Verordnungen zur Kostendämpfung die Leistungsausweitung der Krankenkassen und die ausufernden ärztlichen Handlungsspielräume erfolglos in Schach zu halten. Heute glaubt sich die weiße Zunft im Vorhof der Hölle. Von Medizinökonomen sieht sie sich umstellt, von Klinikmanagern und Kassenfunktionären bevormundet. Sie ächzt unter unzumutbarer Arbeitsbelastung. Verarmungswahn hat sie erfasst, ihre Gemütsverfassung schwankt zwischen Depression und Zorn. Tief gekränkt über die schwindende Attraktivität ihres Standes muss sie erleben, dass ihr der Nachwuchs die kalte Schulter zeigt, selbst manche Chefarztstelle unbesetzt bleibt und enttäuschte Patienten ihr Heil zunehmend bei Gesundbetern suchen. Brüskiert fühlt sie sich von einer Politik, die sie künftig zum „Ärzte-TÜV“ schicken, zur Fortbildung verpflichten und ihr ein Korsett von Behandlungsleitlinien verordnen will. Hinter nahezu jedem Reformansatz „schwelen die Gefahren kollektivistischer Gleichmacherei“. Nicht genug damit: Politik und Kassen machen sich neuerdings anheischig, ihre mächtigsten Interessenbastionen, die Kassenärztlichen Vereinigungen, zu schleifen, um den zwar bröseligen, doch immer noch

monolithischen Block der niedergelassenen Ärzte zu sprengen und damit für Reformen gefügig zu machen. Wie konnte es dahin kommen? Wo sind die Ursachen dafür zu suchen, dass trotz der unbestreitbaren und segensreichen Erfolge der Medizin die sie tragende Ärzteschaft so sehr in die Defensive geraten ist und so viel an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft eingebüßt hat? Zweifellos hat die Ärzteschaft die Krise des Gesundheitswesens nicht allein zu verantworten. Weder der wissenschaftliche Fortschritt noch das wachsende Heer chronisch Kranker, weder der Jugendwahn noch eine selbstschädigende Lebensweise sind ihr anzulasten. Aber glauben die Ärztevertreter ernsthaft, dass allein „eine ruinöse Kostengesetzgebung im Gesundheitswesen“ und ein „diffamierender Umgang mit dem Arztberuf“ dessen Niedergang bewirkt haben? Selbstkritik und Reflexion der eigenen Aufgaben und Ziele – nie waren dies Stärken der Ärzteschaft, der die Gesellschaft seit jeher den privilegierten Status einer „Profession“ gewährt, denn sie nimmt einen für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit überragenden Auftrag wahr. Merkmal dieses Status ist ihre Vorrangstellung in der Heilkunde. Unauflöslich aber sind seine Träger an das „Bekenntnis“ gebunden, so der Soziologe Eliot Freidson, ihr Wirken am Dienst an der Gemeinschaft auszurichten, höchste ethische Grundsätze und Leistungsnormen einzuhalten und das Patienteninteresse über alles zu stellen. Somit ist es nur recht und billig, an Verhalten und Handeln der Ärzteschaft höhere und strengere Maßstäbe anzulegen, als an das eines Bankers oder Ingenieurs. Vieles spricht dafür, dass das professionelle Selbstverständnis der Mehrheit der Ärzte einem Tiefpunkt zusteuert. Sie vermochten es nicht, einer Entwicklung standzuhalten, die ethische Prinzipien relativiert. Allzu oft verschränkt sich die Missachtung einer Kernthese der ärztlichen Berufsordnung – „der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe“ – auf

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 ungute Weise mit einem medizinischen Handeln, das das Prädikat „wissenschaftlich begründet“ kaum mehr verdient. Wenn jüngst der Sachverständigenrat ein immenses Ausmaß an medizinischer Ober-Unter- und Fehlversorgung diagnostiziert, dann ist dieser Befund nicht nur Ausdruck des Versagens professioneller Selbstregulierung; er ist auch ein Urteil darüber, dass sich die Wahrung des Patienteninteresses gegenüber dem ärztlichen Eigeninteresse zugunsten des Letzteren drastisch verschoben hat. Ein Chefkardiologe fordert von seinem Herzkatheterlabor: „Der Laden muss brummen!“ Ein Gastroenterologe will von den Ärzten seiner Endoskopie-Einheit „Zahlen, Zahlen, Zahlen!“ sehen. „Denn nur wer hohe Untersuchungszahlen hat, überlebt.“ Nicht allein eine aus den Fugen geratene, wissenschaftliche Standards übergehende Medizin gibt sich hier zu erkennen; nicht nur werden hier, letztlich enorme Ressourcen vergeudet. Vielmehr charakterisieren solche Aussagen die jetzige Chefarztgeneration, die mehrheitlich eine technologiehörige und einkommensorientierte Geisteshaltung hat. Lothar Weißbach, ehemaliger Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, stellt seiner Disziplin ein vernichtendes Zeugnis aus, „weil viele Onkologen Therapiefreiheit mit Therapiebeliebigkeit verwechseln und damit die Heilungschancen zahlloser Krebspatienten mindern“. Eine Missachtung des Patienteninteresses wäre es aus seiner Sicht, auf Leitlinien medizinischer Behandlung zu verzichten und das politische Vorhaben, ein nationales Zentrum für Qualitätssicherung in der Medizin zu schaffen, aufzugeben. Dass ein erklecklicher Teil der deutschen Ärzte Abrechnungsbetrug als Kavaliersdelikt betrachtet, ist beschämend. Unerträglich ist, dass neuerdings Ärzte nicht davor zurückschrecken, mit Verstorbenen zu punkten. Die prompte Antwort der Funktionäre, „man werde gegen schwarze Schafe in den eigenen Reihen unnachgiebig vorgehen“ ist eine artige Floskel. Sie verbirgt die Selbstdemontage einer Profession. Selbst das „Deutsche Ärzteblatt“ sieht die Basis des Arztberufes in Gefahr und das Vertrauen der Patienten von vielen Ärzten missbraucht: „Da ist der Gynäkologe, der einer Patientin die Sonographie verweigert, weil sie von der Kasse nicht bezahlt werde, zugleich aber privat eine anbietet. Da ist der HNO-Arzt, der nach dem Hörsturz eine kostspielige Akupunkturserie, selbstverständlich bar zu bezahlen, nahe legt. Da ist der Hautarzt,

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 der neuerdings eine Warze als kosmetisches und deshalb privat zu beseitigendes Problem ansieht. Und so nebenbei geht es auch um den Verkauf von Versicherungsprodukten einer privaten Krankenkasse oder die Empfehlung einer Spezialdiät.“ Die Arztpraxis – künftig ein Shopping-Center mit heilkundlichen Schnäppchenangeboten? Getragen von der Sorge um die Erosion der Ethik ärztlichen Handelns veröffentlichten europäische und amerikanische Ärztegesellschaften 2002 die „Charta zur ärztlichen Berufsethik“. Sie mahnt die Ärzte, die unverrückbaren Prinzipien ihrer Profession als Grundlage des Kontraktes zwischen Medizin und Gesellschaft einzuhalten. Ausdrücklich warnt sie die Ärzteschaft davor, „den vielfältigen Verführungen zu erliegen, den Primat des Patientenwohls aufzugeben“. Zu fairer Mittelverteilung im Gesundheitswesen ruft die Charta ebenso auf, wie sie Ärzte zu lebenslangem Lernen verpflichtet und dazu anhält, Leitlinien für eine gerechte und effektive Patientenversorgung zu erarbeiten. Es charakterisiert die Denkungsart der deutschen Ärzteschaft, dass sie dieses Dokument bis heute ignoriert. Nur wenige Ärzte unterstehen sich hierzulande, die Entprofessionalisierung der eigenen Zunft offen zu rügen. Nicht ohne Gefahr zu laufen, sich kollegialem Unmut auszusetzen. Ein Chefarzt einer Inneren Abteilung im Rheinland, bekannt für seine kritischen Fortbildungsveranstaltungen, erhielt Drohbriefe von Kardiologen, weil er den Sinn und Unsinn von Herzkatheteruntersuchungen thematisiert. Einen um sich greifenden „Mangel an ärztlicher Sorgfalt“, ein „autistisch undiszipliniertes ärztliches Verhalten zu Lasten unserer Patienten“ konstatierte Erland Erdmann, Kölner Ordinarius für Innere Medizin. Am Beispiel der hinter internationalem Standard zurückbleibenden Diabetikerversorgung prangerte der kürzlich verstorbene Düsseldorfer Diabetologe Michael Berger Kassenärztliche Vereinigungen, Ambulanzen und Pharmalobby an: „Es geht nicht mehr um das Wohl der Patienten, sondern um finanzielle Eigeninteressen.“ Kollegenurteil: „Nestbeschmutzer.“ Kein Wunder, dass die Politik ihre Glacehandschuhe im Umgang mit den Ärzten endgültig abgelegt hat. Und wenn sie heute unnachgiebig und zu Recht mehr Qualität, Effizienz, Transparenz und Kontrolle einfordert, dann heißt das auch: Wir glauben Euch nicht mehr. Euch unter Kuratel zu stellen, ist nicht mehr zu umgehen.

Ärztliche Einkommen Es gibt ihn noch, den guten Arzt Und doch, es gibt ihn noch – den guten Arzt, den mancher Patient wie die Stecknadel im Heuhaufen sucht; dem Empathie und Redlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Wissenschaft Fundament seiner Arbeit sind; der Patienten mit Klugheit und Überzeugung durch die Krankheit führt; der die geschmähte, gleichwohl unentbehrliche „Apparatemedizin“ gezielt einsetzt; der die Überweisung eines Patienten nicht unterlässt, weil er befürchtet, er kehre vom „Feindflug“ nicht zurück; der das Rückgrat hat, Pharmavertretern, die ihn zu unseriösen, doch bestens dotierten „Anwendungsstudien“ überreden wollen, die Tür zu weisen; der als Freund an der Seite des Patienten steht und die richtigen Worte findet, wenn ärztliches Können machtlos und der Tod nahe ist. Diese Arztgestalt prägt schon lange nicht mehr das Bild der Medizin. Sie ist, so scheint es, ein Auslaufmodell, das die Medizingeschichte eines Tages als kostbare Mumie ausgraben wird. Sie wird der letzte Vertreter einer Gattung gewesen sein, die auch an dem Unvermögen scheiterte, ihren hohen ethischen Anspruch einzulösen: unbeirrbarer Anwalt und Freund des Kranken zu sein“. Michael De Ridder

106. Deutscher Ärztetag in Köln

21 Anmerkung: Einige Tage später antwortete der hiesige (Berliner) Kammerpräsident Dr. Günther Jonitz in der gleichen Zeitung in der funktionärsüblichen Manier („Moralkeule!“). Aus (potentiell eigener) Patientensicht wünschte man sich bei diesen Leuten – ohne allzu großen Optimismus – eine Spur mehr Bescheidenheit und Selbsterkenntnis!

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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Vorschläge für eine einfachere, bessere Arzthonorierung Krankes Gesundheitswesen: 2 Tabubrüche erforderlich Für eine sinnvolle Regulierung des Gesundheitswesens sind zwei Tabubrüche erforderlich: Erstens muss ein Teil der Ärztegehälter für die Fähigkeit des Arztes gezahlt werden, möglichst häufig NICHT gebraucht zu werden. Zweitens muss ein Anteil der Arzthonorare auf der Basis der subjektiven Zufriedenheit der Patienten vergeben werden. Diese beiden Notwendigkeiten werden im Folgenden begründet. Der wesentliche Systemfehler des sogenannten Gesundheitswesens ist bei allen Reformen der vergangenen Jahrzehnte nicht bedacht worden. Dieser grundlegende Fehler besteht darin, dass die Gesundheit im nach ihr benannten System keinen positiven Wert darstellt. Krankheitssystem müsste es heißen, denn nur durch die Existenz von Krankheiten kann sich das System und mit ihm seine Akteure aufrecht erhalten. Das System läuft nicht etwa dann profitabel für die Gesundheitsarbeiter, wenn möglichst viel Gesundheit produziert wird, sondern bei Vorhandensein von möglichst viel Krankheit. Je mehr Diagnosen oder Verdachtsdiagnosen gestellt werden, desto höher wird der Umsatz. Die Essenz lautet: ohne Krankheit kein Geld. Nun hat man als Laie den Eindruck, es gäbe zwischen Gesundheit und Krankheit klare Unterscheidungen. Dabei ist nicht einmal der Begriff Gesundheit klar definiert. Und ein Großteil der Gesundheitsstörungen, die heutzutage als Krankheiten gehandhabt werden, gehören zu den Befindlichkeitsstörungen, die zum Leben unvermeidlich dazugehören. Diese Zustände bedürfen keinerlei apparativer oder medikamentöser Therapie, sondern alleiniger Information und Beratung. Andere Störungen wie beispielsweise Rückenschmerzen gelten in anderen Regionen und Kulturen überhaupt nicht als Krankheiten. Nun hat aber das Gesundheitswesen in seiner jetzigen Form und insbesondere die ärztlichen Akteure ein klammheimliches Interesse daran, auch leichte Störungen als Krankheiten zu handhaben. Harmlose Muskelverspannungen und Cholesterinerhöhungen werden zu Gründen für regelmäßige Arztbesuche. Bei harmlosen Erkältungskrankheiten werden anstatt Ruhe und Tee diverse mehr oder weniger unwirksame Säfte und Pillen verordnet. Gleichzeitig wird der verhängnisvolle Prozeß der Fixierung in Gang gesetzt: Menschen reagieren auch bei leichten Störungen mit übertriebener Sorge und Angst, verlieren das Vertrauen in ihren Körper und glauben fortan, bei jeder nur erdenk-

lichen Störung des Wohlbefindens ärztliche Hilfe aufsuchen zu müssen. Die übertriebene Sorge um die eigene Gesundheit wird hier selbst zur Krankheit. Im Laufe der Jahre geht die Fähigkeit verloren, unabänderliche Störungen hinzunehmen, mit ihnen zu Leben, anstatt dauernd und chancenlos gegen sie zu kämpfen. Wir vergessen, dass trotz eines noch so erfolgreichen Medizinsystems das Leiden unabänderlich zum Menschsein dazugehört. Durch das erfolgreiche Agieren von Ärzten wird das Leiden allenfalls gelindert und einige Jahre verschoben, aber niemals aufgehoben. Stellen Sie sich einmal einen möglichst „idealen“ Arzt vor, dessen Eigenschaften und Fähigkeiten hier beispielhaft dargestellt werden: Doktor A. ist Allgemeinarzt. Er ist seit vielen Jahren der Hausarzt von Herrn N. und seiner Familie. Im vergangenen Jahr war Herr N. nicht ein einziges Mal bei Dr. A. In den Jahren davor war das anders. Insbesondere vor 8 Jahren, als N. ohne erkennbare Ursache ungewöhnlich lang anhaltende Rückenschmerzen bekam. Dr A. hatte dann sehr schnell die richtige Diagnose einer Bechterew-Erkrankung gestellt. Das war für den heute 25-jährigen und zuvor völlig gesunden N. natürlich ein schwerer Schock gewesen. Die ersten Wochen und Monate nach der Diagnosestellung waren eine seelische Katastrophe. N. hatte den Eindruck, das sei der Anfang vom Ende. Er sah sich schon als bewegungsunfähigen Krüppel mit versteiftem, krummen Rücken im Rollstuhl sitzen. Neben der Unterstützung durch die Familie war der enge Kontakt zum Hausarzt Dr. A. die wesentliche Stütze. Dr. A. hat es verstanden, seinen Patienten nicht nur gut zu führen und an den richtigen Stellen direktiv zu sein, sondern andererseits auch die Fähigkeit gehabt, die Bedürfnisse und Ängste von Herrn N. aufzugreifen und einzubeziehen. Nach einigen Monaten war das Schlimmste überstanden und das Selbstwertgefühl von Herrn N. wiederhergestellt, TROTZ der Notwendigkeit der regelmäßigen physikalischen Therapie. Zwischenzeitlich hat Herr N.

an den entsprechenden Schulungen teilgenommen. Dr. A. hat ihn in all dem gut beraten, anstatt ihm Ratschläge zu erteilen. Nach und nach ist Herrn N. klar geworden, dass er bei den allermeisten kleineren und mittleren Problemen seinen Hausarzt nicht benötigt, sich aber andererseits bei größeren Schwierigkeiten jederzeit auf Dr. A. verlassen kann. Herr N. ist sogar ein wenig stolz darauf, den bestmöglichen Umgang mit seiner Krankheit gelernt zu haben. Er fühlt sich jetzt trotz seiner Krankheit gesund. Im letzten Jahr gab es nur kleinere gesundheitliche Probleme bei Herrn N. Im Frühjahr hatte er sich ziemlich erkältet, etwa zwei Tage mit Fieber und Husten. Mit Hilfe der Vorgaben seines Hausarztes ist es Herrn N. aber innerhalb von drei Tagen gelungen, mit Ruhe und Hausmitteln den Infekt zu bewältigen. Wenn es am vierten Tag nicht besser geworden wäre, hätte N. natürlich Dr. A. angerufen. Das war dann gar nicht nötig gewesen. Jedenfalls vermittelt die Tatsache, Dr. A. als Hausarzt zu haben, sehr viel Ruhe und Sicherheit. Es ist schön zu wissen, dass er da ist, wenn man ihn braucht. Herr N. weiss, dass Dr. A. nicht aus Mücken Elefanten macht. Er mutet seinen Patienten keine unnötigen Termine und Untersuchungen zu. Er freut sich darüber, wenn seine Patienten möglichst selten kommen müssen, weil sie nämlich entweder gesund sind oder mit ihrem Leiden gut zurecht kommen. A. macht keine falschen Versprechungen. Wenn er gebraucht wird, dann ist er voll da, mehr als jeder andere. Man weiss, dass man sich auf ihn verlassen kann. Genaugenommen ist er für seine Patienten auch dann da, wenn er nicht da ist. Warum eigentlich hat Dr. A. an Herrn N. im letzten Jahr keinen einzigen Cent verdient? Dargestellt wurde ein Arzt mit wertvollen menschlichen und fachlichen Qualitäten. Er agiert patientenorientiert und achtet auf möglichst große Autonomie seiner Patienten. Genau dieser Arzt aber wird im bestehenden System unterdurchschnittlich verdie-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 nen. Mehr verdient hätte er, wenn er seinen Patienten in Sorge und Abhängigkeit gehalten hätte und ihn regelmäßig zu Routinekontrollen einbestellt hätte. Stellen Sie sich bitte eine Feuerwehr vor, die nach den Kriterien der sogenannten Leistungsgesellschaft honoriert wird. Es wäre eine Feuerwehr, die durch marktorientierte, neoliberalen Prinzipien reguliert würde anstatt durch die Notwendigkeiten einer gesellschaftlichen Gemeinschaftsaufgabe. Diese „Leistungs“Feuerwehr wird nur dann bezahlt, wenn es brennt. So lange die Feuerwehr keine Leistung erbringt im Sinne des Löschens, gibt es kein Geld. Kein Wunder, wenn sich die Feuerwehrleute alsbald auf die Brände freuen. Vielleicht kommt sogar eine heimliche Kooperation zwischen den Feuerbekämpfern und den Brandstiftern zu stande. Nun gut, bei der Feuerwehr ist für uns alle offensichtlich, dass die Feuerwehrleute auch dann bezahlt werden müssen, wenn keine Brände zu bekämpfen sind. Und selbstverständlich werden für Brände keine Prämien bezahlt. Prämien gibt es allenfalls für besonderes persönliches Engagement im vorbeugenden Brandschutz. Nun sind Krankheiten ungleich häufiger als Brände. Und durch noch so viel Vorbeugung lassen sich die Krankheiten nicht ausrotten, dagegen spricht schon die Sterblichkeit des Menschen. Insofern hinkt der Vergleich von Feuerwehr und Gesundheitssystem etwas. Aber im Prinzip sollte in beiden Fällen gelten: das was vermieden werden soll, darf nicht übermäßig belohnt werden. Wir müssen uns also ein wenig zurücklehnen, das Gesundheitssystem aus einer gewissen Distanz betrachten und überlegen, was wir denn mit diesem System erreichen wollen. Dabei sollte klar sein: in erster Linie muss es dem Patienten dienen. Erst in zweiter Linie ist das Wohl der Gesundheitsarbeiter und speziell das der Ärzte als wesentliches Regulativ im Gesundheitswesen wichtig. Die Bedürfnisse der Industrie sind wichtig und berechtigt, stehen aber erst an dritter Stelle in der Prioritätenliste. Das Gesundheitswesen ist dann gut und effektiv im Sinne der Bedürfnisse der Solidargemeinschaft, wenn es möglichst selten benötigt wird. WENN der Arzt aber gebraucht wird, soll er mit möglichst wenig apparativem und finanziellem Aufwand das medizinisch und menschlich Machbare erreichen. Was Arzt und Patient aber unbedingt brauchen, um im geschilderten Sinne das individuell bestmögliche Ziel zu erreichen, ist ZEIT. Denn Therapie ist zum erheblichen Teil Information und Kommunikation.

Ärztliche Einkommen Es ist also tatsächlich wichtig und richtig, Ärzte dafür zu bezahlen, dass sie sich möglichst häufig überflüssig machen. Hinter dieser Art „Nichtstun“ steckt nämlich nicht nur eine im Sinne der Gemeinschaft gewünschte und für das gesundheitliche Selbstvertrauen der Patienten sinnvolle Passivität, sondern auch die besondere ärztliche Fähigkeit, die Patienten dementsprechend anzuleiten zu mehr Autonomie. In noch einer Hinsicht muss überlegt werden, was das Gesundheitswesen erreichen soll. Neben einer rationalen Medizin auf dem Stand der Wissenschaft soll vor allem erreicht werden, dass die Patienten zufrieden sind, vor allem auch zufrieden mit ihren Ärzten. Wir müssen hier also ein SUBJEKTIVES Kriterium einführen, die Patientenzufriedenheit. Auch das ist eine besondere ärztliche Fähigkeit. Es ist nicht einfach, Menschen in schwierigen Lebenssituationen so zu betreuen und zu beraten, dass ein Gefühl überwiegender Zufriedenheit verbleibt. Es gibt fachlich weniger fähige Ärzte, die dennoch vorwiegend zufriedene Patienten haben, weil diese die medizinische Qualität der Maßnahmen meist nicht beurteilen können. Umgekehrt gibt es viele fachlich hervorragende Ärzte, die mit dem Patientenmanagement nicht zurecht kommen und ständig Ärger mit unzufriedenen Patienten haben. Wir brauchen aber Ärzte, die fachlich UND menschlich gut zurechtkommen. So oder so, die Patientenzufriedenheit ist unabdingbare Voraussetzung für ein gutes und effektives Gesundheitswesen. Daher muss dieses subjektive Kriterium in das Belohnungssystem einbezogen werden. Also muss ein Teil der Ärzteeinkommen von der Zufriedenheit der Patienten gesteuert werden. Nun zusammenfassend Thesen zur aktuellen Situation: 1. Das bisherige und aktuelle Honorierungssystem für Ärzte im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland fördert vorwiegend Quantität statt Qualität ärztlicher Massnahmen. Das gilt insbesondere für diejenigen Arztgruppen, die keiner Budgetierung unterliegen. 2. Durch das Honorierungssystem werden mittelmäßige Ärzte im Verhältnis besser bezahlt als Ärzte mit besonderen patientenorientierten Fähigkeiten. 3. Das Honorierungssystem hat auf ärztliche Entscheidungen weit größeren Einfluss als üblicherweise angenommen wird. 4. Bedingt durch das Honorierungssystem entsprechen die Interessen der Ärzte in weiten Teilen nicht den Interessen der Patienten.

23 5. Es müsste möglich sein, durch Verbesserung des Honorierungssystems die Interessen der Patienten denen der Ärzte ähnlicher zu machen. 6. In das bisherige Honorierungssystem sind in den letzten Jahren Regulative zur Begrenzung der Quantität ärztlicher Massnahmen eingebaut worden. Das wesentliche Regulativ dabei ist die Bestrafung in Form von Regress bei Überziehung vorgegebener Grenzen. 7. Das Regulativ Bestrafung sollte durch das Regulativ Belohnung ergänzt werden, damit ein Anreiz entsteht, auf nicht erforderliche oder fragwürdige Massnahmen zu verzichten und mit weniger Aufwand und weniger Patientenbelastung das gleiche Ziel zu erreichen. 8. Ungenügend reflektiertes MACHEN hat weit mehr schädliche Wirkungen beim Patienten, als bisher angenommen. Besonders bedeutsam sind iatrogene Fixierungen und ungünstige Beeinflussung des ‘Copings’ (Bewältigungsmechanismen) der Patienten. Die Ärzteschaft muss sich wieder auf den weisen Grundsatz „Primum Nil Nocere“ („Vor allem nicht schaden“) besinnen. 9. Belohnung wäre dann angebracht, wenn mögliche, aber nicht sinnvolle oder fragwürdige ärztliche Maßnahmen im Einzelfall begründet und in Absprache mit dem Patienten geLASSEN werden. 10.Das nach gründlicher Abwägung gut begründete LASSEN von Maßnahmen zum Wohle des Patienten ist nicht eine Form von Nichtstun, sondern ganz im Gegenteil eine der schwierigsten, wichtigsten und verantwortungsvollsten ärztlichen Tätigkeiten. 11.Ein verbessertes Honorierungssystem sollte den Prozess des ärztlichen Abwägens von Nutzen und Schaden von Massnahmen fördern, anstatt die Tendenz zum nicht ausreichend reflektierten MACHEN vorzugeben. Daher sollte nicht nur einseitig das MACHEN finanziell belohnt werden, sondern auch das im Einzelfall begründete LASSEN. 12.Die Ärzteschaft sollte zusammen mit Patienten in einer gemeinsamen Anstrengung den Versuch unternehmen, ein in diesem Sinne verbessertes Honorierungssystem zu entwickeln, um die Qualität der medizinischen Versorgung und die Zukunft des Gesundheitswesens zu sichern. 13.Auch die seit 1997 bestehende Budgetierung für einen Teil der Ärzte ergibt keine prinzipiellen Verbesserungen, weil auch weiterhin jeder Arzt versuchen wird, das ihm zuste-

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hende Limit zu möglichst 100% aus- Arzt“ angeben. Von dieser Befragung erfährt der Arzt nur die Antworten, zuschöpfen. nicht aber die Namen der Patienten. Nun einkonkreter Vorschlag, wie eine Die Patienten können also anonym jegeänderte Gebührenordnung für Ärz- des Jahr einmal den Arzt ihres Vertrauens angeben, egal ob sie ihn aufte aussehen könnte: suchen mussten oder nicht, und unabZiffer 1. Arzt-Honorar, Anteil 1: hängig davon, ob auch andere Ärzte Für jeden Patienten, der im entsprekonsultiert wurden. Dabei werden die chenden Quartal in Behandlung Patienten gleichzeitig befragt, ob sie kommt, erhält der Arzt eine Quartalsmit dem Arzt ihres Vertrauens im pauschale. Diese Pauschale ist bei vergangenen Jahr entweder „zufrieRentnern höher als bei den übrigen den“ oder „sehr zufrieden“ waren. Versicherten. (schlechtere Bewertungen erübrigen Zur Abrechnung dieser Quartalssich, da es sich bei dem genannten um pauschale trägt der Arzt in seine Abden Arzt des Vertrauens handelt). rechnungsunterlagen die Ziffer 1 ein. Die Antworten registriert die KasZusätzlich wird am Quartalsende senärztliche Vereinigung unter der Zifdie Ziffer 1 durch den Buchstaben A, fer 3: Dabei bedeutet: 3Z = zufrieden B oder C ergänzt. Dabei bedeutet A = mit dem Arzt, 3S = sehr zufrieden mit leichter Fall (nur Ausstellung von Verdem Arzt. Dabei wird 3S etwas höher ordnungen, leichte Krankheit mit vohonoriert als 3Z. rübergehender BehandlungsbedürfDer sich hieraus ergebende Honotigkeit), B = mittelschwerer Fall und C raranteil wird in 4 gleichen Teilen im = schwerer Fall (komplexes KrankFolgejahr ausbezahlt. heitsbild und/oder zeitaufwändige BeAuch für die Stammpatienten-Kopfhandlung). pauschale gilt eine Degression oberOberhalb einer bestimmten Pahalb einer bestimmten Patientenzahl. tientenzahl verhält sich die QuartalsHinweis: hier wird also tatsächlich pauschale degressiv, so dass dann die Honorar gezahlt OHNE aktuelle LeisPauschale nach und nach geringer tung. Aus den geschilderten Gründen wird. ist dies im Sinne der Zielvorgaben sinnvoll. Außerdem stellt dieses scheinbar Ziffer 2. Arzt-Honorar, Anteil 2: Als zweiten Teil seines Honorars erhält leistungslose Honorar einen gewissen der Arzt eine Zeitpauschale (Minuten- Ausgleich dar für die etwa 50 Stunden unbezahlten Bereitschaftsdienst, den lohn) für den Patientenkontakt. Oberhalb eines täglichen Patienten- jeder Hausarzt jede Woche für seine kontaktes von über 6 h verhält sich Patienten ableistet. die Zeitpauschale degressiv. Ziffer 4: Nur zur Dokumentation Die Zeitpauschale für reine Geund Plausibilitätsprüfung: sprächsinterventionen ist höher als für Die Ziffer 4 wird jedesmal vergeben, sonstige ärztliche Tätigkeiten. wenn Praxisanwesenheit des PatienDie Zeitpauschale für telefonischen ten ohne Arztkontakt besteht (ImpPatientenkontakt ist niedriger als die fungen, Verordnungen, Anwendungen beiden anderen Zeitpauschalen. …). Diese Ziffer wird nicht in Honorar Für die Abrechnung wird die Zeitumgesetzt, sondern dient zur Dokupauschale mit der Ziffer 2 notiert und mentation des Praxisalltages und des der Zeitraum des Patientenkontaktes Arbeitsaufwandes für den jeweilen angegeben. Dabei bedeutet: 2 A = Patient. Arztkontakt allgemein, 2 G = Gesprächsintervention mit diagnosti- Ziffer 5: Kostenerstattungen für bescher und/oder therapeutischer Ziel- sondere Aufwändungen: Gilt beispielsweise für Fahrtkosten bei setzung, Dauer mind. 5 min) Die Honorierung der Zeitpauscha- Hausbesuchen: 5F ( = Fahrtkostenerstatlen ist bei Dauer von über 15 min de- tung). Kann auch für andere finanzielle Erstattungen verwendet werden. gressiv. Die Patienten erhalten eine ZeitIm Praxisalltag müssten also nur noch Quittung für den Arztkontakt. Beispiel: 2G(10.30-10.45) bedeu- fünf Ziffern dokumentiert werden. Autet: Patient war 15min zum Ärztlichen ßer diesen fünf Ziffern werden nur die Diagnosen an Krankenkassen bzw. Gespräch da. Kassenärztliche Vereinigungen übermittelt. Die bisherige aufwändige, Ziffer 3. Arzt-Honorar, Anteil 3: Als dritten Teil seines Honorars erhält komplizierte und kontraproduktive der Arzt eine Stammpatienten-Kopf- Einzelleistungsdokumentation entfällt. Immense Kapazitäten sowohl bei pauschale. Dieses Honorar ergibt sich aus der Arzthelferinnen als auch bei den MitarZahl der Patienten, die den Arzt bei beitern der Kassenärztlichen Vereinider Kassenärztlichen Vereinigung gungen und der Krankenkassen wer(oder Krankenkasse) im Rahmen einer den frei. Kassenärztliche Vereiniguneinmal jährlichen Befragung als „ihren gen und/oder Krankenkassen müssen

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 allerdings die einmal jährliche Patientenbefragung durchführen. Noch eine Ergänzung: Neuer rechtlicher Rahmen: Der Arzt kann AUCH DANN rechtlich verstärkt belangt werden, wenn er ZUVIELE diagnostische und therapeutische Maßnahmen durchführt oder veranlaßt. Die neue rechtliche Regelung bezieht neben den somatischen Nebenwirkungen diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen auch die bisher vernachlässigten „weichen“ Nebenwirkungen mit ein. Dazu gehören vor allem psychische Schäden durch überzogene ärztliche Maßnahmen. Das sind beispielsweise vermeidbare Minderungen der Autonomie des Patienten, Störungen der Coping-Fähigkeit und Entstehung von iatrogenen Fixierungen. Die Bestimmung könnte etwa so aussehen: Diagnostik ist nur dann indiziert, wenn eine dem Patienten dienliche therapeutische Konsequenz zu erwarten ist. Wenn die Wahrscheinlichkeit einer noch nicht abgeklärten und nicht vital bedrohlichen Diagnosemöglichkeit ein gewisses Maß UNTERSCHREITET, hat die ABWARTENDE VERLAUFSKONTROLLE Vorrang vor weiterer Diagnostik. Das sind die Rahmenbedingungen. Wie schlagen sich diese im Kopf des Arztes nieder? • Der Arzt wird bestrebt sein, möglichst viele Patienten pro Quartal zu betreuen, um die Kopfpauschalen zu bekommen. Aber nicht wesentlich über ein bestimmtes Maß hinaus, weil sich dann die Arbeit wegen der Degression der Kopfpauschale nicht mehr lohnt. Außerdem würde die Qualität der Tätigkeit leiden, was sich in der Zahl der Stammpatienten am Jahresende und damit im dritten Teil des Honorars niederschlagen könnte. • Um auch die Zeitpauschale auszuschöpfen, wird er vernünftigerweise etwa 6 h reinen Patientenkontakt am Tag organisieren. Aber nicht wesentlich darüber hinaus, weil dann die Degression der Zeitpauschale greift. Seine tatsächliche Arbeitszeit wird dann etwa 8–10 h am Tag betragen. Nebenbei könnte er in Sachen Gesundheit zum Vorbild werden, weil er sich jeden Tag Ruhephasen gönnt. • Er wird im Tagesablauf besonderen Wert auf Gesprächsführung legen, weil er dafür einen höheren Stundenlohn erhält. Das nützt ihm aber nur etwas, wenn die Gespräche so verlaufen, daß sie weitere, unnötige oder gar schädliche medikamentö-

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se/apparative Maßnahmen vermeiden helfen. Wenn Letztere nach einem ineffektiven oder unqualifizierten Gespräch trotzdem noch erforderlich sind, wirkt sich das ungünstig auf das Zeitmanagement und damit auf das Honorar aus. Er wird Interesse an Fortbildungsmaßnahmen zur Gesprächsführung/ „kleine Psychotherapie“ entwickeln, weil ihm das einen tendenziell höheres Honorar beschert. Diese Fähigkeiten werden es ihm ermöglichen, auf unnötige ineffektive oder gar schädliche Maßnahmen zu verzichten. Dennoch wird das Interesse unverändert bestehen bleiben, sinnvolle und notwendige Maßnahmen durchzuführen bzw. anzuordnen, denn das Rechtssystem wird auch weiterhin die Unterlassung klar indizierter Maßnahmen verlangen. In diesem neuen System wird allerdings nicht Aktionismus zu ärztlichen Maßnahmen führen, sondern vorhergegangenes gründliches Abwägen. Maßnahmen ohne klare Indikation wird er allein schon deswegen lieber nicht durchführen, weil im bewußt ist, daß neben den „harten“ Nebenwirkungen auch „weiche“ Nebenwirkungen zu Sanktionen führen können. Der Arzt wird sich in seinen Entscheidungsprozessen möglicherweise sogar freier fühlen, weil er nicht andauernd aus ökonomischen Gründen oder wegen rechtlicher Befürchtungen eigentlich sinnlose und zum Teil schädliche Maßnahmen ergreifen muß. Er kann sich wieder auf eine der wesentlichsten ärztlichen Tätigkeiten konzentrieren, nämlich das patientenorientierte Abwägen. Er wird Interesse daran haben, seine Patienten spüren zu lassen, wie wichtig ihm Gesundheit und Patientenautonomie sind. Denn er hat auch Interesse an Patienten, die NICHT jedes Quartal zur Konsultation kommen müssen. Endlich nützen ihm gesunde oder erfolgreich wiedergesundete Patienten auch wirtschaftlich. Am Jahresende wird er mit der Stammpatienten-Kopfpauschale belohnt für die Patienten, die ihn als „ihren Arzt“ benannt haben, Zeichen des Vertrauens. Gleichzeitig wird er erfahren, wieviele Stammpatienten er eigentlich hat und ob sie mit ihm zufrieden oder sehr zufrieden sind.

Ärztliche Einkommen Für die Patienten könnte dies bedeuten: Belohnt wird derjenige Arzt, 1. der seine Tätigkeit so ausübt, daß er möglichst selten gebraucht wird: Patientenautonomie vor Abhängigkeit. 2. der dann, wenn er gebraucht wird, mit vollem Einsatz alle evidenzbasierten medizinischen Maßnahmen ergreifen kann und alles notwendige für seinen Patienten tun kann. 3. der seine patientenorientierten Ziele mit möglichst wenig Belastungen für den Patienten, möglichst wenig eingreifenden Maßnahmen, möglichst wenig Medikamenten und Eingriffen und mit möglichst wenig Zeitaufwand erreicht. 4. der bei jeder seiner Entscheidungen jederzeit den obersten Grundsatz beherzigt: Vor allem nicht schaden! 5. der also ALLE Arten von Nebenwirkungen medizinischen Handelns in seine Abwägungen mit einbezieht, neben den „harten“ somatischen Nebenwirkungen also auch die „weichen“ psychischen Nebenwirkungen wie Iatrogene Fixierungen oder Störung der Coping-Fähigkeit des Patienten, die die Autonomie des Patienten so empfindlich stören können.

25 nen Teil aus. Zum anderen ist kaum zu erwarten, dass sich eine überdurchschnittlich große Anzahl von Gesunden gerade einer Praxis vertrauensvoll zuordnet, wo sonst kaum Kranke hingehen. Eines sollte uns bei all dem klar sein: Die nationale und globale Gemeinschaftsaufgabe Gesundheit lässt sich nicht allein mit marktwirtschaftlichen Mitteln regeln. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes macht im Gesundheitswesen das, was sie überall macht: sie vergrößert die Kluft zwischen arm und reich und damit auch zwischen guter und schlechter gesundheitlicher Versorgung. Im „liberalisierten“ Gesundheitswesen steht der Unterversorgung der Armen die (auch nicht ungefährliche) Überversorgung der Reichen gegenüber. Für eine gerechte Gesundheitsversorgung ist ein solidarisches Gesundheitssystem unabdingbar. Das solidarische Gesundheitssystem beinhaltet eine NOTWENDIGE und GEWOLLTE Umverteilung von reich zu arm und von gesund zu krank. Denn für Gesundheit oder Krankheit kann man sich nicht entscheiden wie ein mündiger Bürger für ein neues Auto oder ein Urlaubsziel. Gesundheit ist keine Ware. Wilfried Deiß

Das ist ein Vorschlag für ein radikal vereinfachtes ärztliches Honorierungssystem, in dem endlich der Zwang entfallen kann, ständig viel machen zu müssen, und in dem sich der Arzt endlich freuen kann, wenn keine Diagnose gestellt werden muss und keine weiteren Untersuchungen erforderlich sind. Und der Arzt wird auch für diejenigen seiner Patienten belohnt, die ihn nicht ständig brauchen. Durch das Streben nach mehr Gesundheit darf die VITALITÄT der Menschen nicht zerstört werden. Gesundsein besteht oft gerade darin, NICHT an Gesundheit denken zu müssen. Gerade deshalb ist es so entscheidend, dass sich Ärzte nicht wichtiger machen, als sie sowieso sind. Geklärt und berechnet werden muss noch, wie die einzelnen der drei Honoraranteile zueinander gewichtet werden muss. Richtlinie könnte sein, dass Ziffer 2 etwa die Hälfte und Ziffer 1 und 3 jeweils um 25% des Honorars ausmachen könnten. Dieser Vorschlag gilt zunächst nur für den Hausärztlichen Bereich, ist aber wahrscheinlich im Grundsatz und unter geschickter Anwendung der Ziffer 5 auch auf den Fachärztlichen Bereich anwendbar. Das Gegenargument, das Konzept würde eine Selektion von gesunden Patienten fördern, ist nicht stichhaltig. Zum einen macht das scheinbar leistungslose Honorar der Ärzte nur ei-

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In diesem Geschäft ist nichts heilig Interview mit Winfried Beck zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie Zuerst erschienen in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr.2/2003 und Nr.3/2003, Offenbach) An Hysterie grenzt die Art und Weise, wie die Debatte um die Gesundheitsreform im Moment in der Öffentlichkeit geführt wird. Permanent „explodieren die Kosten“, „bricht das System zusammen“, ist „die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet“, wenn nicht bald etwas passiert … Wieder ist eine Expertenkommission eingerichtet worden, die unter Anleitung von Herrn Rürup nun jede Woche eine neue Sau durch’s Dorf treibt, um zu testen, was sich die Bevölkerung gefallen lassen würde: Sei es die Ausgliederung der Zahnbehandlung aus der gesetzlichen Krankenkasse oder die Abschaffung der Familienmitversicherung, sei es die Aufspaltung des Leistungskatalogs oder die Ausgliederung privater Unfälle aus der GKV … Um die Lohnnebenkosten nicht weiter durch steigende Beitragssätze zu belasten, so das vorherrschende Argument, wird es zu einer Individualisierung des Kostenrisikos bei Krankheit kommen. Was die wirklichen Probleme und ihre Ursachen sind, wird dabei überhaupt nicht diskutiert. In der Auseinandersetzung finden wir nur den Austausch von Mythen, propagandistischen Verkürzungen und vermeintlichen Evidenzen. Um in dieser maximal unterkomplex geführten öffentlichen Debatte ein Licht der Aufklärung anzuzünden, haben wir Winfried Beck, den Vorsitzenden des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte nach den Problemen im Gesundheitswesen gefragt. Da sich die Reform-Vorschläge von Woche zu Woche ändern und man der Aktualität sowieso nur hinterherhecheln könnte, haben wir dabei über die grundlegenden Probleme, Fragen und Perspektiven gesprochen, ohne auf einzelne Vorschläge einzugehen. Mit Winfried Beck sprachen Nadja Das ist ja im Übrigen jetzt auch ein Rakowitz und Rolf Schmucker. Vorschlag von Frau Schmidt – und sofort kommt der Protest von FachärzWas sind Deiner Einschätzung nach die ten und Allgemeinärzten. Diese Kluft zentralen Probleme des deutschen Ge- ist typisch interessegesteuert durch sundheitswesens? die Ärzteschaft und existiert in andeWinfried Beck: Da muss man zwei ren Ländern nicht. Seiten unterscheiden: Wie ist zum eiZweitens haben wir im niedergelasnen die finanzielle Ausstattung des senen Bereich, also in der ambulanten Gesundheitswesens, und wie ist zum Medizin, Fachärzte. Das gibt es nur anderen das Gesundheitswesen struk- ganz selten auf der Welt. Sonst sind turell aufgebaut, wo sind die struktu- die alle an den Krankenhäusern. Dort rellen Mängel? sagt man: Die ambulante Medizin Fangen wir mit dem Letzteren an. wird von gut ausgebildeten AllgeUnser Gesundheitswesen ist nicht sys- meinmedizinern gemacht, die dann, tematisch geplant oder gestaltet wor- wenn es kompliziert wird, an Fachärzden, sondern Ergebnis von Lobbyisten- te in Krankenhäusern überweisen, arbeit und da insbesondere von der weil sie ja auch eine RiesenausstatÄrzteschaft. Wir haben Eigenarten in tung brauchen. Das ist in England so, Deutschland: Wir haben erstens eine in Holland etc. tiefe Kluft zwischen stationärer und Auch das ist in Deutschland wieder ambulanter Versorgung, die fast un- interessegesteuert durch die Fachärzüberwindlich ist. Es gibt deswegen vie- te. Sie sagen: Wir haben eine Praxis le Doppeluntersuchungen. Das liegt als „Einzelkämpfer“, Kleinunternehdaran, dass es die niedergelassenen mer und können dort ordentlich verÄrzte über ihre Kassenärztliche Ver- dienen – mehr als ein angestellter einigung geschafft haben, sozusagen Arzt im Krankenhaus. Dadurch haben das wichtigere Element in der Ge- wir natürlich eine doppelte Vorhalsundheitsversorgung darzustellen – im tung von Facharztwissen: ambulant Gegensatz zu den stationären Ärz- und stationär. Ein ziemlicher Luxus, ten. Sie dominieren das Ganze und se- das muss man einfach so sagen. Auf hen in der stationären Versorgung der anderen Seite ist das natürlich aneine Konkurrenz. Das heißt, wenn die genehm für die Patienten. Bei UmfraKluft weg wäre, wenn die Kranken- gen kommt immer wieder heraus, häuser sich öffnen würden für ambu- dass es als sehr angenehm empfunlante Versorgung, gäbe es weniger zu den wird, einfach zum Augen- und tun für die niedergelassenen Ärzte. zum Ohrenarzt etc. gehen zu können.

Das ist ja auch nachvollziehbar. Die Frage ist aber: Muss das sein? Gibt es da nicht auch Nachteile? Nämlich dass man z.B. – weil man keine Ahnung hat – zum Falschen geht, der dann erst mal alles macht. Nehmen wir das Beispiel Rückenschmerzen: Ein Patient mit Rückenschmerzen geht zunächst zum Orthopäden – ich bin ja Orthopäde. Der macht alles und stellt am Schluss fest: Ich finde nichts. Dann schickt er ihn zum Urologen. Der Urologe macht alles, findet nichts. Er schickt ihn zum Internisten, der macht auch alles, findet aber auch nichts. Was ist es nachher? Eine psychosomatische Krankheit. Wäre der Patient vielleicht gleich zu einem hochqualifizierten und – das ist natürlich die Voraussetzung – gut ausgebildeten Allgemeinmediziner gegangen, hätte dieser das erkannt. Er hätte Kosten gespart und dem Menschen vor allen Dingen geholfen. Ist es tatsächlich so, dass die meisten Leute direkt den Facharzt aufsuchen, oder ist es nicht so, dass viele zuerst zu ihrem Hausarzt gehen? Winfried Beck: Die Mehrheit geht direkt zum Facharzt. Das ist aber abhängig vom Bildungsstand und vom Einkommensniveau. Je höher das Einkommen und je höher die Bildung, umso mehr wird der Facharzt aufgesucht. Alles, was wir hier reden, gilt natürlich nur für GKV-Versicherte. Zurück zu den Eigenarten. Auch im Krankenhaus haben wir Strukturen, die es woanders nicht gibt: die Hierarchie von Chefarzt, Oberarzt, Assistenzarzt. Muss es die geben? Wer hat daran Interesse gehabt? Auch wieder die leitenden Ärzte. Nur die dürfen privat liquidieren, private Sprechstunde haben, all diese ganzen Geschichten. Diese Hierarchie ist natürlich qualitätsfeindlich – wie jede Hierarchie. Also hier hat es die Ärzteschaft hingekriegt, ein Gesundheitswesen nach ihrem Gusto zu gestalten. Und das ist etwa seit der Gründung des Hartmannbundes so, einer Kampforganisation der Ärzte gegen die Krankenkassen, also etwa seit 1900. Da haben die Ärzte gesagt: Wir können nur gewinnen, indem wir uns als Monopol verstehen gegenüber den zersplitterten Krankenkassen – vorher war es umgekehrt –, also brauchen wir einen Verband und treten geschlossen auf. Der Hauptknaller kam dann natürlich in der Nazizeit, als ihnen die reichsweite Kassenärztliche

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Vereinigung gegeben wurde – ein großer Wunsch der Ärzteschaft. Sie wurde zwar kurz nach dem Krieg mal aufgelöst, aber de facto ist dieses Monopol seit dieser Zeit vorhanden. Erst jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Bedingungen haben sich so geändert, dass der Streit untereinander ausgebrochen ist. Aber darauf kommen wir später … Wenn man also das Gesundheitswesen gestalten will, muss man logischerweise diejenigen, die es bisher gestaltet haben, schwächen. Man muss also ran an den Speck! Es geht nicht anders. Und in der Situation befinden wir uns jetzt. Es gehört noch zur strukturellen Seite des Gesundheitssystems dazu, dass auf der anderen Seite, nämlich der Seite der Kostenträger, Zersplitterung herrschte und auch immer noch herrscht, nicht ein Monopol. Es gibt immer noch über 300 Krankenkassen – früher waren es mal mehrere tausend –, deren Verbände getrennt voneinander mit der Ärzteschaft verhandeln. Das ist also eine Schwächung auf dieser Seite. Ein weiteres strukturelles Problem ist, dass die Krankenkassen ihre Mitglieder schon lange nicht mehr im ursprünglichen „basisdemokratischen“ Sinn repräsentieren. Es gibt ja keine richtigen Wahlen. Das ist im Grunde mehr eine Verwaltung, eine Verwaltung von Geld mit dem Interesse, nicht mehr auszugeben, als rein gekommen ist. Ursprünglich waren die Krankenkassen etwas anderes. Das waren die Vertretungen ihrer Mitglieder, eine Art Selbsthilfegruppen, um sich im Gesundheitswesen zurecht zu finden. Das ist inzwischen auch ein struktureller Mangel. Können wir in diesem Zusammenhang auf den Wettbewerb eingehen, der mittlerweile unter den Krankenkassen eingeführt wurde. Das hat da ja inzwischen auch noch mal Veränderungen gebracht … Winfried Beck: Der Wettbewerb hat bislang hauptsächlich um die Prämien stattgefunden und nur bedingt um die Leistungen. Und solange es nur um Prämien geht, ist die Kasse am besten, die am billigsten ist. Einen anderen Wettbewerb gibt es nicht. Wie kann eine Kasse billig sein? Indem sie nur gesunde Mitglieder hat, dann muss sie nichts ausgeben. Also wirbt sie um Gesunde und verdrängt möglichst Kranke: Oder, wie jetzt die TKK sagt: Die Gesunden sparen Geld, weil sie nicht zum Arzt gehen; damit kann man die Prämien senken. Es ist allerdings noch die Frage, ob das längerfristig geht. Das wäre natürlich alles ganz anders, wenn es eine Konkurrenz um Leistung gäbe. Dann wird es kriminell. Das muss verhindert werden, weil das ruinös wird.

Ärztliche Einkommen Wir hatten vorhin als zweites großes Problem die Einnahmeseite der GKV gesehen … Winfried Beck: Ja. Es ist so, dass die Finanzierung gekoppelt ist an die Lohnsummenentwicklung, also an die Löhne und Einkommen der abhängig Beschäftigten. Das ist so lange in Ordnung, so lange das einigermaßen stabil ist oder solange diese Methode tatsächlich parallel läuft zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, zur allgemeinen ökonomischen Entwicklung einer Gesellschaft. Das bricht dann zusammen, wenn die Lohnsummen relativ sinken im Vergleich zu den Einnahmen durch Kapital, Vermögen usw. Und diese Situation haben wir jetzt schon seit einer ganzen Weile. Hauptgrund dafür ist die Arbeitslosigkeit, aber nicht nur. Auch die gestiegene Produktivität ist ein Grund, denn es wird ja nicht nach Produktivität in die Krankenkasse eingezahlt, sondern nach Lohn. Also ist die sinkende Lohnquote der entscheidende Punkt. Und wenn das so ist, bricht auf einmal das Geld weg, obwohl die Kosten nicht sinken. Sie steigen natürlich tendenziell – wegen des medizinischen Fortschritts, wegen der demographischen Entwicklung, weil die Menschen länger leben. Letzteres wirkt aber auf die Kassen nicht so stark, wie häufig vermutet wird. Und die Kosten steigen wegen des Anspruchsdenkens – aber nicht der Patienten, sondern der Anbieter. Also weil immer mehr gemacht wird, als eigentlich nötig ist. Das ist wiederum auch ein strukturelles Problem, das mit der Art der Honorierung zusammenhängt. Mit der Einzelleistungsvergütung bei den Niedergelassenen – also für jeden Handgriff Geld (früher war es noch schlimmer, heute gibt es ein paar Komplexgebühren) – kann man natürlich mehr Geld verdienen, weil man es einfach selbst steuern kann. Ich kann viel machen; ob der Patient oder die Patientin das braucht, ist eine andere Frage. Die Tatsache, dass die niedergelassenen Ärzte Privatunternehmer sind, führt notwendigerweise zu einer Verbetriebswirtschaftlichung des Denkens – das ist ganz klar. Jeder niedergelassene Arzt hat Computerprogramme, die z.B. bei der Diagnose Rückenschmerz sagen, was er alles machen kann. Und wenn ich ein guter Unternehmer bin – ist gleich: schlechter Arzt –, dann mache ich das alles. Dann handle ich ökonomisch richtig, also betriebswirtschaftlich richtig, volkswirtschaftlich schädlich – und was den Patienten, den Menschen angeht, katastrophal. Aber der materielle Anreiz zum Handeln ist genau so gelenkt. Deswegen sind die ökonomischen Verlierer die, die sich ärztlich verhalten oder in Gegenden ihre Pra-

27 xis haben, wo der Beratungsbedarf hoch ist und Technik nicht so nachgefragt wird und – natürlich – wo zur Kompensation dessen wenig Privatpatienten sind. Aber alles das ist nicht Zufall. Die Ärzteschaft hat es in der Hand gehabt, ob es so oder anders ist. Die Ärzte haben die Gebührenordnung gemacht, sie haben die Verhandlungen geführt. Nun steckst ja auch Du als kritischer, linker Arzt in diesen objektiven Zwängen. Auch Du musst von etwas leben … Du hast diese Rolle des privaten Unternehmers erst mal nicht freiwillig gewählt, wenn Du niedergelassener Arzt werden wolltest. Winfried Beck: Nein, die ambulante Versorgung kannst Du in Deutschland nur als privater Unternehmer machen – bis auf die Anstellung in Polikliniken, was derzeit aber nicht vergleichbar ist. Und es ist auch überhaupt keine Frage, dass ich im Laufe der 26 Jahre, in denen ich das gemacht habe, faule Kompromisse gemacht habe, dass mir irgendwann auch dieses Denken ein paar Sachen kaputt gemacht hat. Und es wäre viel schlimmer, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, zu reflektieren in politischen Gruppierungen usw. Wer das aber nicht hat, der wird deformiert mit der Zeit. Das ist überhaupt keine Frage. Eine andere wichtige Rolle – darauf hast Du ja schon oft aufmerksam gemacht – spielt die Pharmaindustrie. Du hast schon mehrfach beschrieben, wie Krankheiten, „Volkskrankheiten“, förmlich erfunden werden, z. B. Osteoporose. Ein britischer Pharmakonzern hat jetzt die sexuelle Funktionsstörung der Frau als Krankheit entdeckt und ein Medikament entwickelt dagegen, sozusagen Viagra für Frauen. Inwiefern beeinflusst hier die Pharmaindustrie auch das Verhalten der Ärzte? Winfried Beck: Man muss vielleicht vorher noch zur finanziellen Seite etwas sagen. Eigentlich müssten die Ärzte interessiert sein an hohen Lohnabschlüssen; sie müssten – objektiv gesehen – daran interessiert sein, ja auch bei Streiks für höhere Löhne etc. mitmachen, sich vorne dran stellen und sagen: Jawohl, wir brauchen für die Metallarbeiter eine Lohnerhöhung, die saftig ist. Denn das ist eigentlich das Einkommen der Ärzte. Irrerweise ist es umgekehrt. Sie identifizieren sich eher mit der Pharmaindustrie oder überhaupt mit der Industrie, mit den Arbeitgebern, obwohl das objektiv falsch ist für sie. Die Ärzte sind eben selbst Unternehmer. Da scheint doch das Sein das Bewusstsein zu bestimmen … Winfried Beck: Ja, aber das ist dann etwas Ideologisches, nichts objek-

28 tiv Rationales. Es ist ein: Wohin-gehören-wollen. Das sind die so genannten Zwischenschichten, die auch bei revolutionären Umwälzungen immer hochgefährdet sind. In der Nazizeit wurden sie Faschisten; das hätten sie ja nicht werden müssen. Es gab auch andere. Bei uns haben sie sich – meine ich – ziemlich festgelegt in der Mehrheit. Das kommt unter anderem daher, dass die Industrie – und zwar die medizinische Geräte- und die Pharmaindustrie – sie von morgens bis abends und von der Wiege bis zur Bahre bearbeitet – ideologisch und ökonomisch. Das geht auf verschiedenen Schienen vor sich. Zum einen schicken sie die Arzneimittelvertreter, die so genannten „Wissenschaftlichen Außendienstmitarbeiter“, die eine Unmenge Geld kosten und die nichts anderes machen, als ein gutes Geschäftsklima erzeugen zwischen Arzt und Industrie. Da wird dann mit diesem vereinzelten isolierten Arzt gesprochen über Kollegen, über den Urlaub, eine nette Atmosphäre geschaffen. Das brauchen die auch, weil sie ja alle kurz vor dem Burn-out stehen und mit niemand anderem reden als mit „Kundschaft“ sozusagen. Und wenn dann mal so ein netter Pharmavertreter kommt, wird nebenbei erzählt, was es Neues gibt, und es werden ein paar Proben dagelassen. Das sind praktisch immer Medikamente, die es schon gibt oder die unnötig sind. Antibiotika oder andere hochwirksame Arzneimittel werden nicht dagelassen, weil sie zu teuer sind oder weil es sich nicht um Innovationen handelt. Das ist der eine Einfluss. Der zweite ist: Sie machen „Fortbildungsveranstaltungen“ – das ist ja bekannt –, in denen ebenfalls eine nette Atmosphäre hergestellt wird. Inzwischen wurde das ein bisschen eingeschränkt. Früher war es noch krimineller. Heute dürfen sie keine unmittelbare Verbindung mehr herstellen zwischen ihren Produkten und dem Vortrag. Aber es gibt da natürlich einen Stand und ein Büfett, und dann kann man Sachen mit nach Hause nehmen. Da gehen viele Ärzte hin. Zumindest gehen sie da mehr hin als zu nicht-gesponserten Veranstaltungen, die es ja auch gibt, z.B. von den Kammern. Kann man einschätzen, welchen Umfang diese Veranstaltungen von der Pharmaindustrie einnehmen? Winfried Beck: 80 Prozent würde ich sagen. Die anderen sind auch teuer, denn die muss man selbst bezahlen. Das kommt dazu. Aber meiner Einschätzung nach ist der wesentlichste Einfluss der über die Fachpresse und zwar nicht über die Reklamen darin – das auch, das ist dann wie überall: Reklame wirkt. Klar –, sondern der Einfluss auf den redaktionel-

Ärztliche Einkommen len Teil. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass die Ärzte meinen, sich gut fortzubilden, wenn sie das lesen. Das suggeriert erstens, dass Medikamente unheimlich wichtig sind – und zwar viel wichtiger, als sie in Wirklichkeit sind. Es muss dort bei jeder Krankheit immer irgendein Medikament im Spiel sein, sonst stimmt da etwas nicht. Dazu kommt, dass die meiste Forschung über Arzneimittel und ihre Wirkungen stattfindet – und nicht über Ursachen von Krankheiten oder Prävention –, weil das gesponsert wird. Das ist das eine und das andere, das noch Gefährlichere ist, dass die Pharmaindustrie bereits in der Lage ist – ich denke noch nicht länger als zehn Jahre – sozusagen Krankheitsbilder selbst zu definieren. Ihr Interesse ist dabei natürlich, dass es Krankheiten gibt, die massenhaft auftreten und die medikamentös zu behandeln sind. Jetzt kann man sagen: Klar sollte man massenhaft auftretende Krankheiten behandeln, was soll man dagegen sagen? Problematisch wird es aber, wenn Krankheiten erfunden werden. Wenn kleine Störungen im Funktionieren des Organismus zur Krankheit gemacht werden, die man behandeln muss. Das berühmteste Beispiel sind die Wechseljahre und die Beschwerden mit den Hormonen: Jetzt hat eine große Studie gezeigt, dass die Frauen öfter an der Therapie gestorben sind als an den Beschwerden. Das wurde jahrzehntelang verdrängt. Oder ein anderes Beispiel: die Osteoporose. Die Pharmaindustrie hat nicht nur die Ärzte, sondern auch WHO-Gremien bei der Definition der Osteoporose beeinflusst. Also bei der Beantwortung der Fragen: Ist Osteoporose eine Erkrankung mit oder ohne Brüche, wieviel Knochendichte ist noch normal und wieviel nicht etc., wurden einfach die Werte gesenkt und die Knochenbrüche herausgenommen aus der Definition. D.h., man hat jetzt auch eine Osteoporose, wenn man keine Brüche hat und eine relativ – im Vergleich zu vorher – gute Knochendichte. Und sofort war das eine millionenhaft auftretende Erkrankung!

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Also da ist nichts heilig in diesem Geschäft. Ein konkretes Problem liegt also in der Frage nach der Bewertung und Definition, was eine Krankheit ist. Könnte in dem Zusammenhang die Einrichtung eines staatlichen Qualitätsinstituts für die Medizin, wie es derzeit diskutiert wird, einen Fortschritt bringen? Winfried Beck: Ja, aber ich würde sagen: Man muss es umgekehrt machen. Man muss langfristig dafür sorgen, dass z.B. die Drittmittelforschung aufhört oder andersherum gesagt: Es muss eine absolut strikte Trennung von Industrie und Forschung eingeführt werden. Alles andere ist Augenwischerei. Denn in einem solchen staatlichen Institut würden wieder irgendwelche Vertreter sitzen, die zwar sagen: Das und das dürft Ihr nicht. Aber es würde trotzdem gemacht. Wir müssen runter von den Drittmitteln. Darüber gibt es übrigens bei uns im VDÄÄ auch Diskussionen, weil manche meinen, dass das nicht geht, weil es dann ja überhaupt keine Fortbildung mehr gebe usw. Also ich bin der Meinung: Lieber gar keine als diese. Es gibt sie auch schon, und sie würde sich auch wieder rentieren. Nur das ist natürlich wirklich eine Geldfrage. Da haben wir im Moment einen Teufelskreis: Durch diese falschen Forschungsergebnisse wird wieder wahnsinnig viel Geld ausgegeben. Eines der Argumente der KVen gegen die gesundheitspolitischen Vorstellungen, auch jetzt gegen die Nullrunde im Vorschaltgesetz (Stichwort: Ärztestreik), ist ja, dass dadurch viele Praxen in ihrer Existenz gefährdet seien. Wie ist das denn einzuschätzen? Winfried Beck: Mit dem Geld ist das immer eine schwierige Sache. Zur Existenzgefährdung: Kürzlich habe ich bei der KV Hessen nachgefragt, wie viele Praxen denn pleite gegangen sind, also Konkurs gemacht haben – wie ein Metzger, der sagt, ich muss jetzt verkaufen, und der Rest kommt vor den Konkursverwalter. Das gibt es nicht in Hessen. Nicht eine einzige Praxis. Ja, sagen die dann: Die hören einfach auf … Aber „einfach aufhören“ ist etwas anderes als ein Konkurs. Das ist das eine. Das andere ist: Es gibt ein Durchschnittseinkommen, von der KV selbst ermittelt, das bei 70 000 Euro pro Jahr liegt. Einkommen heißt Gewinn, die Kosten sind davon also schon abgezogen. Gewinn ist vergleichbar mit dem Bruttoeinkommen; er ist etwas ungünstiger, weil die Arbeitgeberanteile der Sozialversicherung noch fehlen. Doch das ist der Durchschnitt.

Soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität in der Medizin … Winfried Beck: Ja, soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität, die gibt es nicht. Dahinter stecken Interessen, das ist klar. Und so kommt eine Krankheit nach der anderen dazu: der Reizdarm, die erektile Dysfunktion usw. Alles wird zu Krankheiten, die man dann behandeln kann und dann – weil es ja neue Krankheiten sind – gibt es entsprechend innovative Arzneimittel, die dem Patentschutz unterliegen und für die jeder Preis genommen werden kann. Die sind irrsinnig ... der Durchschnitt für das, was die Ärzte mit Kassenpatienten verdienen? teuer.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Winfried Beck: Das ist nur GKV. Dazu kommen die Privatpatienten oder Gutachten und was man noch so alles machen kann. Es gibt ungefähr zehn Prozent Privatpatienten in Deutschland, die einen Umsatz von 20 Prozent ausmachen. Also das Doppelte. Es gibt unter den Ärzten Einkommensmillionäre, aber es gibt auch viele, die drunter liegen. Das sind z.T. Nischenpraxen, die einfach zu wenig Patienten haben. Die sind alle in diesen Durchschnittszahlen drin. Und dann gibt es die schon erwähnten hoch Engagierten, die einen falschen Standort haben, überhaupt nicht auf’s Geld gucken und sich auch einmal eine halbe Stunde hinsetzen und reden, aber dafür nichts bekommen. Oder sie telefonieren herum, weil man dem türkischen Schwerstarbeiter das Krankengeld gestrichen hat oder weil er bei der Rentenversicherung Probleme hat. Man kann es so sagen: Diejenigen, die sich am meisten für ihre Patienten engagieren, verdienen am wenigsten. Das sind aber nicht diejenigen, die jetzt am lautesten schreien … Winfried Beck: Nein. Am meisten schreien die, die am meisten verdienen, aber Angst haben, weniger zu verdienen. Offenbar schreien immer die viel mehr, die einen Porsche haben und meinen, sie könnten dann nur noch einen VW fahren, als die, die immer einen VW hatten. Finden diese Differenzen innerhalb der niedergelassenen Ärzte ihren Ausdruck auch in politischen Konflikten innerhalb der KVen? Winfried Beck: Nein. In den KVen haben die das Sagen, die auf der „besseren“ Seite sind: also Laborärzte, Radiologen, die Techniker usw. Und die, die benachteiligt sind – dazu gehören auch die Psychotherapeuten – sagen eher nichts. Die machen bei diesen Boykottaufrufen eben mittags nicht zu, aber sie gehen nicht hin und machen eine Presseerklärung und sagen: Wir machen bewusst nicht zu. Das passt nicht zu ihrem Verständnis. Der Kleinunternehmer ist ja per se eher unpolitisch. Der macht seinen Laden, und das war’s; der hat auch keinen „Team“-Kontakt oder Kontakt mit anderen Kollegen, wo man so etwas bespricht. Das ist unterentwickelt, im Gegensatz zur Situation im Krankenhaus. Wo soll so jemand auch Opposition machen? Es gibt kein Organ … Ein anderer Punkt, der in der Argumentation der KVen eine Rolle spielt, ist die Frage der Qualität, also dass z.B. aktuelle Vorschläge für die Gesundheitsreform deshalb kritisiert werden, weil sie sagen, dass sie dann nicht mehr in der Lage sind, eine ausreichende medizini-

Ärztliche Einkommen sche Versorgung zu gewährleisten. Wie ist das denn einzuschätzen? Winfried Beck: Das ist natürlich absolut verlogen. Denn alle Qualitätsschübe, die es gegeben hat, also z.B. die Chronikerprogramme, bedeuten mehr Qualität. Überhaupt kam die Idee der evidenzbasierten Medizin nicht von Ärzten, sondern von der Politik – sozusagen als Notlösung. Das heißt, die Ärzte sind interessiert am status quo, nicht an einer Qualitätsverbesserung. Und das wird mit dem Begriff „Therapiefreiheit“ umschrieben. Das ist ein Kampfbegriff. Autonomie professionellen Handelns ist etwas anderes als Therapiefreiheit. Letztere bedeutet nämlich: Ich kann machen, was ich will; ob das sinnvoll ist, ist egal, und es darf vor allem keiner reingucken. Bloß keine Kontrolle! Das heißt Therapiefreiheit. Dass aber ihre professionelle Autonomie in Gefahr ist durch Kontrollen von außen – von den Krankenkassen, dem Medizinischen Dienst – aufgrund der Ökonomisierung, dagegen kämpfen sie weniger. Das ist aber die eigentliche Gefahr. Oder dass sie kapieren würden, dass ihnen ihre Basis entzogen wird, wenn man die GKV kaputt macht, das sehen sie nicht. Also eine große Qualitätsoffensive kann ich auf Seiten der Ärzteschaft nicht erkennen.

29 die KV auflösen, weil sie ihren Sicherstellungsauftrag nicht mehr erfüllen kann. Winfried Beck: Deswegen war das ja auch so dumm, das zu blockieren. Aber ich möchte noch mal betonen, dass es jetzt schon Verhandlungen um Honorare gibt – Wieviel wird für die Leistung soundso bezahlt? Und das ist mit den DMPs nicht anders. Nur, bisher war es weitgehend einheitlich.

Aber über die DMPs hinaus würde sich die Wettbewerbsfrage völlig neu darstellen, wenn der Sicherstellungsauftrag an die Kassen übergehen würde. Winfried Beck: Ja, wenn die Krankenkassen den Sicherstellungsauftrag hätten und den Leistungsumfang frei gestalten könnten, wäre das eine absolut neue Situation. Ich vermute aber, dass sie das nicht machen. Erstens wollen die Krankenkassen den Sicherstellungsauftrag nicht. Dann haben sie nämlich auch das Morbiditätsrisiko. Das kann nach hinten losgehen. Das kann teuer werden. Die lehnen es alle ab. Es war eigentlich ganz bequem mit den Ärzten. Die hatten da ein bisschen den schwarzen Peter. Ich vermute eher, wenn sich die Kräfte durchsetzen, die liberalisieren wollen, dann geht das über den direkten Griff ins Portemonnaie. Nicht über Konkurrenz der Kassen, sondern über Zuzahlungen, den Abbau der Sachleistungen, vielleicht auch über das Das wäre die eine Seite, durch DMPs Kostenerstattungsprinzip. Das ist einfaund EBM bestimmte qualitative Stan- cher durchzusetzen. dards einzuhalten. Die andere, weniger beachtete Seite ist die, dass mit Wir hatten vorhin die Lohnquote als das DMPs auf der Seite der Krankenkassen bestimmende Moment für die EinnahEinkaufsmodelle verbunden werden, men der Krankenversicherung anged.h. dass die DMPs das Vehikel sind, sprochen. Es ist nicht davon auszugehen, Wettbewerb einzuführen, weil die dass die Lohnquote sich in den nächsten Kassen dann mit einzelnen Leistungs- Jahren nachhaltig erhöhen wird. Das ist anbietern, außerhalb der KV, Verträge ja der Ansatzpunkt für Überlegungen, die Finanzierungsgrundlage umzustelabschließen können. Winfried Beck: Es ist so, dass die len. Zuletzt hat der DGB-Chef darüber KV sich lange geweigert hat, bei den nachgedacht, ob man eine SteuerfinanDMPs mitzumachen. Sie haben die Ein- zierung in die Sozialversicherungssysführung einfach blockiert. Jetzt ist das teme mit einbringt. Was hältst du von Kind in den Brunnen gefallen. Ich bin solchen Überlegungen? Winfried Beck: Die Steuerfinander Meinung, dass DMPs, d.h. Chronikerprogramme notwendig sind. Wenn zierung ist eigentlich die Gerechteste das nicht mit der KV geht, muss man von dem, was es alles gibt. Weil ja eies anders machen. Das ist natürlich gentlich jeder Steuern zahlen sollte – gefährlich. Was ist das Gefährliche auch die Unternehmen. Und immerhin daran? Wenn die Kassen mit einzel- gibt es in der Steuer eine Progressinen Gruppen Verträge machen, ist on. Wer mehr hat, zahlt relativ mehr. der ökonomische Hebel größer. Man In Kanada gibt es ein steuerfinankann auf kleinere Gruppen mehr öko- ziertes Gesundheitswesen, in Dänenomischen Druck ausüben als auf ein mark auch, das heißt, es hat keiner eiMonopol wie die KBV. Das heißt, man nen Krankenschein, zahlt nicht selber, kann ihnen niedrigere Löhne für die- es zahlen alle ein. Nun hat das auch se Arbeit geben. Und man kann in- Nachteile. Dann kann nämlich die Regierung oder der Bundestag ganz haltlich mehr Einfluss ausüben. schnell nach unten verändern – wie Ein Studie von Beske aus Kiel vertritt z.B. in England. Das ist von der Strukfolgende These: Wenn die Kassen Ein- tur her ein super Gesundheitswesen, zelverträge mit einzelnen Leistungser- aber finanziell einfach ausgehungert bringern abschließen können, muss das worden. Was nützt mir ein tolles Sys-

30 tem, wo die Patienten Mitsprache haben, wenn sie zwei Jahre auf eine Totalprothese warten müssen. Deswegen wäre eine Mischform anzustreben. Ich fände es gut, wenn alles das, was jetzt als „versicherungsfremd“ bezeichnet wird – man kann darüber streiten, was versicherungsfremd ist –, anteilig steuerfinanziert wäre. Im Grunde wäre alles, was irgendwie mit Kindern zusammenhängt, mit Geburten oder mit dem Tod, mit dem Sterben von allgemeinem Interesse nicht nur der Versicherten. Gerecht wäre es natürlich auch, die Finanzierung nicht an den Löhnen zu orientieren, sondern an der Produktivität. Dass die Firmen, die eine hohe Produktivität haben, aber wenig Leute, also diese ganze Computerindustrie, am Umsatz, an der Produktivität gemessen werden. Wie heißt der Begriff noch mal dafür? Wertschöpfungsabgabe. Die Frage, die wir uns für den Schluss aufbewahrt haben: Wie kann man sich die Organisation eines solidarischen Gesundheitssystem heute vorstellen? Winfried Beck: So ein paar Sachen sind ja schon angeklungen. Mal so formuliert: Wir haben ja ein solidarisches Gesundheitswesen als erste in der Welt gehabt: das Bismarck-System, es war ein Riesen-Exportschlager. Die Japaner haben es nachgemacht, viele andere auch. Und das System wurde ausgebaut. Es ist auch nie zerstört worden. Auch nicht von den Nazis. Jetzt besteht aber die Gefahr, dass es zerstört wird – mehr als jemals in der Geschichte. Und wenn man es historisch sieht, dann merkt man erst, was man damit verlieren würde. Denn das, was die jetzt wollen, das ist ja Wildwuchs. Da hätten wir im Grunde keine Geschichte und irgendwelche Kämpfe gebraucht. Denn das, was sie jetzt haben wollen, das hat man, wenn man einfach ein Haifischbecken aufmacht und ein paar Fische reinsetzt. Und ich würde im Moment sagen, dass man das, was man hat, jetzt bewahren muss. Ausbauen ist ja kaum möglich in der jetzigen Situation. Die Linke muss das heute zunächst bewahren. Was sie ja früher auch kritisiert hat. Es ist ja nicht so, dass die Linke das Bismarck-System immer verteidigt hätte. Wenn man an die siebziger Jahre denkt … oder auch vorher schon. Dieses Gesundheitssystem war ja nicht unbedingt ein Sieg der Arbeiterbewegung. Winfried Beck: Natürlich, die Kritik ist auch angebracht. Wir haben jahrelang nichts anderes gemacht. Aber es kann sich hier keiner vorstellen, was ist, wenn wir das amerikanische System übertragen würden. Hier ist es immer noch so, das muss

Ärztliche Einkommen man einfach auch mal positiv sehen, dass – ich habe es ja konkret erlebt – es niemanden in meiner Praxis gab, dem ich nicht alles hätte verschreiben und machen können, wenn ich es gewollt hätte. Auch an die Härtefallregelung, dass es unterhalb eines bestimmten Einkommens keine Zuzahlungen gibt, darf man nicht dran gehen. Das sind ganz wertvolle Dinge, die zu bewahren sind. Man muss das mal so sehen: Was ist, wenn wir das nicht mehr hätten? Was dann kommt, ist kriminell. Und jetzt sind wir leider in der Situation, dass man genau das befürchten muss. Zu sagen, wir brauchen eine Qualitätsoffensive, ist richtig, aber im Moment wirklich eine große Gefahr. Wobei wir auch immer sagen. Noch wichtiger ist eine Humanitätsoffensive, vor der Qualitätsoffensive. Wenn die Leute heute in eine Praxis gehen, vielleicht auch im Krankenhaus, müssen sie das Gefühl haben, dass sie wirklich umsorgt sind, dass sie keine Angst haben brauchen. Dass sie subjektiv sicher gehen können, dass alles, was jetzt gemacht wird, nur gemacht wird, weil es der Gesundheit dient. Und nicht, weil jemand dran verdient. Denn dieses Vertrauen ist in Gefahr durch die ganzen IGeL-Geschichten2. Die Leute wissen nicht mehr: Empfiehlt der Arzt mir die IGeL-Leistung nur, weil er meine Kohle haben will oder weil es medizinisch wichtig ist? Da gibt es schon diesen Einbruch in der Arzt-Patient-Beziehung, der vom humanitären Standpunkt aus viel schlimmer ist, als es öffentlich wahrgenommen wird. Er wird nicht wahrgenommen, weil es die Kassen nicht interessiert – sie zahlen ja nicht. Die Politik interessiert es nicht – es kostet nichts. Und die Patientenverbände sind ruhig. Aber da ist schon etwas unheimlich Wichtiges kaputt gegangen. Es ist eigentlich eine Super-Lösung, dass – das war nicht mal bei Hippokrates so – wir arbeiten können, ohne Geld dazwischen, durch das Sachleistungsprinzip. Ich kriege einen Schein und fertig. Die Wettbewerbsideologen sagen ja, überall, wo die Leute nicht merken, dass es auch etwas kostet, machen sie es bis zum Erbrechen. Winfried Beck: Freibiermentalität.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 das denn so wahnsinnig angenehm, sich von oben bis unten operieren zu lassen oder sich unters Röntgengerät zu legen? Krankheit ist eben kein Konsumgut wie ein Fernseher. Da geht es um Existenzgefährdung, um Ängste, um Nicht-Planbarkeit, NichtAbstellbarkeit. Da ist die Freibiermentalität absurd. Ein Herzinfarkt ist kein Luxus, den man sich mal leistet wie Freibier, weil gerade das Wetter schön ist und der Zapfhahn geöffnet ist. Man kann natürlich über das Geld steuern, aber man steuert dann falsch. Dann gehen die nicht zum Arzt, die es sollten. Aber da rennt man im Moment gegen eine Wand. Die Ideologie ist so allgegenwärtig – es soll gesteuert werden über den Markt und über das Geld. Ich meine aber: Aber es muss Freiräume geben, in denen der Markt keine Rolle spielen darf. Hans-Ulrich Deppe zitiert immer einen kanadischen Gesundheitswissenschaftler oder -ökonomen, Robert Evans, der gezeigt hat, dass es ökonomisch gesehen auch sehr richtig sein kann, Patienten falsch zu behandeln oder gar nicht zu behandeln usw. Ökonomie und die medizinische Vernunft sind da … Winfried Beck: … häufig unvereinbar. Die haben erstmal nichts miteinander zu tun. Die können miteinander einher gehen, aber es kann auch genau das Gegenteil der Fall sein. Und es hat ja auch fatale Konsequenzen. Wenn man es zuspitzt, dann haben die Nazis es gemacht: Was ist lebenswertes Leben, was ist lebensunwertes Leben … Winfried Beck: … das ist die Zuspitzung … dieser Form von Ökonomisierung. Winfried Beck: Die Extremform ist, dass ich überhaupt nicht behandle oder gar umbringe.

Aber das steckt in dieser Logik drin. Winfried Beck: Wenn man es dauernd weiter fortdenkt, kommt man dazu. Natürlich. Wenn einer sagt, ich behandle die besser, die mir mehr Geld geben, als die, die mir weniger Geld geben, das ist Darwinismus. Die, die viel kriegen, kriegen alles, und die, die kein Geld haben, kriegen gar nichts. Da sie aber immer irgendwas brauchen und irgendwie Geld kosten, Genau. Du hast ja vorhin schon einmal bringe ich sie am besten um. Und dann gesagt, das Anspruchsdenken ist ein kostet das gar nichts. Problem, aber nicht das der Patienten, Nadja Rakowitz und sondern der Ärzte. Das wäre dann geRolf Schmucker nau das Gegenargument. wissenschaftliche Mitarbeiter am Winfried Beck: Natürlich gibt es Institut für medizinische Soziologie bei den Patienten vereinzelt welche, der Johann Wolfgang Goethedie sagen, ich zahle soviel, jetzt maUniversität Frankfurt a.M. che ich alles, was nur geht. Aber ist

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Ärztliche Einkommen

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Ärzte Zeitung 1.4.2003 IGeL-Angebote aus dem Labor sind im Kommen Seriosität ist das A und O, damit Selbstzahler-Leistungen zu einem Erfolg werden/Gerade in der Prävention können Patienten profitieren Von Martin Schwarzkopf OFFENBACH. Die Fakten zu Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) in der Labormedizin sind beeindruckend: Bei den Laborärzten, die mit dem Ingelheimer Dienstleister Bioscientia kooperieren, hat sich die Zahl der Selbstzahler-Laborleistungen von 2001 auf 2002 verdoppelt. Und der IGeL-Boom hat sich in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres noch verstärkt, sagt Peter Kuhl, Marketing-Chef von Bioscientia. Seine Erfahrungen werden auch von anderen führenden Laborärzten und Laborverbünden in Deutschland auf Anfrage der „Ärzte Zeitung“ bestätigt. Peter Kuhl erlebt bei den Ärzten einen wahren Run auf SelbstzahlerAngebote: „Wenn wir Seminare zum Thema IGeL anbieten, sind die Räume immer bis auf den letzten Platz besetzt.“ Die Laborärztliche Arbeitgemeinschaft für Diagnostik und Rationalisierung (LADR) in Geesthacht hat ebenfalls einen Nachfrage-Boom bei IGeL-Angeboten registriert. Und beim Labor Schottdorf in Augsburg meldeten sich binnen weniger Tage hunderte Ärzte auf Einladungen zu IGeL-Seminaren. Bioscientia-Experte Kuhl hat inzwischen in mehr als 50 Seminaren über 3000 Ärzte und Praxismitarbeiter über Selbstzahler-Leistungen informiert. Kuhl hämmert seinen Zuhörern dabei immer wieder ein: „Seriosität ist beim Igeln für Ärzte unerläßlich. Wenn der Praxischef und sein Team nicht von den angebotenen Leistungen überzeugt sind, werden sie diese auch nicht erfolgreich anbieten und verkaufen können.“ Ärzte könnten gerade im Laborbereich aber vieles finden, was ihren Patienten einen echten Zusatznutzen jenseits des GKV-Korsetts bietet, ist Kuhl überzeugt: „Wer am medizinischen Fortschritt in der Labormedizin zeitnah teilhaben will, kommt an IGeL-Angeboten gar nicht vorbei.“

Moderne Methoden werden nicht sofort zur Kassenleistung Kuhl belegt dies mit den Erfahrungen aus seinem Haus: Im vergangenen Jahr haben die mit Bioscientia kooperierenden Laborärzte für 17 neue Labor-Parameter bei der KV angefragt, ob diese als Kassenleistung abzurechnen seien. Bei 70 Prozent dieser Anfragen sei mitgeteilt worden, daß „die Parameter derzeit noch nicht zu Lasten der Kassen abrechenbar sind“ (Kuhl). Gerade im Bereich der Prävention könne die moderne Labormedizin schon heute viel mehr leisten als im Kassenkatalog vorgesehen ist. Kuhl

nennt als Beispiel den immunologischen Stuhltest zur Darmkrebsvorsorge: „Das immunologische Verfahren weist im Vergleich zum von der Kasse bezahlten chemischen Verfahren eine viel höhere Sensitivität und Spezifität auf.“ Wieviel ein solcher Stuhltest kostet, hänge letztlich davon ab, was Patient und Arzt haben wollen, sagt Kuhl. Bioscientia empfiehlt, in zwei Stuhlproben das fäkale Hämoglobin und den Hämoglobin/Haptoglobin-Komplex untersuchen zu lassen. Dadurch wird viermal die GOÄ-Analogziffer A 3747 (Einfachsatz: 10,49 Euro) angesetzt. Der Patient muß – wenn mit dem Einfachsatz gerechnet wird – für die Laborleistungen beim immunologischen Stuhltest 41,96 Euro berappen – dazu kann noch eine Beratung kommen. Grundsätzlich gelten bei der Abrechnung von IGeL-Angeboten in der Labormedizin die gleichen Spielregeln wie bei allen Privatabrechnungen. Auf jeden Fall müssen Ärzte mit ihren IGeL-Kunden eine schriftliche Vereinbarung abschließen. Darin sollte festgehalten sein, daß der Patient auch nachträglich keinen Anspruch auf Kostenerstattung durch seine Kasse hat, weil die Leistungen nicht zum GKVKatalog gehören. Außerdem sollte – wenn möglich – der voraussichtliche Preis der gesamten Selbstzahler-Leistung bereits in dieser Vereinbarung genannt werden, damit der Patient weiß, welche Kosten tatsächlich auf ihn zukommen. Die GOÄ ist dabei immer Grundlage der Liquidation. Bei der Abrechnung der Selbstzahler-Laborleistungen können Ärzte Leistungen aus dem Kapitel M II der GOÄ (zum Beispiel Leber- und Nierenwerte, Werte zum Lipidstoffwechsel) selbst erbringen oder als Mitglied einer Laborgemeinschaft beziehen – und dann direkt mit dem Patient abrechnen. Leistungen aus den Kapiteln M III und M IV können nur dann direkt

berechnet werden, wenn sie tatsächlich persönlich erbracht worden sind und zum Fachgebiet des jeweiligen Arztes gehören. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Bestimmung des PSAWertes beim Urologen, wenn dieser selbst ein entsprechendes Labor in seiner Praxis betreibt. Wenn für die Untersuchungen aus den Kapiteln M III/ M IV ein Laborarzt beauftragt wird, muß dieser grundsätzlich direkt mit den Patienten liquidieren. Typische IGeL-Angebote aus diesen Kapiteln sind neben dem PSA-Test der immunologische Stuhltest oder die Hormonbestimmungen bei Anti-Aging-Angeboten.

Auch Beratungsleistungen können abgerechnet werden In jedem Fall können Ärzte für ihre Labor-IGeL-Angebote unter Beachtung der üblichen Spielregeln alle Leistungen berechnen, die sie im Zusammenhang mit der Anforderung von Laborleistungen persönlich erbracht haben. Dies sind zum Beispiel Beratungsleistungen (GOÄ Ziffern 1 oder 3), die Blutentnahme (GOÄ-Ziffer 250, wenn ausschließlich für das IGeL-Angebot Blut entnommen wurde) oder die Entnahme von Abstrichmaterialien (GOÄZiffer 298).

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Ärztliche Einkommen

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Junge welt 13.3.2003 Kampf um die Pfründe Berlin: Fachärztedachverband verteidigt Profitstreben als Grundlage der Berufsausübung Rainer Balcerowiak Das Hohelied des Primats des individuellen Gewinnstrebens auch im Gesundheitswesen sang am Mittwoch in Berlin Jörg-Andreas Rüggeberg, Präsident der Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände (GFB). Der Verband vertritt die Interessen der über 100 000 niedergelassenen Fachärzte in Deutschland. Eine „fatale Einheitsfront“ aus Politik, Gewerkschaften, Krankenkassen, Krankenhausbetreibern und Hausärzten bedrohe das System der freien Facharztpraxen. Vorschläge wie die Stärkung der Hausärzte als „Gesundheitslotsen” und die teilweise Verlagerung ambulanter fachärztlicher Behandlungen in Kliniken seien nahezu „sittenwidrig“, so Rüggeberg. Als Schreckensvision wurden die „dirigistischen Zustände“ in der DDR bemüht, wo den Fachärzten in den Polikliniken jeglicher materieller Anreiz gefehlt habe, „mehr zu leisten”. Tatsächlich geht es dem Verband auch nicht um die aktuelle gesundheitspolitische Diskussion in all ihren Facetten, sondern ausschließlich um die Absicherung der eigenen Pfründe. So lehnt Rüggeberg das unter anderem vom Geschäftsführer der Krankenkasse Securvita, Ellis Huber, vorgeschlagene Vergütungsmodell rigoros ab. Huber hatte angeregt, die undurchsichtige und betrugsanfällige Einzelvergütung von Leistungen durch eine Zeitvergütung in Höhe von 10 000 bis 150 000 Euro brutto pro Jahr zu ersetzen. Dies sei „nicht diskutabel”, so Rüggeberg. Schließlich gehe es „um das Prinzip” freiberuflicher Tätigkeit. „Jeder Wirtschaftszweig in Deutschland lebt von der Motivation der Beteiligten, durch eigenes Engagement auch eigene Vorteile zu erwirtschaften”. Dieses Recht gesteht der Verband ausdrücklich auch den anderen Profiteuren des Gesundheitssystems zu. So habe man sich bei Fragen wie den explodierenden Arzneimittelpreisen und den Gewinnspannen der Apotheken bewußt „vornehm zurückgehalten”. Schließlich wolle man seine eigenen Forderungen „nicht auf Kosten Dritter” durchsetzen, so Rüggeberg. Das stimmt allerdings nur bedingt. Denn die Patienten sollen nach GFBPlänen in Zukunft mittels „mehr Eigenverantwortung” und „erzieherischer Elemente” höhere Eigenanteile für die ärztliche Versorgung aufbringen. Auf ein bestimmtes Modell will sich die GFB dabei allerdings nicht festlegen. Denkbar seien sowohl eine „Eintrittsgebühr” bei Arztbesuchen als auch eine fallbezogene Eigenbeteiligung. Dafür müsse auch der Wettbewerb unter den Kassen intensiviert werden. Als Beispiel nannte Rüggeberg, der selbst als niedergelassener Chirurg tätig ist, die komplette Behandlung eines Beinbruches. Diese

koste zirka 360 Euro. Wenn eine Krankenkasse aber nur 320 Euro dafür erstatten will, müsse der Patient eben den Rest zahlen. Eines der Kernprobleme sei schließlich, daß „die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ohne jede persönliche Konsequenz befriedigt wird”. So richtig Marktwirtschaft für die Fachärzte will man dann aber lieber doch nicht. Unverzichtbar ist für die GFB das kollektive Tarifwesen bei der Vergütung ärztlicher Leistungen. Zwar sei der Dammbruch in Form von

Einzelverträgen zwischen Kassen und einzelnen Ärzten oder Ärzteverbünden kaum noch zu verhindern, dies berge aber die Gefahr des Ruins für die Fachärzteschaft. Schon heute würden viele Patienten staunen, wenn man ihnen den tatsächlichen Erlös für den Arzt aus der gerade erfolgten Behandlung transparent mache, wie es der Verband seinen Mitgliedern empfiehlt. Einige hätten daraufhin sogar „nach der Kaffeekasse gefragt” um etwas zu spenden.

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Ärztliche Einkommen

Ärzte Zeitung, 1.4.2003 „Kein Arzt kann es sich leisten, aufs Igeln zu verzichten“ Führende Akteure im Labormarkt sehen erhebliches Wachstumspotential/Selbstzahler-Angebote sind im Osten schwerer zu etablieren NEU-ISENBURG (msc). Für Stefan Zänkert von der Laborärztlichen Arbeitsgemeinschaft für Diagnostik und Rationalisierung (LADR) aus Geesthacht steht fest: „Ein Arzt kann es sich heute gar nicht mehr leisten, auf IGeL-Angebote zu verzichten.“ Alle führenden Laborpraxen oder Labordienstleister gehen davon aus, daß der IGeL-Markt erhebliches Wachstumspotential bietet – und deshalb beackert werden muß. Das hat eine Recherche der „Ärzte Zeitung“ gezeigt. Auch der Augsburger Laborarzt Dr. Bernd Schottdorf macht da keine Ausnahme: „Individuelle Gesundheitsleistungen im Labor sind ein Zukunftsmarkt.“ Sein Labor präsentiert die eigenen IGeL-Vorstellungen zum Beispiel beim „2. Verkaufskongreß für zukunftsorientierte Ärzte und Mitarbeiter“ am Mittwoch, 30. April, in Bad Homburg. Bei dieser großen IGeL-Veranstaltung, bei der sich Praxisteams ganz grundsätzlich über Perspektiven im Selbstzahler-Markt informieren können, wird es einen eigenen Workshop zu Labor-IGeL geben (Infos zu diesem Kongreß im Web: www.arztpraxis-plus.de). Außerdem laufen derzeit bundesweit sieben Großveranstaltungen, bei denen die Schottdorf-Zuweiser über das IGeL-Konzept des Labors informiert werden. Das Labor Schottdorf gehört gemeinsam mit der LADR aus Geesthacht auch zu den Partnern der MedWell-Gesundheits AG bei deren runderneuertem Labor-IGeL-Konzept. Herzstück dieses Programms sind mehr als 40 Angebote aus den Bereichen Vorsorge, Service und Wellness. „Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß Labor-IGeL zu einem Renner werden“, sagte IGeL-Erfinder und MedWell-Aufsichtsrat Dr. Lothar Krimmel zur „Ärzte Zeitung“. Er erinnert daran, daß Präventionsleistung ohne Labormedizin nicht denkbar sind – und daß in diesem Bereich noch viele Möglichkeiten ungenutzt brachliegen. Nach Angaben von Stefan Zänkert geht das IGeL-Angebot der LADR über die Kooperation mit MedWell hinaus – zum Beispiel bei den angebotenen Untersuchungsparametern. Die LADR stellt umfassendes Informationsmaterial für Ärzte und Patienten zur Verfügung. Außerdem gibt es regelmäßige IGeL-Fortbildungsveranstaltungen mit namhaften Referenten für Ärzte und Praxismitarbeiter. Auch andere Akteure im Labormarkt bieten ihren Zuweisern gedruckte Materialien und Seminare an. Verstärkt wird auch der SynlabVerbund in diesem Frühjahr das The-

ma IGeL bearbeiten: „Der Markt ist reif, die Nachfrage von Seiten der Patienten ist immens“, sagt Synlab-Marketingchef Dr. Christian Hilgarth. „Wir gehen davon aus, daß der gesamte IGeL-Markt sich in den nächsten drei bis fünf Jahren verdoppeln könnte.“ Vor allem im Praxis-Marketing sei noch vieles möglich. Etwas anders verläuft die Entwicklung in den ostdeutschen Ländern, sagt Dr. Frank-Peter Schmidt vom Institut für medizinische Diagnostik in Berlin: „Den Patienten ist bewußt, daß IGeL-Angebote sinnvoll sind und daß sie für die Vorsorge etwas tun sollten. Fakt ist aber: Viele können es sich einfach nicht leisten.“ Die klassische IGeLZielgruppe - GKV-Versicherte aus der

33 Mittelschicht - gebe es kaum, die hohe Arbeitslosigkeit sei ein erheblicher Belastungsfaktor: „Einen IGeLBoom im Osten kann es erst dann geben, wenn die wirtschaftliche Situation der Menschen insgesamt deutlich besser wird.“

Stichwort: Labor-IGeL-Abrechnung Um die Abrechnung bei Labor-IGeL für Patienten und Ärzte zu vereinfachen, gibt es unterschiedliche Konzepte: Die MedWell-Gesundheits AG, die bei ihrem neuaufgelegten Labor-IGeL-Programm mit dem Labor Schottdorf (Augsburg) und der Laborärztlichen Arbeitsgemeinschaft für Diagnostik und Rationalisierung (Geesthacht, Dr. Kramer u.a.) kooperiert, läßt zum Beispiel die komplette Abrechnung von der Privatärztlichen Verrechnungsstelle Baden-Württemberg in Stuttgart erledigen. Der Patient bekommt nur eine Rechnung, daß Geld wird dann unter den Leistungserbringern verteilt. Auch Leistungen, die nichts mit dem Labor, aber etwas mit dem IGeLAngebot zu tun haben, können so abgerechnet werden. Ein Beispiel ist ein IGeL-Gesundheitscheck, bei dem außer Labordiagnostik auch ein EKG gemacht wird. Auch dieses EKG kann über MedWell gemeinsam mit den Laborleistungen abgerechnet werden.

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Gesundheits- und Sozialpolitik Presseerklärung VDÄÄ vom 7.5.2003 Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) von Gesundheitsministerin Ulla Schmitt ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die von beiden Regierungsparteien getragene Agenda 2010 wird die gesundheitliche Situation der Bevölkerung allerdings verschlechtern. Wir haben die im GMG vorgeschlagenen strukurellen Maßnahmen für eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens weitgehend mitgetragen. Wir halten unverändert die Qualitätsoffensive durch Chronikerprogramme, die Errichtung eines unabhängigen Institutes für Qualität in der Medizin, die Pflichtfortbildung für ÄrztInnen, die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Behandlung, die Stärkung der Patientenseite u.a. für notwendig und geeignet, die objektiv nachweisbaren Qualtiätsmängel zumindest zu verringern. Wir waren auch bereit, vorübergehend auf Einkommenszuwächse zu verzichten, wenn dadurch die solidarische gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gerettet und ausgebaut werden kann und weil wir unseren Platz nur in einem auf Solidarität beruhenden Gesundheitswesen sehen. Eine der härtesten Zahlen in der Gesundheitsforschung ist der Zusammenhang zwischen Einkommen einerseits und den Chancen für Gesundheit (Morbidität) und ein langes Leben (Mortalität) andererseits. Durch die in der Agende 2010 vorgeschlagenen finanziellen Verschlechterungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger wird sich das Einkommensniveau dieser Bevölkerungskreise weiter verringern, wird damit die Zahl der Menschen mit schlechterer Gesundheit zwangsläufig zunehmen. Wer die Gesundheit einer Bevölkerung insgesamt verbessern will, muss laut WHO in erster Linie die Situation der Menschen mit dem höchsten Krankheitsrisiko ändern. Eine 2003 veröffentlichte Studie der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation hat bestätigt, dass sich ein starkes Reich-Arm-Gefälle negativ auf die Gesundheit auswirkt. Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und öffentlicher Gesundheit hat gezeigt, das gesunde Gesellschaften nicht reich sein müssen und dass die gleichmäßige Verteilung des Reichtums wichtiger für die Gesundheit der Bevölkerung ist. Diese Fakten werden von der Bundesregierung missachtet. Ihr oberstes Ziel staatlicher Politik ist die Senkung der Lohnnebenkosten.

Auch ohne tiefer gehende ökonomische Kenntnisse ist nicht zu übersehen, dass diese Politik schon in der Vergangenheit erfolglos war. Seit Jahren bleiben die Lohnkosten hinter der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes zurück, sinken also die Lohnkosten relativ, seit Jahren klafft die Schere zwischen den Einkommen abhängig Beschäftigter einerseits und der Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, aus Vermögen und Unternehmergewinnen andererseits immer weiter, ohne dass dies zu einer Einstellungsoffensive oder zu einer Senkung der Massenarbeitslosigkeit geführt hätte. Wir wissen, dass strukturelle Maßnahmen alleine die finanzielle Notsituation im Gesundheitswesen nicht beseitigen können und dass allein die Umsetzung des Urteils vom Europäischen Gerichtshof zur Anerkennung des Bereitschaftsdienstes als Freizeit die Einstellung von mehr als 20 000 Ärzten erfordert. Deshalb erinnern wie an die zahlreichen vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung der Einnahmesituation der Krankenkassen ohne einseitige Belastung der Kranken und sozial Schwachen: Die Einbeziehung der bisher privat Versicherten in die allgemeine Versicherungspflicht, die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, die Berücksichtigung von Einkommen aus Miete und Vermögen, die Einführung gesundheitsspezifischer Steuern auf Tabak und Alkohol … Und es bleibt rätselhaft, weshalb die Ärmsten zur Kasse gebeten werden, während sich dieses reiche Land die niedrigste Besteuerung höchster Gewinne und Vermögen leistet, weder eine Vermögensteuer noch relevante Besteuerung von Aktiengewinnen kennt. Der große deutsche Arzt Rudolf Virchow prägte den Satz: „Politik ist Medizin im Großen.“ Konkret auf unsere gegenwärtige Situation angewendet bedeutet dies: Wenn eine Medizin versagt hat, wenn beispielsweise ein Antibiotikum bei hohem Fieber unwirksam ist und nur unerwünschte Effekte auftreten, weil es sich, wie bei SARS, um eine Viruserkrankung und nicht um eine bakterielle Infektion handelt, dann muss die Therapie abgesetzt und durch eine antivirale ersetzt werden.

Auf die Politik übertragen bedeutet dies: Die Rufe nach immer mehr Umverteilung der Einkommen von unten nach oben haben keinen positiven Effekt zur Senkung der Arbeitslosigkeit gehabt und führen als Kollateralschaden im Sinne von unerwünschten Effekten zu einer Verschlechterung der gesundheitlichen Situation der Bevölkerung. Diese Therapie muss deshalb abgebrochen werden. Evidenzbasiert sind von einer gleichmäßigeren Verteilung des Reichtums, einer Abschwächung des Reich-Arm-Gefälles positive Effekte auf die Gesundheit zu erwarten. Dr. med. Winfried Beck Vorsitzender des VDÄÄ

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Netzwerk Gesundheit

Die Gewerkschaften mobilisieren Während die Rürup-Kommission ihr Reformvorhaben skizziert, hofft der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf Gegenöffentlichkeit. Der DGB gründete in der vergangenen Woche zusammen mit 15 Institutionen und Verbänden das „Netzwerk Gesundheit“. Ziel des Netzwerkes sei es, das Solidarprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erhalten. Die Stellvertretende Vorsitzende des DGB und Mitglied der Rürup-Kommission, Ursula Engelen-Kefer, betonte bei der Gründung, dass sie zu 80 Prozent mit Ulla Schmidts Reformplänen übereinstimme. Allerdings lehnt EngelenKefer die einseitige Verlagerung der Kosten von 20 Milliarden Euro auf die Versicherten, wie von der Rürup-Kommission vorgeschlagen, als sozial unverantwortlich ab. Weder die Herausnahme des Krankengeldes noch eine Praxisgebühr seien mit den Gewerkschaften zu machen. Die notwendigen Einsparungen seien auch ohne soziale Einschnitte möglich: Allein durch die von der Regierung geplante Strukturreform könnten acht Milliarden Euro gespart werden. In den Folgejahren, so Engelen-Kefer weiter, seien Einsparungen bis zu 25 Milliarden Euro jährlich möglich. Die Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen und Schließung bisheriger „Verschiebebahnhöfe“ könnten weitere zehn Milliarden Euro einsparen. Und schließlich brächte die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in das System weitere sieben Milliarden Euro. „Das Netzwerk Gesundheit fordert einen neuen Wettbewerb für mehr Qualität und Effizienz, um die milliardenschwere Verschwendung von Beitragsmitteln in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu beenden“, erläuterte Engelen-Kefer. Deshalb solle in der ambulanten Versorgung Doppelstrukturen abgebaut und die Integrierte Versorgung zur Regelversorgung gemacht werden. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der behinderten Menschen, Karl Hermann Haack, kritisierte die einseitige Sicht der Regierung auf die notwendige Reform: Die Diskussion um den Sozialstaat solle nicht den „Fiskalisten“ überlassen werden, so Haack. Dabei attackierte er besonders den Bundeskanzler, der einzig am Erreichen des Sparziels, die Begrenzung des Arbeitgeberbeitrags zur GKV auf maximal 13 Prozent, interessiert sei. Dabei bliebe der Reformgedanke auf der Strecke. Für die im Netzwerk vertretenen Patientenverbände forderte der Spre-

cher der Deutschen Gesellschaft für Public Health, Prof. Dr. Bernhard Badura, dass in der Selbstverwaltung der GKV die Gewerkschafter Patientenvertretern Platz einräumen müssten. Hinsichtlich eines Instituts für Qualität in der Medizin unterstrich Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Mitglied des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion, dass nur ein von staatlichen Einflüssen unabhängiges Institut das Vertrauen von Krankenkassen und Ärzteschaft erhalten könnte. Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes (BDA) ermahnte das Netzwerk, nicht pauschal die berufspolitischen Zusammenschlüsse der Ärzte zu verurteilen. Auch der Vorsitzende des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), Winfried Beck, forderte das Netzwerk auf, auch Kooperationspartner in der Pharmaindustrie, der Ärzteschaft und bei den Apothekern zu suchen.

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Die Vertreterin des deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), Barbara Stolterfoth, beklagte, dass die Rolle der Pflege und therapeutischen Berufe in der gesundheitspolitischen Diskussion vernachlässigt würde. Im Netzwerk Gesundheit sind Vertreter der Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Patientenorganisationen, dem Deutschen Pflegerat, der DKG, des VDÄÄ, dem NAV-Virchowbund und dem BDA vertreten. Bereits in zwei Wochen will das Netzwerk ein Konzept zur Finanzierung der GKV vorlegen. Für den 17. Mai hat der DGB zu einer bundesweiten Demonstration in Berlin aufgerufen, um für eine gerechte Finanzierung, bezahlbare Leistungen, gute Arbeitsbedingungen und die Beibehaltung des Solidaritätsprinzips zu protestieren. Daniel Rühmkorf

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Reform als „Fata Morgana“ Ersatzkassen feiern 50 Jahre Selbstverwaltung Von Daniel Rühmkorf Auf dem Ersatzkassentag zu Wochenbeginn in Berlin hagelte es trotz aller Feierstimmung zum 50-jährigen Bestehen der Selbstverwaltung harsche Kritik an den Reformplänen aus dem Gesundheitsministerium. Die Verbandsvorsitzende des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen (VdAK), Margret Mönig-Raane, warnte vor weiteren Leistungsausgrenzungen. „Heute ist es das Krankengeld, morgen sind es die Unfälle, die zahnärztliche Versorgung und der Zahnersatz.“ Es dürfe nicht zu einer Aufhebung der paritätischen Finanzierung durch die Bundesregierung kommen. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt habe die Reform einseitig zu Gunsten der Arbeitgeber formuliert. Während den Arbeitgebern der Beitragssatz auf unter 13 Prozent gesenkt werden soll, werden die Versicherten mit höheren Beiträgen rechnen müssen. „Von einer spürbaren Entlastung für alle kann überhaupt nicht die Rede sein“, erregte sich Mönig-Raane. VdAK-Chef Herbert Rebscher rechnete vor, dass das erwartete Einsparvolumen von 13,2 Milliarden Euro um knapp 3 Milliarden Euro verpasst werde. Das Ziel, 13 Prozent Beitrag, insbesondere für die Versicherten, würde damit zur „Fata Morgana“. Der VdAK sieht sich der Gesundheitsreform verpflichtet. Allerdings, so Mönig-Raane weiter, beziehe sich das auf die Verbesserung von Qualität und Effizienz. Keiner der beiden Aspekte werde aber mit der Ausgrenzung des Krankengeldes aus der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bedient. Lediglich die Arbeitgeber würden dadurch begünstigt. Sie unterstrich die Notwendigkeit, die versicherungsfremden Leistungen in der GKV aus Steuermitteln zu finanzieren. Insofern ginge der Gesetzentwurf an diesem Punkt in die richtige Richtung. Der Grund, warum im Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz (GMG) verbandsübergreifende Kassenfusionen zugelassen werden solle, sieht Mönig-Raane in der bisherigen Haftung der Länder für die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Sollte die AOK mit anderen Kassen zusammengehen, falle diese Verantwortung weg, was angesichts der drohenden AOK-Pleiten im Osten fatal wäre. Rebscher hofft deshalb, dass im Prozess der Gesetzgebung hier noch nicht das letzte Wort gesprochen sei. Die Bundesgesundheitsministerin hatte sich zum Ersatzkassentag kurzfristig entschuldigen lassen. Grund: Ein Gespräch im Finanzministerium. Vertreten wurde Schmidt durch ihre Staatssekretärin Marion Caspers-Merk. Diese bat die Anwesenden: „Wir sind bei

dieser Reform auf ihren Dialog und ihre Unterstützung angewiesen“. Sie unterstrich, dass das geplante „Deutsche Zentrum für Qualität in der Medizin“ helfen solle, die „Selbstblockaden der Selbstverwaltung“ zu bekämpfen. Dem Institut stehen der VdAK wie auch die Ärzteschaft sehr kritisch gegenüber. Die Selbstblockade, die gerne von der Politik unterstellt werde, läge eher in der fehlenden rechtlichen Klärung der Versorgungsfragen (so Arzneimittelrichtlinien) als an der Entschlussunfähigkeit der Selbstverwaltung. Der Koordinierungsausschuss, in dem bisher Ärzte und Kassen miteinander die Detailfragen (Leistungskatalog, Medikamentenzulassungen, Therapien etc.) gerichtsfest klärten, wird durch das Institut in Frage gestellt. Das Zentrum werde in seiner geplanten Konstruktion Entscheidungen eher blockieren und mehr Bürokratie und Kosten produzieren, prophezeite Mönig-Raane.

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Der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer durfte als Festredner seine christlich-soziale Gesinnung andeuten: Er lobte die Selbstverwaltung, die eine „Erfolgsgeschichte“ sei. So bestünde ein flächendeckendes Angebot an Gesundheitsinstitutionen, ein hoher Versicherungsstandard und einen nahezu kompletter Versicherungsschutz aller Bürger. Er sieht die Dramatik weniger in den zu hohen Ausgaben, sondern in der Wachstumsschwäche der Finanzierungsbasis. Deutlich wurde Seehofer aber auch, wohin die Reise geht: Über die Festsetzung des Arbeitgeberanteils auf 13 Prozent bestünde Konsens mit der Regierung. Auch die „maßvolle Form der Selbstbeteiligung“ halte er für richtig. Insofern haben Kassen und Gewerkschaften noch viel zu tun, wenn sie die Bürger vor den sozialen Grausamkeiten der virtuellen „Großen Koalition“ bewahren wollen.

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Dr. med. Mabuse 143, Kommentar Wem nutzt der Wettbewerb um Qualität? Seit der Sachverständigenrat markant darauf aufmerksam gemacht hat, dass das deutsche Gesundheitswesen von Über-, Unter- und Fehlversorgung geprägt ist, richten sich die Hoffnungen vieler dahin, mit mehr Qualität und Effizienz den drohenden Zusammenbruch des Systems vermeiden zu können. Da kommt es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gerade recht, durch „Qualitätswettbewerb“ die Versorgung in Deutschland deutlich verbessern und dabei gleichzeitig Kosten sparen zu wollen. Die davonlaufenden Kosten sollen, wie jetzt noch einmal von der Rürup-Kommission unterstrichen, durch Strukturreformen im Gesundheitswesen und Selbstbeteiligungen abgebaut werden. Aber das Zauberwort „Qualitätswettbewerb“ soll nur davon ablenken, dass eine Transformation des Gesundheitswesens vonstatten geht. Prognosen gehen eher davon aus, dass die Kosten weiter steigen werden. Beunruhigende Nachrichten also. Und damit wird die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgehöhlt und letztendlich abgeschafft. Wer sich nicht dem Vorwurf des Neoliberalismus aussetzen möchte, setzt stattdessen auf den „Qualitätswettbewerb“, getreu nach dem Motto: „Politik ist die Vereinnahmung positiv besetzter Schlagworte“. Was haben wir von der Forderung nach mehr Qualität zu erwarten? Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wiederholt gebetsmühlenartig, dass die Qualität im Wettbewerb der Anbieter und Krankenkassen zu einer höheren Effizienz und damit zu geringeren Kosten im Gesundheitswesen führen werden. Außer acht lässt sie dabei die Frage, warum eine gute Qualität automatisch zu Einsparungen führen sollte. Damit ist im Grunde nicht zu rechnen. Stattdessen werden sich einige Dinge grundlegend ändern. Einige Beispiele: Die Einführung der KrankenhausFallpauschalen (DRGs) hat zur Folge, dass sich die einzelnen Häuser dahingehend verglichen werden können, wie lange sie beispielsweise zur Versorgung einer Oberschenkelprothese benötigen. Darüber hinaus werden die Kliniken in einen betriebswirtschaftlichen Wettbewerb miteinander geschickt. Nur die Krankenhäuser, die es sich leisten können, eine professionelle Controlling-Abteilung zu halten, werden ihre Leistungen adäquat abrechnen können. Nur diese Häuser sind in der Lage, die Melkkühe von den Ertragfressern zu unterscheiden. Wer clever ist, schließt unprofitable Abteilungen. Die Sicherstellung der Kran-

kenversorgung wird aufgegeben. Insgesamt kann es nach einer Einschätzung von Prof. Karl Lauterbach, Gesundheitsökonom und Ratgeber der Gesundheitsministerin, zu einer Verringerung der Kliniken von heute 2200 auf 1500 Kliniken in den nächsten zehn Jahren führen. Es trifft die öffentlichen Häuser; profitieren werden, wen wundert´s, die privaten Klinikketten. Diese haben heute schon einen Marktanteil von über 20 Prozent erkauft. Die Umsetzung von ambulanter Behandlung an stationären Einrichtungen wird auch zur Folge haben, dass die Gesamtzahl der Praxen zurückgehen wird. Ob das zu ohne Versorgungsmängel erfolgen kann, muss sich erst noch zeigen. Und auch hier: Es werden nicht nur die unterqualifizierten und unwilligen Ärztinnen und Ärzte herausgefiltert. Es bleiben weit mehr auf der Strecke. Insbesondere in dieses Klagelied fällt immer wieder die KV ein. Die Einführung von Integrierter Versorgung und Chronikerprogrammen (DMP) wird von den Krankenkassen genutzt, um sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Dadurch können nur die großen Kassen Versorgungsverträge abschließen. Ohne gemeinsame Vorgehensweise wird aber gerade der Gedanke der vernetzten Zusammenarbeit ad absurdum geführt. Weniger Mitsprache: Was sich einmal als Qualität erwiesen hat, kann von der Patientin nicht mehr in Frage gestellt werden. Durch eine unantastbare Wissenschaftlichkeit wiederholt sich paternalistisches Verhalten im Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mehr Kostenkontrolle durch die Krankenversicherungen: Die Kassen werden es bei einer bloßen Qualitätskontrolle nicht belassen. Ihr Interesse im Kassenwettbewerb muss es sein, sich Leistungen so günstig wie möglich einzukaufen. Das verursacht Schieflagen im stationären und ambulanten Bereich. Für die Versicherten heißt das, als gute Risiken umworben oder als Kostenverursacher gebrandmarkt zu werden.

Verminderter Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung Verwundert wird sich der ein oder die andere LeserIn jetzt die Augen reiben: Wie, das alles geht mit der Forderung nach mehr Qualität? Leider ja, muss den Gutmenschen an dieser Stelle gesagt werden. Ebenfalls private Gruppen werden davon profitieren, dass zukünftig die fachärztliche Versorgung nur noch an die Kliniken angebunden angeboten werden soll: Statt der Kassenärztlichen Vereinigungen werden sich Health Maintanance Organisations (HMO) nach amerikanischen Vorbild herausbilden, die den Rahm abschöpfen und weiterhin dafür sorgen werden, dass das Gesundheitswesen ein lukratives Geschäft bleibt. Und auch das unter dem Aspekt der Qualität: Alle Leistungen unter einem Dach, aber nicht mehr kostengünstig wie einstmals in den Polikliniken der DDR, sondern lediglich günstig im Unterhalt und damit für die neuen Herren im Gesundheitswesen. In der Niederlassung werden sich dann nur noch Allgemeinärzte und Internisten befinden, denen fachärztliches Handeln als Hausärzten verboten ist. Wir geben die Überversorgung auf zugunsten einer geregelten Versorgung, die immerhin die Möglichkeit der Mangelversorgung aufweist.

Mit Qualität hat das nichts zu tun Wolfgang Albers, Mitglied der FrAktion Gesundheit Berlin, brachte es auf den folgenden Nenner: Wir geben die Chance der Gnade der Intransparenz zugunsten einer Durchökonomisierung auf. Längst gilt die Kostenersparnis als Luftnummer. Denn die Einsparungen, die eventuell erzielt werden können, zehren sich bei den verschiedenen Dienstleistern auch wieder auf. Wenn wir die zu Recht gescholtenen Kassenärztlichen Vereinigungen abschaffen, werden andere Organisationen und Verbünde entstehen, die sich eine Scheibe vom Kuchen abschneiden werden. Nicht für umsonst wollen die privaten Krankenhausbetrieber möglichst schnell auch die Integrierte Versorgung für sich vereinnahmen.

38 Hans Ulrich Deppe sagte einmal, dass, da es sich bei der Gesundheit um ein hohes soziales Gut mit erheblichen Risiken handele, die professionelle Qualität der Gesundheitsförderung und Krankenversorgung gesichert werden muss, da der Ermessensspielraum für therapeutische Entscheidungen breit und Missbrauch möglich ist. Wer sagt eigentlich, dass die Kassen zukünftig ein Interesse daran haben, nur einen Qualitätswettbewerb

Gesundheits- und Sozialpolitik zu betreiben? Was, wie in Berlin tagtägliches Geschäft, wenn die Kliniken durch die wechselhafte Vertragspolitik der Kassen an den Rand des Ruins gebracht werden? Zunächst einmal muss in die erhoffte Qualität investiert werden. Was das heißt, können diejenigen, die mit der Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf Fallpauschalen (DRGs) beschäftigt sind, gut beschreiben. Die Entwicklung und die Umset-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 zung von Chronikerprorammen (DMPs) kosten bereits jetzt sowohl bei der Ärzteschaft als auch bei den Kassen immense Mittel. Ebenso verhält es sich mit der neuen Krankenversichertenkarte: Unter der Annahme, die Arzneimittelsicherheit erhöhen zu können, werden Milliarden in den Ausbau der Gesundheits-EDV gesteckt. Daniel Rühmkorf

Eckpunkte zur Modernisierung des Gesundheitswesens Übersicht Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Stand: 5. Februar 2003-07-14 Ausgangslage • Wir haben ein leistungsfähiges Gesundheitswesen in Deutschland; allein durch Beiträge stehen 142 Mrd. Euro den Patientinnen und Patienten zur Verfügung. • Alle Versicherten haben die gleichen Rechte. Wir haben keine Wartelisten und auch keine Altersbeschränkungen für lebensnotwendige Operationen. Aber es gibt Fehl-, Überund Unterversorgung. Das System ist zu teuer, teils wenig wirksam und zu wenig an den Erfordernissen der Patientinnen und Patienten orientiert. • Das System ist ständigem Druck von Lobbyisten und Anbietern ausgesetzt; es gibt zu viele Anreize, auf Kosten der Beitragszahler ungenügende Leistungen zu erbringen. Unsere Reform: Die Patienten profitieren doppelt – mehr Qualität führt auch zu stabilen Beiträgen • Wir werden für die Menschen in Deutschland erreichen, dass die Gesetzliche Krankenversicherung weiterhin das medizinisch Notwendige in guter Qualität sicherstellt und gleichzeitig finanzierbar bleibt. • Kernelemente der Reform sind eine höhere Behandlungsqualität und eine Verbesserung des Wettbewerbs: Wir wollen einen Qualitätswettbewerb der Krankenkassen und der Leistungserbringer. Wettbewerb ist dabei kein Selbstzweck sondern dient der Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Beschleunigung von Innovationen. • Wir werden mehr Entscheidungsmöglichkeiten einführen. Nur solche sind vertretbar, von denen Gesunde und Kranke gleichzeitig profitieren. • Das Preis-/Leistungsverhältnis muss sich verbessern. Nur dann kann sich das Gesundheitswesen als Wachs-

tumsmarkt und „Jobmaschine“ entfalten.

Acht Maßnahmen für Qualität und Wirtschaftlichkeit 1. Stärkung der Patientensouveränität und -rechte – Patienten als Partner • Patienten werden von Betroffenen zu Beteiligten. • Die Transparenz der Leistungserbringung wird für die Patienten verbessert – sie wissen besser, „was läuft“ und achten selbst mit auf eine gute Versorgung. Gut informierte Patienten werden zur Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen beitragen. • Patienten erhalten Informationsund Anhörungsrechte beim „Zentrum für Qualität in der Medizin“ und bei den Bundesausschüssen. • Patientenbeauftragter auf Bundesebene. 2. Verbesserung der Patientenversorgung – Gute Qualität für alle • Verpflichtung der Ärzte zur Fortbildung – nur wer sich regelmäßig fortbildet, darf GKV-Patienten behandeln; Verbesserung des Qualitätsmanagements in Arztpraxen. • Gründung eines staatsfernen und von Interessengruppen unabhängigen „Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin“ – es soll eine Art „Stiftung Warentest im Gesundheitswesen“ werden. Die Verantwortung der Selbstverwaltung für die Wirtschaftlichkeit bleibt unberührt. • Aufgaben u. a.: Verbesserung der Patienteninformation, Entwicklung von Behandlungsleitlinien für die wichtigsten Volkskrankheiten, Ein-

führung einer Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln • Verbesserung der Arzneimittelsicherheit. 3. Verbesserung der Transparenz – Grundlagen für ein modernes Informationsmanagement legen • Einführung der Patientenquittung. • Elektronische Gesundheitskarte wird schrittweise bis zum 1.1.2006 eingeführt. Künftig werden Behandlungen, Überweisungen durch Ärzte, Rezepte und Notfalldaten hierauf gespeichert. Der Patient ist „Herr seiner Daten“. Der Datenschutz bleibt gewährleistet. • Empfehlungen des „Zentrums für Qualität in der Medizin“ sind auf jeder Stufe transparent und für Patienten abrufbar. • Zusammenführung der Leitungsund Abrechnungsdaten unter Wahrung des Datenschutzes. 4. Entscheidungsfreiheit für Versicherte – Belohnung für rationales Verhalten • Wir werden nur solche Entscheidungsmöglichkeiten einführen, von denen Gesunde und Kranke gleichzeitig profitieren, z.B. durch Boni für erfolgreiche Teilnahme an qualitätsgesicherten Präventionsprogrammen oder regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen. • Der Hausarzt wird für Versicherte „Lotse“ im Gesundheitswesen und Arzt des besonderen Vertrauens sein. Krankenkassen werden verpflichtet, Anreize für freiwillige Inanspruchnahme des Hausarztmodells für die Versicherten anzubieten. • Neuregelung der Zuzahlungsmodalitäten – über die Höhe der Zuzahlungen entscheiden nicht mehr

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Gesundheits- und Sozialpolitik

Packungsgrößen oder Einkommen, • Schnellere Konfliktlösung in der Selbstverwaltung – Konflikte dürsondern wirtschaftliches und gefen nicht auf dem Rücken der Patisundheitsbewusstes Verhalten. enten ausgetragen werden! • Organisationsreform der Kranken5. Modernisierung der Versorkassen umsetzen. Der Qualitätsgung – Erweiterung der freien wettbewerb der Kassen wird geArztwahl stärkt! • Gemeinsame Verantwortung von • Publizitätspflicht der VorstandsgeKassen und Vertragsärzten für die hälter und AufwandsentschädigunSicherstellung: Beide Seiten gegen der Kassen und Kassenärztliwährleisten die gute Versorgung chen Vereinigungen. der Patienten! • Einzelverträge ergänzen KollektivZusammenfassung der Maßverträge in bestimmten fachärztlinahmen zur Modernisierung chen Bereichen – Erfahrung und Spezialisierung sorgen für gute Qualität. • Stärkung der Patientensouveräni• Krankenhäuser: Teilöffnung für amtät und -rechte bulante Versorgung in unterver- • Verbesserung der Patientenversorsorgten Regionen und für hochgung spezialisierte Leistungen. • Verbesserung der Transparenz • Errichtung von Gesundheitszentren • Entscheidungsfreiheit für Versicherermöglichen – Chancen für eine gute te Versorgung aus „einer Hand“ nut- • Modernisierung der Versorgung – zen! Diese Zentren bieten PerspekErweiterung der freien Arztwahl tiven insbesondere für junge Ärztin- • Weiterentwicklung des ärztlichen nen und Ärzte. Vergütungssystems • Verbesserung der Arzneimittelver6. Weiterentwicklung des ärztlisorgung chen Vergütungssystems • Modernisierung der Steuerung – – Anreize für bessere und wirtSchaffung eines leistungsfähigen schaftlichere Behandlung Managements Dies erhöht die Qualität für die Pa• Patientenorientierte Vergütung für tienten und sichert die Wirtschaftdie hausärztliche Versorgung. Dies lichkeit und stabilisiert die Beiträwird für die Hausärzte ein Anreiz für eine qualitätsgesicherte Behandlung ge sein. • Fallpauschalen und Komplexgebühren für fachärztliche Leistungen und ambulante Operationen – jeder Leistungskomplex wird seinen festen Preis haben. 7. Verbesserung der Arzneimittelversorgung – Qualitäts- und Preisbewusstsein stärken • Therapienutzen/Kostenbewertung von Arzneimitteln durch „Zentrum für Qualität in der Medizin“: Weniger „Scheininnovationen“ die minimal besser aber maximal teurer sind. • Liberalisierung der Preisgestaltung bei Arzneimitteln (Novellierung der Arzneimittelpreisverordnung). • Aufhebung Mehrbesitzverbot bei gleichzeitiger Gewährleistung wohnortnaher Versorgung (Liberalisierung des Apothekenrechts). • Zulassung von Versandapotheken (e-Commerce – Liberalisierung der Vertriebswege) 8. Modernisierung der Steuerung – Schaffung eines leistungsfähigen Managements • Organisationsstrukturen der Kassenärztlichen Vereinigung modernisieren – Professionalisierung der Arbeit; Beratungs- und Qualifizierungsangebote für Ärzte.

Schutz vor Missbrauch und Korruption im Gesundheitswesen

39 „Jobmaschine“, die bestehende Arbeitsplätze sichert und neue schafft. Nur ein effizienter Einsatz von Mitteln gewährleistet angemessene Arbeitsbedingungen und eine leistungsgerechte Honorierung.

Ständiger Reformprozess notwendig • Seit Jahrzehnten gibt es Reformen im Gesundheitswesen. • Damit das Gesundheitswesen den Zukunftsanforderungen gerecht wird, brauchen wir einen ständigen Reformprozess. • Die Modernisierung des Gesundheitswesens wird durch folgende laufende und zukünftige Maßnahmen flankiert: – Umsetzung des Fallpauschalengesetzes – Einführung der Positivliste im Arzneimittelbereich – Einführung eines morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs – Einführung von weiteren strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke – Erarbeitung eines Präventionsgesetzes

Perspektiven für alle schaffen • Wer morgen noch das medizinisch notwendige finanzieren will, muss heute die Strukturen des Gesundheitswesens modernisieren. • Eine gute Bezahlung gesundheitlicher Leistungen erfordert eine hohe Produktivität und einen effizienten Mitteleinsatz. • Der Reformprozess bietet Zukunftschancen für alle, die sich an Veränderungen beteiligen. • Wer notwendige Veränderungen blockiert, gefährdet das Gesundheitswesen als Herzstück des Sozialstaats.

• Die Fälle von Missbrauch und Korruption häufen sich: z.B. Missbrauch der Krankenversichertenkarte, Abrechnung von Leistungen für Verstorbene, falsche Abrechnung von ausländischen Produkten. • Errichtung von Prüf- und Ermittlungseinheiten bei den Krankenkassen • Verschärfung der Sanktionen im Das gesamte Eckpunktepapier zur Heilmittelwerbegesetz. Gesundheitsreform findet sich im Internet unter Wirkung der Reform (http://www.cdu.de/tagesthema/ • Jede Änderung der Finanzierung der 21_07_03_eckpunktepapier.pdf). gesetzlichen Krankenversicherung muss auf effizienten Strukturen aufbauen. • Schritt für Schritt werden wir erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven für eine bessere Versorgung der Patienten mobilisieren und damit auch die Beiträge stabilisieren. • Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass sich ein besseres Preis-/ Leistungsverhältnis nur mit abgestimmten Strukturveränderungen erreichen lässt. • Nur ein wirtschaftlich produktives Gesundheitswesen ist auch eine

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Gesundheits- und Sozialpolitik

Eckpunkte des DGB zur Gesundheitsreform 2003

„Eine gesunde Reform für alle“ Berlin, 12. Februar 2003 Vorbemerkung Das Gesundheitswesen ist ein bedeutender Wirtschaftszweig mit über vier Millionen Arbeitsplätzen, der ohne die dem Solidaritätsprinzip verpflichtete gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht den Status der größten Dienstleistungsbranche unserer Volkswirtschaft erreicht hätte. Seine Reform ist eine politische Daueraufgabe, die sich beständig im Spannungsverhältnis von steigenden Ausgaben einerseits, begrenzten finanziellen Ressourcen andererseits bewegt. Dieser grundsätzliche Konflikt kann weder durch quantitative Budgetschränkungen noch durch kurzfristige Erhöhungen der Einnahmen gelöst werden. Es geht vielmehr darum, die Effektivität und die Wirtschaftlichkeit des Ressourceneinsatzes immer aufs Neue zu überprüfen und die Versorgungs- und Finanzierungsstrukturen den veränderten Bedingungen anzupassen. Nur so kann die solidarische Krankenversicherung als unverzichtbares ordnungspolitisches Kernstück unseres Gesundheitswesens zukunftssicher gemacht werden. Der DGB strebt eine Reform des Gesundheitswesens an, welche die vorhandenen Versorgungsdefizite, Unwirtschaftlichkeiten und überholten Organisationsstrukturen anpackt. Es sind ausreichende finanzielle Mittel vorhanden, die jedoch so eingesetzt werden, dass neben Überversorgung und teilweise auch Verschwendung in einigen Versorgungsbereichen gravierende Mängel und Unterversorgung in anderen Bereichen gegenüberstehen. Wir verfügen über ein technisch bestens ausgestattetes Gesundheitswesen, verzeichnen aber zugleich erhebliche Defizite in der Prävention, der Behandlung chronisch Kranker sowie generell in der Verzahnung der einzelnen Versorgungsbereiche, dem Qualitätsmanagement und der Leistungstransparenz. An diesen Punkten muss die anstehende Gesundheitsreform vordringlich ansetzen. Erst danach müssen Maßnahmen zur mittel- bis langfristigen Sicherung der Finanzierung der solidarischen Krankenversicherung ergriffen werden. Deshalb muss die Gesundheitsreform 2003 nach Meinung des DGB drei Schwerpunkte haben: 1. Die Qualität der Versorgung muss verbessert werden. 2. Die Integrierte Versorgung muss gefördert und zur Regelversorgung werden.

3. Ein Wettbewerb um die Qualität muss eingeleitet werden. 1. Die Qualität der Versorgung muss verbessert werden. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit 2000/ 2001 festgestellt, dass in Deutschland ca. die Hälfte aller an den wichtigsten chronischen Krankheiten leidenden PatientInnen nicht nach dem wissenschaftlich gesicherten Stand behandelt werden. Dieses Defizit zeigt sich in überdurchschnittlich hoher Mortalität und Morbidität im Vergleich zu anderen Ländern. So liegt beispielsweise die Sterblichkeit für Diabetes, Darmkrebs, Brustkrebs, Schlaganfall und Bluthochdruck in Deutschland im europäischen Vergleich nur im mittleren Bereich, obwohl Deutschland mit die höchsten Arzneimittelausgaben, eine hohe Ärztedichte und lange Krankenhausverweildauern aufweist. Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung können durch neue Formen des Wettbewerbs erreicht werden. Wer allerdings mehr Wettbewerb fordert, um Rationalisierungsreserven im System zu erschließen, muss gleichzeitig definieren, welche Parameter Grundlage des Wettbewerbs sein sollen. Sonst besteht die Gefahr, dass Wettbewerb zu Risikoselektion und Qualitätseinbußen führt. Mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem kann daher nur Wettbewerb um mehr Effizienz und mehr Qualität bedeuten. Um solch einen Qualitätswettbewerb zu initiieren, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Wir brauchen mehr Transparenz im Versorgungssystem. Mehr heißt, bessere und verständliche Informationen über Diagnose, Therapie, Untersuchungsmethoden, Arzneimittel, Auswirkungen einzelner Maßnahmen und Wechselwirkungen verschiedener Therapien. Konkret bedeutet dies: Wir brauchen ein Datentransparenzgesetz, das die Krankenkassen und die Leistungserbringer zu einer sachgerechten Dokumentation von Behandlungsabläufen und deren Kosten unter Wahrung der allgemeinen Grundsätze des Datenschutzes verpflichtet. Daneben sollte eine qualifizierte Gesundheitsberichterstattung unter

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Nutzung und Ausbau der bereits bestehenden Datenflüsse etabliert werden. Die Ergebnisse der Gesundheitsberichterstattung dürfen keinen Rückschluss auf den einzelnen Patienten erlauben. Die Krankenkassen müssen in die Lage versetzt werden, gute und schlechte Qualität differenziert zu honorieren. Das bedeutet, dass Krankenkassen ihren Mitgliedern die Ärzte und Krankenhäuser nennen dürfen, die auf der Grundlage des besten medizinischen Wissens eine besonders gute Qualität anbieten. Zum Beispiel ist es für PatientInnen wichtig zu wissen, wer sich an Maßnahmen der Qualitätssicherung oder an strukturierten Behandlungsprogrammen beteiligt. Zusätzlich sollte es den Krankenkassen möglich sein, mit solchen qualitätsorientierten Leistungserbringern gesonderte Verträge abzuschließen. Beispiele hierfür sind die gesonderte Vergütung des Dokumentationsaufwandes in strukturierten Behandlungsprogrammen für chronische Erkrankungen (Disease-Management-Programme). Mehr Transparenz wird auch durch die obligatorische Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte erreicht werden, die folgende Elemente zusammenfasst: Elektronisches Rezept, elektronische Patientenakte, elektronischer Arztbrief, Notfallausweis. Damit können z.B. unnötige Doppeluntersuchungen vermieden, Arzneimittelunverträglichkeiten erfasst und die Kommunikation an den Schnittstellen der Versorgung verbessert werden. Die Zusammenfassung dieser Informationen bietet die Möglichkeit, dass sich Ärzte und andere beteiligte Gesundheitsberufe sehr schnell einen umfassenden Eindruck über die Krankheitsgeschichte und aktuelle Therapien eines Patienten verschaffen können, um zielgenau die anstehenden Maßnahmen einzuleiten. Unabdingbar für die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte ist, dass der Patient Herr seiner Daten bleibt und Missbrauchsmöglichkeiten durch Dritte (z.B. durch Arbeitgeber zur Einstellungsuntersuchung) ausgeschlossen sind. Bei jedem Qualitätswettbewerb muss sichergestellt werden, dass transparente und wissenschaftlich begründete Qualitätsstandards etabliert werden. Widersprüchliche oder stark voneinander abweichende Qualitätsstandards führen nicht zu einer generellen Erhöhung der Qualität in der Versorgung. Außerdem tragen sie zu einer starken Verunsicherung der betroffenen PatientInnen bei. Daher gehört zu jedem Qualitätswettbewerb, dass Qualitätsstandards einheitlich und verbindlich vorgegeben werden.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Die Standards müssen sich an der wissenschaftlichen Evidenz orientieren und müssen von wirtschaftlichen Interessen unabhängig definiert werden. Daher ist für die Ausarbeitung solcher Standards ein nicht staatliches, unabhängiges Zentrum für Qualität in der Medizin einzurichten. Dieses sollte sich auch externen Sachverstandes und der Erfahrungen von PatientInnen bedienen. Die Standards müssen nach einem nachvollziehbaren und wissenschaftlich gesicherten Verfahren in Empfehlungen umgesetzt werden. Behandlungsleitlinien, sogenannte evidenzbasierte Leitlinien, müssen veröffentlicht und für Ärzte und Patienten nachvollziehbar formuliert werden. Es sollten nicht nur Empfehlungen zur Therapie von Erkrankungen, sondern auch die Verfahren bewertet werden, die zum Einsatz kommen. Das unabhängige, nicht staatliche, Zentrum für Qualität in der Medizin hat diese Aufgaben: • Entscheidungsvorbereitung für die reformierten Ausschüsse der gemeinsamen Selbstverwaltung • Information und Aufklärung (z.B. für PatientInnen verständliche Leitlinien) • Sicherstellung eines qualitätsgesicherten und transparenten Verfahrens unter Einbezug von Patienteninteressen • Erhöhung der Transparenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung Für das Zusammenspiel der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen (Bundesausschüsse) und dem Zentrum für Qualität in der Medizin müssen Regeln und Verfahren entwickelt werden, damit neueste medizinische Erkenntnisse umgehend in den Versorgungsalltag einziehen und den PatientInnen zugute kommen können. Zunächst müssen die Bundesausschüsse jedoch reformiert werden. Notwendig dazu sind folgende Arbeiten: • Analyse der Qualitätsdefizite der medizinischen Versorgung • Benennung der Probleme in der Entscheidungsfindung der gemeinsamen Selbstverwaltung (Verfahrensregeln, juristische Qualität der Entscheidungen usw.) • Erarbeitung von Reformvorschlägen für mehr Effizienz und Transparenz der Arbeit der Ausschüsse auf Bundesebene, der Entscheidungsprozesse der Bundesausschüsse und des Koordinierungsausschusses, Entwicklung vereinfachter Verfahren der Abstimmung in den Bundesausschüssen und im Koordinierungsausschuss Die Hauptaufgabe des Zentrums ist die Prüfung des therapeutischen Nut-

Gesundheits- und Sozialpolitik zens und der Wirtschaftlichkeit von Verfahren, Leistungen und Methoden in der medizinischen Versorgung. Es arbeitet damit der Gemeinsamen Selbstverwaltung zu. Die Entscheidung über die Definition neuer Leistungen und die Verabschiedung von Behandlungsleitlinien obliegt den reformierten Bundesausschüssen. 2. Die Integrierte Versorgung muss gefördert und zur Regelversorgung werden Die sektorale Abschottung der einzelnen Versorgungsbereiche zählt zu den zentralen Mängeln des deutschen Gesundheitswesens. Die organisatorische Trennung von hausärztlicher und fachärztlicher, ambulanter und stationärer, akuter und rehabilitativer, medizinischer und pflegerischer Versorgung ist nicht nur eine der zentralen Ursachen für Über-, Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen, sondern auch wesentlicher Grund für die Verschwendung humanitärer und monetärer Ressourcen. Die Aufrechterhaltung der starren Abgrenzung dieser Sektoren macht deutlich, dass die Versorgung nicht auf der Grundlage einer von den Patientenbedürfnissen ausgehenden Prozesssteuerung erfolgt. PatientInnen sind weitgehend auf sich allein gestellt und können das undurchsichtige Angebotsgeflecht kaum durchdringen. Juristische und informationstechnische Hindernisse erschweren die Ausübung von Navigationsfunktionen durch Krankenkassen, Selbsthilfegruppen oder Patientenberatungsstellen. Die Lotsenfunktion des Hausarztes ist in Deutschland nur schwach ausgebildet. Diese Defizite sind seit langem bekannt. Seit der Gesundheitsreform 2000 haben Krankenkassen die Möglichkeit, über Erprobungsregelungen und Strukturverträge das traditionelle Vertragsarztsystem zu überwinden und integrierte Versorgungsformen und -konzepte zu fördern. Die Erwartungen, die die Politik an innovative Akteure mit der Einführung einer neuen, ausdrücklich gleichberechtigten Versorgungsform neben der bisherigen Regelversorgung ausgesprochen hatte, konnten aber bisher nicht erfüllt werden. Nur mit Mühe kam auf Bundesebene eine Rahmenvereinbarung über die integrierte Versorgung zustande, die zudem ein im Gesetz nicht vorgesehenes Beitrittsrecht der Kassenärztlichen Vereinigungen zu integrierten Versorgungsverträgen vorsieht. Neben dem politischen Druck, der von kassenärztlichen Vereinigungen auf Ärztinnen und Ärzte ausgeübt

41 wird, die gemäß den Intentionen des Gesetzgebers auch ohne deren Beteiligung neue Verträge schließen wollen, werden vor allem folgende Gründe für die mangelnde Attraktivität einer integrierten Versorgung angeführt: • ungeklärtes Nebeneinander von integrierter Versorgung, Strukturverträgen und Modellversuchen • Barrieren aus dem ärztlichen Berufsrecht • Unklarheit über Unternehmensund Rechtsformen • fehlende Beteiligungsanreize für Patientinnen und Patienten, Leistungserbringer und Krankenkassen • Unpraktikabilität der Budgetausgrenzung • fehlende Einbeziehung der Arzneimittelversorgung (einschließlich des Arzneimittelvertriebs) und sonstiger veranlasster Leistungen Neue gesetzliche Regelungen müssen darauf abzielen, dass sich an regionalen Versorgungsnotwendigkeiten angepasste integrierte Versorgungsformen entwickeln. Diese Versorgungsformen sollten sich nicht allein auf die integrierte Versorgung im Sinne der §§ 140 a ff. SGB V beschränken. Stattdessen sind folgende Schritte erforderlich: • In der integrierten Versorgung sollten sich über Such- und Bewertungsprozesse die Modelle durchsetzen können, die für alle Beteiligten die bestmögliche Behandlung garantiert. Dazu gehört, dass PatientInnen eine umfassende medizinische Versorgung aus einer Hand geboten wird. Sie haben bei der Behandlung durch mehrere Fachdisziplinen kurze Wege und können sicher sein, dass alle beteiligte Ärzte ihre Informationen zeitnah austauschen. Ärzte und die anderen Gesundheitsberufe können von aufwändigen Verwaltungstätigkeiten entlastet werden und sich intensiver der Arbeit am Patienten widmen. Die gemeinsame Nutzung von teuren Geräten und Räumlichkeiten senkt die Betriebskosten und damit die Behandlungskosten für die Krankenkassen insgesamt. • Auch sollten die Krankenhäuser für bestimmte Bereiche der ambulanten Versorgung geöffnet werden. In Regionen, in denen Unterversorgung in der medizinischen Standardversorgung herrscht, können sie eine besondere Bedeutung bekommen. • Es sollten Gesundheitszentren nach dem Vorbild von sog. „311er-“Einrichtungen in den neuen Bundesländern (Brandenburger Modell) ebenso bundesweit gefördert werden wie Eigeneinrichtungen der Kran-

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kenkassen, die dem Ziel der Integration verpflichtet sind. • Durch die Einführung von Fallpauschalen (DRGs) und strukturierten Behandlungsprogrammen (DiseaseManagement-Programmen) sind wichtige Änderungen in der Krankenhauslandschaft zu erwarten. Anzahl und Dauer von Krankenhausaufenthalten werden vermutlich sinken und Kapazitäten und Ressourcen in den Krankenhäusern freisetzen. Damit besteht die Möglichkeit, frühzeitig eine Neuausrichtung von Strukturen im Krankenhausbereich zu schaffen. Beispielsweise sind Krankenhäuser aufgrund der vorhandenen materiellen und personellen Ressourcen gut geeignet als Koordinationszentrum für Maßnahmen der Integrierten Versorgung. Die Ausgaben für die Vorhaltung von Doppelstrukturen können gesenkt werden und PatientInnen müssen keine Doppel- und Dreifachuntersuchungen über sich ergehen lassen.

hinauslaufen. Deshalb wird aus wettbewerblichen und kartellrechtlichen Gründen ein formalisiertes Vertragsabschlussverfahren, insbesondere über den Weg der Ausschreibung von Versorgungsaufträgen, favorisiert. Außerdem müssen bundeseinheitliche Vorgaben sicherstellen, dass der Vertragswettbewerb nicht zur Risikoselektion missbraucht wird und den Zugang aller Versicherten zu adäquaten Versorgungsangeboten einschränkt. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass alle Versicherten, unabhängig von ihrer Kassenzugehörigkeit, das Angebot an integrierten Versorgungsformen. Um integrierte Versorgung zu fördern, müssen Maßnahmen ergriffen werden. Die rechtliche Hindernisse beseitigen, die ökonomische Anreize schaffen und betriebswirtschaftliche Impulse geben. Dazu sind folgende Regelungen notwendig:

Damit Modelle der Integrierten Versorgung überhaupt etabliert werden, ist es notwendig, dass bremsende Regulierungen und blockierende Eigeninteressen von Standesorganisationen beseitigt werden: • Dazu müssen Budgetausgrenzungen aus sektoralen Budgets vereinfacht werden und die bewusste Förderung der integrierten Versorgung zu Lasten der bisherigen Regelversorgung erzielt werden. • Daneben ist der Vorrang des Sozialrechts vor dem Berufsrecht ausdrücklich gesetzlich klarzustellen. Dies betrifft vor allem den Aspekt, dass sich Anbieter integrierter Versorgungsformen aller zivilrechtlich möglichen Unternehmensformen bedienen dürfen. • Über das Sozialrecht hinaus müssen Versorgungsmodelle mit verlässlichen organisatorischen Strukturen gefördert werden. Gerade die Hoffnungen in den Wachstumsmarkt Gesundheit gebieten es, für die Entwicklung von Betriebs- und Vergütungskonzepten und für die Gründung von integrierten Versorgungsformen Ressourcen bereitzustellen, z.B. durch Innovationsfonds . Neben Anreizen für Leistungserbringer sollten Anreize für Versicherte möglich werden.

• Das Beteiligungsrecht der KVen an jeden Vertrag über integrierte Versorgung nach drei Jahren ist zu beseitigen • Durchsetzung des Vorrangstellung des Sozialrechts vor dem Berufsrecht (u.a. durch Klarstellung, dass Anbieter integrierter Versorgungsformen sich aller zivilrechtlicher Unternehmensformen bedienen dürfen) • Ermöglichung von Eigeneinrichtungen der Krankenkassen • Schaffung von Ausschreibungsmöglichkeiten für Krankenkassen • Liberalisierung des Arzneimittelvertriebs und Ermöglichung von Direktverträgen der Krankenkassen mit pharmazeutischen Herstellern, Großhändlern und Apotheken • Wegfall der Apothekenpflicht für Impfstoffe

Insbesondere in Ballungsgebieten werden sich dadurch differenzierte Versorgungsmodelle entwickeln, die in einem regulierten Vertragswettbewerb miteinander konkurrieren. Damit wird das Nebeneinander von Individual- und Kollektivverträgen künftig zum Regelfall. Dies darf allerdings nicht auf eine Atomisierung der Vertragslandschaft

Bereinigung von bremsender Regulierung

Übergangsregelung zur Förderung der integrierten Versorgung Für die Förderung der Integrierten Versorgung ist die Gestaltung der Übergangsphase von zentraler Bedeutung. Besondere Wechselwirkungen bestehen zur Ausgestaltung des Sicherstellungsauftrages und der Vergütungssysteme, insbesondere für fachärztliche Leistungen. Gefahren für die Integrierte Versorgung liegen einerseits darin, dass die Politik die Dynamik des Wettbewerbs unterschätzt und irreversible Tatsachen ermöglicht. Es ist daher erforderlich, dass im Rahmen der Wettbewerbsordnung und des Wettbewerbsrechts Standards und Regeln definiert werden, die das ‚freie Spiel‘ der Marktkräfte in der Integrierten Versorgung zähmen. Kartellbildungen,

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Missbrauchsmöglichkeiten und PreisLeistungs-Defizite müssen ausgeschlossen bzw. sanktioniert werden, da sie letztendlich immer zu Lasten der PatientInnen gehen. Andererseits dürfen Regulierungsdichte und Regulierungstiefe die Suche nach neuen Versorgungsformen nicht ersticken. Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass eine Vielfalt von Modellen möglich wird und dass PatientInnen, Krankenkassen und Leistungserbringer erweiterte Wahlmöglichkeiten haben. Dann kann Integrierte Versorgung einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung von Qualität und Effizienz im deutschen Gesundheitswesen leisten. 3. Ein Wettbewerb um die Qualität muss eingeleitet werden Das Gesundheitswesen ist durch einen verzerrten Wettbewerb gekennzeichnet. Kartelle der Leistungserbringer stehen den zu einheitlichem und gemeinsamen Handeln gezwungenen Gesetzlichen Krankenkassen gegenüber. Die Kassen der GKV befinden sich in Wettbewerb untereinander, während der Kontrahierungszwang gegenüber den ärztlichen Leistungserbringern aufrecht erhalten wurde. Diese Konstellation erlaubt keine Konkurrenz um die Qualität der Versorgung und bessere Behandlungskonzepte. Wettbewerb kann kreative Potentiale im Hinblick auf die Suche nach neuen Organisationsstrukturen der Versorgung und der Schaffung effizienterer Betriebsformen freisetzen. Allerdings müssen die zerstörerischen Kräfte des Wettbewerbs in Zaum gehalten werden. Es muss ein Wettbewerbsrahmen geschaffen werden, der mit dem Solidaritätsprinzip im Einklang steht und sich auf die Versorgungsqualität konzentriert. Wettbewerb ist im Gesundheitswesen kein Ziel an sich. Wettbewerb im Gesundheitswesen muss immer ein Instrument sein, mit dem das eigentliche Ziel erreicht werden soll. Dieses Ziel die Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung, die allen Patienten und Versicherten zu Gute kommt. Die Ausgestaltung des Wettbewerbs im solidarischen Gesundheitswesen wird sich an dieser Zielrichtung orientieren müssen, anderenfalls ist er verfehlt. Notwendig ist daher die Definition eines Wettbewerbsrahmens für die solidarische Krankenversicherung, innerhalb dessen sich die Beteiligten zu bewegen haben. Eine solidarische Wettbewerbsordnung ist die Basis für einen Qualitätswettbewerb, der zu mehr Effizienz führt und nicht auf dem Rücken der PatientInnen ausgetragen wird.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Daher ist eine für die Versicherten produktive Weiterentwicklung des Wettbewerbs an die folgenden Bedingungen zu knüpfen: • Voraussetzung für den Ausbau der solidarischen Wettbewerbsordnung ist ein solidarisch und paritätisch finanzierter, einheitlicher Leistungskatalog. Nur auf dieser Grundlage kann ein weiterer Wettbewerb um zahlungsfähige Versicherte verhindert werden. Der Wettbewerb soll sich auf die Frage konzentrieren, wer gute Qualität günstig anbietet. Die Frage, welche Leistungen eine Kasse finanziert, sollte nicht Gegenstand des Wettbewerbs werden. • Eine weitere Voraussetzung für den Ausbau der solidarischen Wettbewerbsordnung ist, dass der Risikostrukturausgleich morbiditätsorientiert ausgestaltet wird. Finanzielle Anreize für eine Risikoselektion sind so weit wie möglich auszuschließen. Jede Kasse muss im Ergebnis über so viele Mittel verfügen können, die im Bundesdurchschnitt zur Versorgung ihrer jeweiligen Risikostruktur benötigt werden. Dann lohnt sich das „Rosinenpicken“, der Wettbewerb um junge, gesunde und gut verdienende Versicherte nicht mehr. Die Krankenkassen können dann ihre ganze Energie auf eine Verbesserung der Versorgungsqualität richten. • Für alle Patienten und Versicherten – unabhängig von Alter, sozialer Situation und Geschlecht – ist der uneingeschränkte Zugang zu verbesserten Versorgungsstrukturen mit erhöhter medizinischer Qualität sicherzustellen. Die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung ist eine öffentlich wahrzunehmende Aufgabe und muss dies auch bleiben. Dies beinhaltet die Verantwortung für eine zweckmäßige, ausreichende und das Maß des Notwendigen nicht überschreitende Versorgung mit medizinischen Leistungen, die sich an regionalen Morbiditätsindikatoren orientieren sollte. Regionale Gesundheitskonferenzen unter Beteiligung der relevanten Akteure können die Koordinierung und Planung der sektorenübergreifenden Versorgung unterstützen. Die Kontrolle, ob die Versorgung bedarfsgerecht ist, ist durch staatliche Instanzen auf der Ebene der Bundesländer vorzunehmen. Diese Kontrolle hat sich an der Zielsetzung der sektorenübergreifenden Versorgung zu orientieren. Es gilt, frühzeitig Unterversorgungssituationen zu ermitteln und diese nötigenfalls mit aufsichtsrechtlichem Druck auf die Krankenkassen und die Leistungsanbieter zu verhindern. Auch die Kontrolle der Einhaltung der Regeln des Wett-

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System“ tragen, sondern die Finanzierung gerechter gestalten und niedrigere Beitragssätze erreichen. Er sieht die zukünftige Ausgestaltung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zwingend eingebunden in das vorgestellte Konzept der qualitätsorientierten Weiterentwicklung des Gesundheitswesens, im dem die Bedarfe der Versicherten und Patienten im Vordergrund stehen. Angesichts der umfangreichen Qualitäts-, Wirtschaftlichkeits- und Steuerungsdefizite im Gesundheitswesen verfehlt eine alleinige Diskussion um die Veränderung der Finanzierungsgrundlagen der GKV das Ziel einer bedarfsgerechten und effizienten Neugestaltung des Versorgungssystems. Veränderungen in der Finanzierungsgestaltung der GKV allein sichern nicht das Gesundheitswesen der Zukunft. Zuvor sind Strukturreformen notwendig, die die Qualität und Wirtschaftlichkeit erhöhen. Das gegliederte System der GKV ist eine Solidargemeinschaft und beruht auf den Prinzipien der solidarischen Finanzierung und der bedarfsorientierten Leistungen. Jeder Versicherte zahlt nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit einen bestimmten prozentualen Anteil seines oder ihres Arbeitseinkommens an die Krankenkassen. Aus diesem Fonds wird die medizinische Versorgung aller Mitglieder der Kasse bezahlt, auch die der nicht erwerbstätigen Familienangehörigen. Im Unterschied zur Renten- und Arbeitslosenversicherung hat das Äquivalenzprinzip, d.h. die Abhängigkeit der Leistungen von der Höhe der Beitragszahlungen, keine Bedeutung bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Stattdessen gilt das Bedarfsprinzip; alle Versicherten haben Anspruch auf die medizinisch notwendigen Behandlungen in angemessener Qualität. An diesen Eckpfeilern der GKV rüttelt der DGB ebenso wenig wie an der paritätischen Finanzierung durch die Versicherten und deren Arbeitgeber. Unbestritten ist, dass sich die Finanzierungsprobleme der GKV seit 20 Jahren beständig verschärft haben. Die in diesem Zeitraum zu registrierenden Beitragssatzsteigerungen von durchschnittlich 12 % auf 14 % sind zu einem erheblichen Teil auf eine sinkende Lohnquote, d.h. den Anteil der Arbeitnehmer und Rentner am Volkseinkommen, zurückzuführen. Die hohe Arbeitslosigkeit, der kontinuierlich wachsende Anteil der Rentner an den GKV-Mitgliedern sowie ein stagnierenFinanzierung der GKV sichern des Niveau der Reallöhne haben die Der DGB will mit den nachfolgenden Beitragszahlerinnen stärker belastet Eckpunkten zur zukünftigen Finanzieals die Ausgabensteigerungen. Hinzu rung der GKV nicht „Mehr Geld in‘s kommen staatlicherseits verfügte Entbewerbs ist eine öffentliche Aufgabe. Das betrifft insbesondere das Verhindern des Auftretens marktbeherrschender Stellung und von Preisabsprachen, also die Überwachung wettbewerbsund kartellrechtlicher Grundsätze. Die Einführung eines Vertragswettbewerbs in der Beziehung der Krankenkassen zu Leistungserbringern muss einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Qualität und Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Notwendig ist hierbei die Veränderung der Vertragsgestaltung, die momentan die Kassen dazu zwingen, mit jedem zugelassenen Leistungserbringer über Kollektivverträge eine Beziehung herzustellen. Weder die Qualifikation des Arztes noch die erbrachte Qualität der Leistung sind von Bedeutung. Somit haben die Kassen derzeit keine Möglichkeit und keine Anreize, steuernd auf die erbrachte Qualität der medizinischen Leistungen für ihre Versicherten Einfluss zu nehmen. Mit der Einführung des Vertragswettbewerbs wird den Kassen auf der einen Seite die Möglichkeit der Steuerung gegeben. Leistungserbringer werden auf der anderen Seite gezwungen, ihre Qualifikation und ihre Qualität nachzuweisen, damit sie Versorgungsverträge abschließen können. Damit stehen sie im Wettbewerb und werden dann am Markt bestehen können, wenn sie die definierte Qualität ihrer medizinischen Leistungen erbringen. Die Frage danach, wer die Qualität von gesundheitlicher Versorgung und die Qualifikation der Leistungserbringer definiert, will der DGB allerdings nicht den Vertragspartnern der Einzelverträge überlassen. Stattdessen muss eine Institution, wie z.B. ein unabhängiges, staatsfernes Zentrum für Qualität in der Medizin, Standards und Leitlinien vorbereiten. Die Normierungen müssen auf hohem Niveau qualitätsgesichert definiert werden und gelten grundsätzlich für alle abzuschließenden Versorgungsverträge. Es sind Regelungen zu treffen, die ein sinnvolles Nebeneinander von Kontrahierungs- und Vertragsmodell bzw. einen reibungslosen Übergang vom Kontrahierungs- in das Vertragsmodell ermöglichen. Wenn der neue Wettbewerb im Gesundheitswesen nach diesen Grundsätzen ausgestaltet, gesteuert und immer wieder auf seine Wirkungen hin überprüft wird, kann er einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung von Qualität und Wirtschaftlichkeit leisten.

44 lastungen anderer Sozialversicherungszweige und des Bundeshaushaltes zu Lasten der GKV („Verschiebebahnhöfe“). Eine Reform der GKV-Finanzierung steht daher neben den dringend notwendigen Strukturveränderungen auf der gesundheitspolitischen Reformagenda weit vorne. Die Leitlinie für eine Reform der Finanzierungsgrundlagen der GKV muss sowohl aus volkswirtschaftlichen wie aus sozialen Gründen die Stärkung des Solidaritätsprinzips sein. Nur so ist unser Anspruch einzulösen, allen Bürgern den gleichen Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung zu garantieren. Der in der Diskussion befindliche Vorschlag, die solidarische Beitragsfinanzierung durch eine über Kopfpauschalen finanzierte private Pflichtversicherung zu ersetzen, lehnt der DGB ab. Die Umstellung der GKV-Finanzierung auf Kopfpauschalen führt zu sozialer Ungerechtigkeit und trägt nichts zur Verbesserung von Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen bei. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung, würden insbesondere Familien der unteren und mittleren Einkommensgruppen benachteiligt. Die von privaten Versicherungsgesellschaften und Unternehmerverbänden geforderte Finanzierung eines sozialen Ausgleichs über die Einkommenssteuer würde nicht nur eine volkswirtschaftlich unsinnige staatliche Subventionsspirale in Gang setzen. Diese Finanzierung ist auch außerordentlich intransparent und verkompliziert das Steuerrecht, anstatt es, wie allgemein gefordert, zu vereinfachen. Zudem würde die Gestaltung des Gesundheitswesens zunehmend stärker haushalterischen Gesichtspunkten unterliegen und nicht primär auf die Bedürfnisse von Versicherten und Patienten ausgerichtet sein. Der DGB stellt seine Vorschläge zur Ausgestaltung der Finanzierungsgrundlagen unter die Voraussetzungen, dass: • durch eine Gesundheitsstrukturreform die Qualität der Versorgung erhöht und die vorhandenen Wirtschaftlichkeitsreserven in der Erbringung von Leistungen gehoben werden • alle Versicherten und Patienten, unabhängig von ihrem Einkommen, den bedarfsgerechten Zugang zu allen Versorgungsangeboten haben und ihnen die Versorgung zukommt, die sie benötigen • die medizinische Versorgung nach dem besten Stand des Wissens erfolgt • Beitragszahler und Versicherte einen Anspruch darauf haben, die von

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in der GKV muss aus Steuermitteln erfolgen. D.h. der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Bundeszuschuss zu zahlen oder für bestimmte Leistungen, z.B. Leistungen, die keinen direkten Krankheitsbezug aufweisen, die Kosten zu erstatten. Es muss sichergestellt sein, dass alle steuerfinanzierten Leistungen der GKV weiterhin Leistungen der KranDie langfristige Ausgestaltung der Fikenkassen bleiben und nicht als Aufnanzierungsgrundlagen der GKV hat gaben anderen Stellen übertragen einerseits unter diesen Maßgaben zu werden. erfolgen, andererseits unter der Vor• Der kassenartübergreifende Risikoaussetzung, dass Prävention und Gestrukturausgleich (RSA) wird zu eisundheitsförderung einen höheren nem morbiditätsorientierten RSA Stellenwert in der Gesundheitspolitik weiterentwickelt, da nur mit diesem und der Gesundheitsversorgung beein Wettbewerb in der GKV möglich kommen, um die langfristig kostenist, der das Solidaritätsprinzip nicht senkenden Potenziale für die GKV zu beschädigt. eröffnen. Der DGB hält am Prinzip der paritätiDer DGB schlägt eine Reform der GKV- schen Beitragsfinanzierung fest und Finanzierung mit folgenden Eck- lehnt alle Vorschläge ab, die auf eine stärkere Belastung der Versicherten punkten vor: hinauslaufen: • Die Beiträge orientieren sich strikt • Das Einfrieren des Arbeitgeberanam Prinzip der Leistungsfähigkeit. teils oder die Umwidmung des ArDie paritätische Finanzierung durch beitgeberanteils in einen ArbeitVersicherte und deren Arbeitgeber nehmeranteil. bleibt bestehen. • Jede risikobezogene Beitragsgestal• Geprüft werden sollte die Erweitetung, da sie ausschließlich Versicherrung der Versicherungspflicht auf te belastet. Die Ausgliederung von weitere Personenkreise. BeamtinBehandlungskosten für Haushaltsnen und Beamte sollten ein Wahlund Freizeitunfälle ist unpraktikarecht zwischen Beihilfe und privater bel und würde überdies vor allem Versicherung sowie freiwilliger MitFamilien mit Kindern benachteiligliedschaft in der GKV und hälftigen. Auch Bonusssysteme für gegem Arbeitgeberanteil erhalten. sundheitsgerechtes Verhalten oder • Die beitragsfreie Mitversicherung ein Malus für Rauchen, Alkoholvon Familienangehörigen bleibt ergenuss oder Übergewicht sind nicht halten. zielführend. Sie laufen auf die Ein• Die Versicherungspflichtgrenze sollführung des Äquivalenzprinzips te schrittweise angehoben werden. (Beitragsgestaltung auf der GrundDamit würden Gutverdienende, die lage nach dem persönlichen Erkransich bisher privat absichern können, kungsrisiko) hinaus und widersprein die GKV einbezogen. Die Beitragschen der Solidarität in der GKV. sätze der Krankenkassen könnten • Erweiterung der Beitragsbemesdadurch gesenkt werden. sungsgrundlage um weitere Ein• Die Beitragsbemessungsgrenze sollte kommensbestandteile (Vermögensebenfalls angehoben werden. Da die einkünfte). Wenn diese Maßnahme Summe der beitragspflichtigen Entüberhaupt in Erwägung gezogen gelte dadurch steigt, können die Beiwird, ist sicherzustellen, dass der tragssätze entsprechend niedriger Grundsatz der paritätischen Finanausfallen. Die Belastung der Arbeitzierung gewahrt bleibt und nicht nur nehmer und der Arbeitgeber bliebe diejenigen Versicherten belastet unverändert. Die Verteilung der Bewerden, deren Arbeitseinkommen lastung allerdings ändert sich: Einkomunterhalb der Beitragsbemessungsmen bis zur derzeitigen Beitragsgrenze liegt. Das Bundesministebemessungsgrenze würden entrium für Gesundheit und Soziale Silastet, höhere Einkommen würden cherung wird aufgefordert, ein Gutstärker als bisher zur Finanzierung achten über die finanziellen Konseherangezogen. Entsprechend würden quenzen und die gerechte AusgeArbeitgeber je nach Beschäftigtenstaltung einer solchen Maßnahme struktur ent- oder belastet. zu vergeben. • Die Krankenversicherungsbeiträge der Bezieher von Arbeitslosengeld I Der DGB will mit diesen Eckpunkten und II werden wieder auf das vor der zur Finanzierung der GKV die solidariArbeitslosigkeit von den Betroffe- sche Krankenversicherung zukunftsnen erzielte Einkommen bezogen. sicher machen. Den Herausforderun• Die Finanzierung der sogenannten gen einer älter werdenden Gesellversicherungsfremden Leistungen schaft und neuen technologischen Anihnen aufgebrachten Mittel rational und effizient eingesetzt zu sehen • die Finanzierung der GKV gerechter gestaltet wird. • dass die Veränderung der Finanzierungsgrundlagen zur Senkung der Beitragssätze genutzt wird und nicht zusätzliche Mittel in das System fließen

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 forderungen in der Medizin kann mit diesen Maßnahmen wirksam begegnet werden. Die Defizite in der Versorgung von PatientInnen sind nicht einem Mangel an Geld im Gesundheitswesen geschuldet, sondern überkommenen Versorgungsformen und -strukturen. Deswegen geht es uns nicht um ein „Mehr Geld in‘s System“, sondern in erster Linie um Strukturreformen. Mit weiteren Belastungen der Versicherten und PatientInnen werden die Probleme nicht gelöst, sondern verschärft. Geschlechtersensible Gesundheitspolitik entwickeln Betrachten wir unser Gesundheitssystem, so lässt sich schnell feststellen, dass die Medizin unterschiedliche Krankheitsausprägungen von Frauen und Männern nur unzureichend berücksichtigt. Häufig ist der „Mann in den besten Jahren“ schon allein deshalb normgebend, weil in den meisten medizinischen Studien ausschließlich männliche Probanden untersucht werden. Frauen, Kinder und Alte sind dann die von dieser Norm Abweichenden die daraus erwachsenden gesundheitlichen Gefahren bis hin zu tödlichen Risiken werden in letzter Zeit mehr und mehr erkannt. Nicht zuletzt dem im Mai 2001 erschienenen ersten deutschen Frauengesundheitsbericht ist es zu verdanken, dass das Thema Frauengesundheit auf größeres öffentliches Interesse gestoßen ist. Dem Verbundprojekt „Frauengesundheit in Deutschland“ ist es nicht nur gelungen, eine umfassende Bestandsaufnahme der Entwicklung in Ost- und Westdeutschland zu erheben, sondern auch zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gesundheit von Frauen zu bündeln. Daneben gibt es – auch international – inzwischen eine Fülle von Einzelstudien, Aufsätzen, Beobachtungen und Veröffentlichungen zum Thema Gesundheit und Geschlecht. Wir können an dieser Stelle nur einige Fakten herausgreifen, die ein Schlaglicht darauf werfen, welche geschlechtsspezifischen Aspekte es gibt und warum eine frauenpolitische Sichtweise auf Gesundheit und Krankheit überhaupt wichtig ist. Die Auswirkung der Unterstellung „Mensch gleich Mann“ im Gesundheitswesen soll zunächst im Bereich der Gesundheitsversorgung aufgezeigt werden. Exemplarisch wollen wir auf die Versorgung mit Arzneimitteln hinweisen. Die Häufigkeit von Nebenwirkungen von Medikamenten bei Frauen hat ihren Ursprung insbesondere darin, dass neue Präparate wenig bis gar nicht an Frauen getestet werden.

Gesundheits- und Sozialpolitik Viele Testphasen werden gänzlich ohne Frauen durchgeführt. Die in Skandinavien durchgeführte Helsinki-Heiart-Study wurde an 4081 männlichen Studienteilnehmern realisiert, um die Wirkung cholesterinsenkender Medikamente zu erforschen. Gleichwohl veröffentlicht das Margarine-Institut für gesunde Ernährung diese Ergebnisse als „geschlechtsneutral“. Von den 287 032 Ärztinnen und Ärzten, die 1998 in Deutschland arbeiteten, sind knapp 73 % männlich. Offenbar unterstellen Ärzte und Ärztinnen Frauen eher psychosomatische Beschwerdebilder, Männern eher somatische. Das könnte jedenfalls eine Erklärung dafür sein, dass niedergelassene Ärzte und Ärztinnen zwölf- bis zwanzigjährigen Mädchen und jungen Frauen bis zu dreimal häufiger Tranquilizer, Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel und Hypotonika verschreiben. In einer ersten Untersuchung der Barmer Ersatzkasse zum Thema wird festgestellt, dass Frauen deutlich stärker unter den Patient/innen vertreten sind, die mindestens einmal eine Psychopharmakaverordnung erhalten haben. Die Depressionsdiagnostik lässt tendenziell darauf schließen, dass Frauen oft zu schnell als depressiv eingeordnet werden, während dies bei Männern eher selten vorkommt. Dies zeigt sich auch an der traurigen Tatsache, dass über zwei Drittel der Selbstmordversuche mit Todesfolge von Männern begangen werden. Hier zeigt sich, dass nicht nur therapeutische Fragestellungen relevant sind, sondern dass diese durch psychosoziale Aspekte der Betreuung ergänzt werden müssen. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass Frauen und Männer unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und Lebensbedingungen mitbringen und deshalb mit Gesundheit und Krankheit sowie mit Belastungen in verschiedener Weise umgehen. Die nicht nach Geschlecht und Alter aufgeschlüsselte Dosierung von Medikamenten führt zu Fehlversorgung von Frauen, Kindern und älteren Menschen. In anderen Bereichen werden sie überversorgt. Neben Psychopharmaka bekommen Frauen häufiger Schlafmittel verordnet als Männer. Die Über- und Fehlversorgung der Frauen mit Hormonpräparaten ist fast schon sprichwörtlich. Insgesamt erhalten Frauen oft die billigeren und älteren Medikamente, dafür aber mehr. Resultat: Zwei Drittel aller Arzneimittelabhängigen sind Frauen. Der geschlechtergerechte und geschlechterdifferenzierte Blick hat sich auch in weiteren Bereichen des Gesundheitswesens in Deutschland bislang nicht etabliert. Beim Arbeits- und

45 Gesundheitsschutz wird der geschlechtergeteilte Arbeitsmarkt, wobei Männer eher in Führungspositionen und Frauen tendenziell mehr in Teilzeit arbeiten, nicht berücksichtigt. Ebenso wenig Beachtung findet die oft vorhandene Mehrfachbelastung durch Familienarbeit und Erwerbsarbeit in den Studien. Am Beispiel Brustkrebs lässt sich darstellen, wie dringend eine bessere Qualitätssicherung vonnöten ist. Die gesundheitliche Versorgung dieser typischen Frauenkrankheit ist bezüglich Früherkennung, Diagnostik, Behandlung und Nachsorge in im Vergleich mit anderen hochentwickelten Industriestaaten sehr schlecht. Durch die Aufnahme von Brustkrebs in die Disease-ManagementProgramme und durch die Umsetzung der europäischen Leitlinien beim Mammographie-Screening für 50- bis 69-jährige Frauen sind in jüngster Zeit erste Schritte in die richtige Richtung gemacht. Gleichwohl bedarf es einer Ausweitung der Forschung zu den Ursachen der Krankheit und zur Früherkennung – insbesondere bei unter 50jährigen Frauen. Darüber hinaus gibt es auch Männer, die an Brustkrebs erkranken – ein Umstand, der allerdings selten früh genug erkannt wird. Einmal mehr wird hier deutlich, dass eine geschlechterdifferenzierte Betrachtung im Gesundheitswesen unabdingbar ist. Ziele und Anforderungen einer geschlechtersensiblen Gesundheitspolitik Ziel muss deshalb sein, in • Forschung und Lehre • Ausbildung und Fortbildung • Prävention • Früherkennung • Diagnose • Therapie • Rehabilitation und • Nachsorge das Prinzip des Gender Mainstreaming zu etablieren. Gender Mainstreaming bedeutet – kurz gesagt – bei allen Entscheidungen die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen und Männern zu berücksichtigen. Die konsequente Anwendung der Gender-MainstreamingStrategie unterstützt Forderungen nach einer auch Frauen gerecht werdenden Gesundheitsversorgung. Ansprechpartner: Heinz Stapf-Finé DGB-Bundesvorstand Abteilung Sozialpolitik Email: [email protected]

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Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 8. Mai 2003 Komprimierte Fassung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems und Erläuterung der wesentlichen Regelungen Ausgangslage im Jahr 2003 Das deutsche Gesundheitswesens war einmal vorbildlich für Länder in aller Welt. Noch heute ist es grundsätzlich leistungsfähig und mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet. Allein durch Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber stehen 142 Mrd. € zur Versorgung der Patientinnen und Patienten zur Verfügung, die jährlich im Gleichklang mit den Einnahmen der Versicherten wachsen. Nur die USA und die Schweiz geben pro Kopf noch mehr Geld für Gesundheit aus. Alle Versicherten haben prinzipiell den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen. Grundsätzlich existieren keine Wartelisten und keine Altersbeschränkungen für notwendige Operationen. Gleichzeitig sind aber Fehl-, Über- und Unterversorgung nicht zu übersehen. Beispielhaft sei auf die Radiologie verwiesen, in der rund ein Drittel der Aufnahmen nachweislich überflüssig und die Hälfte handwerklich nicht in Ordnung sind. Im Verhältnis zum Aufwand der eingesetzten Finanzmittel ist das deutsche Gesundheitswesen zu teuer, zu wenig wirksam und zu wenig an den Erfordernissen der Patientinnen und Patienten orientiert. Die Akteure blockieren sich wechselseitig. Das Gesundheitswesen ist dem ständigen Druck einer Vielzahl von Lobbyisten ausgesetzt. So ist es erklärbar, dass überkommene Strukturen und Anreize aufrechterhalten werden, auf Kosten der Beitragszahler überflüssige oder qualitativ bedenkliche Leistungen zu erbringen. Im Jahr 2003 muss deshalb das Gesundheitswesen grundlegend erneuert werden. Nachdem die rasante Ausgabenentwicklung durch das Beitragssatzsicherungsgesetz zumindest gebremst werden konnte, gilt es nun, die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) umfassend und nachhaltig zu verändern. Dies betrifft sowohl die Steuerung der Versorgung als auch die Ausgestaltung des Leistungskatalogs und die Sicherung der Finanzgrundlagen. Jeder Ansatz, die finanzielle Stabilität der GKV zu gewährleisten und das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung in eine neue Balance zu bringen, muss auf Strukturen aufbauen, die eine Verbesserung von Qualität, Wirtschaftlichkeit und Produktivität der Versorgung gewährleisten.

Ziele 1. Wir wollen die Qualität der Gesundheitsversorgung nachdrücklich und dauerhaft verbessern und die Effizienz des Mitteleinsatzes erhöhen. Dazu wollen wir einen qualitätsorientierten Wettbewerb sowohl zwischen den Krankenkassen als auch zwischen den Leistungserbringern in einem solidarischen Ordnungsrahmen etablieren. 2. Wir wollen die Kernaufgaben der sozialen Krankenversicherung und die Verfügbarkeit der medizinisch notwendigen Leistungen für alle Bürgerinnen und Bürger dauerhaft sichern. Wir bewahren die Errungenschaften unseres solidarischen Gesundheitssystems, damit die Menschen keine Angst haben müssen, Krankheit werde sie finanziell ruinieren. 3. Wir wollen die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Hinblick auf Belastungsgerechtigkeit und gesamtwirtschaftliche Wirkungen nachhaltig neu ordnen. Wir wollen die Lohnzusatzkosten spürbar entlasten und den Beitragssatz nachhaltig senken. 4. Wir wollen die Patientensouveränität und die Patientenrechte stärken und die Entscheidungsfreiheiten der Versicherten ausweiten. Nur ein wirtschaftliches und produktives Gesundheitssystem sichert die mehr als 4 Mio. Arbeitsplätze im Gesundheitswesen und bietet Möglichkeiten, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu verbessern.

Die wesentlichen Regelungen

Fortschreibung des Leistungskatalogs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiterhin soll das Zentrum Nutzen-Kosten- Bewertungen von Arzneimitteln vornehmen und Leitlinien und pflegerische Standards für ausgewählte Krankheiten erarbeiten. Zu den Aufgaben gehört auch die Bereitstellung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verbesserung der Patienteninformation und Transparenz für die Patientinnen und Patienten sowie zur Beschleunigung der Implementierung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse in die medizinische Versorgung. Das Zentrum erarbeitet ferner Empfehlungen für die Anerkennung von Fortbildungsmaßnahmen für an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärztinnen und Ärzte. Verpflichtung zur Fortbildung Ärzte werden zur Fortbildung verpflichtet. Sie müssen künftig regelmäßig nachweisen, dass sie ihre Fortbildungspflicht erfüllt haben. Einführung eines differenzierten Qualitätsmanagements in Praxen Die Qualitätssicherung in Praxen und Kassenärztlichen Vereinigungen wird verbessert. In den Praxen wird ein internes Qualitätsmanagement neu eingeführt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden verpflichtet, über ihre eigenen, die Qualitätssicherung der Ärzte unterstützenden Aktivitäten Qualitätsberichte vorzulegen. Verbesserung der Arzneimittelsicherheit

Die Arzneimittelsicherheit wird im Verbesserung der Qualität der Kontext mit entsprechenden europäiPatientenversorgung schen Initiativen weiter vergrößert. Einrichtung eines Deutschen Zen- Zentrale Elemente zur Verbesserung trums für Qualität in der Medizin der Arzneimittelsicherheit sind auch die Einführung des elektronischen ReEs wird ein staatsfernes, fachlich unab- zepts sowie der elektronischen Gehängiges „Deutsches Zentrum für Qua- sundheitskarte und der elektronischen lität in der Medizin“ errichtet, in dessen Patientenakte. Entscheidungsprozesse Vertreterinnen und Vertreter der Patienten, der Weiterentwicklung der VersorLeistungserbringer, der Krankenkas- gungsstrukturen sen und des Staates einbezogen sind. Zentrale Aufgabe des Zentrums wird Kollektiv- und Einzelverträge die Bewertung von medizinischem Nut- Das System der kollektivvertraglichen zen und der Qualität von Leistungen Leistungserbringung wird modifiziert sein. Zu Schwerpunkten des Aufgaben- und die Sicherstellungsverpflichtung in bereiches gehört die Erarbeitung von der ambulanten Versorgung neu gereEmpfehlungen an die Selbstverwal- gelt. Die kollektivvertraglich organitungsgremien für eine zeitgemäße sierte Sicherstellungsverpflichtung der

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Kassenärztlichen Vereinigungen gilt künftig grundsätzlich nur für die hausärztliche und kinderärztliche Versorgung sowie für die durch Augenärzte und Gynäkologen erbrachte fachärztliche Versorgung. Im übrigen wird der Sicherstellungsauftrag geteilt und teilweise von den Kassenärztlichen Vereinigungen und teilweise von den Krankenkassen übernommen. Insbesondere ist es künftig Aufgabe der Krankenkassen, Versorgungslücken zu schließen. Für die bereits zugelassenen Fachärzte und Psychotherapeuten gilt: Sie bleiben zunächst im kollektivvertraglichen System, haben aber die Möglichkeit, aus diesem System auszuscheiden und Einzelverträge mit den Krankenkassen abzuschließen. Der Neuzugang zur fachärztlichen Versorgung – ausgenommen Gynäkologen und Augenärzte – erfolgt nicht mehr über die Erteilung einer Zulassung, sondern durch Einzelverträge mit den Krankenkassen. Fachärzte haben grundsätzlich einen Anspruch auf Abschluss bzw. Verlängerung ihres Einzelvertrages, wenn die Versorgung bedarfsgerecht ist, deren Qualität gesichert ist und die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit beachtet werden. Die Krankenkassen sind verpflichtet, eine flächendeckende Versorgung ihrer Mitglieder sicher zu stellen. Ansonsten haben Versicherte das Recht, jeden Facharzt in der Region aufzusuchen und ihrer Krankenkasse die Aufwendungen hierfür in Rechnung zu stellen. Der Inhalt der Verträge wird soweit wie möglich den Vertragspartnern überlassen. Es wird lediglich ein gesetzlicher Mindestrahmen vorgegeben. Er bezieht sich auf die Basisqualifikation der Leistungserbringer, auf den Leistungskatalog, auf Regelungen zur preisgünstigen Arzneimittelversorgung und auf die in der vertragsärztlichen Versorgung geltenden besonderen Strukturqualitätsanforderungen an die Erbringung spezieller fachärztlicher Leistungen. Das Aushandeln der Vergütung ist Sache der Vertragspartner. Teilöffnung der Krankenhäuser für ambulante Versorgung Krankenhäuser werden für hochspezialisierte Leistungen z.B. bei der Behandlung von Krebs- oder MS-Kranken, für Einzelverträge im Rahmen der integrierten Versorgung und im Rahmen von Disease-Management-Verträgen sowie in unterversorgten Regionen für die ambulante Behandlung geöffnet. Hierbei sind bestimmte Qualitätsanforderungen zu erfüllen.

Gesundheits- und Sozialpolitik Möglichkeit für die Teilnahme an einem Hausarztsystem einzuräumen. Damit wird die Lotsenfunktion des Hausarztes nachhaltig gestärkt. Bisher konnten Krankenkassen dies als Satzungsleistung vorsehen – mussten es aber nicht. Für Versicherte ist die Teilnahme an einem Hausarztsystem freiwillig. Wer sich hierfür entscheidet, kann Fachärzte – außer Augen-, Kinder- und Frauenärzten – künftig nur noch auf Überweisung des selbst gewählten Hausarztes in Anspruch nehmen. Versicherte, die sich für dieses Modell entscheiden, erhalten einen Bonus in Form einer Ermäßigung bei der Zuzahlung zu Arzneimitteln. Zulassung von Gesundheitszentren zur vertragsärztlichen Versorgung Gesundheitszentren werden künftig zur vertragsärztlichen Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen. Sie werden mit ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten gleichgestellt. Dies gilt auch für die Möglichkeit, im fachärztlichen Bereich Einzelverträge abzuschließen. Weiterentwicklung der integrierten Versorgung Die integrierte Versorgung wird weiterentwickelt. Bisherige Hemmnisse werden abgebaut und der Abschluss entsprechender Verträge erleichtert. Vorgesehen ist, dass Krankenkassen und Leistungserbringer autonom Verträge zur integrierten Versorgung (z.B. Gesundheitszentren, Ärztenetze etc.) abschließen können und die Erfüllung der vertraglichen Leistungsverpflichtungen dann außerhalb des Sicherstellungsauftrages stattfindet. Eine Einflussnahme Dritter, etwa über die bisherigen Rahmenvereinbarungen, scheidet aus. Vielmehr liegt die Verantwortung für die Abfassung der vertraglichen Rechte und Pflichten künftig allein bei den Vertragspartnern. Krankenkassen können Verträge auch mit Trägern von Gesundheitszentren und mit Trägern, die eine Versorgung durch dazu berechtigte Leistungserbringer anbieten, selbst aber nicht Versorger sind (z.B. Managementgesellschaften), abschließen. Kassen können auch Eigeneinrichtungen zur integrierten Versorgung gründen. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität wird für die Startphase ausgesetzt, um dem erheblichen Investitionsbedarf zur Gründung integrierter Versorgungsformen Rechnung zu tragen.

47 richtungen sind nicht ausgeschlossen. Dies gilt auch für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (sog. „over the counter“ – Produkte; OTC), deren Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung auf besonders schwere Erkrankungen und Anwendungen bei Kindern beschränkt wird. Weiterentwicklung des ärztlichen Vergütungs- und Abrechnungssystems Für fachärztliche Leistungen und ambulante Operationen werden Komplexgebühren und Fallpauschalen eingeführt. Für die Behandlung von Versicherten in Hausarztsystemen gibt es künftig Pauschalvergütungen. Ferner wird die Bildung von Regelleistungsvolumina, in deren Rahmen feste Punktewerte gelten sollen, im Honorarverteilungsmaßstab verbindlich vorgegeben. Vergütungsanreize werden gesetzt zur Einführung effizienter Versorgungsformen, z.B. durch spezifische Fallpauschalen für kooperative Versorgungsformen. Die Krankenkassen werden stärker in die Verantwortung für eine leistungsgerechte Honorarverteilung eingebunden. Die Effizienz der Wirtschaftlichkeitsprüfungen wird verbessert und die Prüfung der Leistungsabrechnungen wirksamer gestaltet. Verbesserung der Arzneimittelversorgung Die Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung wird liberalisiert und geänderten Rahmenbedingungen angepasst. Die Arzneimittelpreisverordnung wird novelliert. Die hohen Distributionskosten für Arzneimittel werden begrenzt. Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel werden aus der Preisbindung herausgenommen. In weitergehendem Umfang als bisher werden Vereinbarungslösungen ermöglicht. Mehrbesitz von Apotheken wird unter engen Einschränkungen zugelassen. Unter Wahrung der Arzneimittelsicherheit wird die Versandapotheke (e-commerce) zugelassen. Patentgeschützte Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, insbesondere mit chemisch verwandten Wirkstoffen (Festbetragsgruppe 2) werden künftig in die Festbetragsregelung einbezogen. Modernisierung der Steuerung des Systems

Die Organisationsstrukturen der Kassenärztlichen Vereinigungen werden Einführung des Hausarztsystems Die Therapievielfalt wird gefördert. modernisiert und die Arbeitsweise wird Behandlungsmethoden, Arznei- und professionalisiert. Hierzu werden hauptDie Krankenkassen werden gesetzlich Heilmittel der besonderen Therapie- amtliche Strukturen gebildet und kleiverpflichtet, ihren Versicherten die Therapievielfalt

48 nere Kassenärztliche Vereinigungen zu größeren Einheiten zusammengelegt. Die Hausärzte werden in ihrer Repräsentanz gestärkt. Auch auf Kassenseite werden die Strukturen modernisiert. Organisationsprivilegien für bestimmte Kassenarten werden abgeschafft oder – wie die Möglichkeit zur Errichtung neuer bzw. zur Öffnung bestehender Krankenkassen – bis zum Inkrafttreten der Neuregelung im Risikostrukturausgleich (sog. „morbiditätsorientierter RSA“ ab 2007) ausgesetzt. Hierdurch werden die Wettbewerbsbedingungen der Krankenkassen weiter angeglichen. Fusionsmöglichkeiten können ab 2007 auch kassenartenübergreifend erfolgen. Die Konfliktlösungsmechanismen in der Selbstverwaltung werden verbessert. Die Möglichkeiten der staatlichen Ersatzvornahme bleiben als letztes Mittel vorbehalten. Für eine effektivere und effizientere Steuerung von Geldmitteln und Leistungen werden die Datengrundlagen und Datentransparenz verbessert. Die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung werden verpflichtet, eine Arbeitsgemeinschaft für Aufgaben der Datentransparenz zu bilden.

Gesundheits- und Sozialpolitik insbesondere beim Deutschen Zentrum für Qualität in der Medizin und bei den Bundesausschüssen. Ferner sind sie auch bei der Erstellung von Rahmenempfehlungen über Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen, über Heilmittel und häusliche Krankenpflege sowie bei der Erstellung des Hilfsmittelverzeichnisses zu beteiligen. Patientenbeauftragte/r Die Beteiligungs- und Anhörungsrechte einer/eines Patientenbeauftragten werden konkret geregelt. Sie/er soll auf die Beachtung der Belange der Patienten in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere auch im Gesundheitswesen, hinwirken und die Weiterentwicklung der Patientenrechte fördern. Vorgesehen ist u.a. eine Beteiligung bei Richtlinien- Entscheidungen der Bundesausschüsse sowie ein Antragsrecht bei Entscheidungen über die Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der GKV. Kostenerstattung bei Inanspruchnahme von Leistungen im europäischen Ausland

Abweichend vom Sachleistungsprinzip Steuerung des Verordnungsver- gilt künftig bei Inanspruchnahme von haltens Leistungen in Staaten im Geltungsbereich des EG-Vertrages für alle VersiZur Steuerung des Verordnungsvercherten in Anpassung an die Rechthaltens werden künftig Honorare und sprechung des Europäischen Gerichtsveranlasste Leistungen (Arzneimittel, hofes (EuGH) grundsätzlich das KostenHeilmittel) miteinander verknüpft. erstattungsprinzip. Künftig muss ein bestimmter Anteil Die Regelung ermöglicht es Versider Gesamtvergütungen vereinbart cherten, ohne bürokratischen Aufwerden, der zu abgestimmten Maßwand künftig unmittelbar Leistungen nahmen zur Information und Beratung von Leistungserbringern im europäider Versicherten über Qualität und schen Ausland in Anspruch zu nehWirtschaftlichkeit der Arznei- und Heilmen; eine Kontaktaufnahme mit der mittelversorgung verwendet wird. Im zuständigen Krankenkasse vor LeisRahmen dieses Betrages sollen auch tungsinanspruchnahme oder bürokraBonuszahlungen an die Vertragsärzte tische Verfahren im Aufenthaltsstaat verteilt werden, bei denen die Schnellsind künftig nicht mehr nötig. Allerinformationen anzeigen, dass das dings erhalten freiwillig Versicherte in Richtgrößenvolumen eingehalten wird. Umsetzung der Entscheidung des EuGH im Streitverfahren Kohll/Decker Verpflichtung zur Veröffentlichung generell einen Kostenerstattungsander Vorstandsvergütungen spruch über alle Leistungssektoren. Es wird die Verpflichtung eingeführt, Pflichtversicherte dagegen haben in Vorstandsvergütungen einschließlich Berücksichtigung der Begründung zur Nebenleistungen und wesentlicher Entscheidung des EuGH im StreitVersorgungsregelungen zu veröffent- verfahren Smits/Peerbooms für ärztlichen, um Transparenz über den Ein- liche, zahnärztliche und kieferorthosatz öffentlicher Mittel herzustellen. pädische Leistungen, für Zahnersatz und Krankenhausleistungen nur dann Stärkung der Patientensouveränität einen Kostenerstattungsanspruch, wenn sie zuvor die Genehmigung ihBeteiligungsrechte rer Krankenkasse eingeholt haben. Patientenverbände werden künftig in alle relevanten kollektiven Entschei- Förderung der Prävention dungsprozesse eingebunden. Zur Förderung von Maßnahmen der Sie erhalten Informations-/BeteiliPrimärprävention und betrieblicher gungs- und Anhörungsrechte in SteuGesundheitsförderung werden die erungs- und Entscheidungsgremien,

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Krankenkassen stärker zur Kooperation untereinander und mit anderen Beteiligten verpflichtet. Es ist vorgesehen, dass ein Teil der für Prävention zu verwendenden Mittel für Gemeinschaftsprojekte investiert oder als Einlage in einen Gemeinschaftsfonds für „Prävention und Gesundheitsförderung“ beim Bundesversicherungsamt einzubringen ist. Weiter werden die Kassen verpflichtet, kassenartenübergreifende Gemeinschaftsfonds für die Förderung der Selbsthilfe einzurichten, damit die entsprechenden Gelder zielgerichtet und effizient verwendet werden. Zur Stärkung der Prävention insgesamt wird ein eigenes Präventionsgesetz vorgelegt werden. Bonus für Versicherte Eigenverantwortung und gesundheitsbewusstes Verhalten werden durch gezielte Anreize gefördert: Für Versicherte, die durch freiwillige Einschreibung in ein Hausarztsystem oder die Teilnahme an Disease-ManagementProgrammen oder an der integrierten Versorgung zu einer abgestimmten und koordinierten Behandlung ihren Beitrag leisten, wird es künftig einen Bonus geben: Sie zahlen künftig deutlich weniger als die sonst fällig werdenden Zuzahlungen für Arznei- und Verbandmittel. Den Krankenkassen wird ferner die Möglichkeit gegeben, Versicherten, die regelmäßig Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten oder zur primären Prävention in Anspruch nehmen, einen Bonus zu gewähren. Bei Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung eines Arbeitgebers kann die Kasse sowohl dem Arbeitgeber als auch teilnehmenden Versicherten Boni gewähren. Kooperation der Krankenkassen mit der privaten Krankenversicherung Krankenkassen erhalten die Möglichkeit, mit privaten Versicherungsunternehmen zu kooperieren. Versicherte erhalten hierdurch die Möglichkeit, bestimmte Versicherungen, die ihren Versicherungsschutz ergänzen, über ihre Krankenkasse abschließen zu können, möglichst zu kostengünstigen Gruppentarifen. Dies gilt insbesondere für eine Wahlarztbehandlung im Krankenhaus, den Ein- oder Zweibett-Zuschlag im Krankenhaus, eine Auslandskranken- oder Sterbegeldversicherung. Verbesserung der Transparenz für Versicherte Auf allen Ebenen der gesetzlichen Krankenversicherung wird es mehr

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Beitragszahlung während des Be- sowie schwer sehbeeinträchtigte Verzugs von Mutterschafts- oder Erzie- sicherte. hungsgeld oder während der InanVerpflichtung zur Weitergabe von spruchnahme von Elternzeit Einsparungen an die Versicherten Künftig sind alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung während Die Krankenkassen werden verpflichdes Bezugs von Mutterschafts- oder Er- tet, die mit dem Gesetz verbundenen ziehungsgeld oder während der Inan- Umfinanzierungen in voller Höhe und spruchnahme von Elternzeit beitrags- die weiteren Einsparungen mindestens pflichtig. Für Pflichtversicherte wird zur Hälfte in Beitragssatzsenkungen während dieser Zeit der Beitrag vom umzusetzen, bevor die Mittel zur AufBund getragen. Freiwillig Versicherte füllung von Rücklagen oder zum Schulerhalten einen Beitragszuschuss in Hö- denabbau genutzt werden. he des von ihnen zu tragenden Bekämpfung von Missbrauch und Mindestbeitrages. Faktisch bleiben die Neugestaltung der Zuzahlungen Korruption im Gesundheitswesen von der Regelung Betroffenen damit und Befreiungsmöglichkeiten Es wird die neue Funktion eines/einer nach wie vor „beitragsfrei“. Arzneimittelzuzahlung Beauftragten zur Bekämpfung von Missbrauch und Korruption als An- Herausnahme nicht verschrei- Die Zuzahlung für Arznei- und Versprechpartner für Bürgerinnen und bungspflichtiger Arzneimittel aus bandmittel wird modifiziert. Künftig Bürger sowie für Einrichtungen und der Leistungspflicht wird die Zuzahlung je nach PackungsBeschäftigte des Gesundheitswesens größe stärker differenziert. Für VersiNicht verschreibungspflichtige Arzneieingerichtet, ausgestattet mit umcherte, die beispielsweise am Hausmittel (sog. OTC) werden künftig fangreichen Prüfrechten. Bei hinreiarztsystem oder an einem strukturiergrundsätzlich aus der Leistungspflicht chendem Verdacht auf strafbare Handten Behandlungsprogramm für chroder Krankenkassen herausgenommen. lungen leitet die/der Beauftragte die nisch Kranke teilnehmen, wird der Dies gilt nicht für Arzneimittel zur Bejeweiligen Fälle an die StaatsanwaltEigenanteil im Rahmen einer Bonushandlung von Kindern bis zum vollenschaft weiter. Die Kassenärztlichen regelung deutlich ermäßigt. Versicherdeten 12. Lebensjahr und nicht für KinVereinigungen und die Krankenkassen te, die wegen derselben Erkrankung der, die behindert und auf Hilfe angewerden verpflichtet, Prüf- und Ermittmehr als ein Jahr in Behandlung sind, wiesen sind. Im Einzelfall, bei besonlungseinheiten zur Missbrauchs- und zahlen je verordnetem Medikament ders schweren Erkrankungen können Korruptionsbekämpfung einzurichten. für die entsprechende Erkrankung Vertragsärzte ausnahmsweise nicht Insbesondere im Heilmittelwerbeebenfalls einen ermäßigten Satz. Menverschreibungspflichtige Arzneimittel gesetz werden die Sanktionen verschen mit Einkommen unterhalb des zu Lasten der gesetzlichen Krankenschärft. Existenzminimums (z.B. Sozialhilfeversicherung verordnen, soweit dies empfänger) zahlen ebenfalls in Zuder Bundesausschuss der Ärzte und kunft einen – stark ermäßigten – MinNeuordnung der Finanzierung Krankenkassen im Rahmen der Arzdestsatz je Packung. neimittelrichtlinien vorgesehen hat. Versicherungsfremde Leistungen Transparenz und Information geben. Bei der Erarbeitung der Empfehlungen des Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin wird auf jeder Stufe der Vorarbeiten Transparenz sichergestellt. Für ärztliche Behandlungen gibt es künftig auf Verlangen eine Patientenquittung, aus der Leistungen und vorläufige Kosten für Patienten ersichtlich sind. Die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte erfolgt flächendeckend zum 1. Januar 2006.

Versicherungsfremde Leistungen, die keinen Bezug zu Krankheit haben und gesamtgesellschaftliche Aufgaben darstellen, werden künftig aus Steuermitteln finanziert. Hierzu zählen z.B. das Mutterschaftsgeld, Entbindungsgeld und sonstige Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Haushaltshilfe sowie Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes. Zur Gegenfinanzierung wird die Tabaksteuer um 1 € je Packung angehoben. Künstliche Befruchtung und Sterilisation, die in erster Linie die eigene Lebensplanung und die Eigenverantwortung betreffen, sind künftig von den Versicherten selbst zu finanzieren. Krankengeld

Praxisgebühr Beitragserhebung auf Versorgungsbezüge und Alterseinkom- Versicherte, die ohne Überweisung ihmen aus selbständiger Tätigkeit res Hausarztes einen Facharzt aufsuchen, zahlen künftig für jede erste InVersorgungsbezüge und Alterseinanspruchnahme pro Abrechnungskünfte aus selbständiger Tätigkeit von quartal eine Praxisgebühr in Höhe von in der gesetzlichen Krankenversiche15 €. Ausgenommen sind Besuche bei rung versicherten Rentnern werden Augenärzten, Kinderärzten oder Fraukünftig mit dem vollen Beitragssatz enärzten sowie in Notfällen. Ausgebelegt. nommen sind ferner Konsultationen im Rahmen strukturierter BehandEinbeziehung von Sozialhilfe-Emplungsprogramme oder integrierter fängern Versorgung. Künftig übernehmen die Krankenkassen auch für die Sozialhilfeempfänger, Einheitliche Überforderungsklausel die nicht gesetzlich krankenversichert für alle Versicherten sind, die Aufwendungen für KrankenFür alle Versicherten gilt künftig gleicherbehandlung in dem Rahmen, als seien maßen bei Fahrkosten und Zuzahlungen sie gesetzlich krankenversichert. Die für Arznei-, Verband- und Heilmittel eine Sozialhilfeträger erstatten den Kassen Belastungsgrenze in Höhe von 2 % des die entsprechenden Aufwendungen Bruttoeinkommens. Die besondere Überplus einer Verwaltungskostenpauschaforderungsklausel für chronisch Kranke le. wird aufgrund der nun neu geregelten Befreiungsmöglichkeiten für diesen Begrenzung des LeistungsanPersonenkreis aufgehoben. spruchs bei Sehhilfen

Das Krankengeld wird künftig allein durch die Versicherten finanziert. Es bleibt bei einer solidarischen Absicherung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, an deren Finanzierung die Versicherten gemäß ihrer Der Leistungsanspruch bei der Versor- Eigenbeteiligung im Krankenhaus Leistungsfähigkeit beteiligt werden. gung mit Sehhilfen wird künftig beDie Zuzahlung im Krankenhaus wird grenzt auf Kinder und Jugendliche bis auf 12 € je Krankenhaustag angehozur Vollendung des 18. Lebensjahres ben. Es bleibt bei der bisherigen zeitli-

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chen Begrenzung auf höchstens 14 Ta- Finanzielle Auswirkungen für die lastungsvolumen in einer geschätzten Größenordnung von ca. 13 Mrd. €. Die ge im Jahr. gesetzliche Krankenversicherung Ablösung der paritätischen FinanzieMit den Maßnahmen dieses Gesetzes rung des Krankengeldes mit einem Einführung therapiebezogener werden Qualität, Wirtschaftlichkeit derzeitigen Finanzvolumen von ca. 7 Festzuschüsse bei Zahnersatz und Transparenz der gesundheitlichen Mrd. € durch ein rein versichertenAnstelle der prozentualen Zuschüsse bei Versorgung entscheidend verbessert bezogene Finanzierung kommt hinzu, Zahnersatz wird es künftig therapiebe- und die Finanzgrundlagen der gesetzsodass sich insgesamt ein Finanzvoluzogene Festzuschüsse auf der Grundlage lichen Krankenversicherung gestärkt. men von rund 20 Mrd. € ergibt, das von Leistungskomplexen als Sachleis- Aus den vorgesehenen Regelungen für massiv zur Entlastung bei den Lohntung bei Zahnersatz geben. Härtefälle die gesetzlichen Krankenkassen ergibt nebenkosten beiträgt. werden besonders berücksichtigt. sich im Jahr 2004 ein finanzielles Ent-

Ergebnisse der Arbeitsgruppe Krankenversicherung der Rürup-Kommision Vorgeschlagen wird ein sog. Y-Modell. Der Stamm dieses Ypsilons sind kurzfristige Einsparmaßnahmen, die 24 Mrd. € bzw. 2,4 Beitragssatzpunkte bringen sollen. Das sind im einzelnen fünf Maßnahmen. 1. Das Krankengeld soll aus dem Leistungskatalog der GKV raus, aber weiterhin innerhalb des GKV-Systems bleiben. ⇒ Einsparvolumen 7,5 Mrd. € 2. Gesellschaftspolitische relevante Leistungen (Mutterschaftsleistungen, Sterbegeld etc.) sollen ebenfalls aus dem Leistungskatalog der GKV raus. ⇒ 4,5 Mrd. € 3. Das System der Zuzahlungsregelungen wird erweitert, um Anreize zu eigenverantwortlichem und kostenbewußtem Verhalten zu geben. Selbstbehalte werden abgelehnt, da mit Sachleistungssystem nicht vereinbar. a) Praxisgebühr von 15 € für jeden Arztkontakt. Ausnahmen bei Kindern, Unfällen und Chronikern. Es gibt eine Obergrenze insgesamt pro Patient, die entweder ein absoluter Betrag sein wird oder einkommensabhängig berechnet wird. ⇒ Bei 560 Mill. Arztbesuchen/Jahr ergibt sich unter Berücksichtigung der Ausnahmen dann eine 30%-Quote der betroffenen Arztbesuche und damit 2 Mrd. € Einsparung. b) Zuzahlung zu Arzneimitteln – 100 % für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel – 4. Hürde, Zuzahlung, wenn nicht preiswerte Alternative ⇒ 6 Mrd. € c) Zuzahlung für Zahnersatz erhöhen. ⇒ 8,5 Mrd. € 4. Preisbindung für Generika aufheben. ⇒ 2 Mrd. € 5. Beihilferegelung für Beamte auslaufen lassen und durch Zuschusssystem

ersetzen. Sozialhilfeempfänger in GKV versichern. Hauptthema waren aber die beiden Ypsilon-Zweige, die zwei Alternativmodelle der zukünftigen Finanzierbarkeit des Systems darstellen sollen. Die Arbeitsgruppe schlägt der Politik diese beiden konträren Modelle vor, ohne sich selbst zu positionieren (außer, dass sie andere Alternativen ausgeschlossen hat), weil es hier um eine Wertefrage gehe, die nicht eine wissenschaftliche Kommission, sondern das Parlament zu entscheiden habe. Es handelt sich um folgende Alternativen. 1. Alternative Eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle Einkunftsarten und alle Erwerbstätigen, auch Beamte und Selbständige einbezogen sind. 2. Alternative Ein Pauschalprämienmodell mit völliger Abkopplung der Finanzierung von den Löhnen, in dem alle Bürger eine Gesundheitsprämie zu zahlen haben und es ggf. einen steuerfinanzierten sozialen Ausgleich für den einzelnen gibt. Die Prämie wird je nach den Gesamtleistungsausgaben der einzelnen Krankenkasse 170 € bis 220 € betragen, Kinder zahlen nichts. Diese Alternative soll den Wettbewerb unter den Kassen erleichtern und Effizienzhebungen wahrscheinlicher machen. Die anstehende Wertefrage lautet also: Weiterhin Solidarität über die Beiträge (1. Alt.) oder beschäftigungsfördernde Wirkung über den Umbau des Systems (2. Alt.)? Grundsätzliche jedenfalls soll die GKV als Ganzes erhalten bleiben und weiterhin alle notwendigen Leistungen für alle erbracht werden.

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Deutsches Ärzteblatt 21. Februar 2003

Schweizer Gesundheitswesen: Vorbild mit Selbstzweifeln Das Schweizer Modell soll Pate stehen für eine Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Die Eidgenossen wissen nicht, warum. Es wird Espresso serviert. Der ist magenfreundlicher als Filterkaffee, meinen unsere Schweizer Gastgeber. Die europaweit höchste Selbstbeteiligung im Krankheitsfall zeigt offenbar Wirkung. Die Delegation aus Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Bundesärztekammer (BÄK) ist in die Schweiz gereist, um sich über die Vorzüge des dortigen Gesundheitswesens zu informieren. Die Erwartungen sind hoch, soll doch das Schweizer Modell Pate stehen für die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). So will es zumindest der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und insbesondere Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Rürup. Mit Verweis auf die Schweiz fordert der Vorsitzende der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ unter anderem die Umstellung der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung auf versichertenbezogene Kopfpauschalen. Auch mit seinen Vorschlägen, den Sicherstellungsauftrag für die medizinische Versorgung auf die Krankenkassen zu übertragen und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, mit einzelnen Ärzten Verträge abzuschließen, bezieht sich Rürup maßgeblich auf das „Schweizer Modell“. Aber taugt die Schweiz wirklich als Vorbild für die Gesundheitsreform in Deutschland? Das In-Kraft-Treten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 1996 war für die Schweiz ein gewaltiger Reformschritt, weil es bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Krankenversicherungsgesetz gab. Das freiwillige System der privaten Krankenversicherung wurde umgestellt auf ein System mit Grundsicherung und freiwilliger Zusatzversicherung. In der Grundsicherung besteht eine allgemeine Versicherungspflicht und ein einheitlicher Leistungskatalog. Zahnärztliche Leistungen sind ausgenommen. Die Versicherten haben die freie Krankenkassenwahl und entrichten eine vom individuellen Risiko unabhängige, je Krankenkasse und Region einheitliche Kopfprämie. So hatte im Jahr 2000 jede krankenversicherte Person eine durchschnittliche Monats-

prämie in Höhe von 154 Franken (105 Euro) zu bezahlen. Ein Teil der Behandlungskosten geht zulasten der Versicherten. Diese Kostenbeteiligung setzt sich zusammen aus der ordentlichen Franchise in Höhe von 230 Franken (157 Euro) pro Jahr – die ersten 230 Franken an Behandlungskosten zahlt der Versicherte also immer selber – und dem Selbstbehalt in Höhe von zehn Prozent des verbleibenden Rechnungsbetrags bis zu einer Grenze von 600 Franken (408 Euro) pro Jahr. In der Grundversicherung bestehen individuelle Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Zuzahlungsanteils sowie der Versorgungsform, die einen individuellen Prämienrabatt auslösen können. Wer zum Beispiel auf die freie Arztwahl verzichtet, um sich in eine Health-Maintenance-Organization (HMO) oder ein Hausarztsystem einzuschreiben, zahlt bis zu 20 Prozent weniger Prämie. Jeder Arzt kann mit den für die Grundversicherung akkreditierten Krankenkassen nach einheitlichen Gebührensätzen abrechnen. Dieser Kontrahierungszwang besteht nicht für besondere Versorgungsformen. Für ungleiche Alters- und Geschlechtsstrukturen der Krankenkassenmitglieder gibt es einen Risikostrukturausgleich (RSA). Hausarztmodelle und HMOs: Kaum Einsparpotenzial Eher ernüchternd sind die Erfahrungen, die in der Schweiz mit der Einführung besonderer Versorgungsformen gemacht wurden. Seit In-Kraft-Treten des KVG können sich die Versicherten in Hausarztmodelle und HMOs einschreiben. Als Anreiz gewähren die Versicherungen Prämienvergünstigungen von bis zu 20 Prozent. Im Hausarztmodell übernimmt ein Primärarzt die „Gatekeeper“-Funktion. Bei den HMOs zahlt die Versicherung in der Regel vorab eine Behandlungspauschale („Capitation“) je Versicherten an das Ärztenetz, und dieses übernimmt dann die wirtschaftliche Gesamtverantwortung für die medizinische Versorgung. Sechs Jahre nach Einführung stagniert der Anteil der Versicherten in besonderen Versorgungsformen bei etwa acht Prozent. Der Versichertenanteil in HMOs liegt bei nur zwei Pro-

zent. Offenbar sind die HMOs weder für die Versicherten noch für die Ärzte und die Versicherungen ausreichend attraktiv. Bei den Versicherten gelten die besonderen Versorgungsformen mit wenigen Ausnahmen als Billigversorgung. „Wenn man als Patient weiß, dass der Arzt mehr verdient, wenn er weniger Leistungen veranlasst, so hat man ein ungutes Gefühl“, sagt Dr. Otmar Kloiber, Leiter des Auslandsdienstes der Bundesärztekammer. Nur für relativ Gesunde sind die HMOs wegen der Prämieneinsparungen interessant. Alternativ ist aber gerade für die Gesunden die Wahl eines höheren Selbstbehalts mit bis zu 45 Prozent Prämienermäßigung – bei freier Arztwahl – wesentlich verlockender. „Den meisten Schweizern geht es immer noch zu gut, als dass sie sich ihre freie Arztwahl einschränken lassen“, meint Bernhard Wegmüller vom Spitzenverband der Schweizer Spitäler H+. An HMOs teilnehmende Ärzte schätzen das kooperative und qualitätsorientierte Arbeitsklima. „Für uns Ärzte ist die medizinische Gestaltungsfreiheit größer als in der Regelversorgung“, betont Dr. Andreas Weber, Geschäftsführer des Zürcher Ärztenetzes Medix. Dadurch, dass man den gesamten Behandlungsverlauf eines Patienten koordiniere, sei die Rolle eines Netzarztes sehr umfassend und entspreche mehr dem früheren Arztbild. Allerdings würden die Netzärzte bei den Verhandlungen der Behandlungspauschalen von den Krankenkassen zum Teil erheblich unter Druck gesetzt, räumt er ein. Innerhalb der Ärzteschaft überwiegt denn auch die Skepsis. Nur wenige Ärzte vernachlässigen die in der Schweiz noch relativ attraktive Regelversorgung – mit festem Punktwert für abgerechnete Leistungen und ohne Budgetierung –, um innerhalb eines Ärztenetzes das Versicherungsrisiko zu übernehmen. Zumal die Auslastung der HMOs mit pauschal vergüteten Versicherten eher gering ist und somit kaum mit einem finanziellen Ausgleich für die Übernahme des Morbiditätsrisikos gerechnet werden kann. Die Hälfte der HMO-Träger erleidet sogar Verluste aus der Versichertenpauschale. Auch bei den Versicherungen hat

52 sich die anfängliche Euphorie bezüglich der Einsparpotenziale durch die besonderen Versorgungsformen gelegt. Das Sparvolumen durch Hausarztmodelle erwies sich als zu gering, um Prämienabschläge, Boni an Hausärzte und erhöhte Verwaltungskosten aufzuwiegen. So hat die Krankenkasse Helsana per Ende Juni 2002 rund 70 000 Versicherten die Versicherung im Hausarztmodell gekündigt. Sie begründet diesen Schritt damit, dass sich vor allem Patienten mit guten Risiken für Hausarztmodelle interessierten, sodass das Sparpotenzial gering und deutlich unter den Erwartungen blieb. Inzwischen haben alle großen Krankenversicherungen ihre Beteiligungen an Hausarztmodellen beendet. Zu seinen Erfahrungen mit den HMOs sagt Dr. Konstantin Beck, Statistiker der CSS Versicherung: „Wir haben das Einsparpotenzial deutlich überschätzt.“ Denn eingeschrieben hätten sich vor allem günstige Risiken mit bis zu 50 Prozent niedrigeren Durchschnittskosten gegenüber dem Durchschnittskollektiv. Bei risikobereinigter Betrachtung verbleibe für die Krankenkasse ein Einspareffekt in Höhe von höchstens 15 Prozent der Leistungsausgaben der eingeschriebenen Versicherten. Dabei resultieren die Einsparungen überwiegend aus der Vermeidung von Krankenhauseinweisungen und dem rabattierten Einkauf von Arzneimitteln. Zudem konnten die Einsparungen erst erzielt werden, nachdem die kasseneigenen Betreibergesellschaften der HMOs aufgelöst und die Eigentümerschaft an die Ärzte übergegangen ist. Dadurch sei die ärztliche Motivation erhöht und der Verwaltungskostenanteil deutlich reduziert worden. Die verbliebene HMO-Generation mit ärztlicher Führung wird von den Versicherungen als ein tragfähiges Modell zur Steuerung der Versorgung unter Risikobeteiligung der Leistungsanbieter betrachtet – allerdings nur für eine Minderheit der Versicherten. Selbst wenn die Einschreibung in HMOs durch eine deutliche Verteuerung der Regelversorgung für die Versicherten gefördert werden sollte, gehen die Versicherungen nicht davon aus, dass eine Einschreiberate von acht bis zehn Prozent der Bevölkerung in HMOs übertroffen werden könnte. Die freie Arztwahl sei den Schweizern zu wichtig. Jene HMOs sterben aus, bei denen nicht im Voraus eine Behandlungspauschale je Versicherten an das Ärztenetz bezahlt wird. Man habe die Erfahrung gemacht, dass diese Modelle im Wettbewerb als Instrument der Risikoselektion missbraucht werden, sagt CSS-Statistiker Beck und spricht von „Pseudosparmodellen“. So sei es

Gesundheits- und Sozialpolitik üblich, Versicherte mit guten Risiken über die Prämienrabatte, die in den besonderen Versorgungsformen gewährt werden dürfen, anzulocken. Vermeintliche Steuerungseffekte über die Versorgungsform spielten bei der Rekrutierung keine Rolle. Diese Prämiennachlässe ohne Einsparpotenzial rechnen sich für die Versicherung so lange, wie ein ungenauer RSA den entsprechenden Finanzspielraum einräumt. Wie die Versicherungen feststellen, ob ein Versicherter potenziell hohe Kosten verursacht oder nicht, erläutert Daniel Wiedmer vom Schweizer Bundesversicherungsamt: „Viele Versicherungen versuchen zunächst, ihre Versicherten zum Ausfüllen eines Gesundheitsfragebogens für etwaige Zusatzpolicen zu veranlassen, bevor sie sie in die Grundversorgung aufnehmen, wo ohnehin Aufnahmezwang besteht.“ Mit den erfassten Daten sei es dann möglich, die Versicherten nach Risikogruppen zu sortieren. Kopfpauschalen: Anreize zur Risikoselektion Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung spricht sich dafür aus, die GKV wie in der Schweiz über versichertenbezogene Kopfprämien zu finanzieren. „Ein solcher Systemwechsel hat die Vorteile, dass die Krankenversicherungskosten aus den Arbeitskosten eliminiert werden, die Risikoentmischung zulasten der GKV reduziert und der Risikostrukturausgleich um die einkommensabhängigen Komponenten entlastet wird“, heißt es im aktuellen Gutachten der fünf „Wirtschaftsweisen“. Aus Sicht der Politik besonders verlockend ist die Tatsache, dass steigende Kassenbeiträge im Kopfprämiensystem nicht mehr unmittelbar die Lohnnebenkosten erhöhen. Dieser Gewinn für den Wirtschaftsstandort Deutschland birgt jedoch Gefahren. Die Erfahrungen in der Schweiz zeigen, dass einheitliche Kopfprämien Anreize zur Risikoselektion durch die Versicherungen setzen. Denn alle Versicherten unter 55 Jahren zahlen mehr in die Kasse ein, als es ihrem altersgemäßen Risiko entspricht. Dagegen profitieren ältere Versicherte von der Einheitsprämie, weil ihre risikogerechten Prämien zum Teil erheblich höher lägen. „Obwohl der RSA mit den bisherigen Kriterien Alter und Geschlecht grundsätzlich funktioniert, konnte die Risikoselektionstätigkeit der Versicherer nicht völlig beseitigt werden“, analysiert das Eidgenössische Department des Innern. Stefan Kaufmann vom Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer Santésuisse gibt überraschend offen

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 zu: „Wenn man die Einheitsprämie hat, wird man auch mit dem besten Risikostrukturausgleich den Missbrauch nicht verhindern können.“ Die CSS Versicherung rechnet vor, dass sie ihre Kopfprämie innerhalb von fünf Jahren um 39 Prozent senken könnte, wenn es ihr gelänge, aus einer Stichprobe von 40 540 CSS-Versicherten die sechs teuersten Patienten zu „vergraulen“, zum Beispiel durch eine schleppende Erstattung der Krankheitskosten. Ohne diese Selektion müsste sie ihre Prämien im gleichen Zeitraum um 18 Prozent anheben. Die Rechnung basiert allerdings auf einer sehr kleinen Stichprobe, weshalb die Schlussfolgerungen durchaus zufälliger Natur sein könnten, wie die CSS einräumt. Eine Form des „Rosinenpickens“ infolge der Kopfprämien hat die Regierung in Bern bereits beseitigt. Zur Vergleichbarkeit der Prämien müssen die Versicherungen künftig einheitliche Prämienregionen bilden. Ihre bisherige Gestaltungsfreiheit in diesem Bereich hatten einige Versicherungen zur Risikoselektion missbraucht. Teilweise definierten sie neue Regionen und verlangten dort relativ hohe Prämien, um teure Versicherte zum Krankenkassenwechsel zu bewegen. Die Visana Krankenversicherung ging so weit, sich aus manchen unrentablen Regionen ganz zurückzuziehen. Weitere Beispiele für Risikoselektionsverhalten der Versicherungen sind kurzzeitige Dumping-Prämienangebote zur „Verjüngung“ der Versichertenklientel und selektive prüfärztliche Kontrollen bei bestimmten Versicherten/Ärzten. Neben den negativen Auswirkungen auf das Verhalten der Versicherungen ist die ungleiche Lastenverteilung auf die Bevölkerung ein weiteres Problem der Kopfprämien. Bund und Kantone subventionieren die Versicherungsprämien einkommensschwacher Bürger erheblich. Rund 30 Prozent der 7,25 Millionen Versicherten erhalten eine Subvention. Diese betragen rund 60 Prozent der Prämien und Selbstbehalte. Diese Sozialleistungen gehen aber massiv zulasten des Mittelstandes. Denn der muss nicht nur die Prämien, sondern auch den Steueranteil zur Finanzierung der Prämienermäßigung aufbringen. Die gut verdienenden Versicherten profitieren hingegen von den hohen Selbstbehalten. „Die negativen Auswirkungen auf den Mittelstand werden in Deutschland nicht wahrgenommen“, hat der Schweizer Gesundheitsökonom Dr. Willy Oggier beobachtet. Für Martin Bienlein vom Spitzenverband der Schweizer Spitäler H+ sind die Kopfprämien sogar ein Auslaufmodell. Die Entwicklung gehe eher weg von

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 den einheitlichen Kopfpauschalen und hin zu einkommensabhängigen Beiträgen wie in Deutschland. Bienlein: „Die stetig steigenden Prämien belasten den Mittelstand von Jahr zu Jahr mehr. Dies ist nicht mehr lange vertretbar.“ Ein weiteres Handicap: Auch in Deutschland müssten mit der Einführung eines Kopfpauschalensystems aus sozialen Erwägungen Prämiensubventionsprogramme aufgelegt werden. Diese kämen allerdings sehr teuer. Überträgt man die Kosten der Verbilligung von Versicherungsprämien für Einkommensschwache auf deutsche Verhältnisse, müssten Bund und Gebietskörperschaften mindestens 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich an Transferleistungen aufbringen, wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung vorrechnet. Hohe Selbstbeteiligung: Wenig Steuerungswirkung Im Dschungel der Vorschläge für eine Reform des deutschen Gesundheitswesens taucht häufig der Vorschlag auf, eine erhöhte Direktbeteiligung für die Versicherten zu verankern. Dies verhindere überflüssige Arztbesuche, meinen die Befürworter. Auch hier lohnt ein Blick in die Schweiz. Mit InKraft-Treten des KVG haben die Eidgenossen die europaweit höchste Selbstbeteiligung eingeführt. „Eine effektive Steuerungswirkung ist bislang aber trotzdem kaum zu beobachten“, sagt der Zentralsekretär der Schweizerischen Sanitätsdirektorenkonferenz, des Zusammenschlusses der kantonalen Gesundheitsminister, Franz Wyss. „Die hohe Selbstbeteiligung hat sich nicht wirklich bewährt. Sie steuert die Nachfrage kaum, wirkt aber entsolidarisierend und wird teilweise zur Risikoselektion missbraucht“, meint Wyss. Um eine Steuerungswirkung zu erzielen, müssten die Franchisen seiner Ansicht nach noch wesentlich höher sein. Aber das wäre dann wahrscheinlich kontraproduktiv wegen der hohen Folgekosten, die entstehen, wenn notwendige Arztbesuche aufgeschoben werden, meint er. Anders sieht es bei der Zahngesundheit aus. Da Zahnersatz und Zahnbehandlung kein unkalkulierbares Krankheitsrisiko darstellen, ist die 100-prozentige Kostenverantwortung der Schweizer in diesem Bereich vertretbar. Zumindest gelingt es weitgehend, das Verhalten der Versicherten hin zu einer besseren Zahnhygiene und regelmäßigen Arztkonsultationen zu steuern. „Die Schweizer achten deutlich besser auf ihre Zähne als die Deutschen, weil sie die Folgeschäden ja auch selbst bezahlen müssen“, hat Kerstin Rusconi beobachtet. Sie ist in

Gesundheits- und Sozialpolitik Deutschland aufgewachsen und lebt seit fünf Jahren in Zürich. Kontrovers diskutiert wird in der Schweiz derzeit eine Aufhebung des Kontrahierungszwangs. Zwar besteht seit Einführung des KVG für die Krankenkassen die Möglichkeit, Einzeloder Verbandsverträge mit niedergelassenen Ärzten abzuschließen. Sie können die Abrechnung mit zugelassenen Leistungserbringern aber nicht verweigern. Die Versicherungen fordern Vertragsfreiheit und argumentieren, diese sei gegenüber Budgets und Bedarfsplanung die einzig wirksame Möglichkeit der Kostenkontrolle. Patientenorganisationen sprechen sich hingegen gegen eine Einflussnahme der Versicherungen auf die medizinische Versorgung aus und wissen die öffentliche Meinung hinter sich. Umfragen zufolge legen 70 Prozent der Schweizer großen Wert auf die uneingeschränkte Arztwahl. Die Ärzteschaft lehnt die Aufhebung des Kontrahierungszwangs entschieden ab und drohte zuletzt erfolgreich mit einem Referendum gegen die Aufhebung des Kontrahierungszwangs. Entsprechende Gesetzesinitiativen konnten vorerst gestoppt werden. Derzeit erörtert eine Parlaments-Kommission, was die Aufhebung des Kontrahierungszwangs bewirken würde. Diese wird beraten von Prof. Dr. Dr. Karl W. Lauterbach, Universität Köln, der auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt von den angeblichen Vorzügen von mehr Vertragsfreiheit zu überzeugen versucht. „Das Schweizer Gesundheitssystem steht in Deutschland zu gut da“, ist Gesundheitsökonom Oggier überzeugt. Diese Einschätzung stimmt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich die Schweizer das zweitteuerste Gesundheitswesen der Welt leisten. Nur die USA geben pro Kopf mehr für ihre Gesundheit aus. Dabei ist unbestritten, dass den hohen Kosten auch eine hohe Qualität gegenüber- steht. Gemessen an der Lebenserwartung und an der Kindersterblichkeit, liegt die Schweiz weltweit in der Spitzengruppe. Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der medizinischen Versorgung ist sehr hoch, jedoch besteht großer Unmut über die hohen und jährlich wachsenden Krankenversicherungskosten. Ambulante Spitalbehandlung als Kostentreiber Die Kosten des Schweizer Gesundheitssystems beliefen sich im Jahr 2000 auf 43,3 Milliarden Franken. Im Jahr 1995, vor Einführung des KVG in 1996, waren es noch 36,2 Milliarden Franken – eine Steigerungsrate von 19,7 Prozent. Dabei ist der Staatsanteil mit rund 16 Prozent relativ hoch. Den größten und

53 weiter wachsenden Anteil davon tragen die Kantone. Zu rund 60 Prozent entfallen die öffentlichen Ausgaben auf die Subventionierung der Krankenhäuser, die übrigen 40 Prozent werden für die Prämienverbilligung aufgewandt. Der durchschnittliche Ausgabenanstieg seit Einführung des KVG liegt zwischen fünf und sechs Prozent jährlich. Zwischen 1998 und 2001 besonders stark gestiegen sind die Arzneimittelausgaben (plus 32 Prozent) sowie die Ausgaben für die ambulante Behandlung an Krankenhäusern (plus 22 Prozent). Zum Vergleich: Der Ausgabenanstieg für ärztliche Behandlung lag nach Bereinigung der Arztzahlzunahme in dieser Zeitspanne lediglich bei knapp drei Prozent jährlich. Die deutliche Zunahme der Ausgaben für die ambulante Krankenhausbehandlung im Vergleich zum moderaten Anstieg der ambulanten ärztlichen Behandlungsausgaben ist auch aufschlussreich für die deutsche Diskussion. Mehren sich doch hierzulande die Stimmen derjenigen, die die angeblich so teure „doppelte Facharztschiene“ – einerseits in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung, andererseits an den Krankenhäusern – abschaffen wollen. Durch Verlagerung der fachärztlichen Versorgung an die Krankenhäuser könnten Doppeluntersuchungen und -diagnosen sowie Mehrfachbehandlungen vermieden werden, meinen die Kritiker. Die Erfahrungen im Nachbarland lassen aber vermuten, dass eine Verlagerung der fachärztlichen Versorgung an den Krankenhäusern das System insgesamt teurer macht. Während es in Deutschland nahezu undenkbar ist, dass Krankenkassenvertreter oder Politiker eine Form des „Rosinenpickens“ in Betracht ziehen oder eingestehen, wird dies in der Schweiz als Ergebnis des Wettbewerbs akzeptiert. Eine Krankenversicherung, die ihre Risiken selektiert, handelt demnach nicht unmoralisch, sondern lediglich gewinnmaximierend und systemkonform. Diese Sichtweise ist historisch bedingt. Bis 1996 existierte in der Schweiz ein völlig freier Krankenversicherungsmarkt mit erheblichen risikoselektionsbedingten Zugangsbeschränkungen. Die Einführung des KVG war eine Entwicklung hin zu mehr Solidarität unter den Versicherten. Umso mehr sind die Schweizer verwundert, dass ihr jetziges Modell in Deutschland als „Wettbewerbsmodell“ wahrgenommen wird. Gerade der Wettbewerb sollte mit der Reform von 1996 eingeschränkt werden.

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Wachsender Unmut Auch sonst wird die deutsche Delegation zwar immer freundlich, aber vor allem verwundert empfangen. „Wir sehen uns überhaupt nicht als Vorbild“, sagt Michael Jordi von der Sanitätsdirektorenkonferenz. Vielmehr wachse auch in der Schweiz der Unmut über das stetig teurer werdende Gesundheitssystem. „Wir haben derzeit kaum zukunftsträchtige Lösungen“, resümiert Jordi. Dr. Peter Berchtold, Leiter des „College für Management im Gesundheitswesen“, bemängelt die fehlenden Steuerungsmöglichkeiten im Schweizer System: „Sie haben den Vorteil, Kassenärztliche Vereinigungen zu haben“, sagt er zu den deutschen Besuchern. Diese haben den Eindruck gewonnen, dass das Schweizer Modell nicht zum Import geeignet ist. Jens Flintrop

Der Wunsch als Vater des Gedankens Die Schweizer erfreute ihr neues Krankenversicherungsgesetz, weil zum ersten Mal alle Bürger eine Krankenversicherung erhielten. Ein großer sozialer Fortschritt. Die ebenfalls eingeleiteten Managed Care-, HMO- und Hausarztmodelle sind aber nach wenigen Jahren nur dort noch interessant oder gar lebensfähig, wo sie von Ärzten geleitet werden. Gerade die Hausarzttarife können schon nach wenigen Jahren nur noch als „Marketing-Gag“ bezeichnet werden. Sozialpolitisch betrachtet sind sie wegen der beobachteten Risikoselektion als entsolidarisierend zu bewerten. Diese entsolidarisierende Wirkung entfalten auch HMOs, Franchisen und der Kopfbeitrag. Letzterer befreit das Gesundheitswesen zwar von der Standort-, aber nicht von der Kostendebatte. Denn erstaunlicherweise müssen auch die Schweizer für ihre gesundheitliche Versorgung zahlen – und das reichlich. Die Einführung einer Kopfpauschale macht nichts billiger oder besser. Im Gegenteil: In der Schweiz sind die meisten Familien – selbst die mit einem passablen Einkommen – Bittsteller bei der Regierung, damit sie die Prämien für die Krankenkassen bezahlen können. Einer Regierung, die dies in Deutschland einführt, kann man bei der nächsten Wahl nur viel Glück wünschen. Bleibt die Frage, warum uns die Schweiz, die USA und die Niederlande so oft als Exempel vorgehalten werden. Ist es die Unkenntnis der Experten? Oder sind diese ideologisch so verbogen, dass einfach nicht sein kann, was nicht sein darf? Oder glauben sie wirklich daran, dass durch

Wettbewerb Sozialschutz geleistet werden kann? Dass von den Expertokraten neben den Kopfprämien die Franchisen und Managed Care als positive Elemente der Schweizer Reform in den Vordergrund geschoben werden, macht klar, worum es geht: Das Machtgleichgewicht der Partner – Krankenkassen und Leistungsträger – soll zugunsten einer Dominanz der Kassen geändert werden. Aber auch was dann passiert, können sich geneigte Politiker in der Schweiz anschauen. Budgethalter (HMOs, Hausarztmodelle oder Krankenkasse) werden manchmal knauserig, wenn es um Diagnose- oder Therapieoptionen geht. Der Dumme ist der Patient, besonders, wenn er richtig krank ist. Aber um den geht’s ja nicht mehr, denn wir haben ja keine Krankenkassen, sondern nur noch „Gesundheitskassen“. Dr. Otmar Kloiber stellv. Hauptgeschäftsführer Bundesärztekammer

Nicht übertragbar Das Schweizer Modell wird von großen Teilen der Ärzteschaft in Deutschland insbesondere deswegen als interessante Alternative zum gegenwärtigen deutschen GKV-System angesehen, weil es eine Kostenerstattung der Krankenversicherung für die vom Arzt unmittelbar gegenüber dem Versicherten mit festen Preisen berechneten ärztlichen Leistungen enthält. Ein Besuch in der Schweiz macht aber deutlich, dass auch ein solches System Struktur- und Finanzierungsprobleme hat. Zu ihrer Lösung werden dieselben – innerärztlich umstrittenen – Maßnahmen eingeführt beziehungsweise politisch geplant, die zurzeit auch in Deutschland, vom Sachleistungssystem ausgehend, diskutiert werden: Hausarzt-Modell, HMOs, Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Leistungen, Kopfbeiträge für Versicherte mit Selbstbehalt und Selbstbeteiligung. Deswegen war es lehrreich, die in der Schweiz mit solchen Strukturen bereits gemachten Erfahrungen kennen zu lernen. Die häufig zu hörende Kritik der Schweizer am eigenen System überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Bürger der Schweiz die höchste Selbstbeteiligung in Europa für ihre gesundheitliche Versorgung zu tragen haben, die Ausgaben absolut und in ihren Steigerungsraten jedoch ebenfalls eine Spitzenposition in Europa einnehmen. Für die Ärzteschaften beider Länder geht es vor allem darum, die Vorteile einer flächendeckenden wohn-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 ortnahen haus- und fachärztlichen Versorgung für alle Versicherten gegenüber bestehenden Tendenzen der Politik zur Aufhebung des Kontrahierungszwanges (für Deutschland: einheitliche Kassenzulassung) deutlich herauszustellen und dabei den Patienten die – in der Schweiz sehr viel deutlicher als bei uns gesehene – Gefahr einer Risikoselektion durch die Krankenkassen bewusst zu machen. In der Schweiz ist dies der Ärzteschaft bisher gelungen. Die Erfahrungen mit HMOs und Hausarztmodellen sowie deren Akzeptanz in der Bevölkerung und bei den Ärzten muss jedes Land selbst machen. Die Schweizer Ergebnisse sind wegen der sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Systeme nicht 1 : 1 übertragbar. Dr. Rainer Hess Hauptgeschäftsführer Kassenärztliche Bundesvereinigung

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Das Milliardending Mutige Reformen statt Leistungsabbau ver.di will Beiträge um über drei Prozentpunkte senken und die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern Berlin, 8. April 2003 – Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) macht Vorschläge, die die Senkung der Beiträge zur Krankenversicherung um über 3,7 Prozentpunkte möglich machen soll und das bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität der Leistungen des Gesundheitswesens. ver.di-Bundesvorstandsmitglied Beate Eggert zeigte im Rahmen einer Pressekonferenz Wege auf, die es erleichtern, die paritätische und solidarische Finanzierung zu erhalten. „Es gibt keinen einzigen Grund für eine grundlegende Veränderung der Finanzierung der Krankenversicherung“, erklärte Eggert. Wir brauchen eine Mobilisierung für eine echte Strukturreform des Gesundheitswesens. Sie ist aktuell erforderlich, um den radikalen Abriss unseres Gesundheitssystems zu verhindern. ver.di will statt dessen unser solidarisch und paritätisch finanziertes Gesundheitswesen verbessern und zukunftsfest machen. ver.di steht für einen modernen und zukunftssicheren Sozialstaat auf dem Grundwert der Solidarität und gegen Sozialabbau. Seit dem Treffen der Gewerkschaften beim Bundeskanzler ist auch klar, dass von Seiten der Bundesregierung die paritätische und solidarische Finanzierung auf dem Spiel steht und gleichzeitig die Möglichkeiten über Gespräche zu überzeugen, beinahe ausgeschöpft sind. Die Gewerkschaften haben andere Formen der „Überzeugungsarbeit“ angekündigt. Unsere Kampagne „Mehr bewegen für eine gesunde Reform“ ist eine davon. Mit unserer Kampagne wollen wir ein deutliches Zeichen für unser solidarisches und paritätisches Gesundheitswesen setzen. Wir werben für eine Strukturreform zur Sicherung der Finanzierung, der Verbesserung der Leistungen im Rahmen der Prävention und für den Ausbau der integrierten Gesundheitsversorgung. Wir machen klar, dass dafür qualifizierte Arbeitsplätze bei Kassen und Leistungserbringern erhalten und geschaffen werden müssen. Mit unseren Forderungen ist dies realisierbar ohne Einschnitte bei Leistungen und Zuzahlungen und ohne Beitragssatzsteigerungen. ver.di will eine „mutige Reform“, die sich nicht gegen die Schwachen – Patienten, Versicherte, Arbeitnehmer – richtet. Mut ist vielmehr bei der Auseinandersetzung mit den mächtigen Lobby-Gruppen im Gesundheitswesen gefragt. Eine Reform muss schließlich gegen Widerstände aus Pharmaindustrie, Standesvertretungen und Arbeitgeberverbänden durchgesetzt werden. Eine solche mutige Reform ist aber erforderlich.

ver.di unterstützt Vorstellungen aus dem Gesundheitsministerium, die Veränderungen hin zu mehr Qualität und Effizienz vorsehen. Dazu gehören • die Öffnung der Krankenhäuser für ambulante fachärztliche Behandlung, • die Umsetzung der Positivliste für Medikamente, • die Verbesserung der Prävention und • die Stärkung des Hausarztes als Lotse. Leistungsabbau, Barrieren beim Zugang zu den Leistungen, wie das Eintrittsgeld beim Arzt oder die weitere Privatisierung von Gesundheitsrisiken, z.B. Unfälle oder Zahnbehandlung oder gar die Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung steuern in die falsche Richtung. Sie treffen vor allem Menschen mit mittleren und geringem Einkommen, Arme und Kranke, die besonders auf eine gute Gesundheitsversorgung angewiesen sind. Deshalb lehnen wir sie strikt ab. Solche Vorschläge sind Quacksalberei. Eine mutige Gesundheitsreform ist möglich, braucht aber starke Unterstützung aus der Mitte der Gesellschaft. Gemeinsam mit Sozialverbänden, Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen, Verbraucherberatung, DGB-Gewerkschaften u.a. ist es notwendig, die erforderliche Unterstützung zu sichern. ver.di begrüßt, dass am 9. April 2003 unter Beteiligung dieser Organisationen auf Einladung des DGB ein „Netzwerk Gesundheit“ gebildet wird. ver.di ist Mitinitiator und Teil dieses Netzwerks. Auf örtlicher und überörtlicher Ebene werden die Veranstaltungen in der Aktionswoche durch die Netzwerkpartner unterstützt. Starke Lobbygruppen der Wirtschaft wollen statt einer „gesunden Reform“ in Richtung auf mehr Qualität und Effizienz drastische Einschränkungen der Kassenleistungen. Sie wollen ein billiges Gesundheitswesen. Ihr Interesse ist es, die Lohnnebenkosten

kurzfristig zu senken. Dadurch werden die Qualität der Versorgung für die Patienten und die Arbeitsplätze bei den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungserbringern im Gesundheitswesen massiv gefährdet. Bisher wird diesen Wirtschaftsinteressen von der Bundesregierung nicht entschieden entgegengetreten. • So hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 in Aussicht gestellt, dass das Krankengeld künftig nicht mehr paritätisch abgesichert wird. • Die Rürup Kommission will noch im April – evtl. wird die Entscheidung schon am 9. April getroffen – ihren Bericht zur Krankenversicherung vorlegen. Der Kommissionsvorsitzende will nach wie vor ein Kopfpauschalenmodell, mit dem die solidarische und paritätische Finanzierung aufgekündigt wird. • Von der CDU/CSU, die im Bundesrat die Mehrheit stellt und deren Zustimmung zur Gesundheitsreform benötigt wird, liegen Vorschläge zum Ausschluss der Zahnbehandlung und von Unfällen im Haushalt und in der Freizeit aus dem Leistungskatalog der GKV vor. Wer zum Arzt geht, soll Eintrittsgeld bezahlen. Anfang Mai soll ein Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz in das parlamentarische Verfahren eingebracht werden. Es ist noch nicht entschieden, welche Vorschläge dort aufgegriffen werden. Im derzeitigen politischen Klima ist allerdings mit massiven Einschnitten in unser soziales Gesundheitswesen zu rechnen – auch wenn partiell Verbesserungen z. B. bei der integrierten Versorgung durchsetzbar erscheinen. Doch auch das ist noch nicht sicher. Wir wollen mit einer Aktionswoche zu Beginn des parlamentarischen Verfahrens unsere Vorstellungen in die Öffentlichkeit tragen. Sie ist Auftakt für eine Reihe weiterer Aktivitäten. Unsere Bezirke und Fachbereiche werden in dieser Woche und in der Folge-

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liche Arbeitsbedingungen wieder lichkeit eingehen. lohnen und nicht der Billigste Gewin• Polikliniken in den neuen Bundeslänner ist. Verbindliche Qualitätsstandern wurde zehn Jahre lang verbodards, kontinuierliche Anpassung ten, sich an dem Bedarf der Patientdes Wissens auf den aktuellen innen und Patienten zu orientieren. Stand und Vermeidung von ÜberarSie durften bis im letzten Jahr webeitung sind erforderlich. der den Standort wechseln, noch die • Wir wollen, dass sich Korruption und Fachrichtungen verändern. Betrug nicht auszahlt, sondern sankEs ist untragbar, dass wir insbesondere tioniert wird. Wir halten es im Intein großen Städten zu viel Ärzte haben resse der vielen Menschen – 4,1 Milund in einigen ländlichen Regionen zu lionen –, die in Gesundheitsberufen wenig. Beispielsweise kommen in Berarbeiten, für nicht hinnehmbar, dass lin auf einen Arzt gerade noch 194, in sich einige Tausend aufgrund von beHamburg sogar nur 188 Einwohner. In wusster Falschabrechnung auf KosUnsere 7 Punkte für eine mutige Re- Niedersachsen kommen dagegen auf ten der Solidargemeinschaft eine einen Arzt 324 und in Brandenburg soform heißen: goldene Nase verdienen – und dabei gar 357 Einwohner. Das System der • Vorbeugung, noch nicht einmal ein UnrechtsBedarfssteuerung – im ambulanten • Transparenz, bewusstsein haben. Bereich liegt es bei der Kassen• Vernetzung, ärztlichen Vereinigung, im stationären Durch eine solche neue Ordnung kann • Qualität, unser Gesundheitswesen nicht nur besSektor beim Land – hat versagt. • Effizienz, ser, sondern auch effizienter gemacht • Solidarität und werden. ver.di will eine neue Ordnung: • Sicherheit • Wir brauchen VersorgungssektoZwei zentrale Anforderungen an eine ren, die nicht starr getrennt sind. Das Milliardending Gesundheitsreform von ver.di sind: Ambulante und stationäre EinrichSinnvolle Einsparungen können mit ei• Die integrierte Versorgung mit tungen sowie verschiedenste Berufe ner besseren Versorgung einhergeder Öffnung der Krankenhäuser müssen zusammenarbeiten. Wir brauhen. für die ambulante fachärztliche chen die integrierte Versorgung als • Kaum ein Patient will länger als nöVersorgung. Regelversorgung – angefangen bei tig im Krankenhaus bleiben • Die paritätische Finanzierung. den Fachärzten – in einem weiteren • Kaum ein Patient möchte mehr PilWir halten es für völlig unakzeptabel, Schritt ausgeweitet auf alle Berufslen als nötig schlucken dass berufsständische Organisationen gruppen im Gesundheitswesen und • Kaum ein Patient ist scharf auf Dopdurch Druck auf die Politik seit Jahren alle Dienstleistungen. peluntersuchungen echte Reformen ausbremsen: • Wir brauchen Gesundheitsförde• Kaum ein Patient will dem Hausarzt, • Dem Patienten wird verboten, sich rung, Vorsorge, Behandlung und Facharzt, Krankenhausarzt, Arzt in den besten Facharzt auszusuchen – Rehabilitation, die eng aufeinander der Reha-Einrichtung seine Kranwenn der im Krankenhaus arbeitet. abgestimmt sind. Dafür brauchen kengeschichte erneut erzählen. • Jungen Ärzten wird verboten, ihren wir Behandlungsleitlinien – insbe• Durch eine qualitativ hochwertige Berufsstart als angestellte Ärztinsondere für die großen chronischen integrierte Versorgung können nen und Ärzte in einem GesundVolkskrankheiten. kurz- bis mittelfristig 15 bis 20 Milliheitszentrum zu beginnen. Wer • Wir wollen, dass sich gute Arbeit, arden Euro gespart werden. ambulant behandeln will, muss daqualifiziertes Personal und menschher das große Risiko der Freiberufzeit die Sprechstunden oder Veranstaltungen ihrer Abgeordneten in Bund und Land zu nutzen, um gesundheits- und sozialpolitische Themen anzusprechen und klare Positionen einzufordern. Dabei wollen wir auch wissen, ob den Erklärungen der Abgeordneten vor der Bundestagswahl 2002 im Rahmen der ver.di-Initiative „für eine gesunde Reform“, die die Interessen der Versicherten, Kranken und Beschäftigten in den Mittelpunkt rückt, auch Taten gefolgt sind.

Abschaffung der doppelten Facharztversorgung Wir haben 294.676 berufstätige Ärztinnen und Ärzte. 59.788 davon sind als Hausärzte tätig. 139.477 arbeiten im Krankenhaus – gut die Hälfte davon als Fachärzte 128.488 sind als freiberufliche niedergelassene Ärzte tätig. Problem Die Zahl der Ärzte hat im ambulanten und stationären Bereich stark zugenommen – von 1990 bis 2000 um ca. 57 000 Ärztinnen und Ärzte – allein im ambulanten Bereich um rund 36.000. Wir haben Doppeluntersuchungen, die Zusammenarbeit ist unterentwickelt. Niedergelassene Ärzte klagen über mangelnde Vergütung. Vor allem junge Ärzte scheuen das Risiko der Freiberuflichkeit. Stationär tätige Ärzte klagen über Arbeit rund um die Uhr.

Lösung Abschaffung der doppelten Facharztversorgung. Künftige Facharztversorgung durch Krankenhäuser, Polikliniken und Ambulanzen. Annahme: 30 000 Fachärzte wechseln von der Freiberuflichkeit in ein Angestelltenverhältnis.

Einsparung 3,7 Mrd. € oder 0,37 Beitragssatzpunkte

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Konsequente Gesundheitsförderung mit dem Ziel gesündere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Gesundheitsförderung muss beim Einzelnen ansetzen aber auch bei Lebensund Arbeitsverhältnissen. Gerade im Betrieb lassen sich durch Gesundheitsförderung kurzfristig Krankheitstage vermeiden. Problem Durchschnittlich 14,6 Tage waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Jahr 2001 arbeitsunfähig erkrankt. Die dadurch verursachten Produktionsausfälle ergeben 44,76 Mrd. €. Stress und mangelnde soziale Unterstützung sind nach Ansicht der Gesundheitsexperten die Hauptursache.

Lösung Durch Verbesserung betrieblicher Gesundheitsförderung kann mit relativ geringem Aufwand eine Reduzierung der Krankheitstage erreicht werden. Zwei Krankheitstage weniger sind nach unseren Erfahrungen durch die Einführung von konsequentem betrieblichem Gesundheitsmanagement zu erreichen.

Einsparung 6,1 Mrd. € an sog. Lohnnebenkosten (echte Entlastung, und keine Kostenverlagerung auf die Versicherten) und mittelfristig durch besseres Betriebsklima deutliche Wettbewerbsvorteile!

Lösung Entwicklung von Leitlinien zur Behandlung der großen Volkskrankheiten. Einführung der elektronischen Patientenkarte zur besseren Steuerung der Behandlung. Ausbau der DMP. Einführung von Fehlermanagement – auch einrichtungsübergreifend.

Einsparung Qualitäts- und Effizienzverbesserung mittelfristig mindestens 5 Prozent dieses Ausgabenblocks 5,65 Mrd. € oder 0,57 Beitragssatzpunkte

Lösung Klare Anti-Korruptionspolitik mit entsprechender Ausstattung der Krankenkassen durch Anti-Korruptionsexperten.

Einsparung mindestens 2 Mrd. € oder 0,2 Beitragssatzpunkte. Es gibt dabei eine hohe Dunkelziffer. Der genannte Einsparungsbetrag liegt an der unteren Grenze.

Qualitätsverbesserung durch Behandlungsleitlinien für chronisch Kranke Etwa 25 Prozent der Versicherten leiden an chronischen Erkrankungen. Rund 80 Prozent unserer Gesundheitsausgaben werden zur Behandlung dieser Erkrankungen aufgewendet. Das sind allein 113 Mrd. €. Problem Trotz hoher Ausgaben für chronisch Kranke ist die Behandlungsqualität mäßig. Aufeinander abgestimmte Behandlungsprogramme fehlen. 25 Prozent mehr Menschen sterben in Deutschland an Herzinfarkt als in den Niederlanden, trotz 60 Prozent mehr Herzkatheteruntersuchungen. Fehldiagnosen bei Brustkrebs: ca. 30 Prozent – jährlich etwa 100 000 unnötige Operationen (Expertenschätzung). Diabetiker: mehrere Tausend der jährlich 20.000 durchgeführten Beinamputationen hält der Präsident der deutschen Fachgesellschaft für Gefäßchirurgie für vermeidbar. Bekämpfung der Korruption Missbrauch und Korruption sind im Gesundheitswesen weit verbreitet. Seit Jahren wird im internationalen Bereich darüber berichtet. Die Lobby insbesondere der Pharmaindustrie, der Pharmavertriebe, der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Apothekerkammern hat es bisher geschafft, das Thema Korruption und Korruptionsbekämpfung aus der Diskussion über die Reform herauszuhalten. Problem Mehrere Milliarden Euro werden jährlich durch Korruption dem Gesundheitssystem entzogen. Die Dunkelziffer ist groß. Bisher haben auch die Krankenkassen kaum Aufklärungsarbeit geleistet.

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Beitragsentlastung und Maßnahmen auf der Einnahmeseite: Maßnahmen auf der Einnahmeseite 25,48 Mrd. €. 6,1 Mrd. € Maßnahmen zur Beitragsentlastung 11,35 Mrd. € 5,65 Mrd. € 36,83 Mrd. € 2 Mrd. € Gesamt 17,45 Mrd. € 3,7 Beitragssatzpunkte zuzüglich direkte Entlasgesamtgesellschaftlich wünschenstung der Lohnkosten 6,1 Mrd € werte Leistungen Sie dürfen nicht allein auf die Versicherten verlagert werden. Daran müssen sich alle in der Gesellschaft beteiligen. Diese Leistungen sind im Wesentlichen Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, künstliche Befruchtung, Schwangerschaftsverhütung, Haushaltshilfen und hauswirtschaftliche Versorgung insgesamt ca. 1,98 Mrd. €

Entlastung insgesamt: Abschaffung der doppelten Facharztversorgung Konsequente Gesundheitsförderung mit dem Ziel gesündere Arbeitnehmer Qualitätsverbesserung durch Behandlungsleitlinien für chronisch Kranke Bekämpfung der Korruption Gesamt Paritätische Finanzierung Die paritätische Finanzierung ist für ver.di ein Grundprinzip, das nicht kurzsichtigen Einnahmeverbesserungen geopfert werden darf. Parität hat für uns nicht nur einen finanziellen, sondern einen entscheidenden Qualitätsaspekt: • Arbeitgeber müssen in der Verantwortung für Gesundheit bleiben. Die paritätische Finanzierung ist die Grundlage für eine starke Koalition auf der Seite der Selbstverwaltung der Krankenkassen und dient damit der Stärkung der Versichertenseite gegenüber einer Anbieterdominanz. • Dafür spricht auch das Erfolgsmodell Gesetzliche Unfallversicherung über die Berufsgenossenschaften (BG): von Kostensteigerung in diesem Bereich ist keine Rede. Dagegen werden Fortschritte gemacht bei der Verbesserung der Gesundheit im Betrieb, dem Rückgang der Unfälle. • Die Arbeitgeber zahlen dort alleine. Das zeigt, dass der finanzielle Druck auf die Arbeitgeber aufrecht erhalten bleiben muss. Es darf deshalb auch kein Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags geben. Er muss weiterhin dynamisiert bleiben. Es gibt ausreichend Möglichkeiten auch unter Beibehaltung der Parität die Finanzen der Kassen in Ordnung zu bringen: • Im Kassenwettbewerb muss für die Krankenkassen eine gleiche Ausgangslage geschaffen werden. Heute haben nur Betriebskrankenkassen andere Öffnungs- und Schließungsmöglichkeiten als andere Krankenkassen. Dies muss einheitlich geregelt werden. • Für Kassen muss es attraktiver werden, wenn sie ihre kranken Mitglieder gut behandeln. Insbesondere für die Verbesserung der Chronikerversorgung brauchen wir den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi RSA). • Dadurch profitieren Versicherte in den Versorgerkassen durch niedrigere Beiträge und dem System bleiben die notwendigen Mittel erhalten. Der Wechsel zu Billigkrankenkassen führt zum Entzug von Finanzen in

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3,7 Mrd. €

Verschiebebahnhöfe Verschiebebahnhöfe zur Haushaltsanierung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen beendet werden. 1986 bis 2002 wurden 30 Mrd. € zu Lasten der GKV verschoben. Allein 2002 und 2003 waren es jeweils rund 4,5 Mrd. €. Nur ein Teil dieser Verschiebebahnhöfe lässt sich rückgängig machen. Die Krankenkassen berechnen diesen Betrag mit 7,5 Mrd. € Ungerechtigkeiten im System Ungerechtigkeiten im System müssen unbedingt beseitigt werden. Dazu sind eine Reihe von Regelungen erforderlich, die durchdacht werden müssen, z.B. das Familieneinkommen in der GKV stärker berücksichtigen, die Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen anheben und den Kreis der Versicherten ausweiten. Dies muss schrittweise geschehen und am Ende sollte die Erwerbstätigenversicherung stehen. Als Orientierung für die finanzielle Wirkung kann die Anhebung der Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen auf 5.100 € (wie Renten- und Arbeitslosenversicherung) genannt werden. bedeutet Mehreinnahmen von 7 Mrd. € oder 0,7 Beitragssatzpunkte. Erweiterung der Bemessungsgrundlage Durch eine nur längerfristig denkbare Erweiterung der Bemessungsgrundlage auf alle Einkommen und die Ausdehnung des Versichertenkreises ist eine weitere Einnahmeverbesserung möglich. 9 Mrd. € oder 0,9 Beitragssatzpunkte.

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Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik 1. Transparenz und Leistungsfähigkeit im deutschen Gesundheitswesen Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache I-01) unter Berücksichtigung der Anträge von Dr. Lichte (Drucksache I-01a) und Dr. Windhorst (Drucksache I-01c) fasst der 106. Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit folgende Entschließung: Kranke Menschen haben Anspruch auf eine fachlich hochwertige und humane Versorgung. Oberste Priorität aus Sicht der Bevölkerung ist – jüngsten Meinungsumfragen zufolge – der ungehinderte, freie Zugang der Patienten zu ihrem Arzt. Der aktuelle Entwurf der Gesundheitsreform steht diesem Anspruch entgegen. Deshalb wehrt sich die deutsche Ärzteschaft gegen diese sogenannte Reform und macht eigene, konstruktive Vorschläge.

überführt wird, in der Behörden und Krankenkassen bestimmen, was an Leistungen medizinisch notwendig ist und wie diese unter Kostengesichtspunkten erbracht werden müssen. Wir Ärzte warnen vor diesem Paradigmenwechsel und werden uns auch in Zukunft offensiv gegen einen rein ökonomisch intendierten, bürokratisch administrativ zergliederten Medizinbetrieb wenden und uns für eine ärztlich ethische Zuwendungsmedizin einsetzen.

1. GMG-Entwurf: Der Weg in die fal- 2. Neueinführung: Misstrauenskultur sche Richtung Das deutsche Gesundheitswesen genießt im internationalen Maßstab nach wie vor einen hervorragenden Ruf und eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist nicht in der Lage, die Zukunftsfähigkeit dieses Systems zu sichern, da es das Problem der Einnahmeerosion der Gesetzlichen Krankenversicherung in keiner Weise löst. Aber die Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung reichen nicht mehr aus, den medizinischen Fortschritt dauerhaft zu finanzieren. Der steigende Versorgungsbedarf einer älter werdenden Bevölkerung wird nicht mehr gedeckt werden können, wenn die Einnahmen der Krankenkassen weiter zurückgehen und die Gesetzliche Krankenversicherung regelrecht austrocknet. Massenarbeitslosigkeit, sinkende Lohnquote, Ausplünderung der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Sanierung anderer Sozialversicherungszweige in Höhe von ca. 32 Milliarden EUR in den letzten 10 Jahren, die so genannten „Verschiebebahnhöfe“ – das sind die eigentlichen Ursachen für die derzeitige Finanzkrise. Hier zeigt das Gesetz keinerlei Lösungswege auf. Mit dem Entwurf eines Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG), der auf falschen Analysen und fragwürdigen Gutachten basiert, verfolgt die Bundesregierung einen Paradigmenwechsel, der nicht die Gesundheitsversorgung verbessern, sondern die schon bestehende heimliche Rationierung verschärfen wird. Im Kern geht es um die Frage, ob das bisher selbstverwaltete und freiberuflich geprägte Gesundheitswesen in eine staatlich gelenkte Medizin

Durch eine Fülle von Prüfungen und Richtlinien-Vorgaben entsteht eine Überwachungsbürokratie, die die Behandlungsbeziehung zwischen Patient und Arzt in unerträglicher Weise administriert. Gewünscht wird offensichtlich ein neuer Typus Mediziner: der durch Leitlinien mit Therapievorschriften gelenkte, zeitgerasterte Arzt, der nicht mehr Patienten, sondern nur noch den Träger einer Krankheit behandelt. Der GMG-Entwurf ist durch und durch geprägt von einer Misstrauenskultur und setzt dementsprechend auf Reglementierung, Überwachung und Entmündigung der Berufe im Gesundheitswesen. I. Über eine unerträgliche Rechtfertigungsdokumentation hinaus, die nur auf Kosten der Patienten gehen kann, wird dem Gesundheitswesen eine bundesweite Misstrauensorganisation übergestülpt: Der Beauftragte zur Bekämpfung von Missbrauch und Korruption im Gesundheitswesen. Die Ermittlungsbefugnisse dieses Beauftragten reichen von legalem und illegalem Verhalten bis hin zu einem gesellschaftspolitisch nicht akzeptablen Verhalten. Damit wird die Tür geöffnet für subjektive Einschätzungen, willkürliche Prüfungen sozialstaatlichen Wohlverhaltens und öffentliche Anprangerei. Eine solche Einrichtung ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht mehr vereinbar. Sie diskriminiert die Ärzteschaft und alle im Gesundheitswesen Beschäftigten. II. Der mit dem Deutschen Zentrum für Qualität in der Medizin vorgesehene Weg führt in eine behördengesteuerte Medizin und da-

mit zur institutionellen Fremdbestimmung der Ärzteschaft. Eine solche Normgebung ärztlicher Berufsausübung, die eine notwendige oder bedarfsorientierte Patientenversorgung sozialrechtlichen oder gar fiskalischen Zwängen unterwirft, lehnen die Ärztinnen und Ärzte strikt ab. Die Definition der Qualität ärztlicher Versorgung muss Sache der Profession selbst bleiben und kann nicht von einem externen Zentrum entwickelt werden. III. Den Fortbestand der Kassenzulassung von der Erfüllung einer Fortbildungspflicht abhängig zu machen, ist ein weiterer Ausdruck der Fremdbestimmung und des Misstrauens gegenüber der Ärzteschaft. Ein solches Maß an Standardisierung und Schematisierung ärztlicher Heilkunst hat es bisher in Deutschland nicht gegeben; es sucht auch in Europa seinesgleichen. Die Begründung des GesetzEntwurfs, „Ärzte werden zukünftig zur Fortbildung verpflichtet“, leugnet, dass diese Pflicht seit Jahrzehnten berufsrechtlich besteht – sie ist keine Erfindung des BMGS im Jahre 2003. IV. Mit der Übertragung der Sicherstellungsverpflichtung der Krankenkassen für den ambulanten fachärztlichen Bereich werden die niedergelassenen Fachärzte in die einzelvertragliche Abhängigkeit eines Krankenkassenmonopols geführt und die Patienten ihrer freien Arztwahl beraubt. Das im Gesetz-Entwurf vorgesehene Nebeneinander einer Vielzahl unterschiedlich organisierter Versorgungssysteme mit konkurrierenden Kassen-, Leistungserbringer- und Vergütungsstrukturen wird zu einem unüberschaubaren Durcheinander für die Patienten führen. Ausufernde Verwaltungsapparate, deren Kostenaufwand zu Lasten der Versorgungsqualität der Patienten gehen, werden erste sichtbare Konsequenz des sogenannten Modernisierungsgesetzes. Auch wird von echtem Wettbewerb keine Rede sein können, weil ein Konzentrationsprozess auf Kassenseite zwangsläufig ist. Regionale Monopolsituationen für einzelne Krankenkassen werden die Folge sein. Für Fachärzte in niedergelassener Praxis bedeutet dies das Ende der Freiberuflichkeit, für Patienten die Aufhebung der freien Facharztwahl.

60 Die im Gesetz-Entwurf vorgesehene institutionelle Öffnung der Krankenhäuser würde diesen Prozess beschleunigen, daher wird diese von der deutschen Ärzteschaft abgelehnt. Durch diese Regelung wird den Krankenhäusern eine so weitgehende Leistungserbringung in der ambulanten Versorgung ermöglicht, dass faire Wettbewerbsbedingungen zum ambulanten fachärztlichen Bereich nicht mehr gegeben sind. V. Auch im Bereich der stationären Versorgung wird die Macht der Krankenkassen massiv verstärkt. Die Krankenhausplanung der Länder wird entwertet, weil sie künftig keine verbindliche Rechtswirkung für die Versorgungsverträge mehr entfalten soll. Damit wird eine flächendeckende und wohnortnahe stationäre Versorgung vor allem von den Entscheidungen der Krankenkassen abhängig gemacht. So büßt die Landeskrankenhausplanung ihre Verlässlichkeit ein. 3. Reformvorschläge der Ärzteschaft: Konstruktion statt Destruktion Die Ärzteschaft sieht durchaus die Reformnotwendigkeit im Gesundheitswesen. Sie ist zu konstruktiver Mitarbeit bereit und unterstützt die konstruktiven Ansätze im Gesetz-Entwurf des BMGS. Dazu zählen: • Die finanzielle Unterstützung der Prävention und die Entwicklung von Anreiz- und Bonussystemen. • Die Verbreiterung der Finanzierungsbasis ist ein Schritt in die richtige Richtung, bedarf aber eines weiteren Ausbaus. • Die Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus Steueraufkommen; dies entspricht Forderungen Deutscher Ärztetage. • Ebenfalls begrüßt werden zur besseren Transparenz das Elektronische Rezept sowie die Gesundheitskarte, die den elektronischen Arztausweis erforderlich macht. • Auch die Stärkung der Beteiligungsrechte der Patientenorganisationen dienen der Transparenz bei den Entscheidungsprozessen. • Die Patientenquittung sollte allerdings aus Kostengründen nur bei Interesse des Patienten ausgestellt werden. Darüber hinaus sind aus der Sicht der Ärzteschaft weitere, und zwar grundlegende Reformschritte erforderlich, soll angesichts absehbarer Rationierung die Leistungsfähigkeit und Menschlichkeit in unserem Gesundheitswesen erhalten bleiben: Neudefinition des Leistungskataloges Der Leistungskatalog der GKV hat sich unverändert am Versorgungsbedarf

Gesundheits- und Sozialpolitik der Patienten zu orientieren, d.h. die Patienten erhalten einheitlich und kassenartenübergreifend das, was bei strenger Indikationsstellung tatsächlich medizinisch notwendig ist. Dies Grundleistungsvolumen ist solidarisch zu finanzieren. Medizinische Leistungen, die individuellen Bedürfnissen und Präferenzen entsprechen oder einfach einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis entspringen, sind als kollektive Wahlleistungen nach dem Sachleistungs- oder Kostenerstattungsprinzip optionale Satzungsleistungen der Kassen. Diese Leistungen werden im Gegensatz zu den Grundleistungen nicht solidarisch finanziert. Individuelle Wahlleistungen sind als ärztlich zwar noch empfehlenswerte, aber nicht notwendige Leistungen privat und nach dem Kostenerstattungsprinzip zu finanzieren.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 sorgung auch unter den Bedingungen des Fallpauschalensystems und wirksame wirtschaftliche Anreize für eine verbesserte Integration der Versorgungsbereiche. Um den Exodus der Ärztinnen und Ärzte aus den Kliniken zu stoppen, muss der gegenwärtige Trend zur beruflichen Demotivation gebrochen werden. Dazu sind vorrangig die AiP-Phase abzuschaffen, Recht und Realität der Arbeitszeiten in Einklang zu bringen, entbehrliche Bürokratie abzubauen sowie die leistungsgerechte Vergütung ärztlicher Arbeit im Krankenhaus zu sichern. Definition guter medizinischer Versorgung und Transfer zum einzelnen Arzt Versorgungsleitlinien sind die Basis guter medizinischer Versorgung. Diese stehen zurzeit nur bedingt zur Verfügung. Die Bundesärztekammer hat deshalb ein „Nationales Programm für Versorgungsleitlinien – NPL“ initiiert und dafür die Schirmherrschaft übernommen. Nationale Versorgungsleitlinien sollen die Aktualisierung der Therapieempfehlungen nach dem besten verfügbaren Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Kriterien der evidenzbasierten Medizin garantieren, um damit (evidenzbasierte) Handlungsempfehlungen für eine bestimmte prioritäre Versorgungsproblematik im Konsens mit den Beteiligten, vorrangig mit den Wissenschaftlich-Medizinischen-Fachgesellschaften (AWMF), zu fördern. Die Definition guter medizinischer Versorgung kann allerdings nur dann in gutes ärztliches Handeln münden, wenn der Transfer zum Arzt gewährleistet ist. Dazu sind kontinuierliche berufsbegleitende Fortbildung (CME = continuing medical education) sowie kontinuierliche berufliche Kompetenzerhaltung und -entwicklung (CPD = continuing professional development) erforderlich. Ärztliche Kompetenz ist jedoch mehr als der Erwerb von Informationen. Es geht im Kern um Wissen und Umsetzung dieses Wissens in ärztliche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen. Ein wichtiger Baustein für den Kompetenzerhalt ist der freiwillige Fortbildungsnachweis der Ärztekammern.

Hausärztliche Versorgung ausbauen – Fachärztliche Versorgung stärken Versorgungsprobleme sind dort zu lösen, wo die medizinische Betreuung unter Beachtung humanitärer Bedingungen am effizientesten durchgeführt werden kann. Die Gesellschaft eines langen Lebens – im Jahre 2030 ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre – , die Entwicklung hin zu einer Single-Gesellschaft, vor allem aber die zunehmende Spezialisierung in der Medizin, sprechen für eine kontinuierliche Betreuung des Patienten durch eine qualifizierte hausärztliche Versorgung. Hausarzttarife erscheinen gerade vor diesem Hintergrund sinnvoll. Die ambulante fachärztliche Versorgung ist eines der bedeutendsten Strukturelemente der GKV und entspricht den Forderungen der Patienten nach freier Arztwahl. Sie garantiert eine wohnortnahe, den Patientenerfordernissen entsprechende Versorgung und muss deshalb erhalten bleiben. Die bisherigen Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Behandlung und die getrennten Budgets müssen zu Gunsten einer durchgängigen Betreuung des Patienten überwunden werden. Krankenhausärzte sollten, über das heutige Maß hinaus, personenbezogen in hochspezialisierte ambulante Versorgung einbezogen werden; Vertragsärzte sollten verstärkt auch am Krankenhaus tätig werden Erhalt des gegliederten können. Versicherungssystems Stabile Rahmenbedingungen für Das gegliederte Krankenversicherungssystem – GKV und PKV – ist ein Krankenhäuser Für die stationäre Versorgung müssen Element der Entscheidungsfreiheit des stabile Rahmenbedingungen geschaf- Einzelnen und muss erhalten bleiben. fen werden. Dazu gehören die Verläss- Ein kapitalgedeckter Versicherungslichkeit der Krankenhausplanung der schutz bietet Risikovorsorge ohne RückLänder, die Schaffung neuer Instru- griff auf die Mittel Anderer, leistet eimente zur Schließung von Lücken in der nen überproportionalen Beitrag zur Fiflächendeckenden, wohnortnahen Ver- nanzierung des Gesundheitswesens

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und setzt durch Wettbewerb der Syste- Patienten überschritten ist. Monateme Anreize zur Effizienzsteigerung lange Wartezeiten für elektive Eingriffe und Personalknappheit in Krankenund Qualitätsverbesserung. häusern sind nur die ersten Anzeichen 4. Vertrauen in die Zukunft dafür, dass unter den gegebenen Umschaffen – mit Mittelknappheit ständen ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem nicht zu halten ist. transparent umgehen Entscheidend für die Zukunft wird Weil nicht mehr damit zu rechnen ist, daher die Frage der gerechten Mitteldass die Beiträge der Versicherten zur aufbringung und deren Verteilung im Gesetzlichen Krankenversicherung ausGesundheitswesen sein. Dort, wo notreichen, um den medizinischen Fortwendige Ressourcen für das Gesundschritt und die Folgen der demographiheitswesen nicht in ausreichendem schen Entwicklung in unserer GesellMaße aufgebracht werden können, schaft zu finanzieren, wird es zur Ratisind deshalb die Ursachen für die Veronierung kommen. Dies bedeutet, knappung, aber auch und vor allem dass medizinisch notwendige Maßnahdie Regeln der Verteilung offen zu lemen vorenthalten werden; eine medigen. Die Verantwortung hierfür ist zinische Unterversorgung der betrofeine politische und muss deshalb vom fenen Patienten wird die Folge sein. Für Gesetzgeber übernommen werden. uns Ärztinnen und Ärzte ist es wichtig, Unabdingbar in dieser Situation ist um Vertrauen zu schaffen, dass diese der Aufbau einer soliden VersorgungsMittelknappheit transparent gemacht forschung im deutschen Gesundheitswird. Viele Patienten, nahezu jede Ärzwesen, die auch den internationalen tin und jeder Arzt kennen bereits heuVergleich einschließt, ebenso wie die te Beispiele für Rationierung. Dazu Evaluation aller innovativen Maßnahzählen die medizinische Versorgung in men zur Steuerung und Finanzierung. Alten- und Pflegeheimen, die medikaDie Ärzteschaft ist bereit, sich am mentöse Behandlung von Patienten Aufbau dieser Versorgungsforschung mit Multipler Sklerose oder chroniin Deutschland zu beteiligen. Das scher Hepatitis C, Schließungen komdurch eine Ressourcenknappheit bepletter Abteilungen in Kliniken, da das stehende Dilemma der VerteilungsJahresbudget für die Versorgung der ungerechtigkeit in der heutigen Ver-

61 sorgungsrealität darf allerdings nicht auf die einzelne Ärztin und den einzelnen Arzt übertragen werden. Der Hinweis auf das ethisch korrekte Verhalten des Arztes ersetzt nicht die Verantwortungsübernahme der Gesellschaft für fehlende oder fehlverteilte Ressourcen im Gesundheitswesen. Die Erfahrungen bei der Einführung der Disease Management Programme (DMP.s) lehren, dass aus rein ökonomischen Erwägungen die Versorgungsleistungen schleichend abgesenkt werden. Dies ist bereits die heimliche Rationierung! Heimliche Rationierung aber schadet nicht nur den Patienten, sie zerstört auch das Vertrauen im Patienten-Arzt-Verhältnis und gefährdet damit letztlich den gesellschaftlichen Konsens, der zwingend erforderlich ist, wenn unsere Sozialsysteme unter Beachtung von Solidarität, Subsidiarität, Verantwortung und Gerechtigkeit weiterentwickelt werden sollen. Deshalb ist Transparenz und der offen geführte gesellschaftliche Diskurs zur Mittelknappheit im Gesundheitswesen unabdingbar. Die barmherzige Lüge ist keine Lösung.

Hinweis:

FR 28.4.2003

FR 29.4.2003

Der Gesetzentwruf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen

Der lange Weg zur Bürgerversicherung

Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitssystems (Gesundheitssystemmodernierungsgesetz – (GMG)

„Deutschland und Europa auf Wachstumskurs bringen“

Vorschläge für eine gerechte Reform der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung/Bericht der Sozialpolitischen Kommission von Bündnis 90/Die Grünen

findet sich im Internet.

Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Finanzierung, Nutzer orientierung und Qualität Band I: Finanzierung und Nutzerorientierung Band II: Qualität und Versorgungsstrukturen Gutachten 2003, Kurzfassung findet sich im Internet unter: http://www.svr-gesundheit.de/ gutacht/gutalt/gutaltle.htm

Während die Sozialdemokraten heftig über die Agenda 2010 streiten, hat der kleine Koalitionspartner in der Bundesregierung sich seine eigenen Gedanken gemacht. Die Sozialpolitische Kommission von Bündnis 90 / Die Grünen hat nun einen Bericht vorgelegt, den wir hier gekürzt dokumentieren. Bis auf die Vorschläge zum Krankengeld wurden die Empfehlungen von der dreizehnköpfigen Kommission einvernehmlich verfasst. Der Bericht soll Grundlage für einen Leitantrag auf dem Sonderparteitag der Grünen Mitte Juni in Cottbus sein.

„Mut zur Veränderung“ bei der Reform des Sozialstaats verlangt der Leitantrag der SPD-Führung, der dem Sonderparteitag am 1. Juni in Berlin vorgelegt wird Die von Bundeskanzler Gerhard Schröder initiierte Agenda 2010 sorgt in der Sozialdemokratie weiter für heftige Diskussionen. Die Mehrheit in der Parteiführung setzt sich entschieden für den Kurs ihres Parteivorsitzenden Schröder ein. Wir dokumentieren hier einen Leitantrag, der am gestrigen Montag den Mitgliedern des SPD-Parteivorstands vorgelegt und gegen die Stimmen des linken Flügels beschlossen wurde.

Der Text liegt online exklusiv auf in einer ungekürzten Fassung vor unter: Der Text liegt online exklusiv auf in ei- http://www.fr-aktuell.de/ressorts/ ner ungekürzten Fassung vor unter: nachrichten_und_politik/ http://www.fr-aktuell.de/ressorts/ dokumentation/?cnt=202196 nachrichten_und_politik/ dokumentation/?cnt=200747

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Gesundheits- und Sozialpolitik

Deutsches Ärzteblatt 31.1.2003 Unter dem Diktat der Ökonomie

Auf gefährlichen Pfaden Eine Auseinandersetzung mit Gandjour und Lauterbach Von Dr. med. Alfred Möhrle Eine Rationierung wird notwendige Folge der Mittelbegrenzung sein. Unter dieser Annahme impliziert eine als gerecht empfundene Mittelverteilung, dass bestimmte Personen von einer optimalen Behandlung ausgeschlossen werden.“ Starke Worte, nicht wahr? Geschrieben von einem, der auszog, die Bundesregierung und speziell unsere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in Sachen Rettung unseres Gesundheitswesens zu beraten, nämlich Prof. Dr. K.W. Lauterbach, zusammen mit seinem Koautor Dr. A. Gandjour in einem Artikel in der Zeitschrift Versicherungsmedizin 54 (2002) Heft 2. Und weiter: „Die konkrete Benennung des von einer optimalen Therapie ausgeschlossenen Personenkreises kann jedoch nicht logisch begründet werden, sondern erfordert die Ermittlung der Präferenzen der Bevölkerung oder ihrer Repräsentanten, eben ein übergeordnetes Wertesystem.“ oder: „Da unter der gegenwärtigen Mittelbegrenzung für das Gesundheitswesen eine optimale Versorgung aller Personen nicht möglich ist, beinhalten solche Normen notwendigerweise eine besondere Verpflichtung des Arztes nicht nur dem einzelnen Patienten, sondern der Gesellschaft gegenüber.“ Was für ein Gedankengut kommt hier zum Vorschein? Den Verfassern wird hoffentlich nicht bewusst sein, welch unheilvolle Spirale sie mit solcherlei Vorstellungen in Gang setzen können. Denn hatten wir das nicht schon einmal, dass aufgrund vermeintlicher Präferenz des Volkes durch seine Vertreter bestimmte Personenkreise von vielen Bereichen des sozialen Lebens ausgeschlossen wurden? Aus „Sorge um Volk und Gesellschaft“ hatten schon Ende des 19. Jahrhunderts Leute wie Francis Galton, ein Vetter von Charles Darwin, Julius Ludwig August Koch, Emil Kraepelin und Alfred Ploetz den Begriff der „Eugenik“ geschaffen, der später in die von Binding und Hoche ideologisch fundierte Euthanasie mündete, mit dem schrecklichen Höhepunkt in den Jahren nach 1933. Zwei unserer Nachbarländer haben jüngst durch ihre Gesetzgebung zur aktiven Sterbehilfe wieder den Weg in diese Richtung eingeschlagen. Lauterbach und Gandjour seien solche Absichten nicht unterstellt. Doch

an ihren Aussagen kann man sehen, auf welch gefährliche Pfade man geraten kann, wenn man als Theoretiker mit volkswirtschaftlichen Denkmodellen und ethischen Grundsätzen herumspielt und dabei das vergisst, was jedem Arzt tagtäglich begegnet, nämlich den kranken Menschen in seiner Hilflosigkeit, auf der Suche nach einem Arzt, dem er vertrauen kann. Aber wo wollen die Autoren eigentlich hin? Sollen wir unser Gesundheitswesen dahin verkommen lassen, wo England schon ist? Soll es ab 70 keine neue Niere oder ab 80 keine Hüftprothese mehr geben? Fragen Sie mal den 70-Jährigen, dessen Nieren nicht mehr arbeiten, was er von einer solchen Gesundheitsversorgung hält. Oder fragen Sie die 80-Jährige, die nicht mehr oder nur mit großen Schmerzen laufen kann, ob sie einsieht, dass die Versichertengemeinschaft ihr leider keine Hüftoperation mehr spendieren will. Das kann es doch wohl nicht sein! Vergessen wir nicht, dass die Alten von heute die Jungen von gestern sind, die viele Jahrzehnte durch ihre Arbeit den Wiederaufstieg unseres Landes bewerkstelligt haben. Vergessen wir auch nicht, dass morgen wir die Alten sein werden. Die Generation, die heute unser Land regiert, die 1968 mit Steinen geworfen, Häuser besetzt und sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert hat, muss erst noch beweisen, dass sie es schafft, die Erfolge der heute Alten wenigstens zu bewahren, wenn schon nicht zu mehren. Was heißt überhaupt „Mittelbegrenzung“ und „Rationierung“? Hat schon mal jemand die Betroffenen gefragt, wofür sie ihre Mittel ausgeben wollen? Ich rede nicht von den jungen und gesunden, sondern von denjenigen Bürgern, die zum „Patienten“ geworden sind. Welche Läuterung durch diesen Vorgang auch bei Politikern vor sich gehen kann, konnten wir in jüngster Zeit an einigen Beispielen beobachten. Nun muss man nicht in den Main springen (beziehungsweise die Spree), um zu wissen, dass Wasser nass ist. Soviel Fantasie

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 sollte man von einem Spitzenpolitiker erwarten können, dass er sich in die Lage eines Kranken versetzen kann. Das ständige Geschwätz von Unter-, Über- und Fehlversorgung kann man auch nicht mehr hören. Richtige, also „Normalversorgung“, scheint es gar nicht zu geben. Tatsächlich trifft dies jedoch wohl in 95 Prozent der Fälle zu. Die öffentliche Diskussion zeigt, dass es eben nicht reicht, dummes Zeug einfach nur nachzuplappern. Das trifft ebenso auf das ständige Gemeckere über mangelnde Qualität zu. Warum gilt überall auf der Welt unser Gesundheitswesen als vorbildlich und nachahmenswert, wenn es so schlecht ist? Warum lässt sich ein jeder, auch Politiker, sofort nach Hause zurückfliegen, wenn er im Ausland einen Unfall erleidet oder ernstlich krank wird? Nur um in den Genuss unserer qualitativ mangelhaften Unter-, Überoder Fehlversorgung zu kommen? Bedrückend ist, dass die Diskussion um unser Gesundheitswesen längst den Kreis derjenigen überschritten hat, die vielleicht noch etwas davon verstehen. „Gesellschaftlich relevante“ Gruppen aller Art glauben, ihren Senf zu einer Reform des Systems dazugeben zu müssen. Zum Beispiel auch solche, die eine Nullrunde für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen befürworten, im gleichen Atemzug jedoch für sich und ihre Mitglieder Lohnerhöhungen mit einer drei vor dem Komma fordern und dieser Forderung, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Situation im Lande, mit Trillerpfeifen auf der Straße Nachdruck zu verleihen suchen. Sicherlich braucht unser Gesundheitswesen wie auch unser gesamtes soziales Sicherungssystem dringend eine grundlegende Reform. Warum konzentriert man sich nicht darauf, vor allem diejenigen zu fragen, die tagtäglich damit arbeiten, und auch diejenigen zu hören, welche die Leistungen des Systems in Anspruch nehmen müssen? Immer neue Kommissionen, in welchen die entscheidenden Gruppen nicht vertreten sind, für deren Ergebnisse sich offenbar niemand interessiert und die umzusetzen niemand gewillt ist, sind nicht die Lösung. Besonders dann nicht, wenn dort „Fachleute“ mitreden, die solche Sätze schreiben, wie eingangs dieses Artikels zitiert. Der Verfasser ist Präsident der Hessischen Landesärztekammer und Mitglied des Vorstandes der Bundesärztekammer.

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Gesundheits- und Sozialpolitik

Leserbrief betr. A. Möhrle. Auf gefährlichen Pfaden. D.Ä. 31.1.2003

Inakzeptable Grenzüberschreitung Wenn ein Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer sich mit Fragen von Ethik und Gesundheitsökonomie kritisch auseinandersetzt, darf die Leserschaft besondere Anforderungen an die Qualität der Gedankenführung erwarten. Diesem Anspruch wird Herr Möhrle leider nicht ansatzweise gerecht, stattdessen ergeht er sich in undifferenzierten Angriffen gegen die Herren Gandjour und Lauterbach, gegen den Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen und gegen die Bundesregierung. Ad 1: Man sollte m.E. sehr wohl der Grundannahme von Gandjour und Lauterbach widersprechen, dass man in der Zukunft fast schicksalhaft von einer bedenklichen Mittelverknappung im Gesundheitswesen ausgehen müsse. Ein solches Szenario antizipiert ein ethisches Dilemma, das ich persönlich niemals fatalistisch akzeptieren würde. Wie Herr Möhrle von der daraus abgeleiteten Überlegung, wie man eine durch Mittelverknappung ausgelöste Unterversorgung am besten abwehren könne, die Autoren in die Nähe von Schreibtischtätern der ausgehenden Weimarer Republik und noch eindeutiger in die Nähe der Verantwortlichen für die NS-Morde an Kranken bringen kann, das bleibt mir dann aber doch unerfindlich. Der Bundesärztekammer sei dringend nahegelegt, mit jeder Form von Vergleichen heutiger Meinungen und Verhältnisse zur NSMedizin sehr vorsichtig umzugehen. Es ist noch nicht so lange her, dass die Bundesärztekammer erst nach jahrzehntelangem Drängen endlich die Schuld maßgeblicher Kreise der deutschen Ärzteschaft für die NS-Medizin

eingestanden hat. Möhrles Auseinandersetzung mit Lauterbach und Gandjour hat mit einer legitimen Kritik von heute weit verbreiteten Annahmen innerhalb der Rationierungsdebatte nichts zu tun. Sie zielt nach meiner persönlichen Einschätzung darauf ab, einen unbequemen Kritiker zu diffamieren. Zu einer angemessenen Auseinandersetzung mit der ohne Frage extrem komplizierten Rationierungsthematik verweise ich u.a. auf die Beiträge von Frau Mack und Herrn Siegrist in „Ethik in der Medizin Jg. 13/2001“. Ich möchte eine andere Äußerung von Herrn Lauterbach zitieren, der sich bekanntlich gegen die Forderung nach Aufteilung des Leistungskatalogs der GKV in Grund- und Wahlleistungen wendet: „Befinden sich in einer Zusatzversicherung evidenz-basierte Leistungen mit guter Kosten-Nutzen-Relation (etwa im Bereich Prävention), wäre es ungerecht, diese nicht allen gesetzlich Versicherten zur Verfügung zu stellen.“ (Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7/ 2001, S. 52). Dies zielt nun eindeutig auf Gleichbehandlung aller Versicherten und nicht auf Ausgrenzung ab.

63 Ad 2: Indem Herr Möhrle das „ständige Gewäsch von Unter-, Über- und Fehlversorgung“ und das „ständige Gemeckere über mangelnde Qualität“ beklagt, zeigt er seine Verachtung der detaillierten Darlegungen des Sachverständigenrates und scheint unberührt von der einschlägigen wissenschaftlichen Debatte im internationalen Schrifttum. Der Leserschaft sei überlassen, sich an Hand der Zusammensetzung des jetzigen Sachverständigenrates eine Meinung dazu zu bilden, wen Herr Möhrle hier mit leichter Hand in die Ecke von lästigen Schwätzern stellt. Ad 3: Herr Möhrle bedient schließlich das Vorurteil, die momentane Bundesregierung bestünde aus Steinewerfern, Häuserbesetzern und Straßenkämpfern der 68er Generation. Derartige Darstellungen möchten ja in Kommentaren mancher Boulevardzeitungen nicht zu Verwunderung Anlass bieten. Im offiziellen Organ der deutschen Ärzteschaft ist es denn doch mehr als beachtlich, wenn ein Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer die Bundesregierung kriminalisiert. Herr Möhrle hat jedes Augenmaß in der kritischen Betrachtung seiner Umwelt verloren. Es wäre ausgeschlossen, derartige Kommentare im British Medical Journal zu finden, was weitreichende Kritik niemals mit Beleidigungen verwechselt. Ich möchte deshalb ausdrücklich denjenigen Redaktionsmitgliedern des Deutschen Ärzteblattes danken, die sich – wie ich weiß – gegen den Abdruck dieses so genannten Kommentars ausgesprochen haben. Prof. Dr. med. Norbert Schmacke

Leserbrief zu DÄBl 5 A 234 „Auf gefährlichen Pfaden“ Nun haben wir auch einen Koch in der Selbstverwaltung der Ärzteschaft: Alfred Möhrle, Mitglied des Bundesvorstandes der Bundesärztekammer, hat dem Gesundheitsökonomen Lauterbach den „Stern an die Brust“-Vorwurf gemacht, ihn in die Nähe von Menschen gebracht, deren Vorstellung von Eugenik in die „ideologisch fundierte Euthanasie mündete, mit dem schrecklichen Höhepunkt in den Jahren nach 1933“. Dies ist eine unverzeihliche Verharmlosung der Naziverbrechen und eine Verletzung der Gefühle tatsächlicher Euthanasieopfer. Perfide ist aber auch die rührselige Patientenanwaltrolle, die Möhrle als Gegengewicht zu den angeblich eiskalten ökonomischen Planspielen des Herrn Lauterbach einnimmt: „Fragen Sie mal den 70-Jährigen, dessen Nieren nicht mehr arbei-

ten, was er von einer solchen Gesundheitsversorgung hält“. Und was glauben Sie, Herr Möhrle, was dieser arme Patient von der Kostenerstattung, von der Aufteilung des GKV-Katalogs in Regel- und Wahlleistungen, von mehr Selbstbeteiligung, von Leistungsausgrenzungen … , von Forderungen der Ärzteschaft also, hält? Forderungen, die zu einer Rationierung von Leistungen über den Geldbeutel der Patienten führen werden, den Reichen alles zur Verfügung stellen und den weniger Bemittelten nur noch eine klägliche Restversorgung lassen, damit die Einkommen der Ärzte gesichert sind. Ist das die Eugenik der Ärztekammer? Nein! Ein solch abstruser Vergleich käme mir nun wirklich niemals in den Sinn auch wenn die Forderungen aus der Ärzteschaft die Chancen zur Gesund-

heit ungleicher machen als die Vorstellungen eines Herrn Lauterbach. Herr Kollege Möhrle, Sie sollten sich entschuldigen – im Namen der Ärzteschaft. Für die haben Sie schließlich den Komentar verfasst. Dr. Winfried Beck

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Süddeutsche Zeitung 11.6.2003

Lebenswertes Leben Von Christina Berndt Auch einfälltige Vorschläge haben mitunter ein Gutes: Sie provozieren wichtige Diskussionen und fordern ein klares Bekenntnis. Joachim Wiemeyer und Friedrich Brexer, katholischer Theologe der eine, Sozialpolitik-Professor der andere, haben in der vergangenen Woche allen Ernstes vorgeschlagen, dass Krankenkassen medizinische Leistungen wie Herzoperationen oder Dialysen nur noch für Menschen unter 75 Jahren übernehmen sollen. Das senke die Kosten – eine ebenso zynische wie auch ökonomisch unsinnige Idee. Zwangsläufig wird angesichts knapper Kassen das Geld ein zentrales Thema der Gesundheitsreform. Zum zentralen Thema einer ethischen Debatte kann und darf es aber nicht werden. Angesichts des medizinischen Fortschritts und der zunehmend älter werdenden Bevölkerung verschärft sich freilich die Diskussion darüber, ob und welche Behandlungen in welchem Alter noch sinnvoll sind. Es sollten nicht pekuniäre, es können wissenschaftliche Aspekte sein, die bei der Debatte um die Verteilung medizinischer Leistungen im Vordergrund stehen. Denn diese können tatsächlich helfen, Rationierung zu etwas ebenso Moralischem wie Vernünftigem zu machen. Verlogen ist nämlich, wer jetzt betroffen skandiert, Rationierung dürfe gar nicht erst diskutiert werden. Die Beschränkung medizinischer Maßnahmen, die jetzt die Gemüter erhitzt, ist längst Realität. Ständig befinden Ärzte oder Kassen darüber, ob sie einem Patienten das wirksamere, aber teurere Medikament gegen Alzheimer oder Migräne verschreiben oder lieber das günstigere, wenn es auch vielleicht nicht so gut hilft. Tagtäglich entscheiden Mediziner am Krankenbett über Leben oder Todund müssen dabei mit sich selbst ausmachen, ob sie bei einem Schwerstkranken noch einen womöglich lebensverlängernden Eingriff wagen. Gerade das aber ist das Desaster. Die Rationierung geht ohne verbindliche Regeln von statten. Wer glaubt, er bekomme ohne eigenes Zutun schon die richtige Behandlung, täuscht sich. Denn wer gebildet und dazu energisch ist, hat größere Chancen, dass sein Arzt ihm das moderne Schmerzmittel verschreibt, das zehnmal so teuer ist wie der Klassiker. Und wer den Anweisungen seines Arztes besonders gut folgt, kommt schneller auf die Warteliste für eine Nierentransplantation. Schon heute müssen Ärzte nach Budget entscheiden, das hat ihnen der Gesetzgeber auferlegt, und – was noch weitaus schlimmer istnach zahlreichen weiteren Einflüssen, die ihnen zum Teil nicht einmal be-

wusst sind: Manchmal mag selbst Sympathie oder Antipathie für einen Patienten eine Rolle spielen. Dabei gibt es Rationierungen, die ethisch vertretbar und sogar im Sinne der Patienten sind. Wenn etwa einem Gehirninfarkt die wichtigste Hirnarterie verstopft ist, kann den Patienten nur die Entfernung eines Stück Schädelknochens am Leben erhalten, die den Druck auf das Gehirn mindern soll. Wenn der Kranke älter als 60 Jahre ist, sind aber seine Aussichten auch mit Operation minimal. Wer bei dem Eingriff nicht stirbt, wird zum Schwerstpflegefall. Nur in Ausnahmefällen profitiert ein über 60- Jähriger von der Operation, und trotzdem öffnen viele Chirurgen in Deutschland sogar noch bei Hochbetagten die Schädeldecke. Therapie wird dann meist zur Qual. Umgekehrt wird älteren Krebspatienten häufig von einer Chemotherapie abgeraten, weil diese den alten Körper angeblich über Gebühr belastet. Gerade in jüngerer Zeit aber haben Studien vor allem aus den USA gezeigt, dass manche Zytostatika-Behandlungen auch bei über 65-Jährigen den Krebs bekämpfen können, ohne ihre Lebensqualität zu sehr zu beeinträchtigen. Das wichtigste Kriterium für ärztliches Handeln muss also sein, ob es einem Patienten nutzen kann. Das Tragische aber ist: Es ist viel zu wenig bekannt über die Folgen medizinischer Intervention. Gerade auf dem Gebiet der Geriatrie ist Deutschland ein Entwicklungsland. Schon die weit verbreitete Ansicht ist falsch, Altsein an sich komme die Solidargemeinschaft teuer zu stehen. Erst vor kurzem haben Wissenschaftler von der University of North Carolina belegt: Wie viel ein Mensch die Krankenkassen kostet, hängt nicht von seinem Alter ab, sondern, davon, wie nah er dem Tod ist. Bis etwa ein Jahr vor dem Tod bleiben die Ausgaben der Kassen unabhängig vom Alter fast konstant. Dann steigen sie rasant. Das letzte Lebensjahr aber ist bei Hochbetagten sogar billiger: Mit 90 verursacht ein Sterbender nur halb so hohe Kosten wie ein 65-Jähriger,

haben deutsche Wissenschaftler errechnet. Ziel verstärkter Forschung muss es künftig sein, medizinische Therapien auf das Sinnvolle zu beschränken. Dabei kann sicherlich niemals die nackte Zahl der Lebensjahre die Grenze für eine Behandlung darstellen. Das Lebensalter kann für Ärzte aber sehr wohl ein Hinweis sein, ob eine Operation oder ein Medikament dem Wohle ihrer Patienten dient. Ohne konkrete und wissenschaftlich fundierte Erhebungen über Risiken und Heilungschancen von Therapien für ältere und hochbetagte Menschen werden Ärzte gezwungen sein, in jedem einzelnen Fall den Richter über Leben und Tod zu spielen.

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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Süddeutsche Zeitung, 24.3.2003

einblick 09/03, 12.5.2003

Pläne der Rürup-Kommission

Rürup-Kommission

Raucher sollen für die Krankenkassen zahlen – Mit einer höheren Tabaksteuer könnten versicherungsfremde Leistungen finanziert werden Von Andreas Hoffmann Berlin – Die Rürup-Kommission will die Kassen offenbar stärker entlasten als bislang bekannt ist. Wie aus einem der Süddeutschen Zeitung vorliegenden Konzept hervorgeht, sollen bei der geplanten Gesundheitsreform bis zu 36 Milliarden Euro gespart werden. Der durchschnittliche Satz der Kassen von 14,4 Prozent könnte so auf bis zu 10,7 Prozent sinken. Erreicht werden soll dies durch den Umbau der Kassen zu einer „Bürgerversicherung“. Es soll so zu einer „nachhaltigen Reformierung der Krankenversicherung“ kommen. Das Konzept sieht mehrere Maßnahmen vor. So soll etwa die Tabaksteuer um einen Euro pro Schachtel steigen. Aus den zusätzlichen Einnahmen könnten die Kassen dann Zuschüsse für versicherungsfremde Leistungen erhalten. Dazu zählen Schwangerschaftshilfen oder das Sterbegeld. Außerdem sollen die Kassen nicht mehr Arzneien bezahlen, deren Nutzen wissenschaftlich fragwürdig ist. Rot-Grün will dazu ein unabhängiges Medizin-Zentrum einrichten, das Medikamente und Therapien stärker prüft. Frei verkäufliche Arzneien (so genannte OTC-Präparate) sollen die Patienten künftig vollständig selbst zahlen. Dazu zählen etwa Abführmittel oder Grippe-Präparate. Für das Krankengeld sollen die Versicherten allein aufkommen. Nach dem Konzept soll die Versicherungspflichtgrenze (derzeit 3825 Euro im Monat) wegfallen und die Beitragsbemessungsgrenze von 3450 Euro auf 5100 Euro steigen. Die Versicherungspflichtgrenze legt die Einkommenshöhe fest, jenseits der sich ein Bürger privat versichern kann; die Beitragsbemessungsgrenze regelt, bis zu welcher Gehaltshöhe ein Arbeitnehmer anteilig Beiträge zahlen muss. Schließlich sollen die Bürger künftig auch für Miet- und Zinseinkünfte Beiträge zahlen. Außerdem müssten Beamte Mitglieder der gesetzlichen Kassen werden. Das Konzept hat der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ausgearbeitet, ein enger Berater von Gesundheitsminister Ulla Schmidt (SPD) und Mitglied der Rürup–Kommission. Am vergangenen Donnerstag hatte Lauterbach seine Ideen in der Kommission vorgetragen und dabei teilweise Zustimmung erhalten. Unklar ist, ob er eine Mehrheit findet. Kommissionschef Bert Rürup favorisiert ein Modell von „Kopfprämien“. Danach würde jeder Bürger einen Einheitsbetrag von etwa 200 Euro zahlen, Geringverdiener erhielten einen Staatszuschuss, der den Bund jährlich

mindestens 25 Milliarden Euro kosten würde. Rürups Idee ist aber umstritten, im April will die Runde über beide Modelle entscheiden. Nach Ansicht von Experten birgt Lauterbachs Plan Risiken. So würden die Privatversicherer gegen den Wegfall der Versicherungspflichtgrenze vorgehen und die Länder sich gegen die Einbeziehung der Staatsdiener bei den gesetzlichen Kassen wehren. Unklar ist auch, ob den Rentnern durch die Gesundheitsreform höhere Lasten drohen. Ein weiterer Plan, der in der Kommission diskutiert wird, sieht vor, die Krankenversicherung der Rentner zu ändern. Der Grund sei die „Deckungslücke zwischen Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben“, heißt es in dem Papier. Derzeit würden nur 40 Prozent der Ausgaben für Ruheständler über deren Beiträge gedeckt, in 30 Jahren könnte der Anteil auf 20 Prozent sinken. Als Ausweg sieht der Plan etwa vor, dass junge Beschäftigte eine ergänzende Versicherung für den Ruhestand abschließen müssten, Rentner würden eventuell höhere Beiträge zahlen. Nach Angaben aus Kommissionkreisen sei der Plan aber nicht mehrheitsfähig. Unterdessen hat Schmidt die Pläne zum Krankengeld konkretisiert. Danach sollen die Arbeitgeber um 0,4 Beitragssatzpunkte entlastet werden und die Versicherten dies übernehmen, sagte sie in einem Interview. So würde Bürger monatlich bis zu 15,30 Euro mehr zahlen, im Schnitt aber deutlich weniger.

Außer Spesen nichts gewesen Kurzfristige Flickschusterei statt nachhaltiger Reformen – das Fazit der Arbeit der Rürup-Kommission, das der IG BAU-Vorsitzende Klaus Wiesehügel zieht, ist niederschmetternd. Ihre Aufgabe, Vorschläge zu entwickeln, wie die Sozialsysteme zukunftsfähig gemacht werden können, hat die Rürup-Kommission nicht erfüllt. Stattdessen hat sie unter Zeit- und Erfolgsdruck von Politik und Öffentlichkeit eine Reihe von Ad-hoc-Maßnahmen präsentiert, die auf kurzfristige Kostendämpfung und Leistungsausgrenzungen abzielen. Wieder nur Stückwerk und Reparaturbetrieb, wo Nachdenklichkeit und Gründlichkeit gefordert waren. Außer Spesen nichts gewesen? Unser Reformvorschlag, die Sozialversicherung in Richtung auf eine Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickeln, ist von der Mehrheit der Kommission abgelehnt worden. Dabei muss die Basis dringend verbreitert, weitere Gruppen und Einkommensarten müssen einbezogen werden. Beitragsbemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze dürfen kein Tabu sein. Besser Verdienende dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass, wenn man die Beitragsbemessungsgrenze aufhebt, höhere Einzahlungen in die Rentenversicherung zwar auch in Zukunft zu höheren Ansprüchen führen sollen, aber je höher die Einzahlung, desto geringer sind, relativ gesehen, die entstehenden Ansprüche. Damit wäre der Verfassung Genüge getan, aber durch die degressive Kurve wäre der Umverteilungseffekt erheblich. Über die einzelnen Schritte kann man trefflich streiten und da haben wir auch im DGB sicher noch Diskussionen vor uns. Über die Reformrichtung hin zu einer Erwerbstätigenversicherung gibt es in unseren Reihen aber mittlerweile breite Einigkeit. Verlängerung der Lebensarbeitszeit? Schon jetzt ist die Kluft zwischen realem und gesetzlichem Renteneintrittsalter groß. Im Bauhauptgewerbe beispielsweise erreichen ganze vier Prozent der Kollegen die Regelaltersrente mit 65. Die anderen scheiden vorher aus dem Erwerbsleben aus, aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie keinen Job mehr finden. Bei einer so katastrophalen Arbeitsmarktsituation, gerade für Ältere, führt eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre nicht zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit.

66 Stattdessen werden mehr Menschen in die Armutsfalle gedrängt, weil sie vor der Rente noch länger arbeitslos sein werden. Unter den Bedingungen der Agenda 2010 verschärfen sich die bestehenden Ungerechtigkeiten des Systems für die normalen Malocher. Schließlich droht dann auch derjenige, der jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, spätestens nach 18 Monaten auf Sozialhilfeniveau (vornehm: Arbeitslosengeld II) abzufallen. Mit 65 (oder 67) wird von etwaigen Rücklagen für den Lebensabend nichts mehr übrig sein. Mit der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters wird außerdem die Umsetzung unseres Vorschlags, langjährig Versicherten nach 44 Beitragsjahren den Weg in die Rente ohne Abschläge zu öffnen, umso dringender. Auch beim Thema Gesundheit hat die Rürup-Kommission nur kurzsichtige Flickschusterei empfohlen statt nachhaltiger Reformen. Gerade bei der Ausgliederung des Krankengelds aus der paritätischen Finanzierung zeigt sich, dass, wenn von Senkung der Lohnnebenkosten die Rede ist, lediglich die Entlastung der Arbeitgeber gemeint ist. Bei der Entscheidung über die Richtungsfrage: „Erwerbstätigenversicherung oder Kopfpauschale“ hat sich die Kommission vor einer Empfehlung gedrückt, obwohl die unsozialen Kopfpauschalen endlich aus der Debatte verschwinden sollten – jeder soll sich entsprechend seiner Leistungsfähigkeit an den Sozialversicherungen beteiligen. Wenn es wirklich stimmt, dass wir uns ein Gesundheitssystem mit dem herkömmlichen Standard nicht mehr leisten können, dann müssen wir ernsthaft die Frage an Kassen, Ärzte und Pharmalobby stellen, was ihr Beitrag zu einer sozialverträglichen und effizienten Gesundheitsversorgung sein kann. Gerade im Arzneimittelbereich lässt sich ein großes Einsparpotenzial mobilisieren. Dabei dürfen wir nicht vor der Auseinandersetzung mit Lobbyinteressen zurückschrecken, nur weil selbst die Gewerkschaften nicht immer an einem Strang ziehen. Das Versagen dieser Kommission ist fatal, weil eine Reform dringend nötig wäre, um die Zukunftsfähigkeit der solidarisch finanzierten Sozialversicherungen sicherzustellen. So bleibt es unsere Aufgabe, für die Perspektive einer Erwerbstätigenversicherung zu werben. Notfalls auch allein auf weiter Flur gegen die organisierten Interessen der wirklich Strukturkonservativen und Spesenritter. Deren Rechnung zahlen nämlich wir.

Gesundheits- und Sozialpolitik

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Ärzte Zeitung 25.3.2003

Lauterbach legt sich mit PKV an Ulla Schmidts Berater präsentiert Rürup-Kommission neues Reform-Konzept BERLIN (hak). Auf Kosten von privater Krankenversicherung (PKV) und Rauchern will Ökonom Professor Karl Lauterbach die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) sanieren. Nach einem Plan, den er der RürupKommission vorstellte, sollen über höhere Tabaksteuern versicherungsfremde Leistungen finanziert und aus der GKV eine „Bürgerversicherung“ gemacht werden. „Wir müssen uns entscheiden, was uns wichtiger ist: die Grenze zwischen PKV und GKV zu verteidigen oder die Lohnnebenkosten zu senken“, sagte Lauterbach. Seiner Meinung nach könnten die Sozialversicherungsbeiträge nur gesenkt werden, wenn Miet- und Zinseinnahmen in die Beitragsberechnung einfließen. Die Versicherungspflichtgrenze müßte fallen und die Beitragsbemessungsgrenze auf 5100 Euro steigen. Außerdem sollten Beamte GKV-Pflichtmitglieder werden. „Die PKV müßte ihr Geschäftsfeld auf Zusatzversicherungen umstellen.“ Mit diesem Konzept könne die GKV bis zu 36 Milliarden Euro sparen, die Beiträge würden auf 10,7 Prozent sinken. Lauterbach, einer der engsten Berater von Ministerin Ulla Schmidt, unterstützt weiterhin deren Plan, daß zugelassene Arzneimittel nur bei nachgewiesenem Nutzen erstattungsfähig seien sollen. Auch den Kanzlervorschlag, das Krankengeld aus der GKV zu streichen, trägt er mit. Dagegen hat sich die CSU darauf verständigt, den Zahnersatz aus der GKV zu streichen. So sollen die Beiträge auf unter 14 Prozent sinken.

106. Deutscher Ärztetag in Köln

SZ 21./22.6.2003 Rationierung von Gesundheitsleistungen Die finanzielle Not der Krankenkassen lässt Ökonomen immer lauter über die Rationierung von Gesundheitsleistungen nachdenken. In der Öffentlichkeit löst der Gedanke, dass aus Kostengründen nicht alle Kranken die bestmögliche Versorgung bekommen sollen, Empörung aus. Doch in der Praxis werden längst Kosten-Nutzen-Rechnungen angestellt, ob sich die Behandlung eines Patienten überhaupt „lohnt“. Das Alter eines Menschen zum Kriterium solcher Überlegungen zu machen, lehnen die meisten Mediziner ab – aus gutem Grund.

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Gesundheits- und Sozialpolitik

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SZ 16.6.2003

SZ 16.6.2003

Union streitet heftig über Gesundheitspolitik

Die Verwandlungen des Horst S.

Annäherung Seehofers an Pläne der Bundesregierung / „Bei einer Privatisierungsorgie mache ich nicht mit“ Von Andreas Hoffmann Berlin – In der Gesundheitspolitik geht CSU-Sozialexperte Horst Seehofer auf Sozialministerin Ulla Schmidt zu. Ähnlich wie die SPD-Politikerin forderte der Ex-Gesundheitsminister eine Bürgerversicherung in die alle einzahlen. „Es kann nicht sein, dass sich Besserverdienende, Selbstständige, Beamte und Politiker der Solidargemeinschaft entziehen“, sagte er. Dazu müssten die Einkommensgrenzen in der Krankenversicherung auf die Höhe der Rentenversicherung steigen und für Miet- und Zinseinnahmen auch ein Kassenbeitrag fällig werden. Zugleich warnte Seehofer die CDU dass „irgendjemand das Konzept der vor einer radikalen Reform. „Bei einer Demografie-Reserve versteht“. Noch Privatisierungsorgie mache ich nicht am Sonntag wollten Merkel und CSUmit“, sagte er. Daher will er der Chef Edmund Stoiber den Streit entnächsten Sitzung der CDU-Kommissi- schärfen. Unklar ist, ob sich die Union on „Soziale Sicherheit“ unter Leitung rechtzeitig einigen kann. Ursprünglich des Alt-Bundespräsidenten Roman wollte sie bei der Bundestagsdebatte Herzog am Dienstag fernbleiben. über die Gesundheitsreform am Mitt„Mein Sachverstand ist dort nicht ge- woch ihre Alternative vorstellen. Unterdessen forderte Schmidt die fragt“, sagte er der Süddeutschen Union auf, ihr Konzept zu unterstütZeitung. Die Absage hängt offenbar mit dem Arbeitsstil in der Kommissi- zen. „Die Chance auf einen Konsens on zusammen. Seehofer hatte dort sollte nicht vertan werden“, sagte sie. für die Bürgerversicherung geworben Ihr Berater Karl Lauterbach, der in und breiten Zuspruch erhalten. CDU- der Rürup-Kommission die BürgerGeneralsekretär Laurenz Meyer, der versicherung ins Spiel gebracht hatte, die Sitzung leitete, nannte aber als lobt den Kurswechsel in der CSU: Fazit der Debatte, keiner wolle die „Horst Seehofer begründet die Krankenkassen auf Beamte und Bürgerversicherung mit meinen Worten.“ Selbstständige ausweiten. Anlass von Seehofers Vorstoß ist ein Streit zwischen CDU und CSU über ihr Konzept zur Gesundheitspolitik. Vor der bayerischen Landtagswahl im Herbst will sich die CSU auf weitere Lasten für die Bürger nicht festlegen. Anders CDU-Chefin Angela Merkel, die auf ein Maßnahmenpaket setzt, das in der Herzog-Runde debattiert wird. So sollen die Bürger künftig Zahnersatz und -behandlung über private Versicherungen abdecken. Ähnliches ist für private Unfälle im Gespräch. Für Besserverdiener soll die beitragsfreie Mitversicherung der Ehepartner fallen, der Eigenanteil der Patienten soll steigen und die Bürger sollen einen Zusatzbeitrag zahlen, um eine Demografie-Reserve bei den gesetzlichen Kassen anzulegen. Dies soll verhindern, dass die Beiträge infolge der älter werdenden Gesellschaft und des medizinischen Fortschritts übermäßig steigen. Gegenüber der SZ nannte Seehofer die CDU-Vorschläge ein „organisiertes Entlastungsprogramm für RotGrün“. Die Union könne den Bürgern „gleich Gehaltskürzungen von zehn Prozent vorschlagen“. Er glaube nicht,

Nanu, Horst Seehofer robbt sich an Ulla Schmidt heran. Wir erinnern uns: Das ist jene SPD-Ministerin, über die der CSU-Sozialexperte urteilte, sie „hat nicht mehr alle Tassen im Schrank“. Nun wendet er sich gegen die Privatisierung von Gesundheitsleistungen und unterstützt Schmidts Idee einer Bürgerversicherung, bei der auch Beamte AOK-Mitglied werden sollen. Den Plan hat sich übrigens der Schmidt-Berater Karl Lauterbach ausgedacht, den Seehofer sonst gern als Technokraten schmäht. So schnell ändern sich die Zeiten. Seltsam, diese Debatte um die Gesundheitspolitik. Noch vor einigen Wochen waren sie alle gegen die Bürgerversicherung. Der Kanzler, gewichtige SPD-Experten und natürlich die Union. Inzwischen hat sich das Bild gewandelt. Ulla Schmidt arbeitet ihre Reform ab, und die Union weiß nicht recht, wie sie reagieren soll. Also streiten CDU und CSU, insbesondere um die Lasten, die sie dem Bürger künftig aufbürden wollen. Die CDU will etwas forscher sein als die CSU, wobei deren Zurückhaltung aus der nahenden bayerischen Landtagswahl resultiert. Edmund Stoiber will seinen Erfolg nicht gefährden, hofft er doch auf RekordErgebnisse. Interessant ist, worüber die Union nicht streitet. Seit Wochen wiederholen Merkel und Co.: Strukturreformen in den Sozialversicherungen sind nötig. Nur wie die Opposition Strukturen im Gesundheitswesen ändern will, wie viel Wettbewerb sie Ärzten verordnen oder wie sie Patienten vor überteuertem Pillen-Unsinn bewahren will – dazu schweigt sie. Selbst Schmidts bescheidene Änderungen will die Union blockieren. Zu groß ist die Angst vor den Lobbys, die Kohl-Ära wirkt noch nach.

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SZ 18-6-2ßß3

Im Land der Scheinsparer Vieles spricht für die soziale Krankenversicherung doch die Deutschen wollen nicht mehr solidarisch sein Von Andreas Hoffmann Diese Geschichte beginnt mit Kenneth Arrow und Mark Pauly, denn beide zeigen, wie wenig die Wissenschaft auf der Suche nach dem großen Wurf der Gesundheitsreform helfen kann. Arrow und Pauly sind Ökonomen und lassen den Homo Oeconomicus durch das Gesundheitswesen wandeln, also jene Denkfigur, die streng nach wirtschaftlichen Kriterien handelt, sogar bei der Liebe. Leider liefert das Wirken des Homo Oeconomicus bei Arrow völlig andere Ereignisse als bei Pauly. Arrow sieht die soziale Krankenversicherung der privaten überlegen. Denn: Über den Markt lässt sich medizinische Versorgung nur schwer organisieren, da private Versicherer Gesunde mit Sonderangeboten ködern und Kranke mit hohen Gebühren abschrecken. Die Bedürftigen blieben unversorgt. Eine allgemeine und öffentliche Krankenversicherung verteilt die Ausgaben auf viele Schultern, sie ist kostengünstig und gerecht. Alles falsch, sagt Pauly: Gerade die soziale Krankenversicherung ist das Problem. Die Menschen zahlen Beiträge, egal, wie oft sie zum Arzt gehen; die Zahl jener, die das System ausnutzen, ist hoch. Pauly nennt das moral hazard, andere sagen Vollkasko-Mentalität. Die Kosten müssten daher privatisiert werden. Rennen wir also freiwillig zum Computertomographen, um den AOK-Beitrag „abzuliegen“? Hartmut Reiners, Grundsatzreferent im Brandenburger Gesundheitsministerium, sagt knapp: „Mit der Figur des Homo Oeconomicus lässt sich alles und nichts begründen.“ Allerdings zeigen einige Beispiele die Vorteile der sozialen Krankenversicherung. In den USA mit ihrem stark privatisierten Gesundheitssystem sind die Ausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt weltweit am höchsten; viele US-Bürger werden aber schlechter versorgt als Franzosen oder Briten. In Deutschland zahlen die Patienten bei Arzneien immer mehr dazu, aber die Kosten steigen. Und: Private Krankenversicherer haben höhere Verwaltungskosten als gesetzliche Kassen. Solidarität kann also Vorteile haben. Die Deutschen wollen aber nicht mehr solidarisch sein. Sie sehen steigende Beiträge, lesen von Kostenexplosion und vergeblichen Reformen. Hören von betrügerischen Ärzten, verschwendungssüchtigen Kassenmanagern oder unwirksamen Medikamenten und beginnen zu träumen. Vom aufmerksamen Arzt, der zuhört, statt an die Gebührenordnung zu denken. Der sofort weiß, was sich hinter den merkwürdigen Magenschmerzen

verbirgt. Sie träumen von der Wunderpille, die Wein und Zigaretten vergessen lässt. Die Medizin soll zur Reparaturwerkstatt werden – der Besuch kostenlos sein.

Korken auf der Welle Fast 250 Milliarden Euro pro Jahr geben die Deutschen für ihre Gesundheit und ihre Krankheiten aus, allein 143 Milliarden über die Kassen. Die Kassen treiben wie Korken auf den Wellen der Konjunktur. Haben viele Menschen Arbeit, fließen viele Beiträge. Steigt die Arbeitslosigkeit, beginnt die Krisenspirale sich zu drehen. Es kommen weniger Beiträge, also steigt der Beitragssatz für jene, die noch Arbeit haben. Die Lohnnebenkosten steigen dadurch auch; Arbeit wird also teurer – und noch mehr Menschen verlieren ihren Job. Die Politiker drehen an der Krisenspirale mit, weil sie Scheinsparen spielen. Senkt der Bund etwa die Kassenbeiträge für Arbeitslose, überweisen die Arbeitsämter weniger an AOK und Co. Bis zu schätzungsweise 29 Milliarden Euro haben rote und schwarze Finanzminister mit diesem Scheinsparen den Kassen seit 1995 aufgebürdet. Jede Reform müsste diese Praxis stoppen und die Beiträge vom Arbeitsplatz lösen. In der Rürup-Kommission diskutieren sie zwei Modelle: Kopfpauschalen und Bürgerversicherung. Bei der Kopfpauschale zahlt jeder den gleichen Beitrag, egal wie viel er verdient; Bedürftigen hilft der Staat. Bei der Bürgerversicherung verbreitert sich die Finanzbasis – Beamte und Selbstständige werden Kassenmitglieder, von Miet- und Zinseinnahmen erhält auch die Kasse einen Anteil. Beide Modelle bergen Probleme. Die Kopfpauscha– len sind teuer für den Staat, mindestens 25 Milliarden Euro Steuergeld werden pro Jahr nötig. Gegen die Bürgerversicherung wehren sich starke Lobbys: Die Privatversicherer kämpfen um die Beamten als Mitglieder, und im Bundesrat kämpfen die Länder mit, weil das heutige System für sie billiger ist. So schwer ist der Wandel.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Das nächste Problem: Weniger Junge werden bald mehr Alte finanzieren müssen. Laut Rürup-Kommission tragen heutige Rentner mit ihren Beiträgen 40 Prozent ihrer Gesundheitsausgaben selbst, in 30 Jahren wird der Anteil nur noch 20 Prozent betragen. Deshalb werden die Alten künftig mehr beisteuern müssen. Aber sind die Einnahmen das Hauptproblem? Nein, sagen die „Fünf Weisen“ des Sachverständigenrats und zeigen auf die Ausgabenseite. Besonders die Kliniken holen sich immer mehr aus dem Topf; 1970 waren es 24 Prozent der Kassenausgaben, dreißig Jahre später schon 32,4 Prozent, Tendenz steigend. Es gibt zu viele Betten, viele Patienten bleiben nach der Operation zu lange im Krankenhaus. Die Qualität der Häuser lässt sich nicht vergleichen, die Investitionen der Länder sind nicht ausreichend, Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte arbeiten oft nebeneinander. Beklagt hat das Helmut Schmidt bereits vor 27 Jahren, geändert hat sich seither wenig. Immerhin soll bis 2007 ein neues Finanzierungssystem eingeführt werden: die Fallpauschalen. Die Häuser erhalten nicht mehr pro belegtem Bett Geld, sondern für den speziellen Fall. Vielleicht schafft diese Praxis mehr Durchblick, sodass der Patient mehr über Erfolgswahrscheinlichkeiten in einzelnen Häusern erfährt.

Der Lieferant ist König Überhaupt Transparenz. Sie wäre auch für andere Beteiligte nötig. Die Pharmakonzerne bringen jedes Jahr zahlreiche neue Pillen auf den Markt, doch viele sind Pseudo-Neuheiten, urteilt der Bremer Pharmakologe Peter Schönhofer. Dass die Menschen heute in den Industrieländern im Schnitt länger leben, verdanken sie weniger der Heilkunst, wie eine Studie der Stanford University ermittelte. Bessere Hygiene, gesunde Lebensmittel und Arbeitsbedingungen sind wichtiger als Ärzte und Apparate. Was heißt das für die ideale Reform? Es gibt sie nicht. Sie ist eine Fata Morgana. Gefragt ist das zähe Ringen mit dem medizinisch-industriellen Komplex. Der Einfluss der Pharmaindustrie gehört zurückgedrängt, die Qualitätskontrolle für Pillen wie für Ärzte und Kliniken verbessert. Der Gesundheitssektor sei eine Branche, in der „nicht der Kunde oder der Politiker, sondern der Lieferant den Umfang der Lieferungen bestimmt“, schrieb einmal der Kulturkritiker Ivan Illich. Sein Fazit: Der Kunde sollte nicht nur die Lieferungen besser kontrollieren können, sondern überlegen, ob er wirklich alles braucht, was angeboten wird. Dies freilich wird der Einzelne entscheiden müssen – nicht die Politik.

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Arzneimittel

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Ärzte Zeitung 5.6.2003

Totale Konfusion in der Arzneimittelpolitik Erst eine Liste, dann eine Korrektur per Gesetz – und jetzt auch noch eine Korrektur der Korrektur BERLIN (HL/HR). Die Konfusion in der Arzneimittelpolitik der rot-grünen Koalition in Berlin wird immer größer. Jetzt werden Ausnahmeregelungen geplant, mit denen Regelungen eines geplanten Gesetzes korrigiert werden sollen, das wiederum Auswirkungen eines anderen geplanten Gesetzes korrigieren soll. Die jetzt neu geplante Regelung: Für die rezeptfreien Medikamente, die nach dem geplanten Reformgesetz nicht mehr von der GKV bezahlt werden dürfen, soll eine Liste mit Ausnahmen erstellt werden, die nach der Reform doch von den Kassen bezahlt werden können. Das sind einige der geplanten und zum Teil widersprüchlichen Instrumente, mit denen in die Verschreibungspraxis der Ärzte eingegriffen werden soll: • Die Positivliste: Hier sollen alle Medikamente aufgelistet werden, die zu Lasten der Kassen verordnet werden dürfen. Der Gesetzentwurf für Liste mit chemisch definierten Medikamenten, mit Phytotherapeutika, Homöopathika und Anthroposophika ist in erster Lesung schon im Bundestag beraten worden. • Die Korrektur der Positivliste: Mit der Gesundheitsreform sollen rezeptfreie Mittel, von denen viele auf der Positivliste stehen, grundsätzlich

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nicht mehr von den Kassen bezahlt werden. Ausnahme: Arzneien für Kinder bis zum 12. Lebensjahr. Das Gesetz ist ebenfalls noch nicht verabschiedet. • Und jetzt die Korrektur zur Korrektur der Positivliste: Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen soll Indikationen oder Präparategruppen bestimmen. Rezeptfreie Arzneimittel, die in diese Gruppen fallen, sind dann doch weiter von den Kassen zu bezahlen. Wie SPD-Bundestagsabgeordneter Horst Schmidbauer zur „Ärzte Zeitung“ gesagt hat, ist Hintergrund der neuen Überlegungen, daß Ärzte bei einem kompletten Ausschluß rezeptfreier Mittel vielfach auf teurere, aber von den Kassen bezahlte Arzneien ausweichen würden. Zum anderen gebe es bei bedeutenden Indikationen – etwa Depression, Demenz, Infarktprophylaxe – wohl auch wirkungsvolle rezeptfreie Mittel.

Ärzte Zeitung 5.5.2003 Jede Apotheke muß auf 42 000 Euro verzichten BERLIN (eb). Als Folge der jüngsten Kostendämpfungsgesetze für die Arzneiversorgung werden die Apotheken im Jahr 2003 Einkommenseinbußen von brutto etwa 900 Millionen hinnehmen müssen. Pro Betrieb belaufen sich die Verluste im Vergleich zum Vorjahr auf 42 000 Euro vor Steuern. Das hat die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) auf Grundlage der Abrechnungszahlen aus dem ersten Quartal errechnet. Grund seien die höheren Rabattmargen, die der Großhandel laut Gesetz gewähren muß, aber zum großen Teil auf die Apotheken abwälzt, sagt die ABDA. Auf diese Weise würden die Apotheken um 350 Millionen Euro stärker belastet, als vom Gesetzgeber ursprünglich berechnet. „Eine Belastung in dieser Höhe können die Apotheken nicht tragen“, sagte der Vorsitzende des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) Hermann Keller. Dadurch sei die Existenz vieler Apotheken besonders auf dem Land und in den Vorstädten massiv gefährdet.

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Arzneimittel

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junge Welt 12.5.2003

Milliardenspiel Wenn es um ihren Profit geht, wollen die Pharmakonzerne von der Marktwirtschaft nichts wissen Rainer Balcerowiak. Knapp 18,5 Milliarden Euro betrug der Arzneimittelumsatz der deutschen Apotheken im vergangenen Jahr. Mit einem Anteil von 16,4 Prozent an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehört die Arzneimittelvergabe zu den wichtigsten Ausgabenposten. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten. Zum einen ist der im EU-Vergleich extrem hochpreisige deutsche Markt für die Pharmakonzerne äußerst attraktiv, zum anderen animiert die enorme Summe auch Gesundheitspolitiker aller Couleur zu immer neuen Vorschlägen zur „Kostendämpfung“. Neben den Pharmafirmen nehmen allerdings auch noch andere Akteure an dem Tanz um den Milliardentopf teil. Sie profitieren – wie auch Automobilhändler – von den enormen Preisdifferenzen für Medikamente in Europa und importieren Medikamente aus Niedrigpreisländern und bieten sie in Deutschland den Apotheken weit unter den offiziellen Großhandelspreisen an. Unterschieden wird in diesem Marktsegment zwischen zwei Geschäftssträngen. Beim Reimport handelt es sich um Produkte, die in Deutschland für den ausländischen Markt produziert und dort von den Handelsfirmen gekauft und wieder nach Deutschland eingeführt werden. Parallelimport bezieht sich auf Arzneimittel, die im Ausland produziert und von den Pharmafirmen zu festgelegten Preisen auf dem deutschen Markt vertrieben werden, von den Importeuren in anderen Ländern aber wesentlich billiger erworben werden können. Die sieben größten Handelsfirmen dieses Sektors haben sich im Verband der Arzneimittelimporteure Deutschlands (VAD) zusammengeschlossen. Der Re- bzw. Parallelimport ist nicht nur den Pharmafirmen ein Dorn im Auge. Auch die Apotheker haben daran keinerlei Interesse. Da ihre Gewinnspanne aus einem prozentualen Aufschlag auf dem Einkaufspreis besteht, schmälern billige Medikamente ihre Profite. So verwundert es kaum, daß Reoder Parallelimporte lange Zeit kaum eine Rolle auf dem deutschen Markt spielten. Erst im Rahmen der verschiedenen „Kostendämpfungsgesetze“ in den 90er Jahren geriet das Einsparpotential dieses Einkaufsweges ins Visier der „Reformer“. Durch die Budgetierung der Arzneimitterverschreibung wuchs auch der Druck auf die Ärzte, nach Alternativen zu hochpreisigen Originalpräparaten zu suchen. Mit den Apothekerverbänden wurde schließlich eine Mindestquote für Importarzneimittel vereinbart. Sie betrug im vergangenen Jahr 5,5 Prozent

und im laufenden sieben Prozent. Damit konnten 2002 die GKVen um 200 Millionen Euro entlastet werden, so VAD-Chef Edwin Kohl auf einer Pressekonferenz des Verbandes am Donnerstag. Das Potential läge bei einer entsprechenden Ausweitung der Quote bei mindestens einer halben Milliarde Euro, so Kohl. In vielen anderen EU-Ländern sei das Sparpotential von Importmedikamenten früher erkannt und intensiver genutzt worden. So beträgt ihr Anteil in Großbritanien 20 und in den Niederlanden 17,3 Prozent. Natürlich handelt es sich auch bei den Arzneimittelimporteuren um rein profitorientierte Unternehmen, dennoch zog Kohl zur Begründung seiner Forderung nach Ausweitung der Importquote auch die „soziale Karte“. „Wir können nicht den Versicherten mit der Gesundheitsreform zusätzliche finanzielle Lasten aufbürden, ohne die auf der Hand liegenden Möglichkeiten zum Sparen zu nutzen“. Zäher Widerstand gegen die Ausweitung der Arzneimittelimporte kommt natürlich von den Pharmakonzernen selbst. So begründet der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) die hohen Preise für in Deutschland vertriebene Medikamente mit den hohen Kosten für die Entwicklung neuer Medikamente. Der Verband droht ziemlich direkt mit der Einstellung aller Forschungsaktiviäten in Deutschland, falls es zu weiteren Beschneidungen ihrer Profitmöglichkeiten kommt. Neben den Importen sind den Pharmakonzernen besonders Preisobergrenzen bei der Verschreibung bestimmter Medikamenttypen und sogenannte Positivlisten verschreibungsfähiger Medikamente ein Greuel. Bisher ist es dieser Lobby auch meistens gelungen, entsprechende Gesetzesvorhaben zu verhindern, beispielsweise in der letzten Legislaturperiode durch eine einmalige „Ablaßzahlung“ von 200 Millionen Mark. Der VAD und seine Partnerorganisationen in anderen Ländern weisen

das Totschlagsargument Forschungskosten entschieden zurück. Jede Beschwerde über Parallelimporte beweise doch nur, daß die Produkte in einigen EU-Ländern stark überteuert seien, so Donald Macarthur vom europäischen Dachverband der Importeure. Längst würden alle großen Pharmafirmen, auch die deutschen, ihre Forschungsstandorte über den ganzen Globus verteilt haben, heißt es in einer Broschüre des Verbandes und weiter: „Die Finanzmittel dafür werden aus den globalen Geschäftsergebnissen geschöpft. In keinem Fall kann über einen nationalen Markt die Forschung finanziert werden, erst recht nicht über ein einzelnes soziales Gesundheitssystem“. Entscheidend für einen Forschungsstandort seien die Verfügbarkeit von hochqualifiziertem Personal und die Kooperation mit öffentlichen Forschungseinrichtungen wie Universitäten und mitnichten die Gewinne auf dem jeweiligen nationalen Absatzmarkt. Als Beispiel wird die Firma GlaxoSmithKline aufgeführt, die ihre Forschung fast vollständig in Großbritanien konzentriert – obwohl dort der Marktanteil importierte Arzneimittel EU-weit am höchsten ist.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

D RG

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Ärzte Zeitung 3.3.2003

Ärzte Zeitung 11.06.2003

Fallpauschalen können zu Zwei-Klassen-System führen

„DRGs werden Schwerverletzten nicht gerecht“ Ärztekritik an Fallpauschalen HAMBURG (di). Ein Spezialkran-

Berufsgenossenschaften vergüten Behandlung in eigener kenhaus in der Hansestadt schlägt Klinik künftig nach Tagespflegesätzen/Patienten erhalten dann Alarm: Für schwerstverletzte Patibessere Leistungen KÖLN (iss). Die Einführung der Fallpauschalen (DRGs) könnte bei der Versorgung von schwerverletzten Patienten zu gravierenden Einbrüchen für die Kliniken führen. Das fürchten Vertreter von berufsgenossenschaftlichen Kliniken (BG). „Es ist lebensbedrohlich für die Patienten, was da auf uns zukommt“, sagte Dr. Gerhard Exner, Chefarzt am Querschnittgelähmten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses in Hamburg, bei einer Tagung des Rückversicherers GeneralCologne Re. In den BG-Kliniken werden die DRGs eine neue Art von Zwei-Klassen-Medizin bringen, erwartet der Mediziner. Denn die Häuser können bei Patienten, bei denen die Berufsgenossenschaften Kostenträger sind, weiterhin nach Tagespflegesätzen abrechnen. Das sind in dem Hamburger Spezialzentrum etwa 35 Prozent. Bei den anderen zwei Dritteln zahlen die gesetzlichen Kassen die Behandlung – ab 2004 nach DRGs. Bei ihnen könne das Prinzip nicht mehr greifen, schon während der Akutbehandlung mit der Reha zu beginnen. Viele Zusatzleistungen und aufwendige Therapien müssen wegfallen. Die gesetzlichen Regelungen zum pauschalierten Entgeltsystem werden den Anforderungen an die Versorgung rehabilitationsbedürftiger Unfallopfer nicht gerecht, beklagte Exner. So könnten die komplexen Abläufe bei der Behandlung von Querschnittgelähmten durch DRGs nicht abgebildet werden. „Die Verweildauer ist derart inhomogen, daß unser Haus keinen Mittelwert bilden kann“, sagte Exner. Auch sei bei den sehr unterschiedlichen Einzelfällen und der geringen Fallzahl ein Casemix nicht möglich. Mit DRGs können nach Einschätzung von Dr. Hubert Erhard, dem stellvertretenden Geschäftsführer des BG Vereins für Heilbehandlung, etwa 70 Prozent der Verletzungsmuster gut abgebildet werden. Für einzelne Gruppen von Schwerstverletzten könnte es aber „absolut tödlich“ sein, wenn ihre Behandlung nicht von der Systematik ausgenommen wird. Eine Gefahr sieht Erhard darin, daß die Allgemeinkrankenhäuser die Patienten nicht rechtzeitig in Spezialkliniken verlegen. Denn bleiben die Häuser unter der mittleren Verweildauer, müssen sie einen Abschlag hinnehmen. Doch das wesentliche Problem liegt für den Juristen woanders: „Seitens der Ökonomen im Krankenhaus wird

massivster Druck auf die Ärzte ausgeübt, was die Versorgungsformen anbelangt.“ Erhard nannte ein makabres Beispiel: Die Fallpauschalen für die Retransplantation und die Amputation eines Fingers seien sehr ähnlich. Für die Amputation benötigt ein Arzt eine halbe Stunde, mit der Retransplantation ist ein Dreier-Team drei Stunden beschäftigt. Da bestehe durchaus die Gefahr, daß sich die Ärzte für die Amputation entscheiden, die mehr Erlös bringt. Um solche Fehlentwicklungen zu verhindern, müßten die Spezialkliniken Zuschläge für Bereiche wie die Versorgung polytraumatisierter Patienten erhalten, forderte Erhard. „In allen BG-Kliniken machen wir bei den Polytraumata zur Zeit ein Minus von 20 bis 25 Prozent“, sagte Erhard. „Mit den Fallpauschalen wird das Minus 65 Prozent betragen.“ Erhard hofft auf das Fallpauschalenänderungsgesetz. Es wird bestimmten Einrichtungen befristet die Abweichung von der DRG-Systematik ermöglichen. Nach Auskunft des Bundesgesundheitsministeriums sind dabei etwa Spezialeinrichtungen für Schwerstbrandverletzte und für Epilepsie-Kranke vorgesehen.

enten wird das DRG-System zu erheblichen Behandlungseinschnitten führen. „Die gesetzlichen Regelungen zum pauschalierten Entgeltsystem werden den Anforderungen an die Versorgung rehabilitationsbedürftiger Unfallopfer nicht gerecht“, warnte das Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus (BUK) Boberg. Besonders Querschnittgelähmte sowie Patienten mit Polytrauma, schweren Brandverletzungen und schweren Schädel-HirnVerletzungen seien betroffen. Nach Angaben von Dr. Hubert Erhard vom BG Verein für Heilbehandlung müssen querschnittgelähmte GKV-Patienten unter DRGBedingungen künftig nach etwa vier Wochen entlassen werden – und das „zu einem Zeitpunkt, an dem die Betroffenen noch lange nicht rehabilitiert sind und gerade erst beginnen, das Ausmaß ihrer Behinderung zu begreifen“. Bislang werden solche Patienten nach BG-Standard – „heilen und helfen nach allen geeigneten Mitteln“ – mehrere Monate lang behandelt. Außerdem droht nach seiner Ansicht die Gefahr, daß sich die Spezialkliniken nur noch auf die „lohnenden Fälle“ konzentrieren könnten. Ein Beispiel aus der Unfallchirurgie: Die Fallpauschalen für die Retransplantation und für die Amputation eines Fingers unterscheiden sich nur marginal, der Aufwand aber beträchtlich. Für die Amputation benötigt ein einzelner Arzt eine halbe Stunde, für die Retransplantation ein Dreier-Team dagegen drei Stunden. Erhard: „Da besteht durchaus die Gefahr, daß Klinikstrukturen so umgestaltet werden, daß Retransplantationen nicht mehr möglich sind.“ Er forderte deshalb, einzelne Gruppen von Schwerstverletzten aus dem Fallpauschal-System auszuklammern. Die 24 Spezialeinrichtungen in Deutschland könnten das mit dem hohen Behandlungsniveau verbundene finanzielle Risiko nicht tragen.

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Aus dem Ausland

Ärzte Zeitung 28.2.2003

US-Ausgaben für Gesundheit sind drastisch gestiegen SEATTLE (cp). US-Amerikaner gaben im Jahr 2001 eine Rekordsumme für den Erhalt ihrer Gesundheit aus: 1,42 Billionen US-Dollar flossen in das Gesundheitswesen, was einer Ausgabe von durchschnittlich 5035 USDollar pro Person entsprach. Zum Vergleich die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamts für Deutschland, die allerdings für das Jahr 2000 gelten: Gesamtausgaben: 218,4 Milliarden Euro, Ausgaben je Einwohner: 2660 Euro. Mit Besorgnis verfolgen US-Analysten die Rate, mit der die Gesund-

heitsausgaben in den Vereinigten Staaten gewachsen sind: Der Anstieg von 8,7 Prozent im Vergleich zu 2000 war der steilste seit 1990. Er katapultierte auch den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt nach oben: 14,1 Prozent ihres BIP gaben die Amerikaner 2001 für ihre

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Gesundheit aus - 0,8 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Vergleichwert für Deutschland im Jahr 2000: 10,8 Prozent. Das steile Ausgabenwachstum kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Die ohnehin durch Konjunkturprobleme geplagte Wirtschaft kann rapide steigende Gesundheitskosten nur schwer verkraften. US-Bundesstaaten, denen Steuerausfälle Milliardendefizite in ihre Haushalte gerissen haben, haben bereits begonnen, öffentliche Gesundheitsprogramme wie Medicaid (die Krankenversicherung für Arme) einzuschränken. Viele Privatunternehmen haben ebenfalls angekündigt, finanzielle Unterstützung für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter abzubauen.

Ärzte Zeitung 21.5.2003

Bushs Versagen in der Gesundheitspolitik – eine Chance für demokratische Präsidentschaftskandidaten? Von Claudia Pieper Krankenversicherung für alle – dieses Thema war in den Vereinigten Staaten seit dem Scheitern der ClintonReformpläne so gut wie tabu. Derzeit erlebt der Slogan „Krankenversicherung für alle“ jedoch eine Wiedergeburt. Grund: Mindestens zwei der Demokraten, die hoffen, im nächsten Jahr George Bush die Präsidentschaft zu entreißen, haben das Thema zum Kernstück ihrer Kampagne erklärt. Der kühnste Vorstoß kommt bislang vom ehemaligen Vorsitzenden der Demokraten im Repräsentantenhaus, Dick Gephardt. Er will – ähnlich wie seinerzeit Clinton – alle Arbeitgeber verpflichten, ihren Mitarbeitern eine Krankenversicherung anzubieten und einen Großteil der Kosten zu bezahlen. Das ist in den USA keineswegs obligatorisch. Zugleich bietet Gephardt jedoch an, einen Teil der Zeche zu übernehmen: Gephardt plant, den Unternehmen sechzig Prozent ihrer Krankenversicherungsbeiträge zurückzuerstatten. Bezahlen will er das Ganze durch die Rücknahme der Steuererleichterungen, die Präsident Bush in seiner Amtszeit durchgesetzt hat. Gephardt ist überzeugt, daß er mit diesem Plan gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann: Er will mit dem peinlichen Zustand aufräumen, daß die Vereinigten Staaten als einziges Industrieland nach wie vor über vierzig Millionen Nichtversicherte haben. Zum anderen will er aber auch die Wirtschaft ankurbeln, die – wie Gephardt herausstellt – unter Bush

gewaltig zu kränkeln begonnen hat. „Daß alle Menschen Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung haben, ist die moralische Herausforderung unserer Zeit“, erläutert Gephardt – und attackiert so den Präsidenten mit seinen eigenen Waffen. Denn der hat in seiner Amtszeit die Moral bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit bemüht. Ein anderer Mitbewerber Gephardts um die demokratische Nominierung schlägt in die gleiche Kerbe: 40 Millionen Bürger ohne Krankenversicherung? Schluß damit! Der Mann heißt Dr. Howard Dean, ist Arzt und elf Jahre Gouverneur des US-Bundesstaats Vermont gewesen. Zu Gephardts Kummer hat sich Dean die gleichen Kernpunkte für seine Kampagne ausgesucht: Gesundheitsversorgung für alle und eine gesunde Wirtschaft. Deans Lösungsansatz sieht allerdings anders aus. Ohne Gephardt direkt zu kritisieren, meinte Dean kürzlich in einer Rede vor Gewerkschaftsangehörigen, es sei zwar eine „großartige Idee“, Arbeitgeber mehr in die Gesundheitsversorgung ihrer Mitarbeiter einzubinden, aber politisch sei das Ganze einfach nicht durchsetzbar. „Zu kompliziert und zu teuer“ nannte er Gephardts Pläne. Dean setzt daher auf weniger dramatische Mittel: Die Regierung solle insbesondere Kleinunternehmen finanziell helfen, Krankenversicherungen für ihre Mitarbeiter anzubieten. Dean will außerdem, daß die Bundes-

staaten stärker in die Pflicht genommen werden, um die Zahl der Nichtversicherten zu reduzieren. So sollen die Staaten zum Beispiel öffentliche Programme wie Medicaid – die Gesundheits-Unterstützungkasse für die Ärmsten – stärker fördern; dafür hat er versprochen, sie an anderer Stelle finanziell zu entlasten. Dean gab jedoch zu, daß sein Plan noch nicht ganz stehe. „Gesundheitsversorgung“, läßt er dennoch keinen Zweifel, „ist ein moralischer Imperativ“. Es bleibt abzuwarten, wie viele der anderen demokratischen Präsidentschaftsanwärter die von Dean und Gephardt erwählten Themen zu Pfeilern ihrer Kampagnen machen werden. Mit den Tickets Gesundheitspolitik und Wirtschaftswachstum war Bill Clinton seinerzeit gegen Bush Senior erfolgreich – trotz eines vorher „gewonnenen“ Golfkriegs gegen den Irak. Es war aber auch die gescheiterte Gesundheitsreform, die Clintons Präsidentschaft nachhaltig schädigte. Krankenversicherung für alle? Am Ende ließen ihn im damals noch von den Demokraten dominierten Kongreß die eigenen Parteifreunde im Regen stehen. Genau deshalb muß sich vor allem Gephardt vor Vergleichen fürchten. Er ist sich dessen bewußt und hat bereits die Unterschiede zu Clintons Reformideen hervorgehoben. Einige halten ihn dennoch für einen politischen Selbstmörder. Zu gewagt, zu anspruchsvoll sei der Gephardt-Plan, heißt es. Zunächst einmal geht die Kandidatenkür der Demokraten weiter – mit dem Kernthema Gesundheit, und mit mindestens sechs US-Politikern, die sich Chancen ausrechnen, George W. Bush im Amt zu beerben.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Aus dem Ausland

Süddeutsche Zeitung 17.6.2003

Operation mit dem Teelöffel Die strikten Einsparungen im britischen Gesundheitswesen haben skurrile, oft aber auch tragische Konsequenzen Von Gerd Zitzelsberger Radikal zu sein, hilft auf Dauer auch nicht: Kein anderes Land unter den großen Industrienationen hatte die Gesundheitsausgaben so abgesenkt wie Großbritannien. Doch endlose Wartezeiten auf Operationstermine und Mängel an allen Ecken und Enden wurden schließlich zu einem Grund für die Abwahl der Konservativen 1997. Die Labour-Regierung pumpt inzwischen Milliarden zusätzlich in das Gesundheitswesen. So teuer wie in Deutschland soll es freilich nicht werden. Die Briten müssen wohl auch künftig mit Leben und Sterben kaufmännischer umgehen. Gemessen an den Kosten funktioniert das weitgehend staatliche Gesundheitssystem auf der Insel gar nicht so schlecht. 1998 haben die Briten nur 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Ärzte, Krankenhäuser, Medikamente und Nebenleistungen ausgegeben, die Deutschen dagegen 10,3 Prozent. Pro Kopf waren es 1500 Dollar (umgerechnet nach Kaufkraft) in England und 2360 Dollar in Deutschland. Dennoch haben die Briten in etwa die gleiche Lebenserwartung, bei der Säuglingssterblichkeit liegen ihre Zahlen nicht höher, und subjektiv fühlen sie sich sogar gesünder. Doch wer Schmerzen hat, aber keinen Arzttermin, wer fürchten muss, an Krebs erkrankt zu sein, aber keine Diagnose bekommt, oder wer seine Eltern unnötig früh sterben sieht, der pfeift auf Statistiken. Ab und zu kommen überdies düstere Tatsachen ans Licht. Der Berliner Pharma-Konzern Schering etwa hat einmal publik gemacht, dass Krebs- und Herzpatienten in keinem anderen Land Europas so schlechte Überlebenschancen hätten wie auf der Insel. So wuchs ständig der Ärger über den staatlichen Gesundheitsdienst (NHS). Labour machte im Wahlkampf vor zwei Jahren Verbesserungen zu einem zentralen Versprechen und lässt heute die Gesundheitsausgaben dreimal so schnell wachsen wie die Wirtschaft insgesamt. Im Jahr 2007 sollen sie dann schon 9,4 Prozent des Sozialprodukts betragen. Dieser Finanzrahmen wird nicht überschritten, wie hoch der Bedarf auch sein mag. Denn der staatliche Gesundheitsdienst wird letztlich aus Steuergeldern finanziert – für private Krankenversicherungen gibt es keine Steuerermäßigung, und sie spielen gemessen am Leistungsvolumen keine Rolle. Der Finanzminister setzt das Gesundheitsbudget fest, und die Gelder werden dann Jahr für Jahr in einem hochkomplizierten Verfahren

73 chen: Es gibt zu wenig Dialyse-Plätze, und wenn sie dem einen ein Weiterleben ermöglichen, muss dafür ein anderer sterben. Einen Vorteil aber scheint das zentralistische Gesundheitssystem zu haben: Die Pharmakonzerne geben an den NHS Arzneimittel manchmal erheblich billiger ab als in anderen Ländern. Die Jahresdosis Betaferon zur Behandlung von Multipler Sklerose kostet den NHS umgerechnet 10100 Euro. In einer deutschen Apotheke zahlt der Patient einschließlich Mehrwertsteuer 17 800 Euro.

auf (staatliche) Krankenhäuser, nominell privatwirtschaftliche Ärzte und andere Leistungsträger verteilt. Wenn das Geld nicht reicht – und es reicht um Längen nicht – muss eben rationiert werden. Die Konsequenzen sind gelegentlich skurril, meist aber tragisch. So sollte ein Orthopäde des Derriford Hospitals in Plymouth statt einem Ope rationsschaber einen Teelöffel verwenden. Und immer wieder ist davon zu hören, dass ältere Patienten von der Dialyse abgeklemmt werden, wenn Komplikationen hinzukommen. Was sollen die Ärzte denn sonst ma-

106. Deutscher Ärztetag in Köln

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Sonderärztetag Berlin

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

4. Eine schärfere Kontrolle der Produkte von medizinischer Geräte- und Pharmaindustrie ist notwendig. Es dürfen nur noch die medizinisch technischen Geräte und Verfahren eingesetzt werden, deren Nutzen nachgewiesen ist. Die Positivliste muss Die oppositionellen Delegierten des außerordentlichen DÄT vom 18. verpflichtend realisiert werden. Februar 2003 lehnen die Transformation des deutschen Gesundheitswesens ab. Diese geplante Transformation führt zur Deregulierung, Ent- Ein außerordentlicher DÄT, der sich diese Forderungen nicht zu eigen macht, solidarisierung und Kommerzialisierung. ist überflüssig und stößt bei den Kolle1. Das solidarisch finanzierte Kran- 3. Die Versicherungspflichtgrenze und ginnen und Kollegen vor Ort auf UnverBeitragsbemessungsgrenze in der ständnis. kenversicherungssystem muss ergesetzlichen Krankenversicherung halten bleiben und ausgebaut werV.i.S.d.P.: müssen angehoben werden mit Dr. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser, den. dem Ziel, langfristig die Versiche- Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte 2. Eine Aufteilung des Leistungskatarungspflichtgrenze vollständig aufloges in Wahl- und Regelleistungen zuheben. Alle privat Krankenversowie die Ausgrenzung von GKVsicherte (Beamte, Selbstständige, Leistungen aus dem LeistungskataBesserverdienende) müssen Mitlog (z. B. Zahnbehandlungen, Unfälglied der GKV werden. le ) wird abgelehnt.

Presseerklärung der Oppositionellen Listen in den deutschen Ärztekammern

Außerordentlich unnütz!

Leserbrief Dr. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser zum außerordentlicher Deutscher Ärztetag in Berlin am 18. Februar 2003 Der Vorstand der Bundesärztekammer hat diesen außerordentlichen Ärztetag einberufen, mit dem Ziel, über die Eckpunkte der zukünftigen Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt zu diskutieren. Dazu wurden im Vorfeld vom Vorstand der Bundesärztekammer ein Papier „Gesundheitspolitische Grundsätze der deutschen Ärzteschaft“ vorgelegt. Dieses Papier zeichnet sich aus, dass nicht auf die Grundprobleme unseres Gesundheitswesen eingegangen wird, sondern längst bekannte Vorurteile wie Staatsmedizin, staatlich verordnete Leitlinien, Rationierung etc. eingegangen wird. Unter Punkt V. steht „der Patient hat Anspruch auf die Solidarität der Versicherten. Solidarität heißt, dass jeder entsprechend seiner finanziellen Möglichkeiten einen Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung zu leisten hat und die gesetzliche Krankenversicherung auch nur nach Maßgabe des Notwendigen in Anspruch nimmt. Über das Notwendige hinausgehende Leistungen gehören in eine Zusatzversicherung und dürfen nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft erbracht werden. Zugleich muss im Wettbewerb der Krankenversicherung Raum für die private Krankenversicherung bleiben. Eine Einheitsversicherung widerspricht den Prinzipien der Eigenverantwortung sowie der Patientenautonomie und wird deshalb von der Ärzteschaft abgelehnt.“ Der Vorstand der Bundesärztekammer stellt die paritätisch solidarisch finanzierte gesetzliche Krankenversicherung in Frage und reiht sich damit ein in die derzeit von CDU/CSU und FDP geforderte Abkehr von der soldirisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung. Auf der Grundlage

dieses Papiers wurde auf dem außerordentlichen DÄT eine Resolution vorgelegt, die im Vorfeld den Delegierten nicht zugeleitet wurde, und über die auch gar keine Diskussion erwünscht war. Ablauf des DÄT war folgendermaßen. Prof. Hoppe als Präsident der BÄK hielt eine kämpferische Rede gegen die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums bei der eigentlich nur 2 Punkte herauszustellen wären: 1. Ein staatliches Institut zur Qualitätssicherung (Bundesanstalt für Krankheitsverwaltung) wird abgelehnt, da dies ureigenste Aufgabe der Selbstverwaltung wäre. Für die deutsche Ärzteschaft bedeutet Staat gleich Leitlinienmedizin und somit Rationierung. 2. Die Öffnung der Krankenhäuser für fachärztliche Leistungen ist des Teufels, wenn dies nicht an persönliche Ermächtigungen gebunden wird. Neu ist, dass inzwischen zwar die Positivliste als Instrument akzeptiert wird, aber nicht als verpflichtend anerkannt wird. Außerdem wird inzwischen auch von der deutschen Ärzteschaft anerkannt, dass Versorgungsforschung erforderlich ist. Die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen konnten dann ihr Statement abgeben. Besonders souverän erledigte dies Müntefering von der SPD mit einer Einladung an die BÄK in der SPD-Fraktion zu einem konstruktiven Gespräch. Zur Zeit findet sich die Politik in der Entscheidungsfindung, bis zum Mai wird ein Vorschlag von der Bundesregierung vorliegen. Er weist die anwesenden Delegierten darauf hin dass die anstehende Gesundheitsreform im Zusammenhang im Rahmen der Europäisierung , der Globalisierung und der Wohlstandsicherung zu sehen ist. Außer-

dem weist er darauf hin, dass es auch noch andere Positionen als die , die hier vertreten werden, gibt. Krista Sager von Bündnis 90/Die Grünen kommt in ihrem Statement den Vorstellungen der Ärzteschaft schon deutlich näher. Alternative Finanzierungen der GKVs (Einnahmen aus Miete, Zinsen, Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen wie z.B. Mutterschaftsgeld, mitversicherte Ehefrauen, die weder in der Erziehung von Kindern noch in der Pflege von Angehörigen tätig sind) sind für Bündnis90/ Die Grünen kein Tabuthema mehr. Ausgrenzung von Leistungen wie private Unfälle, Reproduktionsmedizin etc. müssen ihrer Ansicht nach auf den Prüfstand. Der FDP-Fraktionvorsitzende Gerhardt hat mit den alt bekannten Forderungen der FDP nach weniger Staat, Beibehaltung der Freiberuflichkeit, Erhalt der ärztlichen Therapiefreiheit, Abschaffung des Sachleistungsprinzips, Einführung der Kostenerstattung auch bei der GKV, Wahlfreiheit für die Versicherten, Abschaffung der Budgets usw. wahre Beifallsstürme der anwesenden Delegierten erhalten. Frau Merkel, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende orientierte sich in ihrem Redebeitrag voll an dem kurz vorher veröffentlichten Papier von Horst Seehofer, wo mehr Eigenbeteiligung der Patienten zur Senkung der Beiträge der GKV gefordert wird und der Arbeitgeberanteil eingefroren werden soll. Aus ihrem Mund Mitleidsbekundigungen für die ungerechte Behandlung der Ärzteschaft durch die Politik und Presse, wo sie als Abzocker, Kriminelle usw. dargestellt werde, was sie doch wirklich nicht verdienen. Sie bewundert die „armen“ Ärzte wegen ihrer Aufopferungsbe-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 reitschaft für die Patienten und findet es daher total ungerecht, dass sie so schlecht behandelt werden. Große Sorge hat sie, dass auf Grund der schlechten Arbeitsbedingungen immer weniger Ärzte in ihrem Beruf arbeiten und deutsche Ärzte nach Norwegen auswandern (übrigens ein Land mit einem staatlichen Gesundheitswesen) und unsere Bürger nicht mehr von deutschen Ärzten behandelt werden. Richter-Reichhelm (KBV) verteidigte erneut die in Berlin eingeleiteten Kampfmaßnahmen als erfolgreich und dringend notwendig und drohte noch mit der Ausweitung dieser Maßnahmen. Eine klare Absage wurde von ihm der Öffnung der Krankenhäuser für die fachärztliche Versorgung erteilt. Montgomery (Marburger Bund) prangerte erneut die Arbeitsbedingungen in den Kliniken an, für die von ihm ausschließlich die Politik verantwortlich gemacht wird. Sprüche wie Überversorgung haben wir bei der Bürokratie, Fehlversorgung bei den Sachverständigen und Unter-

Sonderärztetag Berlin versorgung beim ärztlichen Sachverstand tragen nicht zu einer Versachlichung der Diskussion bei. Die vom Vorstand geladenen Betroffenen mit ihren Kurzstatements haben sich nahtlos ins Gejammer und Anklagen eingereiht. Insgesamt konnten danach mit den s.g. Betroffenen 17 Redner bei einer Redezeitbegrenzung von drei Minuten einen Redebeitrag einbringen. Eine Diskussion, geschweige denn eine Arbeitstagung, wie vom Vorstand immer wieder betont wurde, war das nicht. Mit der Politik wurde nicht diskutiert, sondern es wurden die längst bekannten Standpunkte dargestellt. Ulla Schmidt, die eine Einladung deshalb abgelehnt hat, da ihr nicht die Gelegenheit angeboten wurde, ihre Position darzustellen, tat gut daran der Einladung nicht zu folgen. Über die vorgelegte Resolution wurde nicht ernsthaft diskutiert. Ergänzende Anträge wurden mit Antrag zur Geschäftsordnung abgebügelt. Insgesamt aus meiner Sicht eine außerordentlicher Ärztetag, der viel Geld ge-

Antrag gegen einen Irakkrieg auf dem außerordentlichen Deutschen Ärztetag 18.2.03 in Berlin plattgemacht. Text des Antrags, bei dessen Formulierung mir Prof. Gottstein behilflich war: Der Deutsche Ärztetag möge beschließen: Wir Ärztinnen und Ärzte lehnen jeden Krieg ab, der nicht der Verteidigung wegen eines nachgewiesenen Angriffs dient. Einen „Vorbeugungskrieg“ („pre-emptive war“) gegen Irak lehnen wir ab, da er zu großen Verlusten unter der ohnehin leidenden Bevölkerung führen würde. Außerdem würde er die Arbeit der UN-Inspekteure beenden, die für den Erhalt von Frieden von größter Bedeutung ist. Unsere ärztliche Aufgabe im Geist Albert Schweitzers ist es, Tod und Leiden unserer Mitmenschen vermeiden zu helfen. Bericht vom Ärztetag : Im Vorfeld des Ärztetages hatte ich unseren Vizepräsidenten Herrn Fleischmann gebeten, in der Sitzung des Vorstandes der Bundesärztekammer anzufragen, ob der Antrag auf Abstimmung nicht vom Vorstand selbst eingebracht werden könne. Ich hörte dann, man habe dies dort nicht gewünscht. Herr Prof. Hoppe könne dies in seiner Rede ansprechen. Da ich eine Resolution des Deutschen Ärztetages für viel wirkungsvoller einschätzte, blieb ich bei dem Vorhaben, den Antrag dann von mir aus einzubringen. Nachdem ich gehört hatte, dass möglicherweise neben der geplanten Hauptresolution gar keine Anträge vorgesehen waren, kopierte ich für alle Fälle den Antrag 260-mal. Beim Treffen der alternativen Listen am Vorabend des Ärztetages wurde der Antrag unter-

75 kostet hat (Schätzungen belaufen sich zwischen 300 000–500 000 €), die Ärzteschaft noch mehr ins Abseits gestellt hat und den dringend notwendigen, konstruktiven Dialog mit der Politik fast unmöglich gemacht hat. Der Versuch, auch bei einem außerordentlichen Ärztetag einen Antrag von einer Delegierten aus Rheinlandpfalz gegen den Irakkrieg einzubringen, wurde von den Juristen mit der üblichen Argumentation wegen Allgemeinpolitik vom Tisch gewischt. Selbst ein Statement gegen einen Krieg vom Vorstand der Bundesärztekammer wurde nicht behandelt. Der Ärztetag hatte auch zum Ziel, dass man mit dazu beitragen möchte, diese Regierung zu stürzen, was bei den Wahlen im September nicht gelungen ist. Zusammenfassend stelle ich fest: Außerordentlicher Deutscher Ärztetag am 18.2.2003 in Berlin – außerordentlich unnütz. Die teuerste Pressekonferenz des Vorstandes der Bundesärztekammer, die es je gab. „Die Deutsche Ärzteschaft bekennt sich zu der Aufgabe, Leben zu retten, Krankheiten zu heilen, Gesundheit zu erhalten und Leiden zu lindern. Im Einklang zu diesen Zielen ist die Ärzteschaft stets dem Frieden verpflichtet. Frieden wird gebrochen durch gewaltsame Auseinandersetzungen, Frieden wird auch gebrochen durch Diktatur und Willkürherrschaft. Unterdrückung ist Gewalt. Der Deutsche Ärztetag sieht sich in Übereinstimmung mit der gemeinsamen Position der EU-Staatsund Regierungschefs zur Irak-Krise. Die Deutsche Ärzteschaft hofft weiter auf eine friedliche Lösung dieser Krise.“ Soweit der Text. Inzwischen war mein Antragstext noch nicht verteilt. Nun gut – ich kann warten. Ca.15.40 – es sollte bis 16 Uhr gehen – passiert dann alles ganz schnell. Ein Geschäftsordnungsantrag wird gestellt, dass heute nur die Hauptresolution verabschiedet werden soll, alle anderen Anträge sollen an den Vorstand verwiesen werden. Herr Fleischmann, unser Vice rennt zum Mikrofon „ja – aber außer der Resolution zum Irakkrieg – also – wer ist dafür, dass alles an den Vorstand verwiesen wird? wer ist dagegen?“ Die Ersten sind die Mehrheit. Ich wünsche Ihnen einen guten Heimweg. – Später treffe ich Prof. Hoppe zufällig im Cafe. Ich sage ihm, dass ich mich betrogen fühle. Ja, der Ärztetag hat eben kein politischen Mandat. Wir haben schon mal einen Prozess deshalb verloren.

stützt und ich bekam die nötigen Unterschriften, um ihn einzubringen. Am 18.2. ging ich mit dem Papier zum Antragtisch, wo man mir sagte, der Antrag könne nicht angenommen werden, da der Ärztetag kein politisches Mandat habe. („Nicht wahr, Herr Prof. Severing – er stand gerade daneben – wir haben doch kein politisches Mandat ?nein!) Zumindest müsse man den Justiziar fragen. Daraufhin entschloss ich mich, den Antrag auf den Stühlen zu verteilen. Eine Kollegin half mir dabei, wurde dann aber angesprochen, man dürfe hier nichts verteilen. Ich ging dann zu Prof. Hoppe und sagte ihm, dass ich diesen Antrag heute zur Abstimmung bringen möchte. Ja, aber auf keinen Fall am Vormittag, sondern erst am Schluss. Ich wartete dann die Reden von Prof. Hoppe (er sagte nichts zum Thema Krieg), von Herrn Müntefering, Krista Sager, Wolfgang Gerhardt, Angela Merkel, Richter-Reichhelm und Montgomery ab – ging dann wieder zum Antrags- und Wortmeldungstisch, gab erneut meinen Antrag ab und man versicherte mir, dass ich auf jeden Fall dran käme – aber erst am Schluss. Eine Wortmeldung zu meinem Antrag sei auch nur zu dem Tagesordnungspunkt, also am Ende möglich. Es gab dann also nach dem Mittagessen eine längere Diskussion zum Thema Gesundheitswesen. In dieser Zeit wurden verschiedene eingebrach- PS: In der nach dem Ärztetag versandten Niederschrift erscheint mein Ante Anträge verteilt. Unter anderem trag am Schluss als Drucksache I-07 erschien ein Antrag vom Vorstand der Bundesärztekammer, der lautete: Christa Blum

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Süddeutsche Zeitung 17.1.2003 Der Präsident der Bundesärztekammer zu den Reformplänen der Bundesregierung

Notfalls legen wir das System lahm Jörg-Dietrich Hoppe warnt vor steuerfinanziertem Gesundheitswesen: Dann können die Patienten wehklagen, aber sich nicht einklagen SZ: Der Präsident der Bundesärztekammer stellt sich an die Spitze des Protests gegen die rot-grüne Gesundheitspolitik. Wollen sie wirklich das ganze System lahm legen? Hoppe: Das hängt davon ab, welche Eckpunkte der Reform in den nächsten Wochen herausgegeben werden. Auf dem Ärztetag am 18. Februar werden wir erst einmal dazu Stellung nehmen und ein Kontrastprogramm vorstellen. SZ: Sie protestieren also kommenden Mittwoch nicht gemeinsam mit dem Hartmannbund gegen das Spargesetz? Hoppe: Nein. Wir reagieren nicht auf die Nullrunde. Wir gehen weiter, weil vieles darauf hindeutet, dass wir einen völligen Paradigmenwechsel in der Medizin bekommen und die ökonomischen Ziele an die erste Stelle gesetzt werden. Medizin wird dann anonym in nationalen Instituten beschlossen, rationiert und zugeteilt. Die Selbstverwaltung, die ja auch eine Gestaltungsebene ist, wird zur Auftragsverwaltung, die alles nach unten durchreichen muss. Immer wenn gesagt wird, wir müssen die Qualität verbessern und die Wirtschaftlichkeit erhöhen, ist Zuteilung und Rationierung gemeint. SZ: Wie soll Ihr Protest aussehen? Hoppe: Im Januar veranstalten wir in vier Städten Aktionstage. Wir wollen keine Praxisschließungen oder Ähliches. SZ: Was der Hartmannbund plant. Hoppe: Das muss er selbst verantworten. Noch haben die Kassenärztlichen Vereinigungen den staatlichen Auftrag, die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Wenn sie das Streikrecht wollen, dann müssen sie den Auftrag zurückgeben. Dazu ist die Situation aber noch nicht reif, wir wissen ja nicht genau, was die Regierung vorschlagen wird. Doch schon die Nullrunde war unfair. Kaum war die Wahl vorbei, war das Versprechen, die unzumutbaren Belastungen für Ärzte zu ändern, Makulatur. Aber jetzt sind die Reformpläne wichtiger. SZ: Noch einmal, was haben Sie vor? Hoppe: Wenn der Gesetzgeber keine Einsicht zeigt, dann müssen wir zu ernsteren Maßnahmen greifen. Als Erstes werden wir die Bürokratie im

System lahm legen. Trotz aller Androhung der Politik werden die Ärzte das überleben. Wir müssen den Leuten klar machen, was auf sie zukommt, wenn sich die Philosophie durchsetzt, die man in England, partiell in Holland oder in den USA studieren kann. Dort bekommen Patienten nur die Leistungen zugeteilt, die im Vertrag stehen. Der Arzt ist dort gezwungen, alle Patienten in eine Kiste zu tun und über ein Programm zu behandeln. Wenn er einen Cent mehr ausgibt, gibt’s Ärger. SZ: Werden Sie ungerecht behandelt? Hoppe: Im Krankenhaus bringen wir millionenfach Überstunden, die niedergelassenen Ärzte arbeiten für Gebühren, die einen kleinen Prozentsatz von dem ausmachen, was Handwerker bekommen. Trotzdem soll noch mehr gespart werden. Honorare sollen offen gelegt werden, um Neidgefühle zu wecken. Es wird unterstellt, dass wir pfuschen, dabei werden immer dieselben alten Fälle aufgetischt. Damit wird Stimmung gemacht, um uns zu disziplinieren. SZ: Wie sieht Ihr Kontrastplan aus? Hoppe: Wir haben der Politik eine ganze Reihe konstruktiver Vorschläge unterbreitet. So sind wir für Patientenquittungen und die Einführung von Chipkarten. Wir haben uns auch dafür ausgesprochen, dass die Hausärzte eine koordinierende Funktion im System übernehmen. Und wir sehen die Notwendigkeit einer stärkeren Integration zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, wobei allerdings die Ärzte und nicht Bürokraten Partner der Patienten bleiben müssen. Wir haben uns auch nachdrücklich für die Positivliste für verschreibungsfähige Medikamente und für die Verbesserung der Prävention ausgesprochen, nur um einige Punkte zu nennen. SZ: An welche Anreize denken Sie? Hoppe: Am wirksamsten sind die finanziellen Anreize zu einer gesunden Lebensführung, auch Selbstbehalte sind denkbar. Die Menschen dürfen aber nicht davon abgehalten werden, zum Arzt zu gehen, nur weil das zusätzlich zum Beitrag Geld kostet. SZ: Würden Sie eine regelmäßige Zertifizierung von Ärzten akzeptieren? Hoppe: Das machen wir schon selbst. Wir werden durch Transparenz zeigen, dass die Vorwürfe über fehlende berufliche Weiterbildung und Qualitätenmängel nur Geschwätz sind. Die Zahl fehlerhafter Eingriffe

ist nicht höher als in anderen Ländern. Wir werden keine Evaluierung der Behandlungen scheuen, die schwierig ist, weil dieselbe Krankheit bei den Menschen nicht gleich verläuft. Das mechanistische Denken, das bei manchen Gesundheitsökonomen zur Maxime geworden ist, passt nicht in die Medizin. Sie ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft, die sich naturwissenschaftlicher Methoden bedient, und die mit einem Wissen umgehen muss, das schon morgen überholt sein kann. Das alles muss auch noch mit der Selbstbestimmung der Patienten in Einklang gebracht werden. Es ist also ein zu schmales Denken, das gesamte Geschehen in Disease-Management-Programme zu pressen und zu sagen, wer das Programm nicht einhält, bekommt keine Vergütung. SZ: Aber es muss doch viel mehr passieren zur Sanierung der Kassen. Hoppe: Die Verschiebebahnhöfe müssen entfallen. Es ist unfair gegenüber den Versicherten, dass sie bis zu sieben Milliarden Euro ihrer Beiträge pro Jahr wegschwimmen sehen. Die versicherungsfremde Leistungen müssen geregelt werden, auch die Familien-Versicherung. Das ist eine familienpolitische Angelegenheit, genau wie die künstliche Befruchtung, sofern keine medizinische Indikation vorliegt. Wir müssen den Leistungskatalog durchforsten nach dem, was wirklich notwendig ist im Sinne des Gesetzes. SZ: Wollen Sie Grund- und Wahlleistungen? Hoppe: Nicht, wenn die Leistungen notwendig sind. Dann müssen sie solidarisch abgesichert sein. Aber manches könnte man streichen und es dem Einzelnen überlassen, ob er dafür eine Sonderversicherung abschließen will. SZ: Keine Änderung an der Finanzierung der gesetzlichen Kassen? Hoppe: Darüber müssen wir diskutieren. In die Finanzierung sollten nicht nur die Arbeitseinkommen einbezogen sein, sondern auch Kapitaleinkünfte. Auch wenn dadurch das Ganze einen steuerähnlichen Charakter erhält, bin ich dennoch für die Beibehaltung des beitragsfinanzierten Versicherungssystems. SZ: Warum? Hoppe: Der wesentliche Unterschied zwischen beitrags- und steuerfinanzierten Systemen besteht darin, dass bei einem beitragsfinanzierten System die Patienten Ansprüche erhe-

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ben können, die sie beim Sozialgericht einklagen können. Bei einem steuerfinanzierten System findet eine Zuteilung statt, mit der sich die Patienten zufrieden geben müssen. Sie können noch wehklagen, aber sie können sich nicht einklagen. Das halte ich für das schlechtere System. SZ: Gibt es noch andere Nachteile? Hoppe: Die sehen wir in England. Wenn der Militärhaushalt hochgefahren werden muss, dann wird bei der Gesundheit gespart und noch weniger zugeteilt. SZ: Sollte man alle Bürger zu Beitragszahlern machen wie in der Schweiz? Hoppe: Das wäre eine Alternative. Ich habe aber gehört, dass das System mittlerweile zu enormen Preiserhöhungen für die Versicherungen geführt hat. SZ: Sie haben auch vorgeschlagen, den Arbeitgeberanteil einzufrieren. Hoppe: Das halte ich nach wie vor für richtig. SZ: Reagiert die Politik zu spät? Hoppe: Das Problem ist, dass in der Politik strategische Vorgaben und taktisches Handeln nicht übereinstimmen. Vor allem in den achtziger Jahren gab es eine ganz starke Tendenz, den Fachärzten Kompetenz zuzusprechen und den Patienten den direkten Zugang zum Facharzt zu ermöglichen, was ein kostspieliger Weg ist, da er mehr Ärzte erfordert. Man hat erklärt, die freie Arztwahl ist ein hohes Gut. In den Fraktionen, auch bei der SPD, wurde damals gesagt, so lange man im Wartezimmer warten müsse, sei die Zahl der Ärzte zu klein. Genau diese Vorgabe wird nun aber in Frage gestellt. So ist eine nachhaltige Politik nicht möglich. SZ: Was, glauben Sie, wird aus dem Gesundheitswesen? Hoppe: Es wird eine Rüttelstrecke geben und ich hoffe, dass wir sie gut überstehen. Ich habe die Sorge, dass wir ausländische Vorbilder wie das englische, schwedische oder dänische System so stark kopieren, dass wir in Situationen kommen, die in steuerfinanzierten Systemen üblich sind. Das bedeutet Unzufriedenheit, Wartezeiten und die Entwicklung eines grauen Marktes, weil diejenigen, die es sich leisten können, dahin ausweichen. Ich will das nicht, und deswegen machen wir öffentlich Dampf. Und den müssen die aushalten, die im Moment nicht mit uns reden wollen. 106. Deutscher Ärztetag in Köln

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Einladung des VDÄÄ zum Vorbereitungstreffen für den Deutschen Ärztetag in Köln 2003 9. Mai 2003 Verteiler: Delegierte, soweit bekannt + opp. Listen + Vorstand und Aktivisten

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Nachstehend noch eine wichtige Information: Winfried Kahlke von der Hamburger Ärzteopposition informiert darüber, dass die Ausländerbehörde in Hamburg für Abschiebungen von Asylbewerber/innen über eine sogen. „Notarzt-Börse“ bereitwillige Ärzte für die Flugbegleitung gefunden hat (www.notarzt-boerse.de); diese wirbt auf der Internet-Seite u.a. mit ihren Diensten bei der „Repatriierung“. Der ärztliche Organisator gibt eine Mitgliedschaft der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpom-mern an, es beteiligen sich aber nachweislich auch Ärzte aus anderen Kammern. Nach dem DÄT-Beschluss (einstimmig!) aus Cottbus verstößt dies gegen die Berufsordnung.

der VDÄÄ bemüht sich wie jedes Jahr, die Vorbereitungstreffen unter den oppositionellen Listen zu organisieren. Leider ist die Resonanz (z.B. Angabe der Delegiertenadressen der einzelnen Kammern) meist sehr gering, obwohl von einzelnen Delegierten/Mitgliedern des VDÄÄ betont wird, wie wichtig die Koordination vor den Ärztetagen sei. Auf diesem Hintergrund möchten wir alle Empfänger dieses Schreibens bitten, die Information an die Delegierten der Liste ihrer Landesärztekammer weiterzuleiten. In diesem Jahr hat sich leider vonseiten der oppositionellen Listen niemand bereit erklärt, die inhaltliche Koordination mit Unterstützung der Geschäftsstelle des VDÄÄ zu übernehmen. Aus diesem Grunde wird am Vorabend des Deutschen Ärztetages diesmal alles ganz anders: Wir treffen uns am Montag, den 19. Mai 2003 ab (nicht um!) 20.00 Uhr zum Abendessen im Restaurant des Hilton Hotels in Köln, in dem zumindest die hessischen und baye- Hierzu sollte auf jeden Fall ein Antrag rischen Delegierten auch untergebracht sind. Dort ist in einem abgetrennten eingebracht werden. Raum ein Tisch für uns („VDÄÄ“) reserviert. Es soll hier darum gehen, sich auszutauschen und eigene Sachen einbringen zu können. Falls jemand Zeit und Lust hat, „mehr“ zu organisieren, werden wir ihm/ihr sicher keine Steine in den Weg legen. Wir hoffen, damit auch in eurem Sinne gehandelt zu haben und freuen uns auf das Wiedersehen in Köln! Mit freundlichem Gruß VDÄÄ Geschäftsstelle Karl-Heinz Balon

LDÄÄ Geschäftsstelle Christiane Schlang

Kurzer Bericht über den 106. Deutschen Ärztetag vom 20. bis 24. Mai in Köln ÜBERSICHT zu den THEMEN: • Eröffnungsveranstaltung mit Rededuell Ministerin Schmidt und Präsident der BÄK Prof. Hoppe • daran anschliessende Debatte • neue Musterweiterbildungsordnung • Berufsordnung • Diskussion zur Palliativmedizin • Bericht von Präsident des MFT Prof. von Jagow zur Umsetzung der neuen AO an den Fakultäten und Wortmeldung von uns dazu • Rederecht der FTM beim Dt. Ärztetag Am Dienstag lieferten sich Ulla Schmidt und Prof. Hoppe bei der Eröffnung ein Rededuell zur aktuellen Gesundheitspolitik. Schmidt stellte vor allem die Reformpläne der Bundesregierung (GMG – Gesundheitsmodernisierungsgesetz) vor. Themen waren u.a. : • Erhöhung der Tabaksteuer • Einrichtung eines Institutes zur Qualitätssicherung der Medizinischen Versorgung (sollte kein staatliches Institut sein, ohne Beteiligung des Kölner Gesundheitsökonomen Prof. Lauterbach) • Stärkung der Hausärzte mit größerer Bedeutung in Zukunft • Änderung der Vergütung für die niedergelassenen Ärzte (Aufhebung

der sektoralen Budgets, Punktwerte abschaffen) • Krankenkassen und KVen an der Anzahl verringern (bisher gibt es ca. 320, Fusionen sollten gefördert werden, mehr Wettbewerb • So genannte Gesundheitszentren ermöglichen (mehre Ärzte lassen sich gemeinsam nieder, wie ne riesen Gemeinschaftspraxis mit verschiedenen Disziplinen, etwa wie ehemalige Polikliniken in der DDR) • Gesetzentwurf für AiP-Abschaffung 2004/05 wird im Sommer auf den parlamentarischen Weg gebracht • ab 2006 elektronische Gesundheitschipkarte • industrieunabhängige Fortbildungen sollen gefördert werden Prof. Hoppe sprach anschließend dagegen, mahnte dabei in fast jedem Punkt die enormen Nachteile für die Ärzte an und bat weiterhin sehr darum, die Bundesärztekammer, Dt. Ärztetag usw. in Zukunft bitte nicht mehr als Lobbyisten zu bezeichnen. Anschließend ging es an diesem Tag im Plenum wiederum die aktuelle Gesundheitspolitik. Am Mittwoch ging es um die neue Musterweiterbildungsordnung, die mit Sicherheit auch später uns betreffen wird. Zum einen wurde die gene-

relle Struktur der Verordnung vereinfacht, zum anderen wurden vor allem die Bedingungen für Innere und Allgemeinmedizin geändert. Es gibt in Zukunft keinen allgemeinen Internisten mehr, es wird nur den Arzt für • Allgemeinmedizin und Innere oder • Innere und Kardiologie oder • Innere und Nephrologie etc. Sprich: wer Allgemeinmedizinischer Hausarzt werden möchte, muss eine vielmehr internistische Ausbildung durchlaufen (mit max. 1/2 Jahr Chirurgie und event. zusätzlich 1/2 Jahr chirurg. Ambulanz). Den (Allrounder-)Internisten gibt es nicht mehr, sondern lediglich internistische Spezialisten. Dies wurde sehr kontrovers diskutiert, weil den niedergelassene Ärzten, vor allem aber den kleinen Krankenhäusern z.B. als Oberärzte die rundum-kompetenten erfahrenen Kliniker fehlen würden und man lediglich nur noch Fachspezialisten hätte. Das wäre von Nachteil, weil doch viele Volkskrankheiten mit anderen Krankheiten zusätzlich assoziiert wären und man dazu Allounder bräuchte (z.B. der Diabetiker (Stoffwechsel-Gastroenterologisches Fachgebiet) hat oft auch einen Hypertonus (Nephrologie) und eine KHK (Kardiologie) etc.).

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Am Donnerstag waren die Themen Änderungen an der Berufsordnung (Finanzierung der Fortbildungen von der Pharma-Industrie) und als inhaltliche Diskussion „Palliativmedizin“, wobei sich gänzlich gegen Sterbehilfe und für die Stärkung der Palliativmedizin ausgesprochen wurde. Die Frage, die sich uns stellte, war, ob denn gute Palliativmedizin, um unmenschliches Leiden zu lindern, und Sterbehilfe, um Menschen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen, ein direkter Widerspruch sind. Es drückte sich uns der Gedanke auf, dass vielmehr politische Ideologien als wirklich das Optimum für den Patienten beider Diskussionen verfolgt wurden. Am Freitag gab es dann Berichte aus den Arbeitsgruppen der Bundesärztekammer. Dabei für uns interessant: Erstens: einige Anträge zur Abschaffung des AiP wurden im Plenum positiv verabschiedet Zweitens: der Präsident des Medizinischen Fakultätentages Prof. von Jagow hat über die Umsetzung der AO an den einzelnen Unis berichtet. Sein Tenor war: vorher war die AO sehr schlecht, jetzt ist sie gut, Umsetzung hat überall wunderbar geklappt, vielen Dank an alle (natürlich nicht an uns Studies). Dagegen haben wir mit einer Wortmeldung geantwortet, worin wir gegen die reibungslose Umsetzung widersprochen und uns nochmals für die Vorverlegung des schriftlichen Teils des 2. Stex vor das PJ eingesetzt haben. Zu der Verfolgung dieses Zieles haben wir auch einen Antrag über die Delegierten des VDÄÄ eingebracht, der aber lediglich zur Bearbeitung an den Vorstand verwiesen wurde. (Vielen Dank an dieser Stelle aber noch mal an die Delegierten Daniel Rühmkorf, Udo Schagen und Christiane Schlang des VDÄÄ). Abschließend sei noch gesagt, dass wir von der FTM als Vertreter der Medizinstudierenden dankbar für das Rederecht waren/sind. Prof. Hoppe scheint sehr an unserer Anwesenheit beim Dt. Ärztetag interessiert zu sein. Als z. B. unsere Wortmeldung durch einen GO-Antrag nicht angenommen werden sollte, hat er uns kurz als geladene Gäste angekündigt und so konnten wir doch unseren Senf zur neuen AO dazu geben. Wenn Ihr gerne mehr wissen wollt, her mit den Fragen! Nico & Stephan

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„Und sie bewegt sich doch!“ Ärzteschaft für pharmafreie Fortbildung, hausärztliche Versorgung und Palliativmedizin / Ergebnisse vom 106. Deutschen Ärztetag in Köln „Wiederholt sind Vorwürfe gegen die Ärzteschaft erhoben worden, dass bei der Zusammenarbeit mit der Industrie die ärztliche Unabhängigkeit nicht in ausreichendem Maße gewahrt worden sei“ erklärte der Vorsitzende der Berufsordnungsgremien, Prof. Dr. Ingo Flenker. „Deshalb ist es notwendig, klare Regelungen für alle Bereiche ärztlicher Tätigkeit zu schaffen.“ In der Muster-Berufsordnung wurde der Passus aufgenommen „Ärzte dürfen keine Zuwendungen annehmen, die über den eigentlichen Zweck einer Fortbildungsveranstaltung hinausgehen“. Damit soll der Korruption begegnet werden. Andererseits möchte man aber nicht die Tür zur Pharmaindustrie zuschlagen, denn ohne „Drittmittel“ könnte an vielen Universitäten überhaupt nicht mehr geforscht werden und Wissenschaftler nicht mehr zu Kongressen fahren. Deshalb dürfen auch zukünftig Fahrtkosten und Tagungsgebühren von Sponsoren übernommen werden. Das eigentliche Dilemma ist der Rückzug des Staates aus der Forschung. Auch wenn die Unterstützung durch Drittmittel erfreulich ist, so haben die Konzerne durch ihre Entscheidung, in welchen Bereichen Forschung von ihnen unterstützt wird, großen Einfluss auf die Forschungsschwerpunkte. Durch die nächste Gesundheitsreform werden in Deutschland die Aufgaben in der Patientenversorgung neu verteilt. Die Hausärzte werden als Lotsen dem Patienten helfen, den richtigen Facharzt zu finden. Die Fachärzte sollen im Regelfall in Gesundheitszentren arbeiten und nur noch auf Überweisung durch den Hausarzt tätig werden. In der Debatte wurden die Pläne der Bundesgesundheitsministerin scharf kritisiert, neue Fachärzte für die integrierte Versorgung ausschließlich in Polikliniken arbeiten zu lassen. Es wird in Deutschland einen zunehmenden Bedarf an Hausärzten geben. In der jetzt verabschiedeten Musterweiterbildungsordnung ist die Ausbildung von Allgemeinmedizinern und Internisten, die als Hausärzte arbeiten, zusammengelegt worden. Erst nach drei Jahren gemeinsamer Weiterbildung beginnt die Spezialisierung. Über diese Strukturreform war auf den vergangenen Ärztetagen gestritten worden, umso zufriedener war die Bundesärztekammer, dass dieser Streit zwischen Fach- und Allgemeinärzten jetzt ein Ende gefunden hat. In seltener Einstimmigkeit hat der Deutsche Ärztetag die aktive Sterbe-

hilfe abgelehnt und sich für eine Förderung der Palliativmedizin ausgesprochen. Palliativmedizin ist die Betreuung von Menschen, die aufgrund einer unheilbaren Erkrankung nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben. Sie umfasst die Schmerztherapie, die mitmenschliche Begleitung und die Verwirklichung realistischer Hoffnungen, um die Menschenwürde bis zum Lebensende zu bewahren. In der Gesellschaft mache sich zunehmend eine Stimmung für die aktive Sterbehilfe breit, beklagte die Vizepräsidentin des Deutschen Ärztetages, Dr. Ursula Auerswald. 70 Prozent der Bundesbürger befürworten nach einer Umfrage die Möglichkeit, im Falle einer schweren Erkrankung eine „erlösende Spritze“ zu erhalten. Selbst unter den Ärzten sind 48 Prozent dieser Meinung. In den Niederlanden und Belgien gehört die aktive Sterbehilfe zu den ärztlichen Leistungen. Wenn aktive Sterbehilfe, wie Auerswald ausführte, erst einmal gesetzlich erlaubt ist, wird bald auch die Frage nach lebenswerten Leben gestellt werden. Aus der Möglichkeit des Sterbens auf Verlangen kann sich dann schnell eine Erklärungsnot für diejenigen einstellen, die trotz großer Schmerzen und erheblichem medizinischen und pflegerischen Aufwand noch bis zu ihrem Tode weiterleben wollen. Der Euthanasie würde so Tür und Tor geöffnet. „Die Konsequenz aus diesem Problemkreis heißt nicht Resignation oder Hoffnungslosigkeit, sondern aktives palliativmedizinisches Handeln“ schloss Auersbach. Gesundheitsministerin Schmidt ist verstimmt über den Präsidenten der Bundesärztekammer Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, der in Köln für vier Jahre wiedergewählt wurde. Dieser hatte in der Eröffnungsveranstaltung davor gewarnt, die geplanten Rationierungen im Gesundheitswesen als echten Reformschritt oder Qualitätssprung anzusehen. Dem Patienten drohe eine Reduzierung der Versorgungsleistungen. Die Ministerin hatte dies in einem der Öffentlichkeit zugespielten Brief an Hoppe vehement bestritten. Daniel Rühmkorf

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Gut gelaunte Medizindienstleister Zur Eröffnung des Ärztetags durfte sich Ministerin Ulla Schmidt freuen: Immerhin keine Pfiffe. Ärztepräsident Hoppe beklagt jedoch, dass ihr Reformgesetz von „Misstrauen und Rationierung“ geprägt sei. Schmidt dagegen sieht gar „keinen Zielkonflikt“ Lag’s an der Tabaksteuer? Jedenfalls bekam Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gestern zur Eröffnung des 106. Ärztetags ein paar Lacher und einmal Zwischenapplaus. Nicht aber Pfiffe und Buhrufe, was beim angespannten Verhältnis zwischen Gesundheitspolitik und -praxis erwartbar gewesen wäre. Nein, das „Parlament der Ärzteschaft“, das noch bis Freitag letztmalig in Köln tagt – nächstes Jahr ziehen die Standesvertreter aus Köln nach Berlin um –, war fast gnädig zu der Ministerin. Vielleicht hat das damit zu tun, dass sie die Tabaksteuer um einen Euro pro Schachtel erhöhen und familienpolitische Leistungen wie Mutterschutzgeld nicht mehr von den Kassen, sondern durch Steuern finanzieren lassen will. Schließlich wird beides von Ärzten seit Jahren vorgeschlagen. Es könnte aber auch sein, dass die Vertreter der Ärzteschaft gemerkt haben, dass sich volle Konfrontation mit Schmidt nicht lohnt. Rings um die Bundestagswahl, als die Ärzteverbände Anti-Schmidt-Anzeigen schalteten, gab es eine kurze Eiszeit. In den vergangenen Monaten jedoch hatte man wieder verhandelt. Dabei war unter anderem eine Schwächung des geplanten Zentrums für Qualität in der Medizin herausgekommen, das nunmehr nur noch „Empfehlungen“ aussprechen, aber keine bindenden Vorgaben machen wird. Und so klang des Ärztepräsidenten Jörg-Dietrich Hoppes Angebot, das „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ (GMG) ein bisschen umzuschreiben, gestern sogar nett: „Wir zwei machen einen neuen Text“, sagte Hoppe zur Ministerin. Denn einen Korruptionsbeauftragten, den bräuchten die Ärzte so wenig wie das Qualitätszentrum. Insgesamt aber, so klagte Hoppe, sei das Problem des GMG, „dass damit das Misstrauen gegen die Ärzte gesetzlich implementiert werden soll“. Ein „neuer Ärztetypus“ sei im GMG angelegt: „der gelenkte Medizindienstleister“. Dieser sei dazu da, die staatlich vorgegebene „Philosophie der Rationierung von Leistungen“ umzusetzen. Dagegen müssten sich die Ärzte unbedingt wenden, denn nur als „freie“ Ärzte übernähmen sie auch die „Verantwortung“ für ihre Leistungen.

Einmal abgesehen von solchen eher symbolischen Aussagen blieb jedoch auch gestern ein handfester Reformpunkt strittig. Die Ärzteorganisationen wollen verhindern, dass die niedergelassenen Ärzte miteinander um die Verträge mit Krankenkassen konkurrieren müssen. Genau dies hat Ulla Schmidt jedoch vor. Ihre Reformen zielen darauf ab, dass es Ärztezentren gibt, in denen sich Ärzte zusammenschließen und an den Kassenärztlichen Vereinigungen vorbei mit den Krankenkassen Verträge schließen können. Gleichwohl erklärte Schmidt: „Es gibt keinen fundamentalen Zielkonflikt zwischen Politik und Ärzteschaft.“ Damit erntete sie Raunen. Ein echtes „Oooooh“ jedoch bekam sie erst für ein Versprechen: Ihr Berater Karl Lauterbach, Lieblings-Buhmann der Ärzteschaft, werde entgegen anders lautenden Gerüchten „sicherlich nicht Leiter des Zentrums für Qualität in der Medizin“. Was selbstverständlich ebenso eine symbolische Aussage war.

„Gegen die Ärzte geht gar nichts“ Daniel Rühmkorf, Vizevorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, über die Empörung auf dem Kölner Ärztetag und über Ulla Schmidts Rolle dabei taz: Herr Rühmkorf, die organisierte Ärzteschaft empört sich u.a. über das von Ulla Schmidt geplante „Zentrum für Qualität in der Medizin“. Warum bloß? Daniel Rühmkorf: Ärzte sind grundsätzlich der Meinung, dass nur sie wissen, was am besten ist. Eine Mitsprache durch solch ein Institut empfinden sie als unzulässige Reglementierung. Aber nun sollen doch auch Ärztefunktionäre in den Institutsvorstand ... Ja, das ist der Trend, wo es hingeht. Auch Schmidt hat begriffen, dass sich Reformpolitik nicht gegen den Willen der Ärzte machen lässt. Eine Gesundheitsreform gegen die Ärzteschaft würde zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen. Zusammenbruch? Wenn die Ärzte nicht bei den Sparmaßnahmen mitmachen, dann wird auch nichts gespart. Die Ärzte regen sich auch über drohende Fortbildungspflicht auf.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Hier haben die Ärzte selbst gemerkt, dass es nicht sein kann, dass jemand 30 Jahre lang praktiziert, ohne den medizinischen Fortschritt mitzuschneiden. Sie haben sich selbst auf Fortbildungsmaßnahmen geeinigt. Verblüffenderweise gelang es sogar, deren Zertifizierung davon abhängig zu machen, dass die Pharmaindustrie nicht ihre Finger darin hat. Das ist wahrhaftig ein Fortschritt. Ulla Schmidt erklärt ihren schlechten Ruf bei der Ärztelobby auch damit, dies seien vor allem lernunfähige Männer. Das mag ein Grund sein. Allerdings hat sie auch einige handwerkliche Fehler gemacht. Damit bestätigte sie die immer herrschende Vermutung, Gesundheitspolitiker hätten schlicht keine Ahnung. Etwa hat sie eine Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung gefordert, ohne zu beachten, dass niedergelassene und Krankenhausärzte unter anderem deshalb schwer kooperieren, weil sie – staatlich gewollt – ganz unterschiedlich abrechnen. Glauben die Ärzte, durch harsche Worte und wilde Drohungen auf Ärztetagen ihren eigenen Ruf aufbessern zu können? Ach wissen Sie, das sind alles Rheinländer, Ärztechef Herr Hoppe ebenso wie die Ministerin. Bei denen wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und das wissen die auch voneinander. Womit die Ärzteschaft allerdings wirklich Porzellan zerschlagen hat, waren der unselige Ärztestreik und der unsägliche und überflüssige Sonderärztetag im Winter. Was soll dieser Ärztetag besser machen? Ich wünsche mir, dass der Ärztetag es schafft, eine konstruktive Kritik an der Reform insgesamt zu formulieren und nicht nur an den Einzelteilen, die den Geldbeutel der niedergelassenen Ärzte betreffen. Die finanziellen Einschnitte im Gesundheitswesen werden nur die Versicherten und Kranken treffen, nicht aber die Arbeitgeber. Dazu müssten sich die Ärzte positionieren. Ich fürchte allerdings, das wird nicht geschehen. Daniel Rühmkorf, 36, ist Vizechef des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, der aus der „Ärzteopposition“ hervorging. Der gelernte Arzt ist auch Medizinjournalist.

Deutscher Ärztetag 2003

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Ärztliche Praxis 20.5.2003

Deutscher Ärztetag diesmal mit Kindern Erstmals Betreuung für den Nachwuchs von Delegierten und Besuchern von Klaus Schmidt Köln – Nur mühsam hat sich der Deutsche Ärztetag zu einem Angebot durchgerungen, dass bei Tagungen mancher Fachverbände längst selbstverständlich ist: Betreuung vor Ort für die Kinder der Teilnehmer. Den entsprechenden Antrag stellte die hessische Delegierte Christiane Schlang auf dem Ärztetag in Rostock letztes Jahr. Voraussichtliche Kosten: 5800 Euro. Schlangs Ansinnen hatte in der von älteren Herren dominierten Delegiertenversammlung für Kontroversen gesorgt. Heftigen, am Ende aber erfolglosen Widerstand leistete vor allem der Vorsitzende der Finanzkommission der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. med. Joachim Koch: „Das Geld ist nicht im Haushalt drin“, argumentierte der sparsame Schwabe. Entschuldigen musste er sich für seine Bemerkungen, wenn das durchgehe, dann komme demnächst noch jemand und fordere Hunde-Betreuung. Kinder werden zu einem Pauschalpreis von 500 Euro pro Kind betreut Jedenfalls setzten sich die Antragsbefürworter durch. In diesem Jahr ist es

in Köln zum ersten Mal soweit: Kinder dürfen mitkommen, Hunde bleiben – vorerst? – draußen. Die Kosten für die Bundesärztekammer (BÄK), die ohnehin knapp bei Kasse ist, werden jedoch nicht so hoch wie veranschlagt ausfallen. Nur sechs Kinder sind bis zum 1. April angemeldet worden. Sie werden bei WDR-Aktiv „gleich um die Ecke“ betreut, erklärt ein Sprecher der BÄK. Und das zu einem Pauschalpreis von 500 Euro pro Kind. Bei anderen Ärzteveranstaltungen wie beispielsweise dem InternistenKongress in Wiesbaden gehört die Kinderbetreuung längst ganz selbstverständlich mit dazu. Schon vor drei Jahren hat der damalige KongressPräsident Prof. Dr. med. Jürgen Riemann eine solche eingerichtet, damit auch Ärztinnen und Ärzte, die keine Möglichkeit haben, ihre Kinder zu Hause betreuen zu lassen, sich fortbil-

81 den können. Die Einrichtung ist sofort gut angenommen worden; in diesem Jahr wurde aufgrund der großen Nachfrage der Platz noch erweitert. Gut 25 Kinder wurden auf dem letzten Internisten-Kongress täglich von drei ausgebildeten Kindergärtnerinnen betreut. Die Spielmöglichkeiten zielen auf alle Altersklassen und Interessen – vom Mini-Fußballplatz über Ball- und andere Spiele bis hin zu Bastelaktivitäten und Mini-Labor. Das Alter der Kinder reicht von sieben Monaten bis zehn Jahren. Während Mütter/Väter in Saal 6–7 das Neueste aus der Medizin lernen, tönt gelegentlich lautes Kinder-Lachen aus dem Nebenraum herüber. Die Finanzierung ist kein wirkliches Problem, beteuert man im KongressSekretariat in Wiesbaden. Die Kosten liegen bei rund 4000 Euro, aber es gebe eine Reihe von Sponsoren, die sich gern daran beteiligen. Für die Nutzer ist der Service kostenlos. Im Gegensatz zu einer Hundebetreuung könnte sich die Investition in die Betreuung der Delegierten-Kinder für die ärztliche Selbstverwaltung durchaus rentieren: So würde berufspolitischer Funktionärs-Nachwuchs schon im zarten Kindesalter herangezogen.

Nürnberger Nachrichten 21.5.2003

Verlogenes Ritual Wessen Interessen vertritt der Ärztetag? von Armin Jelenik Das Wohl des Patienten steht im Mittelpunkt aller Reformüberlegungen – und wer anderes denkt, ist ein Schuft. Wenn die Versicherten demnächst 15 Euro Eintrittsgebühr beim Facharzt bezahlen müssen, wie es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vorschlägt, dann geschieht das ebenso zum Wohl der Kranken wie der tiefe Griff in deren Taschen bei den Zuzahlungen zu Medikamenten. Und natürlich haben auch die Ärzte nichts anderes im Sinn als die Gesundheit der ihnen Anvertrauten, wenn sie sich vehement gegen ein Institut zur Sicherung der Qualität in der Medizin oder gegen ein Fortbildungsgebot wehren.

Aus den Augen verloren Der alljährliche Auftritt der Gesundheitsministerin beim Deutschen Ärztetag ist – nachdem sich Schmidt im vergangenen Jahr im Vorfeld der Bundestagswahl Samthandschuhe angezogen hatte – wieder zu dem geworden, was er schon immer war: ein ritualisierter und teils überaus verlogener Schlagabtausch mit wenig Neuigkeitswert. Dass beide Seiten mal wieder das Patientenwohl wie ein Mantra vor sich

hergetragen haben, zeigt eigentlich nur, dass sie genau dieses längst aus den Augen verloren haben. Anders ist nicht zu erklären, dass Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe seit Monaten gegen das geplante „Zentrum für Qualität in der Medizin“ polemisiert, in dem er es zum Totengräber der Arzt-Patienten-Beziehung erklärt. Hätte er sich die Mühe gemacht, zu vergleichen, mit welch unterschiedlichen Methoden und Kennt-

nissen in Arztpraxen und Kliniken gerade chronische Krankheiten behandelt werden, wüsste er, wie wertvoll eine solche „Stiftung Warentest der Medizin“ für die Patienten sein könnte. Von einheitlichen medizinischen Standards, die vielleicht sogar den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen, kann in Deutschland nämlich nicht die Rede sein. Unter anderem, weil es keine Pflicht zur Fortbildung für die Mediziner gibt, sobald sie die Universitäten verlassen haben. Doch die Ärztefunktionäre weigern sich standhaft, die Missstände ihrer Zunft zu benennen – auch zum Nachteil Tausender engagierter und gut ausgebildeter Doktoren. Stattdessen malt Hoppe lieber das Gespenst vom drohenden Ärztemangel an die Wand. Dass die Zahl der Ärzte gerade erst

82 wieder ein neues Rekordniveau erreicht hat, lässt er unerwähnt. Über 123 000 niedergelassene und fast 144 000 Krankenhausmediziner müssen zu einem Großteil von den Krankenkassenbeiträgen finanziert werden. Kaum ein anderes Land auf der Welt leistet sich eine derartige Ärztedichte. Ulla Schmidt hat Recht, wenn sie mit ihren Reformen nicht nur den Versicherten in die Taschen greift, sondern auch von den Ärzten Umstrukturierungen verlangt. Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung kann es jedenfalls nicht sein, einer immer weiter wachsenden Zahl von Medizinern zu einem Einkommen zu verhelfen. Doch diese Erkenntnis hörte man in Köln ebenso wenig wie das Eingeständnis Schmidts, dass mit den bislang diskutierten Reformschritten eine Trendwende nicht zu erreichen sein wird. Neben höheren Zuzahlungen und Umstrukturierungen werden in Zukunft, da hat Hoppe Recht, wohl auch Einkünfte aus Mieten und Vermögen sowie Selbstständige und Beamte zur Finanzierung der Kassen herangezogen werden müssen. Eine politisch unbequeme Wahrheit, um die sich Schmidt beim Ärztetag herumdrückte.

Mündige Patienten Die Patienten, um die sich ja angeblich alles dreht, sind da schon weiter, das zeigen zahlreiche Umfragen. Qualität, Transparenz und Mündigkeit im Umgang mit ihren Ärzten sind ihnen ebenso wichtig wie ein solides, solidarisch und fair finanziertes Gesundheitswesen. Auf Halbwahrheiten und Rituale, wie sie in Köln mal wieder gepflegt wurden, können sie verzichten.

Deutscher Ärztetag 2003

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Nürnberger Nachrichten 21.5.2003

Nürnberger Nachrichten 21.5.2003

Gesundministerin verteidigt Reformplane auf Ärztetag

Streit um Qualitätssicherung

Scharfe Kritik der Mediziner Ärzte lehnen Zentrum ab – Rationierung der Leistungen? – Auch Doktoren sollen sparen

Beide Seiten für Gespräche offen

KÖLN (dpa) Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hat die Kritik des Deutschen Ärztetags verteidigt. „Ich will, dass auch weiterhin gilt: Wer krank wird, bekommt das, was er medizinisch braucht“, sagte Schmidt bei ihrem mit Spannung erwarteten Auftritt. Gleichzeitig warb sie vor rund 250 Ärztevertretern um Unterstützung für ihre Reformpläne. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, meinte dagegen, durch die geplante Reform sollten medizinische Leistungen rationiert werden. Außer den Apothekern, der Pharmaindustrie, den Versicherten und den Patienten seien bei der Kostensenkung auch die Ärzte gefragt, sagte Schmidt. Hoppe verwahrte sich jedoch dagegen, das Gesundheitssystem auf Kosten der Mediziner zu sanieren.

Nachdem Schmidt im Februar einem außerordentlichen Ärztetag ferngeblieben war, stellte sie sich nun den Delegierten. Die Ausgaben im Gesundheitswesen müssen reformiert werden, sagte sie. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass das Geld, das über die Beiträge reinkommt, so effizient wie möglich eingesetzt wird, dann wird jedes Finanzierungsmodell an seine Schranken kommen. Die gesetzlichen Krankenversicherungen müssten sich auf das konzentrieren, was medizinisch notwendig sei. Hoppe warnte vor den möglichen Folgen der Sparpolitik für den Berufsstand. „Werden wir in Zukunft noch ausreichend Ärztinnen und Ärzte finden?“, fragte er. Eine scharfe Kontroverse gab es auch wegen des von Schmidt geplanten „Zentrums für Qualität in der Medizin“. Es soll unter anderem für einen wirtschaftlicheren Umgang mit Medikamenten sorgen.

Nutzen bestritten Hoppe bestritt den Nutzen eines solchen Zentrums. Mit dieser Mogelpackung soll suggeriert werden, dass es auch künftig nicht zu Qualitätsabsenkungen kommen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Hoppe wandte sich auch dagegen, dass Patienten künftig Fachärzte nicht mehr frei wählen könnten. Trotz aller Gegensätze boten Schmidt und Hoppe einander Zusammenarbeit an. „Ich bin offen für Gestaltungsvorschläge“, sagte Schmidt, fügte aber hinzu, gegen unsachliche Kritik sei sie immun.

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Deutscher Ärztetag 2003

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Eingebrachte Anträge von Mitgliedern aus den „oppositionellen Listen“ Folgende Anträge wurden auf dem Deutschen Ärztetag 2003 in Köln behandelt: Zu TOP I. Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik 04 Betr.: Finanzierung des Gesundheitswesens Entschließungsantrag Von: Dr. Pickerodt, Dr. SchwarzkopfSteinhauser und Frau Schlang als Delegierte der Ärztekammer Berlin, Bayern und Hessen Der Deutsche Ärztetag möge beschließen: Vorbemerkung: Das Gesundheitswesen in Deutschland ist mit ca 11% vom BIP ausreichend finanziert. Die BRD steht mit diesem Prozentsatz im internationalen Vergleich auf einem der vorderen Plätze. Eine Erhöhung dieses Anteils ist solange nicht notwendig, wie die Wirtschaftlichkeitsreserven nicht ausgeschöpft sind. Der Anteil des medizinischen Fortschritts und der demographischen Veränderungen an den Gesamtkosten ist niedriger als gemeinhin dargestellt. 1. Finanzierung – Einnahmeseite: Durch die hohe Arbeitslosenquote, die Übertragung versicherungsfremder Leistungen in die GKV und die sinkende Lohnquote brechen die Finanzirungspläne der gesetzlichen Kassen regelmäßig zusammen. Wenn die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung im gesamtwirtschaftlichen Interesse nicht weiter steigen, sondern eher gesenkt werden sollen, stehen grundsätzlich zwei Wege offen: Entweder werden Leistungen reduziert bzw. ausgegrenzt (z.B. Zahnersatz, Krankengeld etc.) oder die Kosten werden den Versicherten einseitig aufgebürdet (z.B. Zuzahlungen, private Absicherung von Risiken durch Zusatzversicherungen etc.) Die derzeitigen Pläne stellen eine Mischung dieser Methoden zulasten der Versicherten dar. Demgegenüber halten wir eine Verbreiterung der Einnahmebasis mit dem Ziel der Senkung von Lohnnebenkosten für den besseren Weg. Folgende Möglichkeiten stehen zur Verfügung: 1. Einnahmen aus Vermögen und Vermietungen sollten zur Finanzierung der GKV mit herangezogen werden, wobei sekundär ist, ob diese Einnahmen von der GKV oder dem Staat eingetrieben werden. 2. Eine Versicherungspflicht (Aufhebung der Pflichtversicherungsgrenze) für alle soll die „guten Risken“ in

die GKV zurückführen. Es bleibt die Möglichkeit, Sonderbehandlung (z.B. Chefarztbehandlung, Einbettzimmer etc. ) privat abzusichern. 3. Deutliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen. Eine Kombination der drei erwähnen Faktoren könnte die Beiträge zur GKV auf geschätzte 11 % absenken und würde dadurch Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit niedrigeren Einkommen entlasten. Neue Abgaben (z.B. Erhöhung der Tabaksteuer) können einen präventiven Effekt haben und sind daher diskussionswürdig. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Einnameeffekt umso geringer wird, je höher der präventive ist. Langfristig könnte diese Prävention sich allerdings auf der Ausgabenseite bemerkbar machen. Eine Förderung der primären ärztlichen Versorgung durch Hausärzte wird seit langem von uns angestrebt. Den Zugang zum Hausarzt dann aber durch eine Zutrittsgebühr zu erschweren, wäre eine Konterkarierung dieses Bemühens. Eine Gebühr nur für den primären Facharztbesuch könnte das Primat des Hausarztes stärken, sollte aber differenziert angewendet werden (z.B. Besuch des Frauenarztes, Augenarztes). 2. Finanzierung – Ausgabenseite: 1. Da derzeit die stärksten Zuwächse der Ausgaben der GKV bei den Arzneimitteln liegt, sollte die Positivliste so schnell wie möglich eingeführt werden. Der Nutzen neuer und teurer Arzneimittel muss dabei eindeutig nach evidenzbasierten Daten nachgewiesen werden. 2. Eine integrierte Patientenversorgung mit dem Ziel, die starre Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung aufzuheben, kann zu einem Abbau von Über- und Fehlversorgung der Patienten führen und die Unterversorgung in wichtigen Bereichen mindern. 3. Auch eine Förderung der medizinischen und psychosozialen Kompetenz der Hausärzte durch entsprechende Veränderungen im Sozialund Weiterbildungsrecht kann diesem Ziel dienen. 4. Eine Sicherung der Qualität ärztlicher Tätigkeit (z.B. durch Anwendung der Prinzipien von evidenzbasierter Medizin) kann auf der Ausgabenseite positive Effekte haben. 5. Eine Förderung von Prävention wird langfristig ebenfalls ausgabenmindernd wirken.

6. Die Honorierung ärztlicher Tätigkeit im ambulanten Bereich muss einerseits ein ausreichendes Einkommen sichern, sollte aber andererseits die Möglichkeit ausschließen, durch Mengenausweitung zu einer Gewinnmaximierung zu kommen. Schlussbemerkung: Gesundheit ist kein Gut, welches auf dem Markt beliebig vermehrbar ist. Daher muss eine Finanzierung des Gesundheitswesens auf einer solidarischen Grundlage erfolgen. Eine weitere, einseitige Verlagerung der Kosten auf die Patienten bzw. Versicherten wird daher entschieden abgelehnt. Die paritätische Finanzierung von Sozialleistungen hat in über hundert Jahren zu einer Stabilisierung der Gesellschaft geführt und darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. abgelehnt

10. Abschaffung der AIP-Phase Der Antrag von Frau Schlang (Drucksache I-11) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen: Der Vorstand der Bundesärztekammer wird beauftragt, die Abschaffung der AIP-Phase intensiv voranzutreiben. Gleichzeitig ist auf eine Änderung der Bundesärzteordnung in Bezug auf folgenden Sachverhalt hinzuwirken: Am Stichtag, an dem der AIP abgeschafft wird, erhalten alle Ärztinnen und Ärzte, die zu diesem Stichtag die Teilapprobation besitzen, die Vollapprobation. Es ist unerheblich, ob sie gerade eine AIP-Stelle innehaben oder nicht ärztlich tätig sind. Begründung: Der Deutsche Ärztetag stellt mit diesem Antrag klar, dass die AIP-Phase zu keiner Zeit einen didaktischen Nutzen gehabt hat, sondern schon immer ein Instrument gewesen ist, mit dessen Hilfe eine angemessene Vergütung junger Ärztinnen und Ärzte verhindert wurde. Mit diesem Vorgehen wird dokumentiert, dass sich die Deutsche Ärzteschaft dieses ausgesprochen fragwürdigen Tatbestandes bewusst ist. Außerdem kann nur auf diese Weise verhindert werden, dass junge Kolleginnen und Kollegen, die nach einer Zeit nichtärztlicher Beschäftigung wieder eine klinische Tätigkeit ausüben wollen, aber nicht nach der neuen Approbationsordnung studiert haben, eine Arbeit zu Dumpingpreisen

84 verrichten müssen. Dieses Vorgehen findet eine Analogie bei der nachträglichen Anerkennung der höheren Prüfung der Deutschen Bundesbank als Äquivalent zum Titel „Diplomkaufmann“, den die Absolventinnen und Absolventen dieser Prüfung führen dürfen.

Deutscher Ärztetag 2003 Jahres aus den Daten in Erfahrung gebracht. Dies ist eine reale Grundlage für die Anpassung der geforderten OPKataloge. Eventuell notwendige Gesetzesinitiativen bezüglich der Nutzung der § 21-Daten sind in das Fallpauschalen-Änderungsgesetz einzuarbeiten.

3. Weiterbildung in Teilzeit 11. Umsetzung des EuGH-Urteils Auf Antrag von Frau Schlang (DrucksaAuf Antrag von Frau Schlang (Drucksache II-33) beschließt der 106. Deutsche che I-12) beschließt der 106. Deutsche Ärztetag: Ärztetag: Der 106. Deutsche Ärztetag fordert Der 106. Deutsche Ärztetag beaufden Vorstand der Bundesärztekamtragt den Vorstand der Bundesärztemer auf sicherzustellen, dass Weikammer, die bereits entwickelten terbildungsinhalte auch TeilzeitbeArbeitszeitkonzepte zur Umsetzung schäftigten im Rahmen ihrer tariflich des EuGH-Urteils weiter zu verbreiten vereinbarten Arbeitszeit vermittelt und auf ihre schnellstmögliche Umsetwerden. zung hinzuwirken. Begründung: 12.Mehr Wettbewerb im ArzneiEine adäquate Weiterbildung ist wähmittelsektor rend der Bereitschaftsdienstzeit nicht Der Antrag von Frau Schlang (Drucksa- möglich. Teilzeitstellen können desche I-13) wird zur weiteren Beratung halb nur dann Weiterbildungsstellen an den Vorstand der Bundesärztekam- sein, wenn die Anzahl der Dienste im mer überwiesen: Verhältnis zur Reduzierung der Wochenarbeitszeit steht. Um die paritätische Finanzierung des Krankengeldes in der gesetzlichen Betr.: Vorstandsüberweisungen zu Krankenversicherung zu erhalten, TOP II fordert der 106. Deutsche Ärztetag Von: Dr. Pickerodt als Delegierter der die politisch Verantwortlichen auf, Ärztekammer Berlin einen ernsthaften Wettbewerb im Arzneimittelbereich zu initiieren. Der Vorstand der BundesärztekamDies wird beispielsweise durch die mer wird vom 106. Deutschen ÄrzteNeudefinition der Arzneimittelfest- tag beauftragt, Anträge zur Weiterbeträge als Höchstpreise möglich. bildung, die an den Vorstand überwiesen wurden, bei einem positiven Votum Begründung: den Weiterbildungsgremien, AusIm letzten Jahr haben die Ausgaben für schuss und Ständige Konferenz einem Arzneimittel die Ausgaben für den zukünftigen Ärztetag als Novelle der ambulanten Bereich in der GKV Musterweiterbildungsordnung vorzuerstmals überstiegen. Es ist nicht einzulegen. sehen, dass im Arzneimittelbereich ein ungebremster Ausgabenanstieg hin- Begründung: genommen wird, und gleichzeitig die Eine Änderung der MwbO durch alleiniVersicherten immer stärker durch Aus- gen Vorstandsbeschluss wäre neu und gliederung von Leistungen aus der würde dem Ärztetag eines seiner priparitätischen Finanzierung belastet mären Rechte nehmen. werden. Vielmehr müssen gerade im Arzneimittelsektor Strukturen ge- TOP III. Palliativmedizinische Verschaffen werden, die diese Kosten- sorgung in Deutschland explosion eindämmen. 4. Informationsbroschüre Palliativmedizin TOP II. Novellierung der (Muster-) Der Antrag von Frau Schlang (DruckWeiterbildungsordnung sache III-04) wird zur weiteren Bera2. Angleichung der OP-Kataloge tung an den Vorstand der BundesärzDer Antrag von Frau Schlang (Druck- tekammer überwiesen: sache II-34) wird zur weiteren BeraDer 106. Deutsche Ärztetag beauftung an den Vorstand der Bundesärztragt den Vorstand der Bundesärztetekammer überwiesen: kammer, eine Informationsbroschüre Der 106. Deutsche Ärztetag fordert zur Palliativmedizin zu erstellen, die an die Landesärztekammern auf, die OP- entsprechenden Stellen (onkologiKataloge in den Weiterbildungsord- schen Stationen, ambulanten Pflegenungen an die realistischen OP-Zahlen diensten, hausärztlichen Praxen, etc.) anzugleichen. ausgelegt wird, um Patientinnen und Patienten, deren Angehörige und meBegründung: dizinisches Fachpersonal über VersorNach § 21 des Krankenhausentgeltgungs- und Finanzierungsmöglichkeigesetzes, werden die OP-Zahlen eines

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 ten sowie weitere wichtige Themen zu informieren. 4. Approbationsordnung für Ärzte Der Antrag von Dr. Schagen, Dr. Rühmkorf und Frau Schlang (Drucksache V-60) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen: Der 106. Deutsche Ärztetag begrüßt den Diskussionsprozess, der an den Universitäten in Gang gekommen ist und der zu einer Verbesserung der medizinischen Ausbildung führen kann. Er weist jedoch erneut darauf hin, dass die neue Approbationsordnung den Anforderungen an eine grundlegende Reform des Medizinstudiums nicht gerecht wird und fordert die politisch Verantwortlichen auf, sich um eine grundsätzliche Reform des Medizinstudiums im Sinne des Murrhardter Kreises zu bemühen. Darüber hinaus nimmt der 106. Deutsche Ärztetag mit Sorge zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die neue Approbationsordnung bezüglich des 2. Teils der Ärztlichen Prüfung nicht nachgebessert hat, obwohl sie in einem Entschliessungsantrag des Bundesrates vom 26.4.2002 dazu aufgefordert wurde. Der Vorstand der Bundesärztekammer wird daher aufgefordert, sich für eine Verlegung des schriftlichen Teils des 2. Teils der Ärztlichen Prüfung vor das Praktische Jahr einzusetzen. TOP V Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer Ethische Fragen ärztlichen Handelns 1. Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten an Folter Auf Antrag von Frau Schlang (Drucksache V-30) fasst der 106. Deutsche Ärztetag folgende Entschließung: Aus aktuellem Anlass weist der 106. Deutsche Ärztetag noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass Ärztinnen und Ärzten unter keinen Umständen bei Folterungen oder anderen grausamen, unmenschlichen und entwürdigenden Handlungen Hilfestellung leisten, sich daran beteiligen oder diese zulassen dürfen. Das ärztliche Ethos fordert von Ärztinnen und Ärzten, versuchte Folter – durch wen auch immer – zu verhindern, zu erkennen und anzuzeigen. 2. Zwangsrückführung von Flüchtlingen Der Antrag von Frau Schlang (Drucksache V-27) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen: Der 106. Deutsche Ärztetag fordert den Vorstand der Bundesärztekammer auf, zu prüfen, welche rechtlichen Schritte gegen den Betreiber der In-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Deutscher Ärztetag 2003

ternetseite www.notarzt-boerse.de 107. Deutschen Ärztetag soll dieses Angebot nicht nur den Delegierten, unternommen werden können. sondern auch den Teilnehmerinnen Begründung: und Teilnehmern sowie den Gästen zur Auf der o.g. Internetseite werden ärztVerfügung stehen. Die Kinderbetreuliche Flugbegleiter für die Zwangsrückung wird mit der Einladung zu den führung von Flüchtlingen (der BetreiDeutschen Ärztetagen im Deutschen ber der Seite bezeichnet es als „ReÄrzteblatt angekündigt. patriierung“) bundesweit gesucht und auch gefunden. Nach einem Beschluss Begründung: des Deutschen Ärztetages in Cottbus Die aktive Beteiligung an der Standesverstößt dies gegen die Berufsord- politik soll auch jungen Ärztinnen und nung. Es sollte ein deutliches Zeichen Ärzten in der frühen Familienphase ergesetzt werden, um nicht die Berufs- möglicht werden. Das Angebot einer ordnung und die Beschlüsse der Deut- adäquaten Kinderbetreuung nimmt schen Ärztetage in der Öffentlichkeit somit ein mögliches Hemmnis für die als bedeutungslos erscheinen zu lassen. aktive Beteiligung. 3. Begutachtung der Flugreisetauglichkeit von Flüchtlingen Der Antrag von Frau Dr. Rothe-Kirchberger u.a. (Drucksache V-42) wird zur weiteren Beratung an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen: Zur Beurteilung der Flugreisetauglichkeit von psychotraumatisierten Flüchtlingen sollen ausschließlich unabhängige, qualifizierte Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie oder für Psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie mit Spezialisierung auf Psychotraumatologie eingesetzt werden.

Betrifft: Abbau hierarchischer Strukturen im Krankenhaus Beschlussantrag Von: C. Schlang als Delegierte der LÄK Hessen Der 106. Deutsche Ärztetag möge beschließen:

Der Vorstand der Bundesärztekammer erstellt jährliche krankenhausbezogene Berichte über den Stand des Abbaus hierarchischer Strukturen im Krankenhaus. Diese Berichte werden im Bericht des Vorstands der Bundesärztekammer auf den Deutschen Ärztetagen erläutert und in einem eigenen Begründung: Kapitel im Tätigkeitsbericht der BunDie Bundesinnenministerkonferenz desärztekammer behandelt. hat am 6.12.2002 beschlossen, die Begutachtung von Flüchtlingen einschließ- Begründung: lich derer mit psychoreaktiven Trauma- Auf dem 105. Deutschen Ärztetag in folgen einzuschränken auf die Flugrei- Rostock wurden Anträge verabschiesetauglichkeit als inlandsbezogenes det, die den Abbau hierarchischer Vollzugshindernis. Die Flugreisetaug- Führungsstrukturen in Krankenhäulichkeit ist als isoliertes Beurteilungs- sern vorsehen (siehe Anträge 1–10, 1– kriterium im Sinne eines Abschiebehin- 40). Um den Fortgang der umfangreidernisses für traumatisierte Flüchtlin- chen Bemühungen auf diesem wichtige nicht ausreichend. Die erhebliche gen Feld im Blickfeld zu behalten, ist es Retraumatisierung durch die Andro- erforderlich, die sicherlich erfolgreiche hung einer gewaltsamen Rückführung Umsetzung dieser Beschlüsse kontinuder Betroffenen und schweren Folgen ierlich zu begleiten. Zur Steigerung der auf den Verlauf der Erkrankung wer- Attraktivität des Arztberufs ist der Abden dabei ignoriert. bau hierarchischer Strukturen ein wichDas ist wissenschaftlich und ethisch tiges Element, dass neben den allgemeinicht verantwortbar. Der Beschluss der nen Bedingungen im Arztberuf von nicht Innenministerkonferenz wird derzeit zu unterschätzender Bedeutung ist. durch Erlasse der Bundesländer umgeNichtbefassung setzt. Die Gutachter, die dazu eingesetzt werden, müssen ausreichend Betrifft: Aufwertung ärztlicher qualifiziert sein, um die Gefährdung Fort- und Weiterbildung der psychischen Gesundheit der Flüchtlinge kompetent abzuklären. Entschließungsantrag Kinderbetreuung Auf Antrag von Dr. Pickerodt (Drucksache V-15) beschließt der 106. Deutsche Ärztetag: Der 106. Deutsche Ärztetag begrüßt, dass auf dem diesjährigen Deutschen Ärztetag erstmals eine Kinderbetreuung für Kinder ab einem Alter von drei Jahren eingerichtet wurde. Ab dem

85 zeit stattfinden oder aber durch Freizeitausgleich abgegolten werden. Für Fortbildungsveranstaltungen muß der Arbeitgeber die ärztlichen Angestellten fünf Arbeitstage pro Jahr freistellen (entspricht etwa drei Prozent der Arbeitszeit). Pflichtveranstaltungen im Sinne der Weiterbildungsordnungen sind über die Kammerbeiträge von der Gesamtärzteschaft zu finanzieren. Damit wird erreicht, dass die finanziell sehr unterschiedliche Belastung der einzelnen Facharztweiterbildungen nicht die oder der einzelne trägt und damit der Sinn einzelner Veranstaltungen und die Höhe der Kosten hinterfragt wird. Darüber hinaus sollte kontinuierliche Fortbildung nicht nur für Niedergelassene verbindlich eingeführt werden. An den Kosten der Fortbildung sollte im Gegensatz zur Weiterbildung und wie in anderen Berufsgruppen üblich der Arbeitgeber beteiligt werden. Für jede Fortbildungsveranstaltung gibt es eine bestimmte Anzahl von Punkten. Der Preis der Fortbildungsveranstaltung orientiert sich an der Punktzahl. Jede Ärztin/jeder Arzt muß jährlich eine bestimmte Punktzahl vorweisen und der Arbeitgeber ist verpflichtet, zertifizierte Fortbildungsveranstaltungen bis zum Erreichen der vorgeschriebenen Mindestpunktzahl zu erstatten (unabhängig davon, ob die Maßnahme seiner Meinung nach sinnvoll ist oder nicht). Bei Nichterfüllen der Fortbildungspflicht drohen für beide Seiten Sanktionen. abgelehnt

Betrifft: IGEL-Leistungen Beschlussantrag Von: C. Schlang als Delegierte der LÄK Hessen Der 106. Deutsche Ärztetag möge beschließen:

Der 106. Deutsche Ärztetag fordert den Vorstand der Bundesärztekammer auf, die medizinische Notwendigkeit der Individuellen Gesundheitsleistungen (IGEL-Leistungen) intensiv zu prüfen. Patienten, deren Verbänden und den Verbraucherschutzorganisationen stehen Informationen zur Verfügung, die die mangelnde mediziVon: Frau Schlang nische Notwendigkeit der IGEL-LeisDer Deutsche Ärztetag möge folgentungen untermauern. de Entschließung fassen: Begründung: Der 106. Deutsche Ärztetag setzt sich Die medizinisch notwendigen Leistunfür eine Aufwertung ärztlicher Fort- gen werden durch den Leistungskataund Weiterbildung ein. Damit sind follog der gesetzlichen Krankenversichegende Forderungen verbunden: rung nach wie vor abgedeckt. Die sogeWeiterbildungsveranstaltungen müsnannten IGEL-Leistungen bringen den sen entweder innerhalb der Arbeits- ärztlichen Beruf bei den Patientinnen

86 und Patienten in ein fragwürdiges Licht. Dem Grunde nach ist es in keiner Weise zu verstehen, dass Anbieter von IGEL-Leistungen nicht zumindest hinsichtlich dieser Einnahmen der Gewerbesteuer unterliegen. Das Anbieten von IGEL-Leistungen widerspricht somit dem Inhalt der Bundesärzteordnung, die festlegt, dass der ärztliche Beruf kein Gewerbe ist. Nichtbefasst Betrifft: Kinderbetreuung bei Fortbildungsveranstaltungen Beschlussantrag Von: Dr. Pickerodt Der 106. Deutsche Ärztetag möge beschließen: Der 106. Deutsche Ärztetag beauftragt den Vorstand der Bundesärztekammer, eine jährliche Erhebung darüber durchzuführen, in welchem Umfang bei Veranstaltungen der ärztlichen Weiterbildung eine Kinderbetreuung angeboten wird. Der Bericht ist jeweils als Bestandteil des Berichts des Vorstands der Bundesärztekammer angemessen zu berücksichtigen und wird im Rahmen des Tätigkeitsberichts der Bundesärztekammer veröffentlicht. Begründung: Der 105. Deutsche Ärztetag hat beschlossen, dass im Rahmen ärztlicher Weiterbildungsmaßnahmen Kinderbe-

106. Deutscher Ärztetag in Köln

Deutscher Ärztetag 2003 treuungsmöglichkeiten anzubieten sind. Dem Beschluss wird nur selten entsprochen, so dass ein nachdrückliches Beharren auf die Umsetzung erforderlich ist. Dies wird durch regelmäßige Berichte unterstrichen. abgelehnt

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 die Deutsche Ärzteschaft hier inhaltliche Eckpfeiler in den Boden treibt und die Handlungsfähigkeit auf diesem Gebiet zurückgewinnt. Andernfalls wird diese Form der Qualitätssicherung vom Staat auf anderem Wege realisiert.

Nichtbefasst Betrifft: Qualitätsoffensive der Betrifft: Studierende auf Deutschen Ärzteschaft Ärztetagen Beschlussantrag Entschließungsantrag Von: C. Schlang als Delegierte der LÄK Von: Christiane Schlang als Delegierte Hessen der LÄK Hessen Der 106. Deutsche Ärztetag möge beDer Deutsche Ärztetag möge folgenschließen: de Entschließung fassen: Der 106. Deutsche Ärztetag fordert die Landesärztekammern auf, eine Der 106. Deutsche Ärztetag fordert Qualitätsoffensive zu beginnen. Ziel den Vorstand der Bundesärztekamdieser Qualitätsoffensive muss es sein, mer auf, dem 107. Deutschen ÄrztePatientinnen und Patienten in ver- tag folgende Änderung der Geschäftsständlicher Form Informationen über ordnung vorzuschlagen: die Ergebnisqualität der einzelnen §3: Zutritt zu den Sitzungen des Deutärztlichen Leistungserbringer zur Verschen Ärztetages haben alle deutfügung zu stellen. schen Ärztinnen, Ärzte und Studierende der Medizin und die vom Vorstand Begründung: Lange genug hat unter dem Deckman- der Bundesärztekammer geladenen tel des Datenschutzes der Leistungser- Personen. Zum Wort berechtigt sind bringerschutz echte Transparenz im die Abgeordneten, die Mitglieder des Gesundheitswesen verhindert. Dies Vorstandes und der Geschäftsführung hat dazu geführt, dass Debatten um sowie die gewählten studentischen einen Ärzte-TÜV oder staatliche Qua- Vertreterinnen und Vertreter. litätsinstitute bei Patienten, ihren VerBegründung: mündlich bänden und den Verbraucherschutzorganisationen auf fruchtbaren Boden abgelehnt gefallen sind. Es ist höchste Zeit, dass

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Patientenrechte

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Erfahrungen mit Patientenfürsprechern aus der Sicht eines Arztes Dr. Gerhard Schwarzkopf-Steinhauser, Vorstandmitglied im Gesundheitsladen und im VDÄÄ Für Ärzte, die sich gemeinhin als die besten Vertreter der Patienten verstehen, erscheint die Einrichtung eines Patientenfürsprechers erst mal als überflüssig und nicht notwendig. Die offiziellen Vertretung der Deutschen Ärzteschaft hält die Rechte der Patienten in Deutschland bestens geregelt und sieht keinen Handlungsbedarf für eine weitere Stärkung der Patientenrechte, insbesondere die immer wieder erhobene Forderung nach einem Patientenschutzgesetz. So klingt es, wenn auf einem Deutschen Ärztetag der Präsident der Bundesärztekammer zu diesem Thema Position bezieht. Die Einrichtung von Patientenfürsprechern in München habe ich noch in guter Erinnerung. Ich war zu dieser Zeit Personalratsvorsitzender im Krankenhaus München-Harlaching. Ich kann mich noch gut erinnern, welche Vorbehalte es von Seiten der Personalräte gab. Die meisten Personalräte hielten die Bestellung von Patientenfürsprechern für überflüssig. Im Wesentlichen war dies aus Angst und auch aus Unkenntnis zu erklären. Warum war das so? • Ein Teil der Beschäftigten im Gesundheitswesen gehen nach für von einem paternalistischen Patientenverständnis aus und erleben selbstbewusste Patienten eher als eine Bedrohung in ihrer täglichen Arbeit. • Durch die Einrichtung von Patientenfürsprechern besteht die Angst, dass man sich noch häufiger mit der Unzufriedenheit von einzelnen Patienten auseinandersetzen muss. In der Vorstellung vieler Beschäftigter wird erwartet, dass durch die Anwesenheit von Patientenfürsprechern Patienten sich eher trauen, ihre Probleme zu artikulieren. • Im Wesentlichen erleben die Beschäftigten im Krankenhaus, dass Patienten sich schriftlich, nach Entlassung aus dem Krankenhaus, beim Krankenhausträger oder der KHL beschweren. Dann werden diese Beschwerden den jeweiligen Abteilungen zugeleitet mit der Bitte um schriftliche Stellungnahmen. Bei dieser Form von Beschwerden können sich die betroffenen Mitarbeiter häufig gar nicht mehr an die Patienten erinnern. Bei der Beantwortung derartiger Beschwerden begeben sich die meisten Beschäftigten in eine Verteidigungsposition. Ich bin der Überzeugung, dass sich in den meisten Fällen die Patienten an die Patientenfürsprecher wenden sollte, um entstandene Probleme unmittelbar zu lösen. Außerdem besteht bei dieser Form der Beschwerden die Angst vor Repressionen durch die Vorgesetzten, was in Einzelfällen, insbesondere bei wieder-

holten Beschwerden, auch schon vorgekommen ist und teilweise auch berechtigt war. • Es herrscht Unklarheit unter den Beschäftigten darüber, welche Aufgaben und Rechte die Patientenfürsprecher haben. Wie habe ich seit der Bestellung der Patientenfürsprecher diese in der Klinik wahrgenommen? • Auf Grund der Beteiligung als Personalrat, meiner positiven Grundeinstellung gegenüber Patientenrechten, was sich an meiner Mitgliedschaft im Vorstand des Gesundheitsladens zeigt, bin ich sicher nicht repräsentativ für die Erwartungen eines Arztes bzw. die gemachten Erfahrungen. • Nach wie vor ist vielen Beschäftigten im Krankenhaus nicht bekannt, dass es die Patientenfürsprecher gibt. Ich würde mir daher wünschen, dass mehr Information für die Beschäftigten vonseiten der Patientenvertreter fließt und der Bekanntheitsgrad der Patientenfürsprecher in der Klinik vergrößert wird. Mein Vorschlag wäre, dass mindestens ein Mal im Jahr, im Rahmen einer Personalversammlung oder im Rahmen der Krankenhauskonferenz die Patientenfürsprecher die Möglichkeit bekommen, über ihre Erfahrungen bzw. Probleme zu berichten. Dies könnte dazu beitragen, dass sie mehr ins Bewusstsein rücken und zum festen Bestandteil eines Beschwerdemanagements in der Klinik werden könnten. • Die Motivation der Beschäftigten in den Krankenhäusern ist in den letzten Jahren auf Grund des ökonomischen Drucks und der hohen Arbeitsbelastung eher geringer geworden. Wie das im Zeitalter der DRGs sich entwickeln wird , wo für die Beschäftigten der Anteil an Verwaltungsaufgaben noch größer werden wird, ist noch nicht abzusehen. Aus meiner Sicht ist zu erwarten, dass durch die Verkürzung der Liegezeiten ein erhebliches Konfliktpotential entstehen wird.

• Mit dem Begriff Patienten als Kunden haben die meisten nach wie vor erhebliche Probleme. Eine der häufigsten Beschwerden bei Umfragen zur Patientenzufriedenheit ist, dass Patienten nicht ausreichend über ihre Erkrankung aufgeklärt werden. Dies liegt einmal darin, dass Ärzte sich nicht ausreichend Zeit dafür nehmen oder sich des Problems nicht bewusst sind. • Sehr positiv habe ich erfahren, dass ich in den letzten Jahren schon zweimal in die Runde der Patientenfürsprecher der vier städtischen Krankenhäuser eingeladen wurde, um über meinen Aufgabenbereich der Krankenhaushygiene und die damit verbundenen Probleme zu berichten. Ich halte solche Einladungen für ausgesprochen förderlich für die gegenseitige Akzeptanz. • Persönlich hatte ich noch keine Erfahrungen damit, dass ich auf Grund von Konfliktsituationen in meinem Arbeitsbereich Kontakt mit den Patientenfürsprechern hatte. • Von Kolleginnen und Kollegen wurde mir schon mehrfach berichtet, dass sie in Konfliktsituationen Patienten zu den Patientenfürsprechern geschickt haben mit dem Ziel, sich zu beschweren. In solchen Fällen wird versucht, Zustände, die der Beschäftigte nicht zu verantworten hat und somit auch nicht lösen kann, an die entsprechende Stelle zu leiten in der Hoffnung, dass auf diesem Weg bekannte Missstände beseitigt werden. Was erwarte ich mir von den Patientenfürsprechern in der Zukunft? • Die jährlichen Jahresberichte der Patientenfürsprecher sollten in geeigneter Form den Beschäftigten zugänglich gemacht werden. Es müsste für alle Beschäftigten klar werden, dass Patientenfürsprecher dazu beitragen können, wiederkehrende Probleme im Krankenhausalltag abzustellen. • Dass sie von den Beschäftigten bei eingetretenen Konfliktsituationen zugezogen werden können, um zu

88 vermitteln und, soweit möglich, die Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen. • Dass Patientenfürsprecher Bestandteil eines Beschwerdemanagements werden und somit dazu beitragen, dass Beschwerden und Ansprüche von Patienten wirksamer, schneller und vor allem unbürokratischer geltend gemacht werden können. Zum Schluss möchte ich feststellen, dass ich die Einrichtung der Patientenfürsprecher als positiv sehe. Ich würde

Patientenrechte mir wünschen, dass ihr Bekanntheitsgrad innerhalb der Klinik bei den Beschäftigten verbessert wird, dass sie ein fester Bestandteil eines Beschwerdemanagements werden und die Erfahrungen durch geeignete Veröffentlichen den Beschäftigten zugänglich gemacht wird. Eine hohe Zufriedenheit der Patienten wird in der Zukunft, wo die Krankenhäuser in eine noch stärkere Konkurrenz treten, von noch größerer Bedeutung sein als jetzt.

Gutachteraufruf Bei einem Gespräch im Rahmen der Vorstandssitzung des VDÄÄ mit den Notgemeinschaft der Medizingeschädigten ist nochmals sehr deutlich geworden, dass bei V.a. auf einen Behandlungsfehler für die Betroffenen, die sich an die Notgemeinschaften wenden, häufig nicht zu beurteilen ist, ob die Verfolgung eines Behandlungsfehlers überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Gesucht werden daher Kolleginnen und Kollegen, die auf Anfrage der Notgemeinschaften für Medizingeschädigte in ihrem Fachgebiet bereit sind, als neutrale Vorgutachter beim Verdacht auf Behandlungsfehler tätig zu werden. Es wird erwartet, dass Krankenunterlagen gegen ein entsprechen-

des Entgelt gesichtet werden und kurz dazu Stellung genommen wird, ob überhaupt ein V.a. einen Behandlungsfehler vorliegt. Bitte melden Sie sich beim VDÄÄ in der Geschäftsstelle. Die Listen werden vom VDÄÄ und den Notgemeinschaften vertraulich behandelt und nicht nach außen gegeben.

Ich bin bereit, als Gutachter in diesem Sinne tätig zu werden: Name:____________________________________ Vorname:_________________________________ Straße: ____________________________________ PLZ/Ort:___________________________________ Email:_____________________________________ Fachrichtung:________________________________

Bitte senden an:

Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte – VDÄÄ Wielandstraße 10 60318 Frankfurt

Fax: 0 69-707 39 67

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Patientenrechte

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Aufgaben eines Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Patientinnen und Patienten Gemeinsames Kommuniqué von Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V.; Bundesarbeitsgemeinschaft und Bundesverband der Notgemeinschaften Medizingeschädigter e.V.; Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen, Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.; Sozialverband Deutschland e.V. Sozialverband VdK Deutschland e.V.; Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. zeichnungen mit der Krankenakte Die unterzeichnenden Organisationen als Dokumentenbeweis u.s.w.). begrüßen die im Koalitionsvertrag getroffene Festlegung, eine/n Beauftrag- • Aufbau einer systematischen Erfassung und zentralen Auswertung von te/n für die Belange von Patientinnen Arzneimittelschäden und Behandund Patienten bei der Bundesregierung lungsfehlern (Medizinschadensregiseinzurichten, um die Situation von Pater) auf der Grundlage der von Ärzten tientinnen und Patienten in Deutschland und Patienten gemeldeten Fälle. weiter zu verbessern und zu einem Paradigmenwechsel im Gesundheitswe- • Aufbau von unabhängigen und neutralen Schiedsstellen für Konflikte sen entlang dem Leitsatz „Patientinim Gesundheitswesen. In der Struknen und Patienten im Mittelpunkt“ aktur dieser Schiedsstellen müssen die tiv beizutragen. Dabei sollen auch GenInteressen von Patientinnen und Paderaspekte berücksichtigt werden. Wir tienten verankert sein. sind uns im Hinblick auf Position und Aufgaben des/der Beauftragten in fol- • Überwindung der Schnittstellenproblematik zwischen SGB V und SGB XI. genden Punkten einig: 2. Beteiligung von PatientenverbänI Mandat, Ansiedlung und Umfeld den und -organisationen des/der Patientenbeauftragten Konkret bedeutet das u.a.: 1. Der/die Beauftragte nimmt die Be• Unterstützung bei der Beteiligung lange von Patientinnen und Patiender relevanten Organisationen in ten innerhalb der Bundesregierung allen patientenrelevanten Gesetzwahr. Er/sie hat kein Mandat, für die gebungs- und VerordnungsvorhaPatientinnen und Patienten in ben. Der/die Patientenbeauftragte Deutschland zu sprechen, sondern soll nicht stellvertretend für Patienist der Regierung und dem Parlaten in Gremien agieren, sondern ment verantwortlich. Patientinnen und Patienten den 2. Der/die Beauftragte soll im Bundespolitischen Raum öffnen, um ihre ministerium für Gesundheit und SoInteressen selber zu vertreten. ziale Sicherung angesiedelt sein, um • Schaffung einer geeigneten Plattsich dort, aber auch ressortübergreiform für die Artikulation der unterfend für die Belange von Patientschiedlichen Patientengruppen und innen und Patienten einzusetzen. -interessen, u.a. zu folgenden Inhal3. Der/die Beauftragte kann und soll in ten und fachlichen Themen: seiner/ihrer Arbeit auf ein fachliches – Elektronische Gesundheitskarte, und politisches Umfeld zurückgrei– Hausarztmodelle in der ambufen, in dem die verschiedenen Gruplanten Versorgung, pen und Interessen von Patientin– Integrierte Versorgungssysteme, nen und Patienten repräsentiert – Strukturierte Behandlungsprosind. Die unterzeichnenden Organigramme (DMP) sationen, die ein breites Spektrum – Stärkung von laienorientierten von Patienteninteressen widerspieHilfenetzen, geln, sind zur Mitwirkung bereit. – Verbesserung der Selbsthilfeförderung nach den §§ 20, 4 SGB V II Aufgaben und Kompetenzen und 29 SGB IX, des/der Patientenbeauftragten – Sozialversicherung (Bonussystem, 1. Verbesserung der rechtlichen PositiÜberarbeitung des Leistungson der Patientinnen und Patienten kataloges), Konkret bedeutet das u.a.: – Leistungsangebot (IGEL-Leistungen, • Die transparente rechtliche Kodifi– Über-Unter-Fehl-Versorgung, Pazierung und inhaltliche Weiterenttientenquittung), wicklung der individuellen Patien– Prävention und Gesundheitsförtenrechte, inklusive des Rechts auf derung. informationelle Selbstbestimmung, durch die Schaffung eines Patien- 3. Verbesserung der Transparenz im Gesundheitswesen für Bürger, Vertenrechtegesetzes, in dem auch die sicherte und Patienten Konkret bePosition von Patientinnen und Patiendeutet dies u.a.: ten vor Gericht gestärkt wird (z.B. durch Beweiserleichterungen bei • Informationen über gesundheitliche Angebote, deren Inanspruchnahme Behandlungsfehlern, Mitwirkungsund Qualität z.B. durch Unterstütrecht bei der Bestimmung eines neuzung bei der Schaffung und Weitertralen gerichtlichen Gutachters, entwicklung anbieterunabhängiger Gleichstellung der Patientenauf-

Informationsübersichten und Beratungsangebote. • Veröffentlichungen und Nutzbarmachung von Studienergebnissen zu gesundheitsrelevanten Fragen. • Transparenz über Kosten im Gesundheitswesen (Leistungsgeschehen, Verwaltungskosten, Forschungsausgaben usw.). • Offenlegung von Diskussionen und Entscheidungen des Bundesausschusses und anderer für den Leistungskatalog relevanten Gremien. 4. Anwaltschaft für Patientenbelange in der Bundesregierung und -verwaltung Konkret bedeutet das u.a.: • Kommunikation und Wahrnehmung der Patientenbelange innerhalb des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung und zwischen den Ministerien auf Bundes- und Landesebene. Der/die Beauftragte soll ressortübergreifende Kompetenzen erhalten, wie beispielsweise Initiativrechte oder bei der Evaluation von bestehenden Normen (Gesetze, Verordnungen) und Verfahren (z.B. Ausführungsvorschriften). • Aufgreifen individueller, aber vor allem für Patientengruppen oder Patienten insgesamt relevanter Probleme und Beschwerden und Kommunikation der Problemlagen und produktiver Lösungsansätze in die Gesellschaft hinein durch einen regelmäßigen Patientenbericht. 5. Anstoßen weiterer und Vernetzen vorhandener Modellprojekte für Patienten Konkret bedeutet das u.a.: • Projekte und Studien initiieren, die auf Bundesebene modellhafte Verbesserungen für die Situation von Patientinnen und Patienten anstoßen und erproben. • Über laufende Projekte informieren und ihre Vernetzung fördern, z.B.: – Patientenberatung etwa nach § 65 b SGB V. – Patientenberatung nach § 7 Pflegeversicherungsgesetz. – Klinisches Benchmarking in der Patientenversorgung. – Initiative für mehr Transparenzinformationen im Gesundheitswesen. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, die relevanten Organisationen, die auf Bundesebene Patienteninteressen wahrnehmen, an der Gestaltung dieses neuen Amtes schon im Vorfeld der Einrichtung zu beteiligen und bieten hiermit unsere weitere Mitarbeit an.

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Patientenrechte

FAZ 10.4.2003

Patienten in der Profitfalle? Amerikas Klinik-Eklat: Wenn Gewinnstreben die Sterberate erhöht Auf Gewinn ausgerichtete Kliniken scheinen ihre Patienten weniger gut zu versorgen als solche, die keine Aktionäre oder Investoren zufrieden stellen müssen. In den Vereinigten Staaten ist die Sterblichkeit der an profitorientierten Hospitälern behandelten Kranken jedenfalls vergleichsweise höher. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam um den kanadischen Internisten P. J. Devereaux von der McMaster-Universität in Hamilton/Ontario nach Auswertung der wichtigsten einschlägigen Studien. Eingegangen sind darin die Daten von 38 Millionen Männern und Frauen, die in den achtziger und neunziger Jahren an einem von insgesamt 26 000 amerikanischen Hospitälern stationär behandelt wurden („Canadian Medical Association Journal“, Bd. 166, S. 1399). Vergleichbar schlechte Noten erteilte die kanadisch-amerikanische Arbeitsgruppe auch den ebenso auf Aktienwert bedachten amerikanischen Dialysezentren. Wie die Ärzte im „Journal“ der Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft erläutern („Jama“, Bd. 288, S. 2449), wiesen die hier versorgten Nierenkranken eine um fast zehn Prozent geringere Lebenserwartung auf als jene, die an einer gewöhnlichen Einrichtung dialysiert wurden. Deveraux und Kollegen halten es für denkbar, dass die Wahrheit sogar noch düsterer aussieht. Da profitorientierte Kliniken in aller Regel die weniger schweren Erkrankungsfälle behandeln, sollten sie, was die Mortalität der Patienten betrifft, eigentlich besser abschneiden als die anderen Krankenhäuser. In den von ihnen analysierten Studien sei dieser Tatsache jedoch nicht immer in gebührendem Maß Rechnung getragen worden. Wie in den Vereinigten Staaten und in Kanada lässt sich auch bei uns ein Trend in Richtung Privatklinik verzeichnen. Gab es im Jahr 1997 hierzulande noch rund 380 Krankenhäuser in privater Trägerschaft, waren es drei Jahre später bereits knapp 450. Im selben Zeitraum ging die Zahl der öffentlichrechtlichen Hospitäer von rund 820 auf etwas über 740 zurück; einige Zentren mussten ihre Türen ganz schließen, andere wurden von Aktiengesellschaften oder Investoren übernommen. Hält diese Entwicklung weiter an, dürfte der Anteil an privaten Kliniken jenen der öffentlich-rechtlichen Träger bald übersteigen.

Devereaux und seine Kollegen bemängeln, dass bei der Diskussion um eine maximale Wirtschaftlichkeit der Hospitäler das Wohl des Patienten vielfach außer acht gelassen wird. Durchaus nachvollziehbar ist dabei, dass der auf den privaten Trägern lastende große finanzielle Druck der Krankenversorgung zum Nachteil gereiche. Das schlechtere Ergebnis der profitorientierten Krankenhäuser dürfte den Autoren zufolge in erster Linie auf einen Mangel an qualifiziertem Personal zurückgehen. Wie sie schreiben, verfügten solche Kliniken im Durchschnitt über deutlich weniger ausgebildete Fachkräfte als die anderen Zentren. Die Sterblichkeit der Patienten hängt aber unter anderem davon ab, wie viele erfahrene Krankenschwestern und Ärzte sich um den einzelnen kümmern. Hinweise auf einen solchen Zusammenhang lieferte unlängst eine umfassende amerikanische Erhebung, an der sich rund 3800 amerikanische Krankenhäuser beteiligten.

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VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Das Risiko tödlicher Komplikationen erwies sich dabei als umso größer, je weniger Ärzte und diplomierte Krankenschwestern pro Krankenbett zur Verfügung standen. Vergleichbar schädliche Auswirkungen hätte ein administrativer „Wasserkopf“: Die Sterblichkeit der Patienten erhöhte sich in dem Maße, wie die Klinikverwaltung ihr Personal aufstockte („Pharmacotherapy“, Bd. 19, S. 130). Michael Hartmann vom Gesundheitsökonomischen Zentrum in Thüringen erklärte dieses Phänomen mit den hohen Kosten für einen ausufernden Verwaltungsapparat. Inwieweit aber sind die in den Vereinigten Staaten gemachten Beobachtungen bei Privatkliniken auf Deutschland übertragbar? Hartmann hält das für durchaus möglich, zumal die hiesigen Rahmenbedingungen durchaus vergleichbar sind. Auch bei uns können Krankenhäuser am ehesten Gewinne erwirtschaften, wenn sie beim Personal sparen. Der Abbau von Arbeitsplätzen betrifft freilich nicht nur die privaten Träger. Angesichts der misslichen Lage des Gesundheitssystems müssen auch die anderen Hospitäler zunehmend Stellen streichen. Wie die Deutsche Krankenhausgesellschaften unlängst in einer Pressemitteilung monierte, sollen in diesem Jahr mehr als 27 000 Klinikarbeitsplätze abgebaut werden. Nicoal von Lutterotti

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Patientenrechte

Patienteninitiativen kämpfen für Pharmainteressen Patienten-Selbsthilfegruppen und Fachgesellschaften wollen die Einführung der Positivliste verhindern Das Bundesgesundheitsministerium beabsichtigt, im Sommer eine „Positivliste“ gesetzlich zu verankern. In der Liste sollen alle Medikamente erfasst werden, deren medizinischer Nutzen eindeutig erwiesen ist. Nur die Medikamente, die sich in kontrollierten Studien als wirksam erwiesen haben, werden in die Liste aufgenommen. Auf diese Weise sollen viele zweifelhafte Präparate vom deutschen Markt verschwinden und die Zahl von über 40 000 verschiedenen Präparaten deutlich reduziert werden. Für die Ärzte bestünde dann endlich Klarheit darüber, welche der vielen Mittel wirklich dem Patienten und nicht nur dem Pharmaunternehmen dienen. Schon dreimal gab es einen Versuch, eine Positivliste einzuführen. In Berlin ging 1995 der ehemalige Ärztekammerpräsident Ellis Huber in die Offensive, als er eine erste Positivliste veröffentlichte. Gesundheitsminister Horst Seehofer scheiterte ebenso wie seine Nachfolgerin Andrea Fischer mit ihren Gesetzentwürfen zur Positivliste. Alle bisherigen Versuche hat die Pharmaindustrie durch geschickte Lobbyarbeit zum Erliegen bringen können. Ihre Beziehungen zu den Parteien, den Gewerkschaften, den Ärzten und Apothekern funktionieren. Aber die Pharmaproduzenten haben nun erkannt, dass sie sich auch um ihre Konsumenten kümmern müssen. So werden mit Patientengruppen und Fachgesellschaften unverdächtige Unterstützer aufgebaut. Der so „informierte“ markentreue Patient wird sich dafür einsetzen, auch weiterhin „sein“ Medikament zu erhalten, auch wenn der therapeutische Nutzen zweifelhaft ist. Insbesondere in Organisationen der chronisch Kranken lohnt sich der Einsatz. Durch die jahre- und jahrzehntelange Behandlung der chronisch Kranken können hier langfristige Gewinne erzielt werden. Ein Beispiel dafür ist die Osteoporose (Knochenschwund). Die „Deutsche Gesellschaft für Osteologie e.V.“ und das „Kuratorium Knochengesundheit“ forderten auf einer pharmagesponserten Veranstaltung in dieser Woche, die geplante Einschränkung der Verordnungen für Osteoporose zurückzunehmen. Nach Ansicht des Präsidenten der „Deutsche Gesellschaft für Osteologie“, Prof. Dr. Elmar Keck, sollte die medikamentöse Osteoporose-Prophylaxe schon im Frühstadium beginnen. Die Kosten für einen Osteoporosepatienten können bis zu 600 Euro im Jahr betragen. Das ergäbe bei sechs Millionen Betroffenen über 3,5 Milliarden Euro Osteoporose-Behandlungskosten pro Jahr. Ein riesiger Absatzmarkt. Die Osteoporose ist eine der chro-

nischen Erkrankungen, die bei vier bis sechs Millionen Deutschen vorkommt. Bei dieser Krankheit baut sich das Knochengewebe zunehmend ab, so dass es zu Wirbel- und Oberschenkelbrüchen kommen kann. Allerdings ist ein gewisser Abbau von Knochenmasse mit zunehmenden Alter normal. Die Arzneikommission der deutschen Ärzteschaft hat in diesem Frühjahr erstmalig eine Behandlungsleitlinie zur Osteoporose verabschiedet, die den Therapievorschlägen von Prof. Keck widerspricht. Im Vordergrund steht dabei das Vormeiden der Krankheit. Dies lässt sich durch eine ausgewogene Ernährung (ausreichende Kalzium- und Vitamin D-Zufuhr), regelmäßige körperliche Aktivität und das Vermeiden von exzessivem Nikotinund Alkoholkonsum erreichen. Erst

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91 wenn diese individuellen Möglichkeiten ausgeschöpft sind oder osteoporosebedingte Beschwerden auftauchen, steht eine medikamentöse Behandlung an. Bestimmte Osteoporose-Mittel können nur noch für schwere Fälle verordnet werden. Dann helfen die spezifischen Mittel, einen weiteren Knochenabbau und Knochenbrüche zu vermeiden. Dieser Leitlinie der Ärzteschaft schließt sich die Positivliste an. Im Vorfeld haben die meisten Medikamente keinen Nachweis erbracht, dass durch die Einnahme wirklich weniger Knochenbrüche passieren, lediglich die Knochendichte, das Ausmaß der Stabilität, wurde insgesamt erhöht. Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission, Prof. Dr. Bruno MüllerOerlinghausen, warnte deshalb: „Osteoporose-Therapie ist ein schwieriges Gebiet, das durch die massive Herstellerinteressen und einem expandierenden Gesundheitsmarkt charakterisiert ist.“ Eine Positivliste kann dagegen helfen. Daniel Rühmkorf

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Frauengesundheit

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Erfundene Krankheiten

Das Lehrstück Wechseljahre Von Norbert Schmacke1 Am 8. Mai 2003 wird die gedruckte Ausgabe des traditionsreichen New England Journal of Medicine2 dem Einsatz weiblicher Hormone für Millionen von Frauen in und nach den Wechseljahren eine weitere, entscheidende Hürde entgegenstellen. Die weltweit größte und methodisch hochwertige Studie zu dieser Gesamtthematik, die Women´s Health Initiative, hat jetzt gezeigt, dass es keinen Nachweis für den immer wieder behaupteten Effekt der Langzeiteinnahme von Hormonen auf die Lebensqualität einschließlich depressiver Verstimmungen von Frauen gibt, auch nicht bei den (jüngeren) Frauen mit Hitzewallungen, die auch an der WHIStudie teilnahmen. Im Juli 2002 wurde die Öffentlichkeit bereits über die vorzeitige Beendigung eines anderen, wesentlichen Teils dieser Studie informiert3. Die Hormone hatten nämlich nicht vor Herzinfarkten geschützt, wie gedacht, sondern deren Auftreten vermehrt, so wie insgesamt die SchadenNutzen-Bilanz als schlecht bezeichnet wurde: es wurden 20 zusätzliche gravierende Erkrankungen einschließlich Brustkrebs pro 10 000 behandelter Frauen ermittelt. Damit ist nunmehr ein ganzes Behandlungskonzept zusammengebrochen, das im Laufe von dreißig Jahre einen riesigen Markt erobern konnte, nämlich die Riesenschar gesunder Frauen in und nach den Wechseljahren. Die Auswirkungen der Studie reichen weiter. Um das zu verstehen, muss man die Geschichte der Hormonersatzbehandlung kennen. Die Idee des „Ersetzens“ von Hormonen verdankt sich dem Fortschritt der modernen Hormonwissenschaft (Endokrinologie), die zeigen konnte, dass ein Mangel an Schilddrüsenhormon oder an Insulin so hervorragend ersetzt werden kann, dass die Patienten im klinischen Sinn als geheilt betrachtet werden können, was vor allem bedeutet: ein normales Leben weiterführen. Etliche Wissenschaftler einschließlich vieler Frauenärzte schlussfolgerten daraus, dass man genau dieses Prinzip einsetzen muss, sobald es in den Wechseljahren der Frauen zu dem deutlichen Abfall der körpereigenen Bildung weiblicher Hormone kommt. Damit war die Menopause als behandlungsbedürftige Krankheit entdeckt. Aus der Frau in den Wechseljahren wurde die hormonbedürftige Kranke. Das mag polemisch klingen, aber es ist der Kern der Geschichte dieser medikamentösen Großoffensive. Der angesehene Hormonfor-

scher Greenblatt schrieb 1960: „Die Frau in der Menopause muss als physiologische Kastratin angesehen werden, und die Ersatzbehandlung sollte jeder Frau verordnet werden, die einen Hormonmangel aufweist“: Und selbst nach dem Zerplatzen dieses illusionären Konzeptes schrieb der Berufsverband der Frauenärzte (Landesverband Niedersachsen)4 noch im September 2002: „Wechseljahre sind eine Krankheit und nicht natürlich … Die Hormonersatztherapie des Östrogens und Progesterons ist direkt mit dem Einsatz des Hormons Insulin beim Diabetiker vergleichbar“. Die so plausible wie fatale Umdeutung der Menopause in eine Krankheit wurde von der Medizin immer weiter getrieben. Da es bei Frauen nach der Menopause zu einer Abnahme der Knochendichte kommt und da erst nach der Menopause bei Frauen in größerer Zahl Herzinfarkte auftreten, waren die beiden ersten „Indikationen“ für eine jahrzehntelange „Prävention“ gefunden: Vorbeugen von Knochenbrüchen und Herzinfarkten. Und die Indikationsliste wurde immer länger: Vermeidung von Altersdemenz und Depressionen, Erhalt einer jugendlichen Haut und Körperfigur, hohe Attraktivität – am Ende die kaum noch sublime Botschaft: Aufhalten des Alterungsprozesses. Der Jungbrunnen konnte jetzt vermeintlich mittels Medikamentenschachtel auf der Ablage des Badezimmer errichtet werden. Viele ärztliche Fachzeitschriften und die Berichte von Frauen bezeugen weiteres. Ärztinnen und Ärzte, die ihre Patientinnen nicht mit weiblichen Hormonen versorgten, setzten sich fortan immer deutlicher dem Vorwurf aus, einen Kunstfehler zu begehen. Das Verschreiben wurde zur Routine: einmal Hormonersatzbehandlung, immer Hormonersatzbehandlung. Und Patientinnen, die dieser Medizin skeptisch gegenüber standen, mussten sich verdeckte bis offene Vorwürfe anhören: Sie schaden Ihrer Gesundheit! Und wollen Sie Ihre Attraktivität aufs Spiel setzen? Nun bleibt von all den kühnen Versprechungen nur eines übrig: die WHIStudie spricht dafür, dass die Einnahme weiblicher Hormone bei Frauen mit stark ausgeprägten Hitzewallungen und Schlafstörungen in der Menopause größere Linderung bringt als Scheinpräparate, wobei auch der Placeboeffekt gleichwohl ausgesprochen groß ist. Deborah Grady5 kom-

mentiert die neue Studie im New England Journal denn auch wie folgt: Für Frauen, die stark belästigende Beschwerden in den Wechseljahren haben, sollten dringend neue, sichere Behandlungsmethoden erforscht werden. Die medizinischen Fachgesellschaften sind inzwischen still von ihren unhaltbaren therapeutischen Versprechen abgerückt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel prüft, welchen Einfluss die WHI-Studie auf die Zulassung von Hormonen in Deutschland haben muss. Es bleiben am Ende zwei drängende Fragen: Wie lange wird es dauern, bis gegenüber Millionen Frauen weltweit offiziell der massive Irrtum eingestanden wird, der hinter dem ach so plausiblen Behandlungsprinzip der Hormonersatzbehandlung gestanden hat? Und wann wird öffentlich darüber diskutiert, wie derartige Skandale künftig durch höhere Sicherheitsstandards vermieden werden können? 1

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Der Autor ist Internist und Gesundheitswissenschaftler und Koautor von „Weibliche Hormone – ein Leben lang. Mehr Schaden als Nutzen?“ Eberhard Greiser, Judith Günther, Martina Niemeyer, Norbert Schmacke. Bremen/ Bonn 2000 Hays J u.a. Effects of Estrogen plus Progestin on Health-Related Quality of Life. N Eng J Med. May 8, 2003 Writing Group for the Women’s Health Initiative Investigators: Risk and Benefits of Estrogen Plus Progestin in Healthy Postmenopausal Women. Principal Results From the Women’s Health Initiative Randomized Controlled Trial. JAMA Vol 288, 2002; 321–333 Berufsverband der Frauenärzte e.V., Landesverband Niedersachsen, Pressemitteilung, 3.9. 2002 Grady D. Postmenopausal Hormones – Therapy for Symptoms Only. N Eng J Med May 8, 2003

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Frauengesundheit

arznei-telegramm Hormonsubstitution erhöht Demenzrisiko Ueber 65-jährige Frauen, die langfristig ein Oestrogen-Gestagen-Präparat einnehmen, haben ein signifikant höheres Risiko als Nichtanwenderinnen, eine Demenz zu erleiden. Zu diesem unerwarteten Ergebnis kommt die jetzt publizierte Women’s Health Initiative Memory-Studie (WHIMS), eine Teilstudie der im vergangenen Jahr wegen negativer Nutzen/Schaden-Bilanz vorzeitig gestoppten WHIStudie (a-t 2002; 33: 81-3). Am Östrogen/Gestagen-Arm der WHIMS nehmen 4532 Frauen teil, die zu Beginn mindestens 65 Jahre alt sind. Nach durchschnittlich vierjähriger Studien-

dauer haben 61 Frauen eine Demenz entwickelt: 40 (1,8%) von 2229 Frauen in der Hormongruppe mit taeglich 0,625 mg konjugierten Östrogenen plus 2,5 mg Medroxyprogesteronazetat (CLIMOPAX) im Vergleich zu 21 (0,9 %) von 2303 Frauen unter Plazebo. Die Hormoneinnahme erhöht somit das relative Risiko (RR) einer Demenz auf das Zweifache (95% Vertrauensintervall 1,21 bis 3,48; Number needed to harm (NNH) = 111). Bei gut der Hälfte der Betroffenen wird eine ALZHEIMER-Demenz diagnostiziert. Der Unterschied zwischen Verum- und Plazebogruppe

93 zeigt sich ein Jahr nach Studienbeginn und nimmt im weiteren Verlauf zu. Als ein möglicher Pathomechanismus wird die Zunahme vaskulär bedingter Demenzen auf dem Boden von Mikroinfarkten diskutiert (1). Erneut widerspricht hiermit das Ergebnis einer grossen randomisierten Langzeitstudie zur Hormonsubstitution vorangehenden epidemiologischen Untersuchungen. Diese sprachen eher dafür, dass Östrogene vor Demenz schützen. Das erhöhte Risiko, an Demenz zu erkranken, addiert sich zu der erhöhten Herzinfarkt-, Schlaganfall-, Thrombose- und Brustkrebsrate unter Langzeiteinnahme von Hormonen nach Wechseljahren und unterstreicht die negative Nutzen/Schaden-Bilanz dieser Therapie.

BREMER ERKLÄRUNG: Wechsel sind gesund kongress wechseljahre multidisziplinär wertet Lebensphase auf Über 200 Frauen und Männer aus zahlreichen Gesundheitsberufen – WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen: ÄrztInnen, PsychologInnen und VertreterInnen der Naturheilkunde ebenso wie ErnährungsberaterInnen, AtemtherapeutInnen und YogalehrerInnen – kamen am vergangenen Wochenende in Bremen erstmals zu einem multidisziplinär besetzten Kongress zusammen, der das Thema Wechseljahre aus unterschiedlichen professionellen Blickwinkeln beleuchtete. Im Zentrum des Kongresses stand der soziale und medizinische Zusammenhang, in dem die Wechseljahre und die Einstellung zur Menopause im alltäglichen Leben gesehen werden. Dabei standen die Kritik einer Medikalisierung der Wechseljahre und die Förderung der informierten und eigenverantwortlichen Entscheidung von Frauen – auch für oder gegen die Einnahme von Hormonen, die Wahl alternativer Behandlungsformen oder diese Zeit im eigenen Rhythmus zu leben – im Mittelpunkt. In einer BREMER ERKLÄRUNG „wechseljahre multidisziplinär“ fassten die TeilnehmerInnen u.a. zusammen: • Wir kritisieren, dass unsere Gesellschaft das Altern von Frauen sowie ihre Kompetenzen und Lebenserfahrungen wenig wertschätzt. Wechseljahre sind eine natürliche Phase im Leben von Frauen und keine Krankheit. Wir fordern, dass die Medikalisierung der Wechseljahre beendet wird. • Die Wechseljahre sind nicht auf hormonelle Veränderungen zu reduzieren. Diese einseitige Sichtweise führt zu unangemessenen Behandlungskonzepten und zu Über-, Unter- und Fehlversorgung.

• Wir fordern, dass Frauen in den Wechseljahren unabhängige und verlässliche Informationen zur Verfügung haben, die sie in ihrer Entscheidungsfindung für einen individuell angemessenen Umgang mit dieser Lebensphase unterstützen. • Wir fordern, dass der jeweilige Stand des Wissens zu den Risiken und Nutzen einer Hormonersatztherapie systematisch zusammengetragen, bewertet und in die ärztliche Praxis umgesetzt wird – zum Beispiel auch durch die interdisziplinäre Entwicklung von Leitlinien. • Wir fordern eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Gesundheitsforschung, den Ausbau multiprofessioneller Zusammenarbeit und die Stärkung der Selbstkompetenz bei künftigen Konzepten der Gesundheitsförderung. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die Praxis wurden auf dem Abschlusspodium am Sonntag, 23.2.03 mit VertreterInnen der Bundesärztekammer, des Bundesverbandes der Frauengesundheitszentren, des AOK Bundesverbandes und der Bremer Landesbeauftragten für Frauen erörtert.

Dr. Ursula Auerswald, stellvertretende Präsidentin der Bundesärztekammer führte aus: „Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen in Form von Weiterbildungsveranstaltungen an die Basis der medizinischen Versorgung gebracht werden; die Ärztekammer Bremen wird hier Veranstaltungen mit ExpertInnen unterschiedlicher Professionen organisieren, in der der aktuelle Wissensstand über Behandlungsformen vermittelt wird.“ Angelika Zollmann vom Bundesverband der Frauengesundheitszentren ergänzte: „Die Frauengesundheitszentren haben von Anfang an das Ziel gehabt, die Selbstkompetenzen von Frauen zu stärken. Wir fühlen uns durch den Abbruch der WHI-Studie darin bestätigt, dass wir schon so lange kritisch auf die Hormontherapie blicken. Wir müssen aber aufpassen, durch „alternative“ Behandlungsangebote nicht ebenfalls in die „Medikalisierungsfalle“ zu tappen“. Prof. Dr. Norbert Schmacke, Leiter des Stabsbereichs Medizin des AOK Bundesverbandes wies auf die Bedeutung anbieterunabhängiger Informationen hin: „Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

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Frauengesundheit

hat schnell auf die neuen wissenschaftlichen Ergebnisse reagiert und in kurzer Zeit eine Warnung heraus gegeben, die Hormonpräparate nicht zur Prävention einzusetzen. Diese Einschätzung muss in die Praxis umgesetzt werden, auch gegen die Interessen derjenigen, die mit der Medikalisierung gesunder Frauen Geld verdienen.“ Ulrike Hauffe, Bremer Landesbeauftragte für Frauen, formulierte Kriterien für eine frauengerechte Gesundheitspolitik: „Eine adäquate Gesundheitspolitik für Frauen muss sich messen lassen an der Einbeziehung der Lebenswelt von Frauen, an der Stärkung der Selbstkompetenz von Frauen, an ihrer Sozialverträglichkeit und an ihrer Effizienz im Einsatz der Mittel. Eine Medizin, die zum sozialen Mentor im Leben von Frauen hochstilisiert wurde, entspricht nicht Antikriegsdemo Berlin Februar 2003 diesen Ansprüchen.“ Die abschließende Einschätzung von Ulrike Hauffe fand große Zustimmung: „Die Interdisziplinarität, mit der auf diesem Kongress die Jahre des Wechsels von Frauen diskutiert wurden, ist die Arbeits-, Verständigungs- und Entscheidungsform der Zukunft im Gesundheitswesen. Sie öffnet den Blick für die Bedürfnisse von Frauen und zeigt die Grenzen der jeweiligen professionellen Erkenntnisse und des Handelns.“ Der Kongress wurde veranstaltet vom Bremer Forum Frauengesundheit, dem Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) und dem Zentrum für Public Health an der Universität Bremen.

Antikriegsdemo Berlin Februar 2003

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Vor Terror und Krieg schützt keine Impfung! Berliner Ärzte und Ärztinnen fordern: • • • • • • • • • • •

ABC-Waffen weltweit ächten Sofortige Veröffentlichung des geheimen Impfplans gegen Pocken Keine zwangsweisen Massenimpfungen beim Auftreten von Pocken Die Pockenpanik ist unbegründet Vorbeugung ist besser als Symptombehandlung Massenimpfungen täuschen angebliche Sicherheit vor Gezielt impfen statt Massen spritzen Die Pockenimpfung schließt Risiken und Nebenwirkungen ein 1–2 von 1 Millionen Geimpften sterben 50 von 1 Millionen Geimpften werden invalide Etwa jeder tausendste Geimpfte erkrankt schwer

Die internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), der Verein Demokratischer Ärzte und Ärztinnen und die Fraktion Gesundheit in der Ärztekammer Berlin fordern von der Deutschen Bundesregierung unverzüglich den geheimen deutschen Pockenimpfplan offen zu legen. Wir Ärzte wehren uns dagegen, zum Zwangsimpfen herangezogen zu werden, ohne dass der Sinn und Unsinn dieses Konzeptes in der Öffentlichkeit und insbesondere mit ÄrztInnen in Praxen, Krankenhäusern und im Gesundheitsdienst diskutiert worden ist. Die Pocken waren eine zurecht gefürchtete Infektionskrankheit. So segensreich die gezielten Pockenimpfungen früher waren, so fatal könnte sich heute ein ungezielter Einsatz des Pockenimpfstoffs auswirken. Denn: Pockenimpfungen sind für die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung äußerst gefährlich. Wir befürchten, dass die Massenimpfungen zu zahlreichen Toten und Behinderten führen. Die Wahrscheinlichkeit eines Pockenangriffs und einer folgenden Pockenepidemie ist dagegen extrem gering. Viel eher werden Angriffe mit leichter handhabbaren Viren, Bakterien und Chemikalien durchgeführt, wie etwa Anthraxbakterien. Auch ein Terrorangriff auf ein Atomkraftwerk ist nicht unwahrscheinlich. Vor all diesen Waffen schützt uns keine Impfung. Hilfe verspricht auf Dauer nur das sofortige weltweite Verbot aller atomaren, biologischen und chemischen Waffen (ABCWaffen). Bisher besteht nur die Chemiewaffenkonvention, die Abkommen über Atomwaffen und die Biowaffenkonvention werden unter anderem durch die USA blockiert. Und: Die Bekämpfung der Ursachen von Terror und Krieg, nicht ihrer Symptome.

Die Pläne der Regierung Wie bekannt geworden ist, plant die Regierung schon beim Auftreten eines einziges Pockenfalles irgendwo auf der Welt die Impfung von 5 Millionen Deutschen (medizinisches Personal und ausgewählte Berufsgruppen). Tritt in

Deutschland ein Pockenfall auf, soll dann eine Zwangsimpfung greifen, zunächst der Kontaktpersonen, später dann der gesamten Bevölkerung. Wir halten diese Pläne für völlig übertrieben.

Gezielt Handeln Durch sofortige Isolierung der an Pocken erkrankten Person und umgehende Impfung ihrer Kontaktpersonen (Riegelungsimpfung) ist die Situation besser zu handhaben. Denn: Die epidemische Verbreitung von Pocken kann durch die gezielte Impfung gefährdeter Personen weitgehend verhütet werden. Dieses Vorgehen empfiehlt übrigens auch die Weltgesundheitsorganisation

Risken und Nebenwirkungen inbegriffen Bei der Pockenimpfung ist mit 1–2 Todesfall unter 1 000 000 Geimpften zu rechnen. Bei etwa 50 von 1 000 000 Geimpften kam es zu einer dauerhaften Hirnerkrankung (Encephalopathie) oder anderen schweren Nebenwirkungen mit dauerhafter Invalidität. Etwa jeder tausendste Geimpfte erkrankt schwer, etwa jeder dritte Geimpfte ist in der ersten Woche nach der Impfung arbeitsunfähig. Aufgrund des veränderten Krankheitsspektrums der heutigen Bevölkerung liegen die aktuellen Komplikationsraten eher noch höher. „Wir befürchten, dass durch solche millionenfache Anwendung des Impfstoffes mehr Schaden als Nutzen entsteht“, schreibt der Fachausschuss Infektionsschutz des Bundesverbandes der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in seiner Stellungnahme zum Pockenplan.

Pockenpanik unbegründet Mit großer Sorge beobachten wir ÄrztInnen, wie in den letzten Monaten die Angst vor möglichen Pockenangriffen geschürt worden ist. Wir wehren uns dagegen, für diese Panikmache missbraucht zu werden, da wir das Auftreten von Pocken für äußerst unwahrscheinlich halten. Warum? Pockenstämme gibt es seit der Ausrottung der Pocken in den 70er Jahren nur in zwei

streng bewachten, von der WHO kontrollierten Labors in den USA und Russland. Es gibt nur vage Gerüchte, bisher aber nicht den Hauch eines Hinweises darauf, dass Pockenviren an andere Staaten geliefert worden sind. Pockenviren sind technisch schwer zu handhaben und längst nicht so robust wie etwa Anthraxsporen. Damit gehören sie nicht zu den bevorzugten Waffen potenzieller Angreifer. Ein Pockenerkrankter ist in der ansteckenden Phase schon so krank, dass er nicht mehr in der Lage sein wird, durch die Stadt zu laufen und Menschen zu infizieren. Ein an Pocken Erkrankter steckt nach früheren Beobachtungen im Schnitt ein bis zehn andere Menschen an, meist Familie und Pflegepersonal. Impft man die Kontaktpersonen binnen vier Tagen nach Ansteckung, lässt sich der Ausbruch der Pocken vermeiden.

Massenimpfungen als Symbol gegen Terroranschläge Die jetzigen Massenimpfpläne der Regierung dienen weniger dem Schutz der Bevölkerung als einer symbolischen Immunisierung der Gesellschaft gegen Terroranschläge. Den Ängsten der Bevölkerung wird mit vorgetäuschter Sicherheit begegnet. Es scheint, als ob wir in kriegerischen Zeiten symbolisch fit gemacht werden sollen für hypothetische Bedrohungsszenarien – ohne dass dabei Rücksicht auf die dabei zu Schaden kommenden Menschen genommen wird.

Vorbeugung statt Symptombehandlung Sicherheit erreichen wir nur gemeinsam auf dieser Welt. Anstelle der Zwangsmassenimpfung fordern wir eine vorbeugende Politik zur Eindämmung der Bedrohung durch Terror und Krieg. Dazu gehört das weltweite Verbot von ABC-Waffen, die vollständige Umsetzung und Ratifizierung der Biowaffen-Konvention und eine weltweite, sozial verträgliche Politik, die dem Terrorismus den Nährboden entzieht. Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) Verein demokratischer Ärzte und Ärztinnen (VDÄÄ), Fraktion Gesundheit in der Ärztekammer Berlin V.i.S.d.P: IPPNW

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Risiken und Nebenwirkungen inbegriffen POCKEN-PROPHYLAXE Von Irene Meichsner Während mit dem vermeintlichen Pocken-Terrorismus Politik gemacht wird, rüsten die Gesundheitsbehörden für den Ausnahmezustand. Dass auf der Welt überhaupt noch Pockenviren existieren, war schon fast vergessen. Mit einer beispiellosen Impfkampagne hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Krankheit ausgerottet, und am 8. Mai 1980 die Welt feierlich für „pockenfrei“ erklärt. Offiziell gibt es Pockenerreger seitdem nur noch in einem hermetisch abgeriegelten Labor der amerikanischen Seuchenbehörde CDC in Atlanta und im Staatlichen Russischen Forschungszentrum für Virologie bei Nowosibirsk. Doch weil spätestens seit den Schrecken vom 11. September niemand mehr auszuschließen wagt, dass irgendwelche Bestände doch in die Hände von Terroristen gelangt sein könnten, bereitet sich nun auch die Bundesrepublik auf einen möglichen Biowaffenangriff mit Variola-Viren vor. Seit Anfang vorigen Jahres entwickeln mehrere Bund-Länder-Arbeitsgruppen unter Federführung des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) eine Strategie. Man tagte hinter verschlossenen Türen, durch die nur wenig drang, und die heikelsten Fragen wurden in der Öffentlichkeit nicht einmal ansatzweise diskutiert. Dabei laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Mitte Februar stellte der Haushaltsausschuss des Bundestags 80,73 Millionen Euro zur „Beschaffung von Impfstoffen zur Abwehr potenzieller bioterroristischer Angriffe auf die Bundesrepublik Deutschland“ bereit. Bis Ende 2003 sollen über hundert Millionen Impfdosen bei minus 20 Grad Celsius an einem geheimen Ort gelagert werden. Im Ernstfall würde damit die gesamte Bevölkerung zwangsgeimpft.

20 Millionen Risikopatienten Fünf Tage hätte man dafür Zeit. 3287 „Impfstätten“ sieht das „Rahmenkonzept“ der Bund-Länder-AG“ vor – jeweils eine für 25 000 Menschen, 5000 will man dort pro Tag impfen können. Vermutlich sind nur noch wenige Menschen gegen Pocken immun, die alten Schutzimpfungen haben ihre Wirkung weitgehend verloren. Räumlichkeiten, die „ein möglichst reibungsloses Durchschleusen von großen Menschenmengen ermöglichen“, werden schon gesucht. Auch Personal wird rekrutiert. Bundesweit liegt der Bedarf bei 368 092 Ärzten, Pflegern und sonstigem Hilfspersonal. Landesärztekammern bieten Fortbildungskurse an. Kaum jemand beherrscht noch die Tech-

nik, mit der man den Impfstoff appliziert. Eine rund vier Zentimeter lange Impflanzette („Bifurkationsnadel“) wird dabei 15 mal in die Haut gepiekt. In Goslar übten 90 niedersächsische Amtsärzte diese vergessene Kunst unlängst an 100 Schweinepfoten, die eine nahegelegene Wurstfabrik geliefert hatte. Doch wer glaubt, dass es nur um logistische und technische Probleme geht, täuscht sich gewaltig. Die Komplikationen einer Pockenimpfung sind gefürchtet, denn der Impfstoff enthält ein Lebendvirus, einen Verwandten der Variola-Viren: den „Vaccinia“Erreger. Befällt er das Gehirn, droht eine Hirnentzündung („postvakzinale Enzephalitis“), die in rund 20 Prozent aller Fälle tödlich verläuft. Viele tragen bleibende Schäden davon. Die CDC-Experten rechnen auf eine Million Erstimpfungen mit rund 1000 „schweren Nebenwirkungen“, 14 bis 52 „lebensbedrohlichen Reaktionen“, einem bis zwei Todesfällen. Aber sie räumen ein, dass diese Schätzung auf veralteten Daten der sechziger Jahre beruht. „Heute wären Komplikationen mit Sicherheit um ein Vielfaches häufiger“, warnte Thomas Mack, Pocken-Experte von der University of Southern California in Los Angeles, Ende Januar im renommierten US-Fachblatt New England Journal of Medicine. Bei einem Großteil der Bevölkerung wiegt dieses Risiko so schwer, dass man die Menschen dem VacciniaImpfvirus gar nicht aussetzen darf. Kontraindiziert ist die Pockenimpfung bei chronischen Hauterkrankungen wie Neurodermitis, bei Schwangeren und stillenden Müttern, Menschen mit verändertem Immunsystem, HIV-Infizierten, Personen mit transplantierten Organen, Patienten mit akuten Infektionen, Krebskranken unter Chemooder Strahlentherapie, Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Rheuma oder Asthma, die eine Cortisontherapie brauchen, Menschen, die gegen Bestandteile des Impfstoffs allergisch sind, Kinder unter einem Jahr. Ausgeschlossen von der Impfung wären nicht nur all diese Menschen, sondern auch alle, die mit ihnen zusammenleben. Denn über die Impfwunde kann das „Vaccinia“-Impfvirus auch von frisch geimpften auf ungeimpfte Personen übertragen werden. Damit erhält das Problem der „Kontraindikation“ eine Dimension, die zu Zeiten der letzten Massenimpfungen

unvorstellbar war. „Mit der Chemotherapie bei Krebs fing man damals gerade erst an. Organtransplantationen gab es nicht. Vom HI-Virus hatte noch niemand etwas gehört. Die Cortison-Therapie war erst vor kurzem eingeführt worden“, schreibt Kent Sepkowitz, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am New Yorker Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in der gleichen Zeitschrift. Heute leben allein in Deutschland etwa 39 000 Menschen mit HIV, 25 000 Menschen haben ein neues Organ, 350 000 erhielten im Jahre 2002 die Diagnose Krebs. Rund 800 000 leiden an Rheuma, viele werden mit Medikamenten behandelt, die das Immunsystem unterdrücken, etwa zehn Prozent der Bevölkerung sind Neurodermitiker. Sie alle und ihre Angehörigen wären im Ernstfall von der Impfpflicht freizustellen. US-Mediziner schätzen, dass damit etwa 25 Prozent aller US-Bürger von einer Pockenimpfkampagne ausgeschlossen werden müssten – entweder weil sie sonst selber schwere Nebenwirkungen riskieren würden oder weil sie in engem Kontakt zu solchen „Hoch-Risiko“-Patienten stehen. Bei rund 280 Millionen US-Bürgern wären das 70 Millionen Menschen, in Deutschland käme man – bei rund 82 Millionen Bundesbürgern – auf eine Zahl von 20,5 Millionen.

Hausgemachte Epidemien Trotzdem lief die Impfkampagne in den USA bereits an. Mitte Dezember gab US-Präsident George W. Bush seine Pläne bekannt. Ab Anfang 2003 sollten zunächst jeweils eine halbe Million Soldaten und Krankenhausbedienstete geimpft werden. Danach sollen zehn Millionen weitere Notfallkräfte folgen: Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter. 2004 soll so viel Impfstoff zur Verfügung stehen, dass sich jeder US-Bürger freiwillig gegen Pocken impfen lassen kann. Bush setzte als militärischer Oberbefehlshaber ein Zeichen, als er sich zwei Tage vor Weihnachten vor laufenden Kameras mit dem Vaccinia-Impfvirus infizieren ließ. Doch die Aktion lief nur schleppend an. Viele Kliniken lehnten jede Zusammenarbeit ab – wegen der Nebenwirkungen, hohen Kosten und Haftungsfragen insbesondere bei einer Sekundärinfektion. Eine Impfprophylaxe für Krankenhausbedienstete klingt auf den ersten Blick plausibel. Sie kämen mit einem

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Pockenpatienten womöglich als erste in Kontakt. Indessen macht sich Kent Sepkowitz ganz andere Sorgen. Gerade in Krankenhäusern gebe es heutzutage – anders als während der letzten Massenimpfungen – eine massive Konzentration von Patienten mit unterdrücktem Immunsystem. Insofern bestehe die Gefahr einer „hausgemachten Epidemie – nicht durch das Pockenvirus, sondern durch Infektionen mit dem lebenden, potenziell tödlichen Vaccinia-Erreger“. Diese Aussicht habe „die Begeisterung über eine Massenimpfung bei vielen erheblich gedämpft“. In Deutschland steht wegen der schweren Nebenwirkungen eine Wiedereinführung der Mitte der siebziger Jahre abgeschafften allgemeinen Schutzimpfung nicht zur Debatte. Man entschied sich für ein Drei-Phasen-Modell. Solange weltweit keine Pocken auftreten, befinden wir uns in „Phase 1“: nur Ärzte und Mitarbeiter aus Kompetenzzentren und Speziallabors, bundesweit 500 bis 600 Personen, werden geimpft. Träten irgendwo auf der Welt Pocken auf („Phase 2“), würde einzelnen Berufsgruppen eine Impfung nahegelegt: Ärzten, Krankenpflegern, Feuerwehrleuten, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, Beschäftigten in Betrieben zur Energie- und Wasserversorgung sowie der „Verwaltung inklusive politischer Führung“. Sollte es in Deutschland einen Pockenfall geben („Phase 3“), würde man zunächst versuchen, die Ansteckungsgefahr durch eine „Inkubations“- oder „Riegelungsimpfung“ aller Kontaktpersonen einzudämmen, so wie zuletzt 1972, als in Hannover bei einem jugoslawischen – damals so genanten – „Gastarbeiter“ zum letzten Mal in Deutschland Pocken diagnostiziert wurden. 678 Kontaktpersonen wurden ausfindig gemacht und für 17 Tage unter Quarantäne gestellt, 78 528 Personen wurden vorsorglich geimpft. Träten mehrere Pockenfälle auf, die in zeitlichem Zusammenhang zueinander stünden, würde entschieden, ob das Volk zur Zwangsimpfung einbefohlen wird. Bundesweit würden 13 146 Impfärzten aufgerufen, mit der Impfung am Fließband zu beginnen, unterstützt von 262 923 „medizinischen Fachkräften“, 65 731 polizeilichen „Ordnungskräften“, 26 292 weiteren „Helfern“. Katastrophenschutz ist im Prinzip Ländersache. „Die Menschen können darauf vertrauen, dass wir uns mit der größten Sorgfalt vorbereiten“, sagte Sigurd Peters, Referatsleiter „Notfallversorgung und Katastrophenschutz“ in der Gesundheitsverwaltung des Berliner Senats. „Wir werden versuchen, sie über die Medien ständig zu informieren, um

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Panik zu vermeiden.“ Sein Wort in gramms bei den CDC, während eines Gottes Ohren. öffentlichen Forums im Juni: „Dass ein Terrorist sich selber mit Pocken infizieren und eine ganze Stadt ansteAusnahmezustand Zu Recht hat Reinhard Kurth, Präsident cken könnte, einfach indem er durch des RKI, darauf hingewiesen, dass ge- die Straßen läuft und Menschen begen das, was in der Öffentlichkeit nach rührt, entspringt dichterischer Phantaeinem Pockenausbruch passieren wür- sie.“ Ansteckend ist die Krankheit in de, die Reaktionen auf die Milzbrand- der Regel erst, wenn schon massive anschläge Ende 2001 „Peanuts“ gewe- Symptome auftreten. Die Patienten sen seien. Brächen die Pocken aus, be- haben bis zu 41 Grad Fieber, normafände sich das Land im Ausnahmezu- lerweise seien die typischen Pockenstand. Dass Bürger daran gehindert pusteln auch für Laien unübersehbar, werden könnten, die Stadt zu verlas- sagt Thomas Mack. In Anbetracht, dass bei einer bevölsen, würden dort Pocken festgestellt, ist keineswegs ausgeschlossen. „Das kerungsweiten Pockenprophylaxe alAllgemeine Sicherheits- und Ordnungs- lein in den USA mit mindestens 800 gesetz in Verbindung mit dem Infek- tödlichen Komplikationen zu rechnen tionsschutzgesetz“, so Peters, „gibt bei ist, schlägt er vor, die Menschen besGefahr im Verzuge solche Eingreifmög- ser über das Erscheinungsbild von Pocken aufzuklären. Bei einem Pockenlichkeiten.“ Massive Eingriffe wären auch de- verdacht sollten Patienten in Spezialnen gegenüber denkbar, die aus me- kliniken eingewiesen werden, für die dizinischen Gründen nicht mit dem man nur eine begrenzte Zahl von PerVaccinia-Virus geimpft werden dür- sonal vorsehen und vorsorglich impfen fen. Würden sie als „ansteckungsver- müsste. Mack schätzt, dass man dafür dächtig“ eingestuft, böte das Anfang in den USA nicht mehr als 15 000 Per2001 in Kraft getretene Infektions- sonen benötigt würde. „Schließlich“, schutzgesetz eine Handhabe, dass sie so forderte er im New England Journotfalls „in einem geeigneten Kran- nal, sollten „die Behörden besser über kenhaus oder in sonst geeigneter die Gefahren der Pockenimpfung aufWeise abgesondert“ und am „Entwei- klären und weniger reißerisch über chen“ gehindert werden. Nachge- das Potenzial einer Ausbreitung diedacht wird darüber schon, wenn auch ser Krankheit informieren.“ Das letzte Wort ist damit nicht gehinter verschlossenen Türen. Thomas Schönauer vom Sozialministerium Ba- sprochen. Doch besser, man hüte sich den-Württemberg stellte Anfang Ja- vor dem „Psychobioterror“, den die nuar bei einer Fortbildungsveranstal- Pockenangst in den Köpfen anrichten tung des Landesgesundheitsamts un- könne, rät der Virologe Erhard Geißter dem Stichwort „Umgang mit Kon- ler, emeritierter Professor am Maxtraindikationen“ zur Diskussion, ob für Delbrück-Centrum für Molekulare Meden Fall einer Massenimpfung eine dizin in Berlin-Buch. Auch wenn die „Isolierung die beste Alternative wä- neuen Pockenalarmpläne irgendwann re“. In der Dokumentation der Ver- wieder in den Schubladen verschwinanstaltung ist dieser Hinweis mit vier den, können sie schwere Nebenwirkungen haben. Die CDC empfehlen Fragezeichen versehen. Das Risiko eines Terroranschlags bereits „allen Personen, die in der Vermit Pockenviren sei gering, sagen gangenheit einem wie auch immer Fachleute. Bundesinnenminister Otto gearteten Risiko einer HIV-Infektion Schily nannte es „abstrakt“. Dennoch ausgesetzt waren, sich einem HIV-Test werden Ängste fleißig geschürt. Über- zu unterziehen“, um sich Klarheit tüncht wird damit, wie wenig man über eine mögliche Kontraindikation über die Infektionswege eigentlich zur Pockenimpfung zu verschaffen. weiß. Anders, als es oft dargestellt Das Ergebnis werde auf Wunsch nur werde, so Thomas Mack, seien Pocken im Falle einer tatsächlich anstehenden weit weniger ansteckend als etwa Ma- Impfung mitgeteilt. Noch kann man sern oder Windpocken. Eine Übertra- hierzulande zum Beispiel einen HIVgung geschehe nur durch sehr enge Test verweigern. Dabei muss es nicht Kontakte und über eine kurze Distanz. bleiben. In seinem dieser Tage erschieEine Ansteckung in Bussen, Zügen oder nenen Buch Anthrax und das VersaFlugzeugen sei noch nicht beobachtet gen der Geheimdienste äußert Geißworden. In mehr als 60 Prozent aller ler die Befürchtung, dass die derzeit Fälle, die nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossenen Maßnahmen „graviein Europa auftraten, sei der Erreger in- rende Einschränkungen in vielen Bereinerhalb von Krankenhäusern verbrei- chen des klassischen Gesundheitstet worden; nur dort habe es auch eine schutzes zur Folge haben werden“. Ansteckung über eine größere Entfer- Höchste Zeit, dass man darüber öfnung gegeben, etwa über kontaminier- fentlich spricht. te Wäsche oder eine Klimaanlage. Ähnlich äußerte sich Joel Kuritsky, Direktor des Nationalen Impfpro-

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FR 27.1.2003 „Im Kriegsfall droht eine humanitäre Katastrophe“

Mit dem Verein Haukari leistet der Arzt Bernhard Winter Hilfe zur Selbsthilfe in Nordirak Von Canan Topcu Mehr als zehn Jahre nach dem Krieg der USA gegen Irak entdeckt die Friedensbewegung die Krisenregion neu, kündigt Menschenketten und Blockaden an. Bernhard Winter, ein Arzt aus Frankfurt, unterstützt ihren Appell für eine friedliche Lösung des Konflikts. Der intime Kenner der Region, der Nordirak wiederholt bereiste und dort Hilfsorganisationen unterstützte, warnt vor einer humanitären Katastrophe. Wieder eine E-Mail aus Nordirak, wieder ein sorgenvoller Bericht mehr. Der Arzt Bernhard Winter ist beunruhigt, spürt wie auch bei seinen Partnern von der Kurdistan Health Foundation (KHF) die Angst vor einem Krieg wächst. Groß sei unter den Kurden auch die Furcht, die iranische Armee könne den von US-Amerikanern angeführten Angriff auf Irak für einen Rachefeldzug in der Region nutzen, berichtet Winter, der 1994 zu den Gründern des Frankfurter Vereins Haukari zählte. Das ist kurdisch und bedeutet Solidarität. Für Haukari heißt das konkret: Hilfe zur Selbsthilfe leisten, soziale und medizinische Projekte unterstützen. „In der Region droht im Kriegsfall eine erneute humanitäre Katastrophe“, so Winter. Die Partnerhilfsorganisation KHF bereite sich bereits auf diese Notsituation vor: Sie schule Mitarbeiter und Hilfskräfte, lege Depots mit Arznei- und Verbandszeug an. Um das zu unterstützen, hat sich der Verein Haukari unlängst an das Entwicklungshilfeministerium gewandt. Nun wartet der Mediziner ungeduldig auf eine Antwort. Die Zeit drängt. Winter will nicht noch einmal erleben, was er im April 1991 mit eigenen Augen sah. Damals hatte er sich Urlaub genommen, um in den Südwesten der Türkei zu reisen, wo er kurdische Flüchtlinge aus Nordirak versorgte. „Ich bin einem Aufruf des Roten Kreuzes gefolgt, der Ärzte für Flüchtlingslager suchte“, erzählt der 46-jährige Arzt, der sich während des IrakKriegs der Friedensbewegung angeschlossen hatte. Später war Winter immer wieder für verschiedene Hilfsorganisationen in Nordirak im Einsatz. Als die Helfer aus der Region abzogen, habe er mit Deutschen und Kurden zusammen Haukari ins Leben gerufen, um weiterhin Notleidenden zu helfen. „Wir sind nicht als Mediziner vor Ort tätig, uns geht es darum, vorhandenes qualifiziertes Personal logistisch und finanziell zu unterstützen“, sagt der Internist, der in einer Gemein-

schaftspraxis in Offenbach arbeitet. Die Vereinsmitglieder verstünden sich als Koordinatoren und Kontaktpersonen, etwa bei Gesprächen mit regierungsunabhängigen Organisationen. In Deutschland konzentriert sich die Arbeit vor allem darauf, auf die Situation in Nordirak aufmerksam zu machen und Spenden zu sammeln. Vor Ort wird das Geld insbesondere für zwei Projekte verwendet: ein Frauenzentrum in Sulamaniyah an der iranischen Grenze und präventivmedizinische Arbeit in Dörfern. Mobile Teams der von Haukari unterstützten KHF reisen von Ort zu Ort, um die Bevölkerung über Gesundheitsvorsorge zu informieren. Im Frauenzentrum, für deren Miete und Personalkosten der Verein aufkommt, werden Alphabetisierungs-, Sprach- und Computerkurse angeboten. In den ersten Jahren sei das Geld vor allem für den Aufbau von Schulen und Sozialeinrichtungen sowie die Abwasserentsorgung in Kleinstädten und Dörfern verwendet worden. Allein im vorigen Jahr hätten rund 50 000 Euro für Selbsthilfeprojekte zur Verfügung gestellt werden können. Zuletzt war der Frankfurter im Frühjahr vergangenen Jahres vor Ort und hat sich über die von Haukari unterstützten Projekte informiert. Sein Eindruck war, dass sich als Folge des „Oilfor-food-Programms“ die Nahrungsmittelversorgung verbessert hatte. Doch jetzt haben sich die Zeiten geändert. Krieg droht auf die Tagesordnung zurückzukehren. Winter, der Haukari mit seinen Mitstreitern gründete, „als das allgemeine Interesse an dieser Region abnahm“, registriert, wie die Region auch bei der Friedensbewegung wieder in das Blickfeld gerät. Darüber ist der Mediziner froh, doch er macht auch keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über die Friedensbewegung. Deren Engagement, sagt der bescheiden auftretende HaukariMitbegründer mit Bedauern, werde viel zu sehr „von außen diktiert“.

Weitere Informationen über den Verein im Internet (www.haukari.de) und per Telefon unter der Rufnummer 0 69-70 76 02 78.

Haukari e.V. (Hrsg.) Irakisch-Kurdistan: Untergehen im sicheren Hafen Studie über eine humanitäre Intervention Erstellt von Bernhard Winter unter Mitarbeit von Susanne Bötte, Karin Mlodoch und Jamal Wali Ibrahim ISBN 3-88864-334-1 • Januar 2002 • 182 Seiten • 15 € VAS Verlag für Akademische Schriften Nur als Flüchtlinge finden die irakischen Kurdinnen und Kurden noch Beachtung. Eine Betrachtung der sozialen und politischen Verhältnisse in IrakischKurdistan zehn Jahre nach dem zweiten Golfkrieg. Über eine Schutzzone, die es nicht gibt; Leben in einem unbeständigen Provisorium; „oil for food“ und only for food …

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Spendenaufruf

Der Krieg wirft seine Schatten in Irakisch-Kurdistan Die Bevölkerung im Irakisch-Kurdistan sieht sich mit einem erneuten Krieg konfrontiert. Es herrscht große Angst vor einer militärischen Eskalation und vor Angriffen des irakischen Regimes auf die kurdisch verwalteten Gebiete. Aus Furcht vor Rachefeldzügen des Bagdader Regimes haben viele Menschen die Großstädte Arbil und Sulaimania verlassen und auf dem Land Zufluchtsmöglichkeiten gesucht. Viele Familien in Irakisch-Kurdistan fürchten um ihre Angehörigen, die noch in dem von der irakischen Regierung kontrollierten Gebiet leben. Die irakische Armee hat die Demarkationslinie in den kurdisch kontrollierten Nordirak hermetisch abgeriegelt. Dabei wurden auch mit Erdöl gefüllte Gräben angelegt. Dies könnte für Flüchtlingsströme, die insbesondere bei einer Intensivierung der Kämpfe um die Großstädte Mossul und Kirkuk aber auch um Bagdad aus dem Zentralirak zu erwarten sind, ein unüberwindliches Hindernis werden und die Flüchtlinge damit zwischen die Fronten geraten. Der langjährige Projektpartner von Haukari e.V., die Kurdistan Health Foundation (KHF) bereitet sich seit Monaten intensiv auf die nun erneut drohende Notsituation vor. Gemeinsam haben wir ein Programm entwickelt, in dem den mobilen medizinischen Einsatzteams der KHF eine zentrale Rolle zukommt. Diese Teams aus Ärz-

tInnen und Angehörigen anderer Heilberufe arbeiten üblicherweise in der basismedizinischen Versorgung entlegener Landstriche und präventiv-medizinischen Programmen in Dörfern. Sie sollen im Notfall zur Versorgung von zivilen Kriegsopfern eingesetzt werden können. Die Teams könnten im Bedarfsfall auch im Zentral- oder Südirak aktiv werden. Aufgrund der wechselvollen Geschichte Irakisch-Kurdistans während der letzten 20 Jahre sahen sich die MitarbeiterInnen der KHF schon öfters vor die Situation gestellt, Nothilfe leisten zu müssen. Gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen gelang es, die Transportkapazitäten der KHF zu verbessern und die mobilen Teams für die neue Gefahrenlage zu schulen. Einige Teams arbeiten bereits jetzt in Flüchtlingslagern, die in den letzten Jahren durch die Vertreibungspolitik des Baath-Regimes entstanden sind. In Zusammen-

arbeit mit den lokalen Behörden wurden zudem entlang der vermutenden Flüchtlingsrouten Dorfräte von der KHF in konfliktvermeidenden Strategien beim Umgang mit Flüchtlingen geschult. Dies hat angesichts der knappen Ressourcen – in einigen Regionen herrscht bereits jetzt wegen jahrelanger Trockenheit Wassermangel – eine herausragende Bedeutung. Dies ist sicherlich eine Arbeit, die das Vertrauen der ansässigen Bevölkerung voraussetzt. Andererseits ist dies aber auch ein Beispiel für den nicht zu unterschätzenden Wert lokaler Hilfsstrukturen, die in der Berichterstattung in Europa häufig übersehen werden. Haukari e.V. bittet dringend um Spenden für die mobilen Teams der KHF Spendenkonto: Kontonr. 654092-600, Postbank Frankfurt/Main, BLZ 500 100 60, Stichwort: KHF Weitere Informationen erhalten Sie bei: Haukari e.V., Falkstr. 34, 60487 Ffm. Tel.: 069/70760278 Fax: 069/70760279 Mobile: 0160 96651333 e-mail: [email protected] www.haukari.de

Der Krieg der Dinosaurier Vom Standpunkt humanen Empfindens und vernünftigen Denkens ist der begonnene Irak-Krieg ein deprimierendes Ereignis, das ohnmächtige Wut erzeugen kann: die Regierungs-Verantwortlichen der stärksten ökonomischen und militärischen Macht greifen zum Mittel überlegener tödlicher Zerstörungskraft, um ihre Dominanz einer ganzen Region, ihren Intentionen nach aber sogar der Welt insgesamt aufzuzwingen. Die von ihnen angeführten Rechtfertigungen beleidigen die Intelligenz der internationalen Öffentlichkeit: Die irakische Regierung müsse zur Verantwortung gezogen werden, weil sie UNBeschlüsse mißachte, hieß es; die USRegierung ihrerseits erklärt die Vereinten Nationen für irrelevant, wenn sie nicht gehorsam ihrem Willen folgen. Es gehe um die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen, hieß es auch: der erfolgreiche Inspektionsprozess muß dann aber abgebrochen werden, weil das wirkliche Interesse der US-Regierung offensichtlich die militärische Besetzung dieses Landes ist. Dem irakischen Diktator wird seine Lügenhaftigkeit vorgeworfen, während die angeblich hochaktuellen Geheimdienst-Erkenntnisse, präsentiert von Blair und Powell, sich als unkorrigierte Kopie einer zwölf Jahre alten studentischen Diplomarbeit erwei-

sen, und angebliche mobile Biowaffenlabore von den Vor-Ort-Inspektoren der UNO als Fälschungen enthüllt werden. Ähnlich lügenhaft die Behauptung, der Irak kooperiere mit alQuaida, und sei eine Bedrohung der Sicherheit der USA. In Wirklichkeit handelt es sich um einen unprovozierten Angriffskrieg. Nach den Kriterien, die bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg als neues, wichtiges Element in das Völkerrecht eingeführt wurden, ist dies nichts anderes als ein schweres Verbrechen gegen die Menschheit. Es ist eben kein Zufall, dass die US-Regierung eine vehemente Gegnerin des erst vor wenigen Tagen eingesetzten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ist, und diesem die Anerkennung versagt. Denn die Aufgabe dieses Gerichtshofs soll gerade darin liegen, solche schwe-

ren Verbrechen zu verfolgen und zu ahnden. Aber was helfen uns solche Argumente gegen die Macht des Faktischen, der cruise missiles und Bombenflugzeuge, Kampfpanzer und hightech-gerüsteten Spezialtruppen? Denen gegenüber sind wir tatsächlich erstmal wehrlos und ohnmächtig. Für die Bewegung gegen den Krieg geht es aber darum, weder in eine Position der Hilflosigkeit und Resignation zu geraten, noch sich mit der Genugtuung zu begnügen, eine moralisch überlegene Haltung zu verkörpern. Handlungsfähigkeit gewinnen wir, indem wir von der militärischen Schlachtszenerie einen Schritt zurücktreten, und uns den größeren Zusammenhang, den globalen Kontext des Kriegsgeschehens vor Augen führen, dabei die Schwachstellen unserer Kontrahenten, der Kriegsherren, klar er-

100 kennen und überzeugende soziale und politische Konzepte entwickeln, die jenen das Wasser gesellschaftlicher Akzeptanz weiter und möglichst vollständig abgraben, ein Prozess, der übrigens durchaus schon fortgeschritten ist. Es geht, um es mit einem Schlagwort zu etikettieren, um den Prozess der Globalisierung, um die Ziele und Bedingungen, unter denen sich eine neue Weltordnung herausbildet. Wie wird diese Weltordnung aussehen? – darum ist ein heftiger, auf verschiedensten Ebenen geführter Kampf entbrannt, und der Irak-Krieg ist nur eine bedeutende und hervorgehobene Front dieses Kampfes. Und dieser Kampf wird eben nicht nur, und noch nicht einmal in erster Linie mit militärischen Waffen geführt, sondern es geht dabei in einem wesentlichen Maß um die Köpfe und das soziale Handeln der Bevölkerungsmehrheiten, und zwar weltweit. (So betrachtet, hat die US-Regierung im Vorfeld ihres Krieges schon schwere politische Niederlagen einstecken müssen). Wie die New York Times anläßlich der Demonstrationen des 15.2.03 feststellte, hat sich eine neue „super power“ zu Wort gemeldet. Wir nennen diese bisher noch kaum entfaltete Kraft die sozialen Bewegungen, und erleben den faszinierenden Prozess ihrer internationalen Verständigung, organisatorischen Vernetzung und Herausbildung gemeinsamer Handlungsfähigkeit, wie sie bei den Treffen in Porto Alegre, Genua und Florenz (u. a.) vorbereitet wurde und in der weltweiten Aktion vom 15.2. spektakulär zum Ausdruck kam. Schon werden Umrisse jener „anderen“ Welt deutlich, für die diese neue, potenziell machtvolle „Bewegung der Bewegungen“ steht und handelt: • Eine demokratische Welt, die wirkliche Teilhabe der gesellschaftlichen Basis an den sozialen Entscheidungsprozessen sichert, statt eines nur noch formalen, in Wirklichkeit durch die Macht der Konzerne deformierten Demokratiebegriffs • Eine nachhaltige Gesellschaft, die die natürlichen Existenzbedingungen der Menschen und zukünftigen Generationen schützt und sichert, statt sie der immer vollständigeren Kommerzialisierung und rücksichtslosen Plünderung zu übereignen • Eine sozial gerechte Welt, „die den Bedürfnissen der Völker entspricht, auf dem Gebiet der Ernährung, der Wohnung, der Gesundheit, der Bildung, Information, Wasser, Energie, des öffentlichen Verkehr und der Menschenrechte.“ (aus der Erklärung des Weltsozialforums von Porto Alegre, Januar 2003) • Eine friedliche Welt der internationalen Zusammenarbeit, ohne rassis-

Irakkrieg tische und sexistische Diskriminierung, eine Welt des Respekts und lebendigen Austauschs der Kulturen, die „das Recht der Völker (sichert), über ihre eigene Zukunft zu entscheiden.“ (Weltsozialforum) Dies sind Konturen der zukünftigen Zivilisation, die wir brauchen. Und es sind nicht nur schöne Phantasien idealistischer Intellektueller, sondern es sind konkrete Konsenspunkte sehr aktiver Basisbewegungen, die in großen Bevölkerungsgruppen eine starke Verankerung haben, bisher allerdings in südlichen Ländern noch wesentlich ausgeprägter als in unseren nördlichen Gefilden. Wenn dies eine konkrete Zukunftsidee ist für die Art von Globalisierung, wie wir sie wollen, welches ist dann das Gegenmodell der Herren Bush und Co., und ihrer weltweiten Verbündeten? Charakteristisch ist, dass sie einer Geschäftsbranche entstammen, die notwendigerweise zum Wohl des Planeten zunehmend stillgelegt werden muß, nämlich der Ölindustrie. Sie verkörpern ein globales ökonomisches Auslaufmodell, wenn der Globus denn überhaupt eine für die Menschen verträgliche Zukunft haben soll. Den sozialen Folgen wirtschaftlicher Maßnahmen stehen sie weitgehend gleichgültig gegenüber, verfügen weder über den Willen noch über die Kapazität zu sinnvollem Ausgleich der zunehmend destruktiven Wirkungen ihrer ökonomischen Expansion, die wir als „neoliberale Globalisierung“ beschreiben. Ihre Dominanz sowohl im eigenen Land als auch weltweit verdanken sie weniger ihrer politischen Überzeugungsfähigkeit, sondern vielmehr ihrer finanziellen Macht, ihrer Bereitschaft zu betrügerischen Manövern und Erpressung, sowie ihrer Neigung zum Einsatz physischer Gewalt. Demokratie heißt für sie: Sicherheit für die eigenen Privilegien, und Arroganz gegenüber der jeweiligen gesellschaftlichen Basis. Und dies trifft durchaus nicht nur für die US-Machtelite zu. Die Neigung, militärische Gewalt zur Sicherung der wirtschaftlichen Interessen weltweit zum Einsatz zu bringen, ist eben nicht nur in den USA gestiegen, sondern auch bei den angeblich so friedlichen Europäern. Erinnert sei an Minister Strucks legendäre Aussage, deutsche Freiheit sei nun auch am Hindukusch mit Hilfe der Bundeswehr zu verteidigen. (Dies schließt aber überhaupt nicht aus, dass die sozialen Bewegungen nicht auch Nutzen aus den Interessendifferenzen zwischen z.B. deutschen und US-Machteliten ziehen können, und da auch zu taktischen Allianzen kommen).

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 Versuchsweise: Konkrete Schlußfolgerungen Die Bewegung gegen den Krieg kann nur als integrierte Bewegung dauerhaft erfolgreich sein, als Teil der globalisierungskritischen Bewegung, des Zusammenschlusses der weltweiten sozialen Bewegungen mit den o.g. Zielen. Denn die Kriegspolitik v.a. der US-Regierung muß im Kontext einer umfassenden globalen Krise verstanden werden, bei der es in der Essenz um die vielschichtige Auseinandersetzung geht, wie eine neue Weltordnung aussehen wird, welche Interessen in ihr dominieren werden. Als soziale Bewegungen zielen wir auf das Denken und soziale Handeln der Menschen selber, auf ihre zunehmende Mündigkeit und ihr aktives Eingreifen. (Aus dieser Sicht wird es auch für die Frage von Krieg und Frieden durchaus bedeutsam, ob etwa für das Problem der Arbeitslosigkeit eine Senkung des Arbeitslosengeldes als sinnvolle Lösung propagiert werden kann.) Konkrete und aktuelle Aufgabe der Bewegung gegen den Krieg sollte es also auch sein, geeignete Formen, gerade auch lokal, für Bewegungsintegration zu entwickeln, und auf diese Weise die „Contra“- Krieg- Position durch eine „Pro“-Demokratie, „Pro“-soziale Gerechtigkeit und Sicherheit, und „Pro“-nachhaltige Ökonomie zu ergänzen.

Aufgabe ist, klarzumachen: die Kriegsherren sind die Dinosaurier einer überlebten, zunehmend destruktiven und unerträglichen gesellschaftlichen Struktur, die wir gemeinsam mit ihrer abstoßenden Gewaltpolitik zugunsten einer anderen, einer friedlichen Welt überwinden müssen, und überwinden können! Matthias Jochheim

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Was wusste der Präsident? Falls Bush die Öffentlichkeit bewusst falsch über Iraks Massenvernichtungswaffen informiert hat, droht ihm das politische Aus Von Wolfgang Koydl Howard Dean blickt eigentlich fast immer grimmig drein, wenn er von George Bush spricht. Aber beim jüngsten Picknick der demokratischen Präsidentschaftsbewerber in Iowa schien der Ex- Gouverneur des Bundesstaates Vermont vor Zorn zu beben. „Was wusste der Präsident“, schleuderte er dem Amtsinhaber entgegen, der einen halben Kontinent entfernt im Weißen Haus saß, „und wann wusste er es?“ Diese Worte waren sorgfältig gewählt, schließlich sollten sie Bush einen heiligen Schrecken einjagen. Denn mit dieser Fragestellung verbindet jeder politisch einigermaßen gebildete Amerikaner automatisch Watergate, den schwersten und aufwühlendsten politischen Skandal der USA im 20.Jahrhundert. Und Bushs Watergate, so lautete die Botschaft Deans, sei die undurchsichtige Rolle Washingtons in der Frage der unauffindbaren irakischen Massenvernichtungswaffen. „Die Regierung hat ein Problem“, befand unlängst auch der Rechtsexperte John Dean, der mehrere US-Präsidenten beraten hat. „Brutal gesagt: Wenn Bush den Kongress und die Nation auf der Basis hanebüchener Informationen in den Krieg geführt hat, geht es ihm an den Kragen.“ Dann könne ihm unter Umständen sogar ein Amtsenthebungsverfahren drohen, schrieb Dean, den das „monströse Fehlverhalten“ übrigens auch an Watergate erinnerte. Dies sei der erste „potenzielle Skandal in drei Jahrzehnten, neben dem Watergate verblassen könnte“. Bushs oberster politischer Spinmeister Karl Rove hat bereits bemerkt, dass das Problem den heraufziehenden Präsidentschaftswahlkampf überschatten und den bislang störungsfrei schnurrenden Motor von Bushs Wahlkampfmaschine ins Stottern bringen könnte. Die Demokraten jedenfalls konstatieren mit Genugtuung, dass der anscheinend unbezwingbare Präsident an dieser Stelle ziemlich verwundbar sein könnte. Sogar Senator Bob Graham aus Florida, dessen Haltung zum Irak-Konflikt bisher bis zur Unkenntlichkeit verdreht war, hat nun „ein Muster an Manipulationen“ der Regierung Bush ausgemacht, das sich auch auf die Innen- und Wirtschaftspolitik erstrecke. „Im Allgemeinen meine ich das, was ich sage“, hatte Bush erst vor kurzem im ägyptischen Badeort Scharm el-Scheich versammelten Araberführern versichert. Diesen Ruf der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit hat er auch bei den Wählern daheim gepflegt. Aber es ist genau diese Glaubwürdigkeit, die ihm im Zusammenhang mit den Waffengespinsten ab-

handen zu kommen droht. Denn schließlich geht es um nichts geringeres als die Frage, ob die Regierung Bush nur falsch von den Geheimdiensten informiert worden war oder ob sie die Öffentlichkeit selbst falsch über das wahre Ausmaß der chemischen und biologischen Waffen im Irak unterrichtet hatte. Beides wäre politisch vernichtend, und selbst die dritte Variante allgemeiner Unfähigkeit wäre niederschmetternd. Mindestens vier verschiedene Untersuchungsausschüsse wollen der Frage nachgehen, warum US-Soldaten und amerikanische Experten auch zwei Monate nach dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen nirgendwo im Irak auch nur annähernd große Mengen solcher Waffen entdeckt haben. Als erstes setzte der Geheimdienst CIA eine Kommission ein, kurz darauf folgte das Pentagon, was die New York Times zu der süffisanten Anmerkung verleitete, dass man dann gleich „O.J. Simpson nach dem Mörder seiner Frau suchen“ lassen könne. Bedenklicher für den Präsidenten könnten allerdings die Untersuchungsausschüsse werden, welche der Verteidigungsausschuss des Senats sowie die jeweiligen Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus einsetzen wollen. Denn derartige Untersuchungen haben zwei potenziell unangenehme Nebenwirkungen: Sie finden im grellen Licht der Öffentlichkeit statt und sie ziehen sich oft viele Monate lang dahin. Ein Wahlkampf freilich, in dem scheibchenweise die Frage beantwortet würde, was der Präsident zu welchem Zeitpunkt wusste, wäre für Bush vermutlich politisch tödlich. Eine treibende Kraft hinter den Nachforschungen ist der greise Senator Robert Byrd, der zu den wortgewaltigsten Kriegsgegnern zählte und nun Untersuchungen fordert, die „gründ-

lich, transparent und ohne Samthandschuhe“ durchgeführt werden. Angesichts der „Kakophonie der Konfusion“, die aus den Reihen der Administration dringe, würden sich viele Abgeordnete fragen, „ob sie nicht in die Irre geführt wurden“, als sie im vergangenen Herbst der Regierung einen Blankoscheck für einen Krieg ausstellten. „Was mich erstaunt ist, dass der Präsident nicht selbst nach einer Untersuchung ruft“, meinte Byrd, denn schließlich seien es seine Integrität, seine Wahrhaftigkeit und seine Führungsqualitäten, die auf dem Spiel stünden. Er schloss mit der unbequemen Frage, ob man „das Unbekannte oder die Wahrheit fürchtet?“

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Süddeutsche Zeitung 12.6.2003

Verbotene Fragen Zweifel an der Existenz der Waffen wurden im Weißen Haus ignoriert US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat die Gabe, mit einer Mischung aus Chuzpe und Schlagfertigkeit Fragestellern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch auf der jüngsten Europareise lieferte er ein Beispiel dieses Talents, als er Fragen nach dem Verbleib der irakischen Massenvernichtungswaffen mit einem Vergleich abwehrte: „Saddam Hussein haben wir auch nicht gefunden“, beschied er mitreisenden Reportern. „Aber niemand bezweifelt, dass er dort war.“ Die Entfernung des irakischen Despoten war immer einer der Kriegsgründe, welche Präsident George Bush anführte. Manchmal rangierte der Regimewechsel freilich ganz oben in der Rangliste der Argumentationskette, doch oft rutschte er an die zweite Stelle zurück – hinter die mutmaßliche Gefahr, die von Entwicklung und Produktion chemischer, biologischer und womöglich gar nuklearer Waffen im Irak ausging. Denn von Anfang an war das Waffenprogramm Bagdads eine Konstante bei den Versuchen Washingtons, eine internationale Koalition zusammenzuschirren. Mit gutem Grund: Die Existenz tödlicher Mittel wie der Nervengifte VX und Sarin, von Senfgas und Anthrax- Kulturen war nie umstritten. Waffeninspekteure der Vereinten Nationen fanden und vernichteten in den neunziger Jahren enorm große Mengen solcher Waffen, und selbst Chefinspekteur Hans Blix betonte am 27. Januar vor dem Weltsicherheitsrat, dass es „keine überzeugenden Beweise“ dafür gebe, dass Bagdad seine verbliebenen Waffen vereinbarungsgemäß zerstört habe. Entsprechend unzweideutig äußerte sich denn auch US-Vizepräsident Dick Cheney in seiner Rede vom August vergangenen Jahres, als er die Kampagne lostrat, die acht Monate später zum Sturz Saddams führen sollte: „Einfach gesagt besteht kein Zweifel, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt“, sagte Cheney – ohne freilich präzise Angaben über deren Umfang zu machen. Auch Präsident George Bush wägte anfangs seine Worte sehr genau und stellte seine Aussagen zu diesem Thema in den Konjunktiv. Noch bei seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen Anfang September vergangenen Jahres sprach er lediglich davon, dass „Irak wahrscheinlich Vorräte an VX, Senfgas und anderen chemischen Stoffen unterhält“. Doch je stärker sich daheim und in der Welt Widerstand gegen das Unternehmen Irak-Feldzug artikulierte und formierte, desto resoluter wurden die

vorsichtig einschränkenden Worte aus den Reden gestrichen. Wie sich mittlerweile herauszustellen scheint, entwickelte sich die neue Forschheit der Politiker parallel zu einer wachsenden Vorsicht der Geheimdienste gegenüber ihren Quellen. Ein sehr zurückhaltender Bericht der Defense Intelligence Agency, eines Pentagon-Geheimdienstes beispielsweise, wurde von den neokonservativen Falken im Pentagon und im Weißen Haus nie berücksichtigt. In diesem Bericht hatte es unzweideutig geheißen, dass es „keine zuverlässigen Informationen darüber gibt, ob der Irak chemische Waffen produziert oder lagert oder ob er Produktionsanlagen

Antikriegsdemo Berlin Februar 2003

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 für chemische Stoffe eingerichtet hat oder einrichten will“. Im Gegenteil: Kurz nachdem ihm dieser Bericht vorgelegen haben musste, sprach Rumsfeld davon, dass Bagdad „große, geheime Lager chemischer Waffen, einschließlich VX, Sarin, Zyklosarin und Senfgas angehäuft“ habe. Rumsfelds Stellvertreter Paul Wolfowitz hat seitdem zugegeben, dass die Massenvernichtungswaffen quasi nur der kleinste gemeinsame Nenner gewesen seien, auf den sich die zerstrittenen Flügel der Bush-Regierung einigen konnten. Das spricht eigentlich dafür, dass das Beweismaterial beeindruckend gewesen sein muss, wenn es sogar die verfeindeten Ministerien für Äußeres und Verteidigung zusammenschweißen konnte. Doch der eigentliche Grund für den Krieg waren diese Waffen nie. Nach Ansicht des Kolumnisten Thomas Friedman von der New York Times gab es drei andere Gründe: Den „richtigen“ – einen progressiven arabischen Staat im Irak aufzubauen; den „moralischen“ – ein widerwärtiges Mörderregime zu beseitigen, und den „echten“: „Amerika musste nach dem elften September jemanden in der arabisch-muslimischen Welt verprügeln“. Wolfgang Koydl

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Fakten verbogen, Beweise gefälscht Die US-Geheimdienste stützten sich bei der Bewertung der angeblich vom Irak ausgehenden Gefahr auf fragwürdige Quellen Von Hans Leyendecker Bevor sich der amerikanische Präsident George W. Bush nach seinem Amtsantritt im Januar 2001 dazu entschloss, CIA-Direktor George J. Tenet in seinem Amt zu belassen, hat er seinen Vater, den Vor-Vorgänger als Präsidenten, um Rat gefragt. Der kannte Tenet noch aus der Zeit, als dieser im Geheimdienstausschuss des Senats arbeitete. „Nach allem, was ich gehört habe, ist er ein guter Kerl“, soll Bush senior seinem Sohn gesagt haben. Tenet erwies sich als der richtige Mann am richtigen Platz – jedenfalls aus Sicht der Bush-Familie. Der Koordinator aller US-Geheimdienste hatte entscheidenden Anteil daran, dass sich die Regierung bei der Vorbereitung des Irak-Kriegs auf angebliche Geheimdienst-Erkenntnisse stützen konnte. Aus heutiger Sicht sind die US-Dienste entweder für politische Ziele missbraucht worden, oder sie haben sich benutzen lassen. Hinweise wurden zu Fakten verbogen, Indizien zu Beweisen umgedichtet, Meldungen verschärft, über- oder missinterpretiert, plumpe Fälschungen nicht als Fälschungen enttarnt – vermutlich weil sie so schön ins Bild passten. Der Irak sollte der Welt als eine Art Werkstatt des Schreckens erscheinen, in der todbringende Waffen erforscht und in Massen gehortet würden und die deshalb ausgemistet gehöre. Aus Sicht des scheidenden UNChefinspekteurs Hans Blix ist das Material, das verschiedene Geheimdienste den Inspekteuren vorgelegt hatten, „nicht sehr gut gewesen – und das hat mich ein bisschen erschüttert“. Blix empfiehlt, künftig keine Kriege mehr „auf der Basis fehlerhafter Unterlagen zu beginnen“. Die demokratische Abgeordnete Jane Harman im US-Kongress spricht vom „größten Geheimdienst-Flop aller Zeiten“. Tatsächlich waren es aber wohl kaum Fehler, die zu dem öffentlichen Bild eines vor ABC-Waffen strotzenden Irak führten. Es war vielmehr so: Der am leichtesten vermittelbare Kriegsgrund – die vom Irak angeblich ausgehende Gefahr – wurde von der US-Regierung festgelegt, noch ehe die Fakten feststanden. Anschließend lieferten die verschiedenen Geheimdienste, die wiederum untereinander um die Gunst und Aufmerksamkeit der BushRegierung konkurrierten, die gewünschten Informationen. Traditionell ist das Gerangel um Einfluss und Geld im GeheimdienstApparat der USA gewaltig. Für mehr als ein Dutzend Dienste wendet die Regierung pro Jahr etwa 30 Milliarden Dollar auf. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat in den vergangenen beiden Jahren der CIA immer

mehr Aufgaben weggenommen und im Gegenzug den Geheimdienst des Pentagon, die Defense Intelligence Agency (DIA), aufgerüstet. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde zudem ein Arbeitsstab im Pentagon eingerichtet, der sich ausschließlich um den Irak kümmerte. Dieses Kollegium hatte die Aufgabe, alle Rohdaten der CIA auf Spuren in Richtung Irak auszuwerten. Die CIA habe beim Thema Irak versagt, hatte zuvor ein Pentagon-Berater getönt. Viel wusste die CIA tatsächlich nicht. Seit dem Abzug der UN-Inspekteure aus dem Irak 1998 verfügte der Dienst über keine eigenen Quellen mehr vor Ort. Das war zunächst nicht besonders aufgefallen, weil die CIA auch sonst in der Welt kaum Spione hatte. Zwar gab es viele Satellitenbilder, die irakische Wüste und Gebäude zeigten, aber der Aussagewert war sehr begrenzt. Ganz viel hingegen wussten die irakischen Exil-Politiker und Überläufer, die den Geheimdiensten über die damalige Exil-Organisation Irakischer Volkskongress angeboten wurden. Atombomben? Zwei habe Saddam Hussein in der Wüste versteckt, ganz bestimmt. Bio-Waffen? Das ganze Arsenal für Seuchen aller Art habe er entwickeln lassen. Chemiewaffen? Fabrik an Fabrik, natürlich unterirdisch, sonst wären sie auf den Satellitenbildern ja zu sehen gewesen. Außerdem, berichtete eine Überläuferin, die den Lügendetektor-Test des Geheimdienstes überstand, höre Saddam am liebsten Opern von Richard Wagner und rufe schon morgens „Heil Hitler“. Erfundenes, Ausgedachtes, Halbwahres wurde zusammengekocht – im August vorigen Jahres reiste dann das Kollegium aus dem Pentagon zur CIA und legte die Ergebnisse seiner Arbeit vor. Es ging vorwiegend um die angebliche Terrorspur von Saddam zur al-

Qaida, aber nicht nur. Tenet war bei dem Lagevortrag, der den bisherigen Erkenntnissen der CIA in wesentlichen Teilen widersprach, dabei und fand die neue Analyse einleuchtend. Darüber kam es bei der CIA später zu Auseinandersetzungen. Der Druck muss groß gewesen sein. US-Vizepräsident Dick Cheney besuchte häufig die CIA in Langley, um nach dem Rechten zu schauen. Es gab Zweifel, aber die wurden beiseite geschoben. Tenet, der jetzt die Arbeit der US-Geheimdienste untersuchen lässt, hat Cheney unterstützt. Am Ende wurden die angeblichen Erkenntnisse, die Präsident Bush der Weltöffentlichkeit über den Irak präsentierte, nicht mal mehr von seinen eigenen Geheimdienstlern geglaubt. Auch in Großbritannien wurden Berichte über die Gefahr, die vom Irak ausging, zugespitzt und übertrieben. Ein „Waffendossier“ des britischen Geheimdienstes MI 6 wurde von der Regierung Tony Blair nachgebessert. Die Sprache sei „sexier“ gemacht worden, erklärte ein Geheimdienstler. Übersetzt heißt das: Was nicht ins Bild der Kriegsbefürworter passte, wurde gestrichen.

104 IPPNW-Ärzte fordern Ärztekammerpräsident Hoppe auf, sich nicht unter Druck setzten zu lassen

Flüchtlinge/Internationales

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Untersuchung von Flüchtlingen vor Abschiebungen

Bundesinnenminister Wir nehmen Bezug auf die Beschlüsse nen, dass bei den Betroffenen ein Gewollen Ärzte zu der Innenministerkonferenz, Kriterien fühl innerpsychischer Sicherheit entAbschiebe-Gehilfen machen für eine auf die Flugreisefähigkeit ein- steht, das für einen Behandlungserfolg Auf ihrer morgigen Sitzung wird sich die Innenministerkonferenz auf Antrag Nordrhein Westfalens mit der Frage beschäftigen: Wie kann auf Bundesund Landesärztekammern Druck ausgeübt werden, damit sie bzw. ihre Mitglieder an Abschiebungen mitwirken. Die Ärzte für Frieden und in sozialer Verantwortung (IPPNW) weisen diese Einmischung in innerärztliche Angelegenheiten scharf zurück und fordern Bundesärztekammer Präsident JörgDietrich Hoppe schriftlich auf, sich nicht dem Druck der Innenminister zu beugen. Das Schreiben der IPPNW ging nachrichtlich an die Landesärztekammern und die Innenministerkonferenz. Ärzte weigern sich, als AbschiebeGehilfen zu arbeiten. Der Deutsche Ärztetag in Cottbus stellte 1999 unmissverständlich dazu fest: „Abschiebehilfe durch Ärzte in Form von Flugbegleitung, zwangsweiser Verabreichung von Psychopharmaka oder Ausstellung einer Reisefähigkeitsbescheinigung unter Missachtung fachärztlich festgestellter Abschiebehindernisse … sind mit in der ärztlichen Berufsordnung verankerten ethischen Grundsätzen nicht vereinbar.“ Die IPPNW-Ärzte fordern Hoppe auf, diesen Beschluss zu verteidigen. Ärzte müssen bei der Ausübung ihres Berufes, die Freiheit besitzen, staatliche und soziale Prioritäten außer acht zu lassen. Andernfalls würde die berufliche Unabhängigkeit zerstört, in die der Patient sein Vertrauen sitzt. Die IPPNW weist auf das Versagen der Ärzte im Nationalsozialismus hin. Daraus „haben wir die Lehre gezogen, dass im Konflikt zwischen Individuum und Staat sich ein helfender Beruf nie auf die Seite staatlicher Macht stellen darf. Für uns Ärzte muss das Wohl des uns anvertrauten Menschen im Vordergrund jeder Entscheidung stehen. Deshalb weisen wir jegliche Versuche, unser ärztliches Handeln als Instrument gegen einzelne Menschen zu richten entschieden zurück … Eine ärztliche Beteiligung an Abschiebungen ist unvereinbar mit der ärztlichen Ethik.“

geschränkte Begutachtung von Flüchtlingen mit psychoreaktiven Traumafolgen einzuführen, und auf die zur Umsetzung dieses Ziels erlassenen Bestimmungen in den Bundesländern. Als wissenschaftliche Fachgesellschaften und Fachkliniken nehmen wir hierzu Stellung, um zu verhindern, dass im Rahmen der Umsetzung der Beschlüsse wissenschaftliche Erkenntnisse über die Folgen psychischer Traumatisierung unzureichend interpretiert und angewandt werden. Für Menschen, die aufgrund von Gewalterfahrungen in ihren Herkunftsländern unter einer psychoreaktiven Traumastörung, sei es PTSD oder einer der komorbiden Störungen, leiden, bedeutet die Androhung der gewaltsamen Rückführung an den Ort ihrer traumatisierenden Erfahrungen eine Reaktualisierung ihres Leidens, die schwerwiegende Auswirkungen auf den Verlauf ihrer Störung hat. Die Situation ist vergleichbar mit der eines Kindes, das nach der Flucht vor einem gewalttätigen/missbrauchenden Vater von der Polizei in bester Absicht nach Hause zurückgebracht wird, weil dort angeblich jetzt Ruhe herrsche. Unwillkürlich werden die Gewalterfahrungen wieder erinnert und führen vollkommen unabhängig von der objektiven Sicherheitslage vor Ort zu einer umfassenden psychischen Destabilisierung. Diese Psychodynamik, die zu plötzlichen suizidalen Handlungen führen kann, ist aus einer sachlichen, distanzierten Sicht nicht leicht nachvollziehbar, aber wissenschaftlich hinreichend empirisch und physiologisch belegt (s. z.B. B. van der Kolk et al 2000, „Traumatic Stress“, Jungfermann-Paderborn, u.a. S.192). Hierbei handelt es sich nicht um eine (ggf. vorübergehende) „Flugreiseuntauglichkeit“, also eine durch den Flug selbst ausgelöste Gesundheitsgefahr, der durch zeitlich begrenzte (medikamentöse) Maßnahmen abgeholfen werden kann und die nach der Ankunft beendet ist, sondern um eine Retraumatisierung durch die vorweggenommene Ankunft. Die zwangsweise Rückführung selbst verstärkt den Traumatisierungsprozess weiter. Seine Behandlungsmöglichkeit im Herkunftsland wird durch eine möglicherweise vorhandene medizinische Infrastruktur nur unwesentlich beeinflusst. In räumlichem Kontakt mit den Orten der Gewalterfahrungen, ist nicht damit zu rech-

notwendig ist. Insofern verbessern im Herkunftsland bestehende Behandlungsmöglichkeiten die Prognose nur gering. Wichtig ist vielmehr, einen sicheren Lebensraum zu ermöglichen. Wir halten es für wichtig, auf diese Gesetzmäßigkeiten des traumatischen Prozesses hinzuweisen und zu fordern, dass • für die Begutachtung zur Klärung, ob entsprechende Störungsbilder vorliegen, nur entsprechend qualifizierte Psychiater/Psychotherapeuten eingesetzt werden, die in ihrer Urteilsbildung unabhängig sind, und ärztlicher Fachaufsicht unterstehen (z.B. im Gesundheitsamt) • bei der Entscheidung über eine Abschiebung fachliche Kriterien berücksichtigt werden • die Fragestellung ergebnisoffen formuliert wird (z.B.: „Liegt aus klinischer Sicht eine ernsthafte Gefährdung der psychischen Gesundheit im Falle einer unfreiwilligen Rückkehr vor?“) Initiative: Dr. Gierlichs, Arbeitsgruppe SBPM, Hahner Str. 29, 52076 Aachen, 02408 5585, [email protected]

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Flüchtlinge/Internationales

Ärzte Zeitung 25.10.2002

Ausländeramt stellt Ärzte eigens für Abschiebe-Gutachten ein Kölner Behörde will schnellere Entscheidung darüber, ob ein Flüchtling reisefähig ist / Gesundheitsamt weist Vorwurf der Verzögerung zurück KÖLN (akr). In Köln sorgt die Anstellung zweier Ärzte im städtischen Ausländeramt für Wirbel. Sie sollen in Zukunft begutachten, ob die Gesundheit eines Flüchtlings die Abschiebung erlaubt, und zu diesem Zweck die Atteste niedergelassener Ärzte überprüfen. Bisher hatten Mediziner des Kölner Gesundheitsamtes diese Aufgabe. „Zum ersten November wird ein Allgemeinmediziner seine Tätigkeit beim Ausländeramt beginnen und zum ersten Dezember ein Psychiater“, bestätigt Stefan Palm, Sprecher der Stadt Köln. Die Ärzte des Gesundheitsamtes seien mit der Begutachtung von Flüchtlingen überlastet, die Wartezeiten zu lang, sagt er. Im vergangenen Jahr haben Mediziner des Gesundheitsamtes Zweitgutachten über den gesundheitlichen Zustand von 800 Flüchtlingen erstellt. Die meisten von ihnen sind Bürgerkriegsflüchtlinge, viele leiden unter posttraumatischen Belastungsstörun-

gen. Nach dem Willen der Ausländerbehörde sollten diese Menschen abgeschoben werden. Doch niedergelassene Ärzte hatten die Patienten für reiseunfähig erklärt. Bei mehr als 95 Prozent der Betroffenen schlossen sich die Gutachter des Gesundheitsamtes der Meinung der Niedergelassenen an – die Erkrankten durften bleiben. Das rief offenbar das Ausländeramt auf den Plan. Im Einvernehmen mit dem zuständigen Ratsausschuß beschloß es die Anstellung eigener Ärzte. „Die personelle Situation im Gesundheitsamt machte das erforderlich“, erklärt

E-Mail Winfried Kahlke

Flugbegleitung in Hamburg gibt es mindestens einen konkreten Fall – das war der Auslöser über die kirchliche Hilfsstelle „Fluchtpunkt“ – in dem ein über die notarzt-boerse angeforderter Kollege aus NRW für die Hamburger Ausländerbehörde aktiv geworden ist. Im Gespräch mit den Mitarbeiterinnen von Fluchtpunkt und wohl auch gegenüber dem Anwalt des Abzuschiebenden hat er auch den zwangsweisen Einsatz von Pschopharmaka für gerechtfertigt gehalten. Ein konkreter Antrag könnte doch feststellen, daß – gemäß DÄT-Beschluß aus Cottbus – die Flugbegleitung und/oder zwangsweise Verabreichung von Medikamenten mit den ethischen Grundsätzen der ärztl. Berufsordnung nicht vereinbar sind; dies gilt ebenfalls für ärztliche Einrichtungen (wie z. B. die „Notarztbörse“ unter der ärztlichen Leitung eines Mitglieds der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern – Dr. med. André Kröncke), die solche Dienste anbieten oder Ärzte für solche Aufgaben anwerben. Auf den Werbeseiten der notarzt-boerse wird ja u.a. für Flugbegleitung bei „Repatriierungen“ geworben. Herzliche Grüße! - Winfried

105 Ausländeramt-Leiterin Dagmar Dahmen. An der Qualität der Gutachten der Ärzte aus dem Gesundheitsamt möchte sie „fachlich nicht rütteln“. Kölner Menschenrechtsinitiativen kritisieren, das Amt wolle mit Hilfe der eigens angestellten Ärzte Abschiebungen beschleunigen, um Aufenthaltskosten zu sparen. „Das ist nicht der Fall“, beteuert Dahmen. Aber: „Wenn jemand sechs Monate hier bleibt, obwohl er reisefähig ist, ist das natürlich auch ein Kostenfaktor.“ Das Gesundheitsamt möchte weiterhin für die Zweitgutachten zuständig sein. „Wenn das Ausländeramt signalisiert, daß es eilig ist, sind wir auch in der Lage, von heute auf morgen eine Begutachtung vorzunehmen“, sagt Dr. Jan Leidel, Leiter des Gesundheitsamts. Für Flüchtlinge, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, stehen im Gesundheitsamt sechs Ärzte des sozialpsychiatrischen Dienstes bereit. Leidel soll die Fachaufsicht auch für die Mediziner im Ausländeramt übernehmen, obwohl sie außerhalb seines Bereichs tätig sind. Der Amtsleiter: „Das werde ich nicht tun. Ich werde mich weigern.“

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Ärzte Zeitung 03.06.2003

GKV-Transfers ins Ausland? AOK stellt Zahlen klar In Bayern sorgt ein Serienfax für heftige Reaktionen/Stimmungsmache gegen Mitversicherung von Ausländern MÜNCHEN (sto). Als „unverantwortliche Stimmungsmache gegen Ausländer“ hat die AOK Bayern einen kürzlich auch in viele Praxen verschickten Faxdienst „Eurowahl“ bezeichnet: Auf einem „Wahlzettel“ werden die Empfänger gefragt, ob die Mitversicherung von Eltern ausländischer Mitbürger in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgeschafft werden soll. Mit dem Serienfax werde der Eindruck erweckt, daß „Milliardenbeträge aus den deutschen Krankenkassen in die Türkei und auf den Balkan abfließen“. Das ist nach Darstellung der AOK Bayern falsch. Tatsächlich hätten die Kassen nach Angaben der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung-Ausland im Jahr 1999 an die türkische Krankenversicherung für rund 34 000 Familien etwa 7,1 Millio-

nen Euro überwiesen. Die Gesamtausgaben der GKV lagen im gleichen Jahr bei etwa 125 Milliarden Euro. Hintergrund sei, daß die Familienangehörigen gesetzlich krankenversicherter ausländischer Arbeitnehmer genauso einen Leistungsanspruch wie Familienangehörige deutscher Arbeitnehmer haben, erläutert die AOK. Dies gelte unter bestimmten Voraussetzungen auch für Familienangehöri-

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003 ge, die im Ausland wohnen. Beispielsweise muß ein Sozialversicherungsabkommen zwischen den Staaten bestehen. So können in der Türkei auch die Eltern eines in Deutschland versicherten Arbeitnehmers leistungsberechtigt sein. Voraussetzung sei allerdings, daß dieser für die Eltern unterhaltspflichtig ist, bestimmte Vorversicherungszeiten erfüllt und die Eltern keine eigenen Ansprüche auf Leistungen haben. Wenn die Eltern zu Besuch nach Deutschland kommen, können allerdings keine Leistungen bezogen werden, betont die AOK. Dabei gehe es keineswegs um Milliardenbeträge. Die Kassen würden die Ansprüche mit der Überweisung einer Pauschale an die ausländischen Versicherungsträger abgelten. Der zuletzt ermittelte Abrechnungswert liege bei monatlich 18,15 Euro. Würden die betroffenen Familienangehörigen in Deutschland wohnen, wären die Kosten viel höher, so die AOK.

Verschiedenes Die Westfälische Klinik für Psychi- 9. Kongress Armut und Gesundheit atrie, Psychotherapie, Psychosoma„Strategien der Gesundheitsförderung – wie kann die Gesundtik und Neurologie sucht

Assistenzärztin/ Assistenzarzt

heit von Menschen in schwierigen Lebenslagen nachhaltig verbessert werden?“

Freitag/Samstag, 5. und 6. Dezember 2003, Rathaus Schöneberg, Berlin

für den Bereich der Inneren Medizin.

Unter der Schirmherrschaft von: Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziales und Klaus Wowereit, Regierender Oberbürgermeister von Berlin

Des Weiteren wird dringend gesucht

Mit Beiträgen von Heide Knake-Werner, Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Berlin, Marion Caspers-Merk, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit und Soziales, Karl W. Lauterbach, Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Rolf Rosenbrock, Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, Hans- Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des AOK- Bundesverbandes … und vielen weiteren aus Praxis, Wissenschaft und Politik.

internistischer Oberarzt Ansprechpartner: Jan-Peter Theurich Tel. 05241-502318 Fax: 05241-502134 E-Mail: [email protected]

Themen des Kongresses: Gesundheitsprobleme von Kindern und Jugendlichen • Gesundheitliche Versorgung Wohnungsloser • Migration und Gesundheit• Frauen und Gesundheit • Altersarmut und Gesundheit • Arbeitslosigkeit und Gesundheit• Armutsbekämpfung im Stadtteil • Gesundheitsförderung zum Abbau ungleicher Gesundheitschancen • Sucht und Armut • Patienteninformation und Disease-Management • AIDS und Armut • Behinderung und Armut • Armuts- und Gesundheitsberichterstattung • Gesundheitsziele gegen Armut • Gesundheitliche und gesellschaftliche Strategien gegen Armut Kostenloses Programmheft, Informationen und Stand- und Teilnahme-Anmeldung: Gesundheit Berlin e.V., Straßburger Str. 56, 10405 Berlin Fon 0 30-44 31 90-60,Fax 0 30-44 31 90-63, E-Mail [email protected], Internet www.armut-und-gesundheit.de

Bücher

VDÄÄ-Rundbrief Nr. 2/2003

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Buchtipp: Jahrbuch Kritische Medizin 38 Gesundheitsreformen-Internationale Erfahrungen Es werden die Gesundheitssysteme der Schweiz, Schwedens, Frankreichs, Englands, der Niederlande mit ihren Besonderheiten vorgestellt und diskutiert. Außerdem gibt es einen Beitrag von David Klemperer zur Kompetenzerhaltung und Rezertifizierung von Ärzten in Kanada mit der Frage der Übertragbarkeit auf Deutschland. Der Beitrag von Eva Walzik „Reformoptionen zur Weiterentwicklung des Finanzierungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung“ behandelt ein Thema, das uns seit Jahren beschäftigt.

Vorankündigung: Winfried Beck

Nicht standesgemäß Beiträge zur demokratischen Medizin

Buchvorstellung auf der Jahreshauptversammlung des VDÄÄ 2003 durch Hans-Ulrich Deppe

ISBN 3-88864-375-9 • erscheint Sept./Okt. 2003 • ca. 160 Seiten • ca. 14 €

Günter Altner/ Gerd Michelsen (Hrsg.)

Friede den Völkern Nachhaltigkeit als interkultureller Prozess Festschrift für Udo E. Simonis ISBN 3-88864-361-9 • 233 S. • 15 € Mit Beiträgen von: Günter Altner/Gerd Michelsen, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Harald Müller, Heide Simonis, Martin Jänicke, Inse Cornelssen, Stephan Kohler, Ekhart Hahn, Rolf Kreibich, Ernst-Otto Czempiel Die aktuelle Weltentwicklung weist besorgniserregende Bruchlinien auf. Das bislang im Kontext von Ökonomie und Ökologie Vorgedachte muss heute unter Beachtung kultureller und friedenspolitischer Aspekte in den Gesamtzusammenhang einer nachhaltigen Menschheitskultur überführt werden. Die in diesem Band zusammengefassten Beiträge ziehen einerseits Bilanz, zeigen andererseits aber auch mögliche Entwicklungsperspektiven auf. Mit diesem Band soll Udo E. Simonis anlässlich seines 65. Geburtstages geehrt werden. Er hat sich in den letzten Jahrzehnten als ökologischer Ökonom profiliert und immer wieder an der internationalen Diskussion über die Balance zwischen Weltwirtschaft und Weltökologie beteiligt.

PERSPEKTIVEN – Schriften zur Pluralität in der Medizin: Medizintheorie Hrsg: Prof. Dr. med. Peter F. Matthiessen

und dementsprechend eine kritische Differentialindikatorik hinsichtlich der einzelnen Therapieoptionen zu betreiben.

P. F. Matthiessen (Hrsg.)

Jörg Schumacher, Konrad Reschke und Harry Schröder (Hrsg.)

Krebserkrankung Therapiefindung und Lebensbegleitung Celler Gespräche – Heilen im Dialog

ISBN 3-88864-363-5 • 2003 • 160 Seiten • 14,80 € Der vorliegende Band gibt die vom 14.–16. September 2001 im Rahmen des „3. Celler Gesprächs“ gehaltenen Vorträge wieder. Die Kongressreihe „Celler Gespräche“ versteht sich als Forum für einen Dialog zwischen verschiedenen Richtungen in der Medizin, durch den die Möglichkeiten und Grenzen sowie die wechselseitigen Ergänzungspotenziale unterschiedlicher Denkund Praxisansätze ansichtig gemacht werden sollen. Von den einen als eine „Herderkrankung“ im Sinne einer lokalen zellulären Entartung (Herdparadigma) angesehen, von den anderen als symptomatisches Geschehen im Rahmen einer Krebskrankheit i.S. einer Allgemeinerkrankung gedeutet (Abwehrparadigma), ist für die epidemiologisch bedeutsamen Formen der Krebserkrankung eine kurativ wirksame Therapie noch nicht in Sicht. Vor diesem Hintergrund aktualisiert sich die Aufgabe, therapeutisch sich nicht mit der Perspektive der Tumorbekämpfung zu begnügen, sondern die Suche nach einer individuell je angemessenen Hilfestellung bei der Betreuung krebskranker Menschen in den Mittelpunkt des Bemühens zu stellen

Verlag für Akademische Schriften 60318 Frankfurt • Wielandstraße 10 Telefon (069) 77 93 66 • Fax (069) 7 07 39 67 e-mail: [email protected] • internet: www.vas-verlag.de

Mensch unter Belastung Erkenntnisfortschritte und Anwendungsperspektiven der Stressforschung ISBN 3-88864-358-9 • 2002 • 224 Seiten • 19,80 € Die Veröffentlichungsflut auf dem Gebiet der multidisziplinären Stressforschung ist seit Jahren ungebrochen. Mit diesem Buch wird eine Bestandsaufnahme der essentiellen Erkenntnisfortschritte vorgenommen. Dabei liegt der Fokus auf den letzten 10 Jahren. Als Kriterien werden angelegt: theoretisch-konzeptionelle Erweiterungen, Fundierungen und Differenzierungen durch neue Befunde sowie die Nutzungsqualität der Erkenntnisse in Anwendungsbereichen. Dem entspricht auch die Gliederung des Buches. Von einer kritischen Bestandsaufnahme im konzeptionellen Bereich ausgehend werden repräsentative Anwendungsfelder in der Arbeitswelt und in der medizinischen Praxis thematisiert. Ein letzter Teil greift die makrosoziale Perspektive der Belastungsthematik in Zeiten gesellschaft-lichen Wandels auf. Die angewandten Beiträge beziehen sich u.a. auf: Stressbewältigungsprogramme, Podiumsangst, Belastungsbewältigung bei medizinischen Eingriffen und Versehrtheit, Spontanremissionen bei Krebserkrankungen und die Befindlichkeit von Arbeitslosen.

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