Liebe Geschwister, meine Eltern, meine Verwandten, allen Freunden die ich hiermit erreiche und allen Interessierten!

Liebe Geschwister, meine Eltern, meine Verwandten, allen Freunden die ich hiermit erreiche und allen Interessierten! Nun ist es an der Zeit, dass ich ...
Author: Bernhard Michel
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Liebe Geschwister, meine Eltern, meine Verwandten, allen Freunden die ich hiermit erreiche und allen Interessierten! Nun ist es an der Zeit, dass ich mal einen kleinen Bericht und Überblick gebe und schreibe, wie es mir hier in Paris geht, was ich hier mache und natürlich meine Beweggründe für einen Internationalen Freiwilligendienst hier in Paris, bei Emmaüs Liberté. Zu Beginn sage ich kurz meine Gründe für den Dienst und gehe danach näher auf die Organisation hier in Paris ein. Es kann sein, dass alles etwas unstrukturiert wirkt, da ich bei den meisten Sachen meine persönlichen Eindrücke dazu gebe. Zum Schluss gehe ich noch kurz auf die Herausforderungen ein, die sich mir hier in Paris stellen. Meine Beweggründe – mehr als nur Pause machen Gegen Ende meines Bachelors stellte ich mir wie viele andere die Frage, was ich denn danach anstellen werde. Mir persönlich war klar, dass ich noch einen Master dran hängen will. Allerdings wollte ich dazwischen eine „Pause“ machen. Pause heißt hier natürlich nicht, dass ich daheim bleibe, mir ein schönes Leben vor dem Fernseher mache und viele Bücher lese, sondern unter Pause verstehe ich, dass ich ein Jahr lang Erfahrungen sammle in einer anderen Kultur, in einer anderen Sprache, mit ganz unterschiedlichen Leuten und das alles mit Nützlichem erfülle, das auch seinen sozialen Sinn und Zweck besitzt. Ich habe mich viel informiert, was ich genau machen werde, unter anderem auch über die Angebote einer Entwicklungshilfe und sozialer Arbeit im Ausland. Doch das breite Angebot hat mich nicht überzeugt. Darunter waren Auslandsaufenthalte, die auf sechs bis 18 Wochen begrenzt waren und man seinen monatlichen Beitrag zahlen musste, der meines Erachtens dem allem nicht gerecht wird. Des weiteren bin ich nicht davon überzeugt, dass die kurze Zeit sinnvoll ist, da sie einfach nicht ausreicht, in einem fremden Land richtig anzukommen und auch etwas davon mitzunehmen. Aus diesem Grund bin ich von dem Angebot der von EIRENE, einer internationalen Organisation mit Sitz in Deutschland, überzeugt, Freiwillige für ein Jahr Stellen in verschiedenen sozialen Einrichtungen auf der ganzen Welt zu vermitteln. So viel zu meinen Beweggründen. Ich bin hier in Paris bei Emmaus Liberté. Diese Organisation lässt sich so richtig mit keiner deutschen Organisation vergleichen. Hier sind von 40 Mitarbeitern lediglich sechs mit einem festen Gehalt angestellt. Die drei Chefs (responsables – davon der Chef über alle vier Standorte in Paris, sein Stellvertreter und der Chef des Standorts Ivry), zwei Sozialarbeiterinnen (assistant sociale) und eine Sekretärin auf Halbtags. Der Rest davon sind ehrenamtliche Mitarbeiter, sowie die Compagnons: ehemalige Obdachlose, Arbeitslose und Immigranten.

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Emmaüs – mehr als eine Organisation Emmaüs würde 1949 von Abbe Pierre gegründet und ist seit 1969 weltweit als NGO organisiert. Der Organisation gehören 310 Gemeinschaften in 36 Ländern auf vier Kontinenten an. Heute besitzt Emmaüs in Frankreich 9 000 Sozialwohnungen und beschäftigt 15 000 Menschen. Jede Organisation von Emmaüs arbeitet eigenständig und dezentral. Sie erhalten sich durch Spenden, den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen. Die Spenden sind hier nicht vorrangig Geldspenden, sondern Hauptsache Sachspenden. Der Einfachheit halber werde ich in diesem Brief weiter von Spenden sprechen, und die Sachspenden darunter verstehen. Ganz allgemein und auf den ersten Blick stellt Emmaüs hier in Paris ein großes Kaufhaus auf second-hand Basis dar. Die gespendeten Sachen erfüllen das Spektrum von allerlei Möbeln wie Betten, Kleiderschränke, Sofas und Schreibtischen, ein riesiger Kleiderladen, Elektroartikel wie Fernseher, Computer, aber auch Waschmaschinen und Öfen, Spielsachen für kleine und große Kinder oder erwachsene Kinder, Haushaltsgeräte für die Frau und dem Mann im Haus, viele Dekorationsartikel sowie ein kleiner Buchladen, der auch für mich als lesebegeisterten sehr interessant und jeden Tag eine neue Entdeckung ist. Diese Spenden sind alle auf freiwilliger Basis und werden von den Parisern entweder direkt im Depot abgegeben oder aber auch von Emmaüs abgeholt. Wie ich schon erwähnt habe, stellt das Hauptgebäude auf den ersten Blick ein großes Kaufhaus dar. Das heißt, dass alle Spenden verkauft werden. Das Besondere hieran ist, dass die Organisation vom Staat unabhängig ist. Sie ist zwar eine soziale Einrichtung, bezieht aber vom französischen Staat keinerlei Unterstützung. Jede EmmaüsOrganisation muss autonom vom Staat bleiben, damit die Vereine vom Staat unabhänig sind. Emmaüs finanziert sich selbst also durch den Verkauf von den Spenden und von Geldspenden. Dies heißt aber nicht, dass die angebotene Ware sehr teuer ist – ganz im Gegenteil. Der Ort ist eine Anlaufstelle für die Personen, die selbst aus sozial schwachen Verhältnissen kommen. Jeder Gegenstand, der zum Verkauf steht, wird dementsprechend individuell angesehen und an den Kunden „angepasst“. Das heißt, dass man den Kunden bei der Preisverhandlung nicht auszieht wie eine Kirchenmaus, sondern der Preis an ihm angepasst bzw. mit ihm ausgehandelt werden soll. Das weitere besondere an dieser Einrichtung ist, dass sich die Compagnions durch diese Spenden alle selbst versorgen, bzw. einrichten. Dies trifft auch auf mich zu, was mich aber in die Gefahr bringt, dass ich zu viel „sammle“, da die meisten Spenden wirklich tolle und gut erhaltene Sachen sind. Emmaüs achtet sehr darauf, dass sie nicht alles annimmt und keine Anlaufstelle für Sperrmüll wird. Ich lebe hier und arbeite mit den Compagnions hier in Paris zusammen. In Paris gibt es vier Orte in denen Emmaüs vertreten ist. Nämlich Champigny, Charenton, Ivry und Maisons-Alfort. Der Hauptstandort und das größte Gebäude ist in Ivry, in dem ich auch arbeite. Ich wohne selbst in Maisons-Alfort in einer kleinen WG mit sechs weiteren Compagnions zusammen, von denen drei aus Frankreich stammen und drei andere aus Afrika. Von meiner WG aus pendle ich jeden Tag eine Stunde hin zur Arbeit und eine Stunde wieder zurück. Die Arbeitszeiten in der Organisation waren für mich als ehemaligen Studenten auch von Anfang an gewöhnungsbedürftig und damit schließe ich mich meinem Vorgänger Tobi nahtlos an, der damals frisch von der Schule kam. Mein Tag 2

startet dienstags bis samstags um halb 7, damit ich um 7:30 Uhr die Metro erwische und pünktlich zu Arbeitsbeginn um 8:30 Uhr in Ivry bin. Der Arbeitstag dauert dann jeden Tag bis min. 18:00 Uhr. Dazwischen sind zwei Stunden Pause, in der alle Beschäftigten miteinander im Essenssaal ein Essen zu sich nehmen, das von einem Koch, ebenfalls ein Compagnion, zubereitet wird. Da ich in Maisons-Alfort wohne, und dort niemand als Koch angestellt ist, muss ich mich abends selbst versorgen. Ich selbst koche aber sehr gerne und habe zum „Abschied“ von meinen Freunden ein bayrisches Kochbuch geschenkt bekommen, aus dem ich einmal die Woche etwas für mich koche und – wenn jemand möchte – auch meine WG Mitbewohner etwas abbekommen. Dies führte dazu, dass sich alle eine deutsche Frau suchen wollen, da ihnen die „cuisine allemande“ so schmeckt. In den ersten vier Monaten war meine Arbeit hier nicht einem festen Arbeitsplatz zuzuordnen. In der ersten Zeit half ich den Verkäufern der einzelnen Sektoren (Spielsachen, Möbel, Kleidung etc.) ihren Bereich sauber zu halten und um in deren Arbeit hinein zu schnuppern. Danach war ich im Depot beschäftigt, in dem die Spenden abgegeben und getestet werden. Die Möbel werden hier von einem Compagnion, ein ehemaliger Schreiner, restauriert und ich half bei der Reparatur der Elektroartikel. Weiter bin ich auch an der Kasse, da dies die seriöseste Arbeit ist, und mache mit dem Chef den wöchentlichen Kassensturz. Eine der interessantesten Aufgaben bei Emmaüs ist, mit dem Lieferwagen die Spenden in Paris abzuholen. Bei dieser Arbeit lernt man die schönen und weniger schönen Seiten, abseits der großen Touristenplätze, am Besten kennen. Auch die Fahrt mit dem Kleinlaster durch Paris' Berufsverkehr ist äußerst anspruchsvoll – aber lustig. Durch die Arbeit mit dem Lieferwagen sieht man den Querschnitt der Pariser Bevölkerung. Denn es geben beileibe nicht nur normale Leute Sachen ab, sondern auch „arme und reiche“. Es kann also passieren, dass man in einer kleinen 20qm Wohnung steht, in der sechs Leute wohnen, oder auch in einer Wohnung direkt am Sacre Coeur oder Eiffelturm ist und man seine Schuhe ausziehen soll, wenn der Schrank aus der Wohnung befördert wird. Zu Beginn des Briefes habe ich erwähnt, dass Emmaüs auf dem ersten Blick wie ein großes Kaufhaus wirkt. Der Eindruck entsteht zwar und so wird es auch leider von vielen Kunden hier wahrgenommen, die z.B. nicht verstehen, dass sonntags und montags geschlossen ist. Aber wer tiefer in diese Organisation hineinblickt, erkennt den wahren Grund dahinter. Den dort beschäftigten Compagnions wird die Möglichkeit gegeben, ein Dach über den Kopf zu haben, warme Mahlzeiten und eine sinnvolle und regelmäßige Beschäftigung, mit der sie auch ihr Geld verdienen. Alle Wohnungen hier, sind als WGs aufgebaut, in der jeder auch untereinander miteinander zu tun hat. Durch die Arbeit in der Organisation lernen die Compagnions Fähigkeiten, die ihnen die spätere Eingliederung in den Arbeitsmarkt und somit ein normales bürgerliches Leben erleichtern. Kurzum wird den Compagnions ein geregelter Tagesablauf mit einer Aufgabe geboten, die deren soziale Kompetenzen fördert und ein Gefühl der Sinnlosigkeit vorbeugt. Auf der anderen Seite, und nicht nur bei den Kunden, sondern auch bei den Compagnions, wird durch die zum Teil richtig gut erhaltenen Spenden, den Leuten die Chance gegeben, sich auch etwas zu leisten, was man sich im normalen Kaufhaus nicht leisten könnte. So werden Kleidungssachen, wie ein großer Ledermantel, für zehn Euro verkauft oder ein Computer für 15 Euro. Da ich hier mittlerweile schon etwas länger bin, kenne ich auch die meisten Kunden, die regelmäßig hier sind. Viele kommen auch nicht gezielt hierher um etwas zu kaufen, sondern um sich zu unterhalten. Dabei komme ich mir manchmal vor wie in einem großen sozialen Treffpunkt, wo der neueste Klatsch und 3

Tratsch des Viertels ausgetauscht wird. Die Organisation wirkt zwar auf den ersten Blick wie ein Kaufhaus, aber ist eigentlich ein Ort des sozialen Austauschs und der eigenen Wertschätzung. Paris – mehr als nur Urlaub und Kultur Als ich meinen Wunsch kreierte, ins Ausland zu gehen, hatte ich noch nicht im Sinn, direkt nach Paris zu kommen. Ich wollte nur in den frankophonen Bereich, da ich mein französisch aufbessern wollte und mir die französische Kultur sehr zusagt. Ebenso fand ich es auch als ehemaliger Student der Geschichte und Politikwissenschaften sehr spannend, die deutsch-französischen Beziehungen und kulturellen Unterschiede am eigenen Leib zu erfahren und mir einen persönlichen Eindruck davon zu machen. Als ich die Zusage für Paris erhalten habe, stellte ich mir auch die Fragen, wie es wohl ist, in einer Stadt zu arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen. In einer Stadt zu arbeiten, die beeindruckende kulturelle Sehenswürdigkeiten in so einer Vielzahl besitzt, dass mein Jahr wahrscheinlich nicht ausreichen würde, alles zu sehen. Ich muss sagen, ich habe bis jetzt noch keine befriedigende Antwort auf diese Fragen gefunden. Vielleicht kann ich die in einem anderen Brief zufriedenstellend beantworten. Zu Beginn hatte ich noch Verständigungsprobleme, da mein deutsches, bzw. bayrisches Französisch nicht so richtig verstanden wurde. Aber mittlerweile komme ich mit dem nötigsten durch und kann mir Essen besorgen (Schönen Gruß an meine liebe Mama, ich verhungere nicht und du brauchst kein Essen schicken) und mich an den lebhaften politischen Diskussionen im Büro beteiligen, die auch mal in einer einwöchigen Sendepause enden können, da wir Dickköpfe nicht von unserer Meinung abweichen wollen. Viele Kunden, die mich mittlerweile besser kennen begrüßen mich auch auf deutsch, was ich selbst sehr lustig finde und ich mir immer wieder die Frage stelle, wie mein französisch dann für sie klingen möge. Mein Stadtteil Maisons-Alfort ist auch etwas vom „Schuss“ weg und äußerst ruhig und gemütlich – fast schon dörflich. Er liegt ca. 16 Kilometer vom Eiffelturm entfernt an der Marne. Die Strecke vom Eiffelturm, an der Seine entlang an Notre Dame und dem Louvre vorbei bis zu mir nach Hause laufe ich wöchentlich, um so die Stadt am besten zu erkunden. Auch wenn viele der Compagnions aus sozial schwachen Verhältnissen kommen, und jeder seine eigene, zum Teil sehr bewegende Geschichte, hat, begegneten sie mich mit großer Freundlichkeit und mittlerweile Offenheit. Während die meisten Themen im Büro sich um aktuelle oder vergangene politische Ereignisse drehen, interessieren sich die Compagnions v.a. über den deutschen Fußball wie FC Bayern München, Borussia Dortmund und bald auch den 1. FC Nürnberg, über die bayrische Kultur wie dem Oktoberfest und über Essen allgemein. Es ist auch spannend, wenn ich betrachte, woher alle Compagnions stammen. So arbeiten bei dem Standort Ivry 35 Compagnions aus 24 verschiedenen Nationen, meist ehemaligen französischen Kolonien, aber auch aus Pakistan oder Rumänien. Die Kulturunterschiede werden spätestens beim Essen deutlich, wenn viele vegetarisch sind, kein Schwein essen oder mit der Hand.

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So, das wars erst einmal. Diesen Bericht habe ich in einem kleinen Kunstcafé geschrieben, wo ich einen super Blick auf Montmartre (ein bisschen angeben darf ich schon). Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim lesen und wenn ihr Fragen habt, dann meldet euch bei mir. Liebe Grüße, euer Julian E-Mail: [email protected]

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