Mein 10. Geburtstag mit Schnellphotograph

Erika Thiel Mein 10. Geburtstag – mit Schnellphotograph und Automatenbüffet Ein Herzenswunsch ging in Erfüllung: Meine Lieblingstante schenkte mir an...
Author: Ida Gerhardt
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Erika Thiel

Mein 10. Geburtstag – mit Schnellphotograph und Automatenbüffet Ein Herzenswunsch ging in Erfüllung: Meine Lieblingstante schenkte mir anläßlich dieses Ereignisses das von mir so heiß ersehnte Stammbuch, denn ohne ein solches war man damals doch einfach ein „Nichts“. Nun konnte auch ich, wie schon einige meiner Mitschülerinnen, die diversen Sprüche und Wünsche für alle Ewigkeit zusammentragen. Es war eine strenge Hierarchie: Erst Eltern und Großeltern und dann, wie es so chic war, am Ende der Unterrichtsstunde vorzugehen zum Katheder, der auf einer erhöhten Treppe stand, und höflich zu bitten, die Frau Klassenvorsteherin bzw. Fachlehrerin möge so lieb sein und in mein Stammbuch schreiben. Erst nachher kamen Freundinnen und Schulkolleginnen in den Genuß, ihre Sprüchlein los-

zuwerden, und man sagte nicht nein, wenn Kinder fragten, ob auch sie in das Buch schreiben dürften; man war ja schließlich gut erzogen. Mein Stammbuch ist den Kriegswirren zum Opfer gefallen, doch bis heute kann ich noch viele Sprüche auswendig und weiß auch genau, wer sie mir gewidmet hat. An manche habe ich mich auch gehalten, was im weiteren Leben nicht immer von Vorteil war. Doch es gab noch ein Geschenk meiner Tante, sie hängte mir einen Kranz Extrawurst um den Hals! War ich doch ein verrufener Wurstesser, und in unserem Speiseplan gab es nicht allzuviel davon. Es war eine großartige Idee! Schöner war nur noch der Praterbesuch, zu dem meine Mutter mich einlud. Zu diesem Anlaß zogen wir unsere schönen Kleider, die 1

Mama ihr grünes Crepe-de-Chine-Kleid mit ecru-farbenem Spitzenkragen und ich mein neues geblümtes Kleid mit Flügelärmerln an. Die Mama trug ihre beige Schuhe und ich wie üblich schwarze Spangerlschuhe und weiße Sockerln. Nach einem frühen Mittagessen ging es los, denn unser Weg war weit und selbstverständlich, wie alle unsere Wege, zu Fuß zurückzulegen. Vom Kapellenweg (er galt als Grenze zwischen Stadlau und Aspern) Richtung Fischerwirt an der Unteren Alten Donau, schräg über das Überschwemmungsgebiet bis zum Aufgang der Reichsbrücke (das war noch die alte Kronprinz-Rudolfs-Brücke), über die Lasallestraße und Venedigerau, und dann war man schon an der Stätte des Vergnügens. Also, hinauf auf ein Schaukelpferd, natürlich auf ein flottes (daß bei diesem die Federn schon ausgeleiert waren und sie sich da-

durch leichter bewegen ließen, wusste ich damals noch nicht), und dann nochmals auf ein Hutschpferd, die anderen Dinge waren mir zu kindisch. Die lebenden Pferde, die immer im Kreis herumgehen mussten, taten mir leid. Das Kinderkarussel war für meine Länge nicht geeignet; auf dem großen Kettenkarussel aber wollte ich nicht mitfliegen, denn es hatte als Sitze nicht Sessel, sondern „Scherben“ (Nachttöpfe), und das fand ich zu vulgär. Beim Calafatti war es sehr teuer, und außerdem fuhren die Wagen so um ihn herum, daß man diese ehrwürdige Gestalt immer von der gleichen Seite sah – der Kerl drehte sich einfach mit. Es war doch klüger, man schaute sich ihn nur von draußen an, da sah man ihn von allen Seiten und ersparte sich das Geld. Mama schlug nun den Narrenpalast vor, dort wurden wir – uns an eine Brücke klammernd – hin- und hergerüttelt, plötzlich floß das Was2

ser unter der Brücke bergauf, uns wurde fast übel. Im zweiten Zimmer, in dem wir plötzlich auf dem Kopf standen, war mir nicht mehr schlecht, denn ich hatte bemerkt, daß wir feststanden und sich nur die Wände rasend schnell um uns drehten, also war es nur eine Sinnestäuschung. Es kam mir vor wie Betrug! Wäre ich wirklich lieber auf dem Kopf gestanden? Dafür kam aber nachher ein kleines Wunder: Wir gingen in ein Automaten-Büffet, um uns dort ein Brötchen auszusuchen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Man warf 20 Groschen ein, die Platte drehte sich, und das Brötchen war bereit zum Entnehmen. Automatisch serviert war natürlich viel besser als alles, was je zu Hause auf den Tisch kam, obwohl daheim der Belag reichlicher war. Wie leicht konnte man damals einer Zehnjährigen imponieren – mit einem Sandwich aus einem Automaten. Unsere Pratertour sollte beim Schnellphoto-

graphen enden, denn es war mein erster runder Geburtstag, und dieser denkwürdige Tag musste festgehalten werden. Der Fotograf suchte für die beiden Damen ein passendes Hintergrundbild aus, in diesem Falle eine unter einem blühenden Baum stehende Bank, drapierte uns in diese malerische Scheinlandschaft, kroch hinter seinen Fotoapparat und, bedeckt mit einem schwarzen Tuch, sagte er: Bitte freundlich, bitte lächeln - und schon froren unsere Mienen ein. Da ich nie gerne im Mittelpunkt stand, gelang es mir nur, „würdig“ dreinzuschauen. Dieser Zustand ist mir bis heute geblieben, nur sage ich nicht mehr würdig dazu, sondern – leicht irritiert! Mutter mit 10-jähriger Tochter vor der im Text beschriebenen Kulisse Während der Fotograf in seiner Dunkelkammer beschäftigt war, unsere Konterfeis schön zu gestalten, und sich seine Frau bemühte, vie3

le der Vorbeiflanierenden dafür zu gewinnen, sich fotografieren zu lassen, hatten wir Zeit, uns die diversen Möglichkeiten zu betrachten, die geboten wurden, um fremdländisch, tollkühn, charmant oder gar tierisch auszusehen. Es waren lebensgroße Attrappen, die oben eine Ausnehmung hatten durch die man den Kopf stecken konnte, und schon war man ein ganz anderer, ein Exote, ein Indianer, ein kraftstrotzender Boxer oder eine indische Tempeltänzerin, die sich an einen Tiger schmiegte (oder umgekehrt?), sogar ein riesiger, böser Affe war dabei. Aha, das ist der King-Kong. Schon nach kurzer Zeit war unsere Fotografie fertig, und als ich sie ansah wurde mir erst bewusst, wie staubig unsere Schuhe von der langen Wanderung waren, und Mama stellte fest, daß ich zu steif wäre und sie in Wirklichkeit nicht gar so arg einer Hexe gliche. Schad‘ ums Geld!

Jetzt war es aber an der Zeit, an die Heimkehr zu denken, und leichtsinnig stellte meine arme Mutter mir die Frage: „Willst du noch einmal Ringelspielfahren und kaufen wir uns noch ein Eis, oder willst du lieber mit der Straßenbahn nach Hause fahren anstatt zu gehen?“ Es war nur eine kurze Überlegung: „Wenn wir mit dem 16er nach Stadlau fahren, müssen wir von dort gute 30 Minuten bis zum Kapellenweg laufen, also sind es doch nur eineinhalb Stunden, die wir länger zu gehen hätten.“ Keine Frage: Noch einmal Hutschpferd, und für jeden ein Eis, da hat die Mama auch was davon, und das Geld ist viel besser angelegt, als es für die Straßenbahn hinauszuschmeißen. Also traten wir nach diesen Genüssen den Heimweg an. Nach dem Straßenpflaster kam uns der Weg über die Donauwiese und weiter in Richtung Stadlauer Kloster fast vergnüglich vor. Von dort war nur noch eine Schottergrube 4

zu durchqueren zum Strandbad Stadlau, und wenn wir dann flott weitergingen, waren es nur mehr zehn Minuten, bis wir unser Domizil erreichten. Es war schon ziemlich spät, als wir dort einlangten, an die Uhrzeit kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir waren müde, was heißt müde – hundsmüde waren wir, aber dieser Nachmittag mit Automatenbüffet und Schnellphotograph ist mir, wie man sieht, bis heute genau in Erinnerung geblieben. Es war ein Wahnsinn! Zu dieser Zeit kein ganz normaler! --Verfasst von Erika Thiel Auf MSG (Menschen schreiben Geschichte) publiziert im November 2009 In: Fleckerlteppich der Erinnerungen, Worte der Kindheit Dieser Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung erfolgt unter einer Creative-CommonsLizenz. http://www.menschenschreibengeschichte.at/index. php?pid=30&ihidg=11609&kid=1181

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