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MUSIKSTUNDE mit Trüb

Mittwoch, 18. 9. 2013

„Interpretationsvergleich: Der Nussknacker“ (3) MUSIK: INDIKATIV, NACH CA. … SEC AUSBLENDEN Man braucht keinen Nussknacker, um Tschaikowskys Ballettmusik „Der Nussknacker“ zu knacken: Das ist keine harte Nuss, sondern eine Praline, sie schmilzt beinahe im Mund. Allerdings hat die Geschichte auch dunklere Töne, sozusagen Bitterschokolade; es geht um „Mäuse und Menschen“, aber nicht von John Steinbeck, sondern E. T. A. Hoffmann, dessen Novelle „Nussknacker und Mausekönig“ allerdings der Übersetzer Alexandre Dumas père bereits entschärft hatte: Das Zarenreich war nun mal frankophil und frankophon, Tschaikowskys Französisch besser als sein Deutsch. Kurz umrissen, geht es um Folgendes: Im bürgerlichen Wohnzimmer von Medizinalrat Stahlmann wird Weihnacht gefeiert, mit den Kindern Clara und Franz. Gleichzeitig wird ein Stellvertreterkrieg der Spielzeuge ausgetragen: Ratten (also das Böse im Menschen) gegen das Gute im Menschen, verkörpert durch den Nussknacker, einen verzauberten Prinzen. Die Fäden zieht der Onkel Drosselmeyer, ein typisch hoffmannesker Uhrmacher und Puppenspieler, mal gütig, mal dämonisch. Und als Katalysator fungiert beim Endkampf Gut-gegen-Böse die kleine Clara: Wie Senta im „Fliegenden Holländer“ entscheidet ihre Liebe über Sieg oder Niederlage, Erlösung oder Verdammnis. Hören wir uns die Ouvertüre gleich von einer der brillantesten Einspielungen an, die je gemacht wurden: Antal Dorati dirigiert das London Symphony Orchestra, aufgenommen wurde auf 35mm-Magnetfilm, also Klangopulenz der 60er-Jahre. Tanzen könnte man darauf nicht, aber die Ohren summen mit.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 1 (3:05) Die Amis nennen das „High-Octane“, so etwas wie ein supergetuntes Auto, das vor dem staunenden Auge vorüberflitzt: Antal Dorati dirigierte das London Symphony Orchestra mit der MiniaturOuvertüre von Tschaikowskys Ballett „Der Nussknacker“. Tanzen könnte man darauf nicht, es ist eine reine Konzertversion. Wenn man's „vernünftiger“ haben will, vielleicht auch: graziler, nicht so muskulös, und über allem: tanzbar, muss man zur Version der Staatskapelle Dresden greifen, an deren Pult ein rechtschaffener Kapellmeister aus Holland steht: Hans Vonk. Zwar wird zur Ouvertüre meist noch nicht getanzt, aber das Tempo hier ist symptomatisch für alle Tempi dieser Aufnahme. Sie rühren tatsächlich von authentischer Ballettpraxis her.

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MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 1 (3:28; ACHTUNG! AB 1:42 SANFT AUSBLENDEN!; CA. 1:45) Noch einmal, im Ausschnitt, die Ouvertüre zu Tschaikowskys „Nussknacker“-Ballett, diesmal von Hans Vonk und der Staatskapelle Dresden: auch sehr schön, sauber gearbeitet und mit Grazie gespielt, ohne die unterschwellige Frenetik der Aufnahme mit Dorati und dem London Symphony. Ab hier ist das jetzt natürlich wieder eine Geschmackssache: Zieht man die superbrillante Konzertaufführung vor – oder die „vernünftige“ Ballettmusik? Ich kann Ihnen verraten: Es ist nicht so schwer, beides zu mögen … Was hat man mit dem „Nussknacker“ auf der Bühne nicht alles angestellt! Jeder profilierungssüchtige Choreograph wollte sich so weit wie möglich von Marius Petipa wegbewegen, der das Libretto schrieb und die Uraufführung gestaltete. Petipa sei was für Ballettmeister in der Provinz, meinte allen Ernstes mal John Neumeyer im Interview: Schnee von gestern, wieder aufgewärmt, wird abgestandenes Wasser, heißt das wohl. Dass eine intelligente Weiterentwicklung des Petipa-Konzepts einen überzeugenden „Nussknacker“ ergäbe, spielt keine Rolle; Hauptsache, man fällt auf. Und so wurde der „Nussknacker“ nicht einfach nur zur Spielwiese, sondern zum Profilierungslabor. Das kann freudianisch werden, wenn das schwer traumatisierte Mädel Clara nicht nur die verlorene Mutter wiederfindet, sondern dank Nussknackern auch zur Frau wird, Flugträume, Ödipuskomplexe und Fetische gibt’s im Foyer zu kaufen wie Popcorn. Oder der Choreograph und der Ausstatter flippen gleich ganz aus wie jüngst in St. Petersburg und servieren das Ganze als psychedelischen LSD-Trip. Dann doch lieber Freud: Der hatte noch mehr mit der Wirklichkeit zu tun. Gegen den Unterhaltungswert einer charmantverrückten Version wie der von Matthew Bourne will ich jetzt gar nichts sagen! Da ersticken die szenischen Einfälle zwar sowohl Tschaikowsky als auch Hoffmann – aber es sind wenigstens lustige Einfälle.

Das jedoch betrifft die DVDs, und im Radio müssen wir nun mal mit der Musik vorlieb nehmen. Was gar keine Reduktion bedeutet: Manchmal sind die Bilder im Kopf farbiger als jedes Bühnengeschehen. Ein Mann, der Tschaikowskys Ballette sensualistischer eingespielt hat als andere, ist der Amerikaner André Previn. Previn hat mal, wie sein Vater, Filmmusik komponiert, hat Filmmusicals dirigiert und wurde, als er sich dann dem Klassik-Business zuwandte, von den verschiedensten Seiten angefeindet: Was, der und Mozart, Bach, Brahms? Er war aber immer nur

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ein erstklassiger Musiker, der Kurt Weills Maxime lebte, es gäbe keine U- oder E-Musik – sondern nur gute und schlechte. Wirklich, was ist der Unterschied zwischen „Yesterday“ von den Beatles und einem Schubertlied? Was ist der Unterschied zwischen „My Fair Lady“ oder „Manon Lescaut“? Warum sollte die Filmmusik zu „Citizen Kane“ schlechter sein als Verdis „Don Carlo“? Es ist noch immer nicht politisch korrekt, das so auszusprechen. Mir völlig wurscht: Jedenfalls steht André Previn für genau diesen Crossover, der in Wahrheit keiner ist. Denn wir alle, auch die Komponisten, sitzen im selben Boot. - Nach der Ouvertüre weitergehend, zum „Schmücken des Weihnachtsbaumes“, wird’s bei Tschaikowsky und in den meisten Aufnahmen erstmal langweilig. Nicht so bei André Previn, der mit rhythmischer Delikatesse und klug gewichteter Klangmixtur die Spannung hält – ein bisschen in Richtung: Filmmusik. Die ja von der Ballettmusik eh nicht sooo weit entfernt ist ...

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 2 (4:07) Wo's bei anderen vorübergehend langweilig wird, beim „Schmücken des Weihnachtsbaumes“, hält André Previn die Spannung: hier mit dem Royal Philharmonic Orchestra.

Das Royal Philharmonic eignet sich sehr gut für Ballett: Die kleine Form liegt ihm mehr als das symphonische Urgestein etwa eines Ralph Vaughan Williams. Keine Ahnung warum, aber es ist so. Umso betrüblicher, dass dieses pointenverliebte Ensemble schwer enttäuscht mit dem „Nussknacker“ unter einem anderen Dirigenten, dem Pianisten Vladimir Ashkenazy: Da beginnt die Langeweile schon mit der Ouvertüre! Das hat nichts mehr zu tun mit Balletttempi, das ist nur noch dröge und betulich. Schade.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 1 (3:36; ACHTUNG! BITTE BEI CA. 1:47 RAUSGEHEN!; CA. 1:49)

Ja, reicht. Wie Vladimir Ashkenazy hier das sonst so funkelnde Royal Philharmonic Orchestra dirigiert, ist auch eine Kunst – die Kunst der Unterdrückung jeglicher Lebensfreude. Wenn der „Nussknacker“ so weitergeht, dann gute Nacht. Eine De-Luxe-Produktion zu Weihnachten 1987 sollte der „Nussknacker“ werden, den das Label Philips ein Jahr zuvor hatte aufnehmen lassen: Der junge Russe Semyon Bychkov, ein Protégé Herbert von Karajans, durfte dessen Lieblingsspielzeug dirigieren, die Berliner Philharmoniker. Da

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konnte eigentlich nicht viel schiefgehen, oder? Tat es auch nicht, die Berliner spielen immer auf hohem bis höchstem Niveau, und natürlich kannte Bychkov seinen Tschaikowsky – am damaligen Leningrader Konservatorium hatte er bereits als Student die Oper „Pique Dame“ dirigiert. Aber irgendetwas Besonderes wurde die Aufnahme auch nicht, so wie André Previns und zumal Antal Dorátis „besondere“ sind. Es bleibt bei Routine auf höchstem Niveau, mangelt an innerer Beteiligung – als müsste lediglich ein Wunsch der Plattenfirma abgehakt werden. Der kleine Marsch im ersten Bild ist dafür symptomatisch; er wurde wahrscheinlich nicht einmal geprobt, denn für die Philharmoniker sind das eh nur Peanuts.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 3 (2:26)

So weit, so solide: Die Berliner Philharmoniker spielen, unter Leitung Semyon Bychkovs, den kleinen Marsch aus dem ersten „Nussknacker“-Bild mit der ihnen eigenen überlegenen Routiniertheit, da reißt man sich kein Bein aus. Was man aus dieser knappen Episode machen kann, demonstriert uns dagegen wieder Antal Dorati mit dem London Symphony Orchestra: ein spannendes Kleinod, das nicht als Ruhepause funktioniert, sondern als Brücke. Und falls Sie jetzt denken: Jaja, die Klangqualität ist hier analytischer, man hört ja soviel mehr! - dann ist das zwar richtig, aber nur die halbe Miete. Denn ohne die überschäumende Spielfreude des Orchesters und Doratis offenbar zündende Ermunterung wär's hier vermutlich nur wie dort: die Routine eines erstklassigen Orchesters. Hier braucht man nur die hochgespannten und differenzierten PizzicatoFiguren zu hören, dann weiß man schon bescheid.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACK 3 (2:15)

Spannung, Spielfreude und größte Präzision: Das waren wieder Antal Dorati und das London Symphony Orchestra. Eigentlich ist die „Nussknacker“-Dramaturgie ja ziemlich beknackt: Wo E. T. A. Hoffmann nochmal kräftig aufdreht, endet das Ballett im Raffinierzucker, laut Libretto von Petipa und Wsewoloschsky, nach Entwürfen des Tschaikowsky-Bruders Modeste. Zwei Teile, zwei Akte: Der erste feiert Weihnachten im Hause Stahlbaum, mit Drosselmeyer-Zauber, mitternächtlichem Mäusekampf und Schlittenfahrt durch die Schneeflöckchen. Erwachsene unterhalten sich gut, Kinder sind oft gelangweilt. Dann der zweite Akt: ein Charaktertanz nach dem andern, gipfelnd allerdings im großen Pas-de-deux Zuckerfee und Prinz. Holiday-on-Ice funktioniert in etwa nach

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demselben Prinzip. Dennoch – hier freuen sich die Kinder, Papa und Mama gähnen. Es wird im ersten Bild einfach zu viel angeschnitten, um in Sahneschnittchen und Trinkschokolade zu enden. Natürlich kann man jetzt sagen: Das ist Ballettkonvention, die zweite Hälfte ist das Schaufenster der Compagnie. Dann sollte man aber mit Sigmund Freud lieber zu Hause bleiben … Aber für uns im Radio gibt’s ja die Musik! Tschaikowskys „Schwanensee“ ist musikalisch bestimmt noch verführerischer (und noch dunkler), „Dornröschen“ kontrapunktisch straffer – aber der „Nussknacker“ hat beides in großer Harmonie, er ist und bleibt des Komponisten Tanzmeisterwerk. Wenn man nur hört, geht das alles wunderbar ineinander über, vor allem, wenn ein Könner vom Kaliber André Previns das dirigiert (und das Royal Philharmonic Orchestra spielt): vom Schneeflöckchenwalzer, der das erste Bild beendet, direkt ins Zauberschloss von Zuckerburg und zur Szene von Clara mit dem Prinzen, umgeben von Süßigkeiten. Anlässlich einer Tagung von Zahnärzten wäre „Der Nussknacker“ wirklich die passende Gala.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 1, TRACKS 11, 12 + 13 (10:01)

Das ist unglaublich raffiniert: Die Ankunft auf Schloss Zuckerburg nimmt Previn anfangs deutlich langsamer als fast alle andern, so Claras Ergriffensein unterstreichend, dann zieht er das Tempo an, ins Geschehen sozusagen hineingleitend. Und das Royal Philharmonic Orchestra folgt ihm nur allzu willig. Wenn man sich mit Antal Doratis aufpulverndem Parforceritt nicht anfreunden kann, sollte man sich Previn in den Plattenschrank stellen. Eine schöne Anekdote gibt es zum „Nussknacker“: Wie raffiniert nämlich Tschaikowsky seine klangfarblichen Effekte kalkulierte, möge das Beispiel der Celesta illustrieren. Das Ding, das gespielt wird wie ein Klavier, aber klingt wie ein weicheres Glockenspiel, also wie Glöckchen, wurde erst 1886 in Frankreich erfunden und war patentiert bei der Pariser Firma Mustel. Tschaikowsky weilte gerade dorten, hörte es klingeln und dachte sich: Das muss mit hinein in den „Nussknacker“! Aber weil die Premiere quasi übermorgen war, und weil eine offizielle Bestellung erst nach vielen Monaten geliefert worden wäre (allein beim Zoll wäre die Kiste herumgestanden bis zum St. Nimmerleinstag!), kaufte der Komponist das Instrument – und schmuggelte es im Zug, als Reisegepäck getarnt, nach St. Petersburg! Dann ließ er es unter größter Geheimhaltung im Orchestergraben des Marientheaters installieren. So waren ihm bei der Premiere schon mal Extra“Ohs!“ und -“Ahs!“ seines verwöhnten Petersburger Publikums sicher. Es war nicht grade das wiedererfundene Rad, aber ein wunderbarer Klang aus Nirgendwo – das französische Wort céleste

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bedeutet zu Recht himmlisch. Die Celesta nutzt Tschaikowsky immer wieder als Klangfarbe im Orchester, aber gegen Ende, beim Tanz der Zuckerfee, macht er sie sogar zur Solistin! Der Zuckerfeetanz gelingt Vladimir Ashkenazy mit dem Royal Philharmonic Orchestra noch recht ansprechend; im Finale und der Apothéose allerdings verstolpert er sich ein paarmal.

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, CD 2, TRACKS 3 + 4 (9:03)

Ja, was da zum Schluss klingt wie Richard Wagner, ist immer noch Tschaikowsky: An Wagner kam damals eben so gut wie keiner vorbei! Vladimir Ashkenazy dirigierte das Royal Philharmonic Orchestra. So, aber diesen Schlusswalzer samt Apotheose hören wir uns jetzt auch noch von meiner Lieblingsaufnahme an: Die große Geste des glanzvollen Schließens hat Antal Dorati einfach besser drauf! Und mit ihm haben's auch die Kollegen vom London Symphony … Dabei ist das Ganze leichter, beschwingter als bei Askenazy – sogar das Wagnerfinale hat einen schlankeren Fuß!

MUSIK: TSCHAIKOWSKY, DER NUSSKNACKER, TRACKS 14 + 15 (4:55; ACHTUNG! FALLS NÖTIG, AUF ZEIT FAHREN!)

Absage: Das war … Zuletzt hörten Sie Finale und Apothéose des Balletts „Der Nussknacker“ von Tschaikowsky; Antal Dorati dirigierte das London Symphony Orchestra.

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MUSIKLAUFPLAN

1) TSCHAIKOWSKY, Der Nussknacker; London Symphony Orchestra, Antal Dorati; mercury/Philips 475 6623 (LC 00305) 2) TSCHAIKOWSKY, Der Nussknacker; Staatskapelle Dresden, Hans Vonk; Capriccio 10 071/72 (LC 8748) 3) TSCHAIKOWSKY, Der Nussknacker; Royal Philharmonic Orchestra, André Previn; EMI 7 64843 2 (LC 6646) 4) TSCHAIKOWSKY, Der Nussknacker; Royal Philharmonic Orchestra, Vladimir Ashkenazy; Decca 433 000-2 (LC 0171) 5) TSCHAIKOWSKY, Der Nussknacker; Berliner Philharmoniker, Semyon Bychkov; Philips 420 237-2 (LC 0305)