Kapitel 2

Lineare Gleichungssysteme 2.1

Lineare Gleichungssysteme und Matrizen

Lernziele 2. • Lineare Gleichungssysteme definieren Matrizen, • Matrizen definieren lineare Abbildungen, • L¨ osen von linearen Gleichungssystemen = Faserbestimmung der zugeh¨ origen linearen Abbildung. Zun¨achst wollen wir kl¨ aren, was wir unter einem Gleichungssystem verstehen und was es bedeutet, ein Gleichungssystem zu l¨osen. Bemerkung 2.1. Seien M, N Mengen und f : M → N eine Abbildung. F¨ ur jedes n ∈ N ist das zu f und n geh¨ orige Gleichungssystem gegeben durch f (m) = n, und seine L¨ osungsmenge ist gerade die Faser f −1 ({n}) = {m ∈ M | f (m) = n}. Das L¨osen eines Gleichungssystems ist Bestimmung einer Faser einer Abbildung f . Das Gleichungssystem f (m) = n f¨ ur die Abbildung f : M → N ist • Immer l¨ osbar, d.h. f¨ ur jede rechte Seite n ∈ N , genau dann wenn f surjektiv ist. • Immer eindeutig l¨ osbar genau dann wenn f bijektiv ist. • Ist f injektiv so hat f¨ ur jedes n ∈ N das Gleichungssystem f (m) = n h¨ochstens eine L¨osung. 19

20

KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

Beispiel. M = N = R2 = {(x, y) | x, y ∈ R}. f : M → N, (x, y) 7→ (x2 + y 2 , x + 3y). Gesucht ist f −1 ({(1, 1)}). Wir suchen also die Paare (x, y) ∈ R2 mit x2 + y 2 = 1 und x + 3y = 1. Man rechnet leicht nach, dass dieses Gleichungssystem genau 2 L¨osungen hat, die man als Schnittpunkte von einem Kreis und einer Gerade finden kann. Beispiel 2.2. Wir betrachten folgendes lineares Gleichungssystem f¨ ur (a, b, c) ∈ R3 : (♠)

− 2b + c = −1 −2a − 2b + c = −2

Zu diesem linearen Gleichungssystem geh¨ort eine reelle 2 × 3-Matrix, also ein rechteckiges Zahlenschema:   0 −2 1 −2 −2 1 Eine andere Betrachtungsweise ist es, dem Gleichungssystem (oder der Matrix) eine Abbildung zuzuordnen: α : R3 → R2 : (a, b, c) 7→ (−2b + c, −2a − 2b + c) Dann bilden die L¨ osungen von (♠) gerade die Faser α−1 ({(−1, −2)}) von α u ¨ber (−1, −2).

Definition 2.3. Ein lineares Gleichungssystem u ¨ber dem K¨orper K mit m Gleichungen und n Unbestimmten x1 , . . . , xn ist gegeben durch

(∗)

a11 x1 + a12 x2 + . . . + a1n xn a21 x1 + a22 x2 + . . . + a2n xn .. .

= =

b1 b2

am1 x1 + am2 x2 + . . . + amn xn = bm 

 b1   wobei A = (ai,j ) ∈ K m×n eine (fest vorgegebene) Matrix ist und b =  ...  ∈ K m×1 bm eine (fest vorgegebene) Spalte. A heißt die Matrix von (∗), (A|b) ∈ K m×(n+1) die erweiterte Matrix von (∗). Dabei ist (A|b) definiert als (A, b) : m × n + 1 → K : (i, j) 7→

 aij bi

j≤n . j =n+1

 c1   Eine L¨ osung von (∗) ist eine Spalte v :=  ...  ∈ K n×1 , derart, daß durch Einsetzen cn von ci f¨ ur xi in (∗) f¨ ur i = 1, . . . , n alle m Gleichungen von (∗) erf¨ ullt sind. Das Gleichungssystem heißt homogen, falls b1 = · · · = bm = 0 und inhomogen, falls mindestens ein bi 6= 0. 

2.1. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME UND MATRIZEN

21

Beispiel 2.4. Wir betrachten das folgende lineare Gleichungssystem u ¨ber R. (∗)

x1 + 3x2 − 4x3 + x4 = 0 −x1 − x2 + 8x3 − x4 = 2 2x1 + 8x2 − 4x3 + 3x4 = 3

Die erweiterte Matrix des Gleichungssystems ist   1 3 −4 1 0  −1 −1 8 −1 2  . 2 8 −4 3 3

Wir geben jetzt eine Abbildung von K n×1 nach K m×1 an, so daß die L¨osungsmenge von (∗) die Faser dieser Abbildung u ur brauchen wir (∗) nur zu kopieren: ¨ber b ist. Daf¨

Definition 2.5. Sei A : m × n → K : (i, j) 7→ aij eine m × n-Matrix, kurz A = (aij ) ∈ K m×n . Die von A induzierte lineare Abbildung     cc1 c1  c2   c2      ϕA : K n×1 → K m×1 : v =  .  7→ Av = A  .   ..   ..  cn ist definiert durch    ϕA ( 

c1 c2 .. . cn





    ) := A    

c1 c2 .. . cn





    :=    

cn

a11 c1 + a12 c2 + . . . + a1n cn a21 c1 + a22 c2 + . . . + a2n cn .. .

    

am1 c1 + am2 c2 + . . . + amn cn

Ac heißt das Produkt der Matrix A mit der Spalte v.

Wir sehen also, dass ϕA (v) dem Einsetzen der Eintr¨age in der Spalte v in die linke Seite des Gleichungssystems entspricht. Wir wollen nun verstehen, warum man ϕA eine lineare Abbildung nennt. Bemerkung 2.6. Seien A, v, ϕA wie in Definition 2.5. Dann gilt: 1) ϕA (v) = Av = c1 S1 + c2 S2 + · · · cn Sn

22

KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME

ist eine Linearkombination der Spalten    Sj :=  

a1j a2j .. .

    

amj von A mit den Koeffizienten cj , j = 1, . . . , n. Insbesondere ist das Gleichungssystem (∗) genau dann l¨ osbar, wenn man die Spalte b als Linearkombination der Spalten von A darstellen kann. 2) Die Matrix   1 0 0 ... 0 0   0 1 0 ... 0 0  1 falls i = j   In :=  .  : n × n → K : (i, j) 7→ δij := .. 0 falls i 6= j  ..  . 0 0 0 ... 0 1 heißt die Einheitsmatrix vom Grad n u ¨ber K. Sie induziert die Identit¨at von K n×1 als lineare Abbildung: ϕIn = IdK n×1 . In Definition 2.5 haben wir ϕA als lineare Abbildung bezeichnet. Wir definieren diesen Begriff nun ganz allgemein f¨ ur Vektorr¨aume. Definition 2.7. Seien V und W Vektorr¨aume u ¨ber demselben K¨orper K. Eine Abbildung ϕ : V → W heißt linear, oder ein K- Homomorphismus, falls f¨ ur alle u, v ∈ V und alle a, b ∈ K gilt ϕ(au + bv) = aϕ(u) + bϕ(v).

Lemma 2.8. Sei A ∈ K m×n . Die von A induzierte Abbildung ϕA : K n×1 → K m×1 : v 7→ Av ist eine lineare Abbildung. ¨ Bew: Ubung (siehe Blatt 3). Man sieht, wie speziell lineare Abbildungen sind. Trotzdem sind sie wichtig, denn sie kommen sehr h¨ aufig vor, sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Z.B. versucht die Differentialrechnung eine sehr viel allgemeinere Klasse von Abbildungen K n×1 → K m×1 durch lineare Abbildungen zu approximieren. Ein großer Vorteil der linearen Abbildungen ist n¨amlich, daß sie vergleichsweise leicht zu handhaben sind.

2.2. MATRIXMULTIPLIKATION

2.2

23

Matrixmultiplikation

Lernziele 3. • Produkte von Matrizen und Komposition von linearen Abbildungen, • injektive, surjektive und bijektive lineare Abbildungen.

Wir haben die Matrixmultiplikation bereits im Prop¨adeutikum kennengelernt. Warum wurde das Matrixprodukt so definiert?

Definition 2.9. Seien A ∈ K m×n , B ∈ K n×` Matrizen. Das Matrixprodukt von A und B ist definiert als die Matrix AB ∈ K m×` mit den Spalten ASj f¨ ur j = 1, . . . , `, wobei Sj die j-te Spalte der Matrix B ist, d.h.   a1j   Sj =  ...  . amj

Es stellt sich jetzt ganz allgemein die Frage, ob Kompositionen linearer Abbildungen zwischen Spaltenvektorr¨ aumen linear sind und sich wieder als ϕC f¨ ur gewisse Matrizen C darstellen lassen. Der folgende Satz zeigt, dass dies der Fall ist und gibt uns eine Erkl¨arung, warum das Matrixprodukt wie oben definiert ist.

Satz 2.10. Seien A ∈ K m×n , B ∈ K n×` und ϕA : K n×1 → K m×1 und ϕB : K `×1 → K n×1 die induzierten linearen Abbildungen. Dann gilt: (a) Die Komposition ϕA ◦ϕB der linearen Abbildungen ϕA und ϕB ist wieder eine lineare Abbildung, ϕA ◦ ϕB : K `×1 → K m×1 . (b) Es gilt ϕA ◦ ϕB = ϕAB .

Beweis. (a) ϕA ◦ ϕB ist linear. Bew.: Seien a, b ∈ K, u, v ∈ K `×1 . Dann gilt (ϕA ◦ ϕB )(au + bv) = = = =

ϕA (ϕB (au + bv)) ϕA (aϕB (u) + bϕB (v)) aϕA (ϕB (u)) + bϕA (ϕB (v)) a(ϕA ◦ ϕB )(u) + b(ϕA ◦ ϕB )(v).