Methoden zur Bewertung der Gestaltung von Fahrerinformationssystemen
J. F. Krems
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HUMANIST HUMANIST (NoE) (HUMAN centred design for Information Society Technologies, applied to road transportation) 3.2004 – 2.2008
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Chemnitz – Stadt mit Köpfchen
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Institut f. Psychologie der TUC Gegründet 1999 mit dem Schwerpunkt: Verhalten in komplexen Systemen: 1. Ressourcenmanagement 2. Mensch – Technik – Information
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Forschungsprogramm Allg. und Arbeitspsych. Textverstehen (DFG) und Elearning (TPS, Infineon, AMD)
Diagnostisches Schließen Fehlersuche MM-Schnittstellen – Kogn. Ergonomie (Telematik, Fahrerassistenz) BMW Group Bundesanstalt f. Straßenwesen
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Kognitive und visuelle Belastung
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Was darf man, außer „Fahren“, und was nicht?
„Fahren“ ist eine primär visuelle Aufgabe Visuelle Ablenkung häufige Ursache bei Unfällen Hoher Anteil von Kollisionen wegen verspäteter Wahrnehmung der Gefahr Aber: einige Zweitaufgaben problemlos durchführbar (Radio, Zigarettenanzünder etc.)
Ablenkung ist grundsätzlich kritisch; Wie kann man visuellen und kognitive Ablenkung messen? Wo liegt die Toleranz-Schwelle?
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Übersicht 1. 2. 3.
Zur Entwicklung von Evaluationsverfahren Visuelle Beanspruchung (Okklusion, PDT) Kognitive Beanspruchung und Situation awarness
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1.
Methodenentwicklung: Gesetzgebung, Normierung – European Statement of Principles (2000): Grundsatzkatalog zur Mensch-Maschine-Schnittstelle ISO/ TC22/ SC13 WG8 “MMI” Allianz der Automobilhersteller (AAM, Statement of Principles…, April 2002) IHRA-ITS (Development of a harmonized evaluation framework, SNRA/BASt) ADAM (BMW, DaimlerChrysler)
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1. Methodenentwicklung Randbedingungen Valide Umfassend (möglichst viele „Usability“-Aspekte) Einsetzbar in früher Entwicklungsphase Einfach und kostengünstig Verfahren: Fahrversuch Simulator Lane Change Task Okklusion PDT
aufwändig
Laborverfahren DLR 2006
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2. Advanced Driver Attention Metrics (ADAM) Project Ziel: Entwicklung und Validierung einfacher Methoden zur Bewertung visueller Anforderungen bei FISAufgaben Vorgehen: Bewertung der visuellen Anforderungen einer Reihe von Aufgaben mit Hilfe verschiedener Bewertungsmethoden Vergleich dieser Bewertungen mit Blickdaten aus Fahrsimulation und Feldversuch Unsere Teilprojekt: Validierung der Okklusionsmethode und einer visuellen Entdeckungsaufgabe
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Aufgaben Klangeinstellung ändern Kassette wechseln Sender speichern Zieleingabe Buchstaben Zieleingabe Karte Telefonnummer wählen
(SA) (CC) (RT) (NS) (NM) (CP)
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Aufgaben Süßigkeiten auspacken Taschentuch auspacken Münzen entnehmen Ort in Atlas suchen Adresse in Adressbuch suchen Telefongespräch
(SW) (KX) (CO) (MB) (AB) (TT)
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1. Die Okklusionsmethode Sicht auf Aufgabeninformation wird kontrolliert verdeckt und freigegeben Simulation des Blickwechsels zwischen FIS und Verkehrssituation Keine Aufgabe während verdeckter Sicht (Okklusionsintervall)
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Die Okklusionsmethode Baseline
Aufgabenbearbeitung
Okklusion
offen
zu
offen
warten
hoch Visuell niedrig
zu
offen
warten
Gesamtbearbeitungszeit DLR 2006
Die Okklusions-Methode Maße: Gesamtbearbeitungszeit ohne Unterbrechung (TTTbase) Gesamtbearbeitungszeit mit Okklusion (TTToccl) Okklusionsquotienten: R’ = TTToccl / TTTbase
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Die Okklusionsmethode Keine visuelle Anforderung (Blindbedienung) TTToccl = TTTbase R’ = 1
Sehr hohe visuelle Anforderung TTToccl = [I(open) + I(closed)] / I(open) * TTTbase In diesem Experiment: TTToccl = 3*TTTbase R’ = 3 s. Gelau & Krems (2004, Appl. Ergonomics)
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Die Okklusions-Methode
R‘ = TTToccl / TTTbase 4 3 2 1
visuell gering beanspruchend
visuell stark beanspruchend DLR 2006
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2. PDT (Peripheral detection task)
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2. visuelle Entdeckungsaufgabe (PDT) Einfachreaktion auf Reiz Simulation der visuellen Doppelbeanspruchung beim Fahren und Bedienen des FIS Maße: Entdeckungsrate RT
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Experimentelle Studie Alle Teilnehmer (n = 24) bearbeiten Aufgaben unter drei Bedingungen Baseline (Aufgaben alleine) Okklusion (1.5s geöffnet, 3.0s geschlossen) Visuelle Entdeckungsaufgabe (PDT)
3 Experimentaldurchgänge pro Aufgabe
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Validierung mit Blickdaten aus Fahrsimulation N = 10 Teilnehmer Ausgewertet: 8 Aufgaben Variablen: Gesamtbearbeitungszeit Gesamtblickzuwendungszeit TGT Anzahl der Blickzuwendungen Mittlere Blickzuwendungsdauer
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Fazit zu Okklusion und PDT Beide Methoden trennen visuell wenig beanspruchende von visuell sehr beanspruchenden Aufgaben Substantielle Korrelationen mit Blickverhalten Bestätigung der Ergebnisse von Gelau et al. (1998), Baumann et al. (2004)
Beide Methoden zur Erkennung stark visuell beanspruchender Aufgaben geeignet “quick and dirty” Methode
Aber: kognitive Beanspruchung?
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3. Weiterentwicklung der visuellen Entdeckungsaufgabe
Ziel: Entwicklung eines Verfahrens zur Messung visueller und kognitiver Beanspruchung Auswirkung hoher visueller und kognitiver Beanspruchung auf Situation awareness
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Kontextabhängige Wahlreaktionsaufgabe
2,25m 23°
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Reaktionsaufgabe - Maße Visuelle Beanspruchung Entdeckungsrate: Anteil der Reize, auf die reagiert wurde, an Anzahl der gezeigten Reize
Kognitive Beanspruchung Trefferrate: Anteil der richtigen Reaktionen an der Anzahl aller Reaktionen
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Das Verfahren IVIS-Aufgabe und Reaktionsaufgabe werden gleichzeitig ausgeführt IVIS-Aufgabe ist Primäraufgabe, SA-Aufgabe ist Zweitaufgabe „je weniger visuelle und kognitive Beanpruchung durch die IVIS-Aufgabe, desto besser die Leistung in der Reaktionsaufgabe“
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Experiment 1
41 Teilnehmende (Ø Alter 23 Jahre) Reaktionsaufgabe Präsentation der visuellen Reize max. 500 msec Interstimulusintervall bei 1-3 sec Kontextwechsel (Ton) nach 2 bis 4 Reizen
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Aufgaben Visuelle Beanspruchung
Mentale Beanspruchung
niedrig
hoch
niedrig
Einfache email hören, Telefonieren
Einfache email lesen, email schreiben
hoch
Komplexe email hören, Bahnauskunft
Komplexe email lesen, Zieleingabe
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Experiment 1 - Fazit Deutliche Differenzierung der visuellen Beanspruchung von IVIS-Aufgaben durch Entdeckungsrate Einfluss der kognitiven Belastung
Geringere Differenzierung der kognitiven Beanspruchung durch Trefferrate Beanspruchung durch sprachliche Kommunikationsaufgaben am stärksten
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Diskussion Einfluss kognitiver Belastung auf Treffer- und Entdeckungsrate Differenzierung der Gesamtbelastung durch IVIS-Aufgaben mit n back-Reaktionsaufgabe Aufgabe der Versuchsteilnehmer: Ist der aktuell präsentierte Reiz identisch mit dem zuvor präsentierten Reiz?
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Diskussion – Theoretische Fundierung Hohe visuelle Belastung Übersehen von Informationen kognitive Belastung
Hohe kognitive Belastung Tunnelblick looking but not seeing Fähigkeit zur Vorhersage von Ereignissen Vergessen von Informationen (z.B. aktuelle Geschwindigkeitsbegrenzung)
Verminderte Situation Awareness DLR 2006
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Theoretische Fundierung Fahrsituationsbewusstsein (Endsley, 1995) Mentale Repräsentation der augenblicklichen Situation Wahrnehmen der relevanten Objekte Interpretation der Objekte Vorhersage des zukünftigen Verhaltens
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Situationsbewusstsein
Wahrnehmen
Interpretieren Vorhersagen (Endsley, 1995) DLR 2006
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Situationsbewusstsein – kognitive und visuelle Belastung Visuelle Belastung beeinträchtigt Wahrnehmungsebene Übersehen von anderen Verkehrsteilnehmern
Kognitive Belastung beeinträchtigt v.a. Interpretationsebene Rote Ampel gesehen, aber nicht angehalten Tempolimit wird vergessen
und Vorhersageebene Absehbares Bremsen des vorausfahrenden Fahrzeugs bei Stauannäherung nicht vorhergesehen
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Fahraufgabe STISIM Simulation, 135° Projektion
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Erfassung Situationsbewusstsein 1. Implizite Erfassung: Wahrnehmungsebene Reaktion auf unvorhersehbares Bremsen eines vorausfahrenden Fahrzeugs Interpretations- und Vorhersageebene Reaktion auf vorhersehbares Bremsen eines vorausfahrenden Fahrzeugs Berücksichtigung anderer Fahrzeuge beim Überholen
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Erfassung Situationsbewusstsein 2. SAGAT-ähnliches Verfahren (Endsley, 1995) Unterbrechen der Simulation nach 50 - 70 sec Fragen zur räumlicher Anordnung des umgebenden Verkehrs z.B.: „Wieviele Fahrzeuge waren vor Ihnen auf der rechten Spur?“
Erfassung Wahrnehmungsebene
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Fahrsimulation - Ziele
Hypothesen IVIS-Aufgaben mit geringer Entdeckungsrate in der Reaktionsaufgabe
Beeinträchtigung der Wahrnehmungsebene des Situationsbewusstseins
IVIS-Aufgaben mit geringer Trefferrate in der Reaktionsaufgabe
Beeinträchtigung der Interpretations- und Vorhersageebene
Inwieweit wird das Fahrsituationsbewusstsein durch Zweitaufgaben beeinträchtigt?
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Publikationen der letzten 2 Jahre (I) Mahlke, S., Rösler, D., Krems, J. & Thüring, M. (in press). Evaluation of six night vision enhancement systems: Qualitative and quantitative support for intelligent image processing systems. Human Factors. Krems, J., Jahn, G., Baumann, M., Rösler, D. & Mogilka, A. (2005). Fahren oder gefahren werden? Möglichkeiten und Grenzen von Telematiksystemen. In K. Karrer, B. Gauss & Chr. Steffens (Eds). Beiträge zur Mensch-MaschineSystemtechnik aus Forschung und Praxis (pp. 79 - 91). Düsseldorf: Symposion. Baumann, M., Rösler, D., Krems, J., & Keinath, A. (2005). Eine Methode zur gleichzeitigen Erfassung visueller und kognitiver Anforderungen bei Aufgaben im Fahrkontext. In L. Urbas & Chr. Steffens (Eds.). Zustandserkennung und Systemgestaltung (pp. 47 - 52). Düsseldorf: VDI Verlag. Krems, J. & Baumann, M. (2005). Verkehrspsychologie. In A. Schütz, H. Selg & S. Lauterbacher (Eds.). Psychologie (pp. 491 - 508). Stuttgart: Kohlhammer. Baumann, M., & Krems, J. (2005). Situation awareness and driving: a cognitive model of memory update-processes. In L. Macchi, Chr. Re & P.C. Cacciabue (Eds.). Proceedings of the International Workshop on Modelling Driver Behaviour in Automotive Environments (pp. 157-163). Luxembourg: Publication of the European Communities.
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Publikationen (II) Jahn, G., Oehme, A., Krems, J.F., & Gelau, Chr. (2005). Peripheral detection as a workload measure in driving. Transportation Research Part F., 255-275. Baumann, M., Keinath, A., Krems, J.F., & Bengler, K. (2004). Evaluation of In-vehicle HMI using occlusion techniques: Experimental results and practical implications. Applied Ergonomics, 35(3), 197-205. Gelau, Ch. & Krems, J. (2004). The occlusion technique: A procedure to assess the HMI of invehicle information and communication systems. Applied Ergonomics, 35 (3), 185-187.
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Weitere Informationen
http://www.tu-chemnitz.de/phil/psych/professuren/allpsy1/index.html
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