Mit Musik neue Welten erschaffen

Christian Winkler die seltsame andere Meinung dem eigentümli- Mit Musik neue Welten erschaffen. chen Geschmack zu, über den sich bekannt- Konstruk...
Author: Ewald Schulze
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Christian Winkler

die seltsame andere Meinung dem eigentümli-

Mit Musik neue Welten erschaffen.

chen Geschmack zu, über den sich bekannt-

Konstruktivistische Gedanken zur Musik-

lich nicht diskutieren läßt, und gehen zur Ta-

pädagogik.

gesordnung über. Schade. Wir haben gerade wieder einmal die

David Harrington, der Gründer und Cellist des

Gelegenheit verpaßt, etwas zu lernen. Sie ver-

weltbekannten Kronos-Quartetts hat in einem

stehen nicht ganz? Gut, ich will versuchen, es

Interview über sein Ensemble gesagt: „You

an einem „anschaulichen“ Beispiel zu erklä-

know how insects have lots of different eyes,

ren.

different ways of seeing? Well, Kronos has

Betrachten Sie doch bitte die Abbildung. Viel-

ears like an insect has eyes. And as a musician

leicht kennen Sie dieses Bild des holländi-

you should always keep your ears open.“1

schen Graphikers M. C. Escher (1898 - 1972)

Leider - oder Gottseidank - sind wir keine

mit dem Titel „Bildergalerie“.

Insekten. Wir hören auch nicht mit acht unterschiedlichen Ohren, wie die Mitglieder des Kronos-Quartetts. Wir hören nur mit zwei Ohren, mit unseren Ohren. Das klingt wie eine Banalität, hat aber große Bedeutung: Wenn wir Musik hören, so hören wir sie auf unsere ganz besondere Art und bringen das Hörerlebnis mit unseren früheren Erfahrungen in Zusammenhang. Wir nehmen ganz besondere Dinge wahr - und andere nicht - und bilden uns daraus eine Meinung. Wir wissen zwar, daß andere Menschen anders über dieselbe Aufführung eines Konzerts berichten oder einen bekannten Titel einer unserer Lieb-

In der letzten Zeit war diese Abbildung in

lingsplatten so beschreiben, daß wir den Ein-

mehreren Büchern und Zeitschriften abgebil-

druck bekommen, sie sprechen über ein ganz

det und wurde von unterschiedlichen Autoren

anderes Stück, wollen jedoch meistens dann

beschrieben. Einige Auszüge dieser Beschrei-

darüber nicht weiter diskutieren und schreiben

bungen lauten so:

Ein Lehrer und Therapeut: „Auf dieser Radierung ist in der rechten unteren Ecke des Bildes der Eingang zu einer Kunstgalerie zu sehen, in der viele verschiedene Gemälde ausgestellt sind. In der linken unteren Ecke befindet sich ein Mann, der sich eines der an der Wand hängenden Bilder anschaut. Auf diesem Bild sieht er ein Schiff, das an einigen Häusern des Hafenkais vorbeifährt. Wenn wir mit den Augen an diesen Häusern entlangfahren und unseren Blick nach rechts unten richten, entdecken wir am unteren Rand des Bildes ein Eckhaus mit dem Eingang zu einer Kunstgalerie, in der Bilder ausgestellt sind. Der Mann steht also selbst in dem Bild, das er betrachtet.“2 Ein Kunstautor: „Bildergalerie zeigt eine außerordentlich komplizierte Konstruktion, wie ein Junge sieht, daß er selber ein Bild betrachtet; der Junge, der schaut, und der Junge, der betrachtet wird, fallen zusammen.“3

Seh- und Tastsinn betreffen, sind unverzichtbar, wenn es um Räumliches geht.“4 Ein Biologe und Erkenntnistheoretiker: “Erkennen hat es nicht mit Objekten zu tun, denn Erkennen ist effektives Handeln; indem wir erkennen, wie wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor. Zu erkennen wie wir erkennen, beginnt nicht an einem festen Ausgangspunkt und schreitet von dort mit einer linearen Erklärung fort, bis schließlich alles vollkommen erklärt ist. Erkennen, wie wir erkennen, hat vielmehr etwas von dem Knaben in Eschers Bildergalerie: Das Bild, das er anschaut, wird langsam und unmerklich transformiert in ... die Stadt, in der die Galerie und der Knabe sich befinden! Es ist nicht möglich, eine Ausgangspunkt zu lokalisieren: draußen? drinnen? die Stadt? das Bewußtsein des Knaben?“5 Vier Augenpaare, vier unterschiedliche Beschreibungen, welche ist richtiger? Diese Frage ist nicht entscheidbar: Zwar mögen wir dem einen mehr und dem anderen weniger

Ein Musikpädagoge: „Maurits C. Escher verknüpft in seiner Lithographie Bildgalerie Innenraum und Außenraum: Der Galeriebesucher schaut sich ein Bild an, das zugleich die Außenwelt des Raumes ist, in dem er sich befindet. Musik, die letztlich unerklärbare Kunst, bedarf des Wortes zur Vertiefung der akustischen Erlebnisse. Metaphern und Analogien aus den Bereichen, die

zustimmen, aber wir können auch schließlich anerkennen, daß jeder mit dem Auge seiner Profession an die Beschreibung herangeht und etwas anderes in den Vordergrund rückt. Interessant dabei ist, daß alle Beschreibungen eine besonders interessante Stelle in Eschers Bild auslassen. Oder soll ich sagen: übersehen?

Ist Ihnen der weiße Fleck im Zentrum der Graphik aufgefallen? Das „Loch“, um das sich alles dreht, der Angelpunkt der zeichneri-

„Wenn ich nicht sehe, daß ich blind bin, dann bin ich blind; wenn ich aber sehe, daß ich blind bin, dann sehe ich.“7

schen Konstruktion? Es ist jene Stelle in der Zeichnung, die sich mit graphischen Mitteln nicht lösen läßt: M. C. Escher greift zu einem Trick, läßt Fleck verschwimmen und nützt ihn als Platz zum Signieren. Er setzt sich selbst ins Zentrum. Ich werde diese Stelle einen „blinden Fleck“ nennen und damit einen weiteren Vergleich versuchen: Jeder kennt den biologisch bedingten blinden Fleck auf der Netzhaut des menschlichen Auges, der an jener Stelle liegt, wo der Sehnerv das Organ in Richtung Großhirn verläßt. Eigentlich dürften wir mangels lichtempfindlicher Zellen an dieser Stelle nichts sehen, wir müßten ein schwarzes Loch in unserem Gesichtsfeld wahrnehmen. Obwohl es dieses „Loch“, diesen „blinden Fleck“ nachweisbar gibt, können wir ihn nicht sehen, weil unser Gehirn freundlicherweise die fehlenden Bildpunkte ergänzt und an der richtigen Stelle in das Bild unserer Augen einfügt. Wir nehmen diese Blindheit also überhaupt nicht wahr, „weder als etwas, das gegeben ist, noch als etwas, das fehlt: Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.“6 Der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster hat daraus die folgende Schlußfolgerung abgeleitet:

Er erklärt dieses Phänomen mit dem „Prinzip der undifferenzierten Codierung“. Damit ist die Art und Weise gemeint, wie unser Gehirn Reize aus der Umwelt verarbeitet. Neurologische Experimente haben gezeigt, daß menschliche Sinneszellen nur die Intensität eines Reizes erfassen können, aber nicht die Erregungsursache selbst. Kodiert wird nur: sound-so-viel an dieser Stelle meines Körpers, aber nicht was. Heinz von Foerster sagt dazu drastisch: „Klick klick ist das Vokabular der Nervensprache“. Wenn aber nur die Quantität der Reize, nicht aber ihre Qualität wahrgenommen wird, muß man sich ernsthaft fragen, wie denn unser Gehirn „die überwältigende Vielfalt dieser farbenprächtigen Welt hervorzaubern kann, wie wir sie in jedem Augenblick unseres bewußten Lebens erfahren - und manchmal sogar, wenn wir schlafen und träumen“.8 Foersters Antwort: unser Gehirn „errechnet“ das, was wir Realität nennen. Foerster bezeichnet diesen Prozeß als Kognition. Die Fähigkeit zur Kognition, zur Interpretation der Sinnesreize ist die größte Leistung unseres Gehirns. Es benötigt dafür etwa 10.000 Milliarden Synapsen im Gegensatz zu einigen 100 Millionen, die für unsere sensorischen Wahrnehmungen benötigt werden: Wir sind

also gegenüber den Vorgängen in uns

dig fortwährenden, zirkulären Prozeß von

100.000mal stärker empfindlich als gegenüber

Wahrnehmung und Deutung in Gang, bei dem

unserer äußeren Umwelt. Die Schlußfolge-

nicht mehr auszumachen ist, ob Wahrneh-

rung stellt unser gewohntes Weltbild auf den

mung der kausale Grund für seine Denkleis-

Kopf:

tung, oder die Denkleistung der Grund dafür ist, wie und was er sieht. Wahrnehmen ist ein „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“9

Diese Erkenntnis ist eine der Ausgangspositionen des Radikalen Konstruktivismus, der tatsächlich annimmt, daß Wahrnehmen Handeln (Kognition) und das, was wir für objektiv wahr oder wirklich halten, nur eine von zahllosen Möglichkeiten ist, wie wir unsere Welt erfinden können. Wir Menschen, so scheint es, müssen uns damit von dem Glauben verabschieden, daß unsere Sinnesorgane die Welt so abbilden, „wie sie ist“. Der Glaube an so etwas wie allgemeingültige Objektivität ist damit ebenso verloren: Der Organismus hat keinen direkten kognitiven Zugang zu unserer Umwelt, wir sind nichts anderes als Beobachter, und unsere Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung: „Welt ist Welt, wie wir sie sehen, sie ist Erfahrungswirklichkeit.“10 Genau diesen Gedankengang versucht auch Eschers „Bildergalerie“ einzufangen: Der Mann im Bild interpretiert durch sein Sehen seine Umwelt und bestimmt damit selbst, wie er seine Umwelt sieht. Er setzt so einen stän-

aktiver und schöpferischer Akt des Handelns und Konstruierens. Reize aus der Umwelt sind aber nicht nur durch ihr einfaches Vorhandensein für die Errechnung einer subjektiven Realität bedeutsam, eine wichtige Information sind ihre quantitativen Unterschiede. Unsere Sinne orientieren sich besonders an Unterscheidungen: mehr-weniger,

stärker-schwächer,

kürzer-

länger usw. Etwas fällt uns erst dann besonders auf, wenn es anders ist, als wir es zuletzt erkannt haben, wenn sich etwas verändert hat. An dieser Stelle können wir etwas lernen. Die Konstruktivisten verstehen Lernen im weitesten Sinne als eine Form von Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt. Wenn wir Unterschiede wahrnehmen, entdecken wir Neues und versuchen es mit den alten Erfahrungen in Zusammenhang zu bringen. Dabei überprüfen wir andauernd unbewußt, ob das Wahrgenommene in irgendeiner Weise in unser Bild paßt oder nicht. Wenn es uns nicht sinnvoll erscheint, dann werden wir es in Zukunft übersehen, wir werden blinde Flecken entwickeln. Daß wir das tun, ist kein Fehler,

es ist sogar unbedingt notwendig, denn wir

indem wir uns dazu bewegen, Bilder entste-

müssen Reize aus der Umwelt selektieren, um

hen lassen, unsere Eindrücke in Worte zu fas-

nicht andauernd von ihnen überschwemmt zu

sen suchen. Was ist ein Kunstwerk ohne Be-

werden. Diese Komplexitätsreduktion findet

obachter, was Musik ohne Hörer?

in jeder kommunikativen Situation statt. Wir

Der Konstruktivismus versteht Lernen als

wählen etwas aus, was wir bemerken und hö-

Veränderung der eigenen Sichtweisen und als

ren, wir wählen aus bei unseren Gedanken,

Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten.

wir wählen bei dem, was wir sagen, und wir

Musik gibt uns dazu viele Möglichkeiten: ihr

entscheiden, was wir wie verstehen. Was uns

Inhalt ist nie fixiert, sie besitzt viele „Leerstel-

oft in dieser Situation nicht bewußt ist: wir

len“, die uns zu Deutungen und Interpretatio-

hätten auch andere Entscheidungen treffen

nen auffordern. Unterschiedliche Arten der

können bei unserer Wahl. Wir sind frei und

Rezeption können uns dann ermöglichen, das-

autonom in der Entscheidung, aber gleichzei-

selbe Stück immer wieder anders wahrzu-

tig verantwortlich für die Realität, die wir

nehmen, seine Vielfalt zu erleben, Unter-

geschaffen haben.

schiede festzustellen und neue Erfahrungen zu

Was aber haben all diese Überlegungen mit

machen. Wir können unser Erleben ebenso

Musik zu tun? Können wir daraus als Musiker

vielfältig ausdrücken: durch das Malen eines

oder Musikpädagogen irgendeinen Nutzen

Bildes, das Improvisieren auf einem Instru-

ziehen?

ment, indem wir uns zur Musik bewegen oder

Wenn wir Musik hören, sie spielen oder sie

etwas pantomimisch darstellen, wir können

unterrichten, dann steht dabei immer auch das

unsere Assoziationen in Worte und Texte fas-

Hören im Mittelpunkt. Das Musikstück, das

sen und dann darüber miteinander kommuni-

wir in diesem Augenblick hören, ist dabei

zieren. Im Dialog, im kommunikativen Aus-

aber nicht ein objektiv vorhandenes „Kunst-

tausch, bemerken wir dann, daß unser Gegen-

objekt“, es entsteht vielmehr erst in seiner

über bestimmte Aspekte ganz ähnlich, andere

ganz besonderen und einmaligen Art und

jedoch völlig unterschiedlich und wieder an-

Weise in uns. Wir erschaffen es, indem wir es

dere vielleicht überhaupt nicht wahrgenom-

hören, es in uns Gefühle, Erinnerungen und

men hat. Die eigene Sichtweise relativiert sich

Stimmungen auslöst, die mit unserer eigenen

in diesem Augenblick, den wir besonders

Geschichte zu tun haben, indem wir es deuten,

schätzen lernen sollten, von der vermuteten

interpretieren, es häßlich oder schön finden,

objektiven Wirklichkeit zu einer von vielen

möglichen Realitäten. Und immer noch bleibt uns die Entscheidung darüber überlassen, was wir von den Vorstellungen anderer in die eigene (musikalische) Welt aufnehmen wollen... Zuletzt möchte ich den Kreis zum Anfang schließen und den Musiker David Harrington noch einmal zu Wort kommen lassen: „It´s a very exciting and challenging time to be a musician or to be someone interested in music, because you never know where your ear might be taken. For me, at least, that´s just a fantastic feeling to jump out of bed in the morning and think, God, the world could totally change today, you know, depending on what you hear.“11 1

Harrison, Ben: Kronos Quartett in concert at the Victoria Concert Hall. In: The Iconoclassical/Happening, o.J. 2 Balgo, Ralph: Wie können wir etwas über das Wissen wissen, über das Lernen lernen und über das Lehren lehren? In: System. Zeitschrift für innovative Schulpraxis. Heft 4, 12/97, S.114. 3 Locher, J.L.: M.C.Eschers Werk. In: Die Welten des M.C.Escher. Herrsching, 1971, S.18. 4 Reich, Wieland: Das Ohr als Fluchtpunkt. Materialien und didaktische Perspektiven zu Maurizio Kagels Radiostück "Nah und fern" (1993/94). In. Musik und Unterricht, Heft 41, November 1996, S.23. 5 Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern, 1984, S.262f. 6 Foerster, Heinz von: Über das Konstruieren von Wirklichkeiten. In: Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt, 1994, S.27. 7 Foerster, Heinz von: a.a.O., S.28. 8 Foerster, Heinz von: a.a.O., S.31. 9 Foerster, Heinz von: a.a.O., S.26. 10 Schmidt, Siegfried J.: Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs. In: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt, 1994, S.18.

11

Young, Dan: Interview with Kronos Quartet. (Aus einem Interview mit David Harrington im Rahmen der Sendung „Philharmonic Infierno“ des Radiosenders KUCI im Mai 1995. In: http://www.kuci.uci. edu/~dany/kronos.html.