Leitfaden Fassung Februar 2017

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Einführung in das Sozialrecht Fassung Oktober 2014

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Leitfaden Fassung Februar 2017

für die Aus- und Weiterbildung unter Berücksichtigung des am 01.01.2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetzes (BTHG)

Rüdiger Lenski Magistratsoberrat i. R. Referent für Sozialrecht Frankfurter Straße 17 61449 Steinbach E-Mail: [email protected]

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Einführung in das Sozialrecht Fassung Februar 2017

Inhaltsverzeichnis:

Seite 2

Seite:

1.

Einführung in das Sozialrecht………………………………

003

2.

Fürsorgeleistungen

2.1

Sozialhilfe (SGB XII) ……………………………………………

012

2.2

Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ……….

056

2.3

Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) ……….

070

3.

Sozialversicherung

3.1

Einführung in die Gesetzliche Sozialversicherung……………. 092

3.2

Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) ……………………. 098

3.3

Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) ……………………. 123

3.4

Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) ……………………. 164

3.5

Recht der Arbeitsförderung (SGB III) …………………...

177

3.6

Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) ………………….

192

4.

Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX) …………..........

205

5.

Verfahrensrecht (SGB X) ………………………………...

219

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Einführung in das Sozialrecht Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5.

Übersicht Rechtliche Einordnung des Sozialrechts Erläuterung der Zweige des Sozialrechts Empfänger von Leistungen der Grundsicherung Empfängerquote von Leistungen der Grundsicherung

1. Übersicht Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 79 Grundgesetz unveränderbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt. Anspruch auf Schutz und Fürsorge lassen sich unmittelbar aus dem Grundgesetz (GG) herleiten1. Das Sozialrecht ist historisch gewachsen. Im 16. Jahrhundert begann eine öffentliche Armenpflege, die in den Armenordnungen verschiedener Städte ihren rechtlichen Ausdruck fand. Sie sahen prinzipiell nur Hilfen für Ortsansässige vor, während Fremde durch Bettelverbote von den Städten und Gemeinden ferngehalten wurden. Diese Regelungen hatten daher im Wesentlichen ordnungsbehördliche Zielsetzungen. Fürsorge: Die religiöse Fürsorge, freie genossenschaftliche Hilfen und die Mildtätigkeit einzelner Personen standen im Vordergrund allen sozialen Wirkens. Erst später gab es mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 erste fürsorgerechtliche Bestimmungen. Sie verpflichteten die Gemeinden zur Durchführung der Armenpflege und sahen die Unterstützung von Heimatlosen aus dem Vagabundenfonds der Regierung bzw. die Aufnahme in Landarmenhäusern vor. Es folgte das Unterstützungswohnsitzgesetz, das zunächst im Norddeutschen Bund und ab 1871 im ganzen Deutschen Reich mit Ausnahme von Bayern, wo es erst ab 1916 galt, in Kraft gesetzt wurde. Eine den heutigen Vorstellungen entsprechende Fürsorge wurde als Folge der Notstände nach dem 1. Weltkrieg (Inflation, Verarmung der Mittelschichten) erst 1924 gesetzlich eingeführt.

1

BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, 1 BvL 1, 3, 4/09, Quelle: BVerfG

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Sozialversicherung: Das Entstehen und Wachsen der Sozialversicherung steht in engem Zusammenhang mit der industriellen Entwicklung des Deutschen Reichs. In den Jahren 1883 bis heute wurde ein System geschaffen, das zwar vielfach erweitert und verbessert bzw. der demografischen Entwicklung angepasst wurde, in seinen Grundzügen aber bis heute unverändert geblieben ist. Versorgung: Im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg musste vor allem für die Familien der eingezogenen Soldaten eine Kriegswohlfahrtspflege als Gemeinschaftsaufgabe der Gemeinden und der freien Wohlfahrtsverbände sowie eine vom Reich getragene Versorgung für Kriegsbeschädigte und -hinterbliebene geschaffen werden. Daraus entwickelte sich in Gestalt des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 20.12.1950 und des Lastenausgleichsgesetzes (LAG) vom 14.08.1952 ein weiterer Zweig des Sozialrechts, die staatliche Sonderversorgung. In den fünfziger Jahren ist noch die Staatsbürgerversorgung (Kindergeld, Wohngeld, BAföG, Elterngeld etc.) hinzugetreten. Sie wird auch als Soziales Entschädigungsrecht bezeichnet. 2. Rechtliche Einordnung des Sozialrechts

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Recht

Zivilrecht

Eingriffsverwaltung

Öffentl. Recht

Strafrecht

Leistungsverwaltung

Sozialrecht

Fürsorge Sozialhilfe Arbeitslosengeld II Jugendhilfe

Sozialversicherung Krankenversicherung Rentenversicherung Unfallversicherung Arbeitslosenversicherung Pflegeversicherung

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Versorgung/Soziales Entschädigungsrecht Kindergeld Elterngeld Opferentschädigungsgesetz Bundesversorgungsgesetz Lastenausgleich BAföG

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Erläuterung des Organigramms: Recht ist die Summe der Regeln (Normen), die für das Zusammenleben von Menschen maßgeblich sind. Bei der Betrachtung der 1. Ebene der Seite 5 bleibt das Strafrecht unberücksichtigt. Es sanktioniert allein Handlungen, die vorgegebenen Regeln zuwiderlaufen und ist im Sozialrecht von nachgeordneter Bedeutung. Im Zivilrecht stehen sich die handelnden Parteien gleichberechtigt gegenüber. Es hat seine Ursprünge im römischen Recht. Soweit der Staat im Zivilrecht tätig wird, bezeichnet man ihn als Fiskus. In der Regel ist bei einem typischen zweiseitigen Rechtsgeschäft (Vertrag) der Verkäufer bzw. Vermieter verpflichtet, dem Käufer bzw. Mieter Eigentum- bzw. Nutzungsrechte an einer Sache zu verschaffen. Dem Käufer bzw. Mieter obliegt die Pflicht, den vereinbarten Kaufpreis bzw. Mietzins zu entrichten. Von Bedeutung sind im Sozialrecht die Unterscheidungsmerkmale zwischen dem öffentlichen Recht und dem Zivilrecht. Das öffentliche Recht geht von einem Über- und Unterordnungsverhältnis aus: Der Staat, d.h. die (Gebiets-)Körperschaften und öffentlich-rechtliche Anstalten sind natürlichen und juristischen Personen (z.B. GmbHs, Aktiengesellschaften, eingetragenen Vereinen, eingetragenen Genossenschaften) übergeordnet. Letztere sind jedoch nicht rechtlos. Sie können durch die in der Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsmittel (Vorverfahren: Widerspruch, Einspruch, Erinnerung; gerichtliches Verfahren: Klage, Berufung, Revision; gerichtliches Eilverfahren: Antrag auf einstweilige Verfügung/Anordnung, Arrest, Beschwerde) ihre Interessen verteidigen. Die das öffentliche Recht umsetzende Verwaltung begegnet dem Bürger als Leistungsoder als Eingriffsverwaltung. Die Leistungsverwaltung bezeichnet man auch als schlichthoheitliche Verwaltung. Typische Eingriffsverwaltungen sind beispielsweise die Polizei- und Ordnungsbehörden, die Finanz- und Zollämter sowie die Gesundheitsämter. Rechtsmittel gegen Entscheidungen von Behörden der Eingriffsverwaltung haben grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Insbesondere im Finanzwesen soll damit die Funktionstüchtigkeit des Gemeinwesens bei der Veranlagung von Steuern und Abgaben sichergestellt werden. Bei den von den Gesundheitsämtern ausgeführten Infektionsschutzgesetzen der Länder steht der Schutz vor ansteckenden Krankheiten im Vordergrund. Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels kann im Bereich der Eingriffsverwaltung bei offenkundig unrichtigen bzw. willkürlichen Behördenentscheidungen in einem gerichtlichen (Eil-)Verfahren wiederhergestellt werden. Rüdiger Lenski Leitfaden für die Aus- und Weiterbildung

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Aufgabe der Leistungsverwaltung ist es hingegen, bei vorgegebenen Fallgestaltungen/Versicherungsfällen Leistungsansprüche zu befriedigen. Diese steuer- und beitragsfinanzierten Maßnahmen berücksichtigen auch Gesichtspunkte des sozialen Ausgleichs (z.B. Anspruch auf Familienkrankenhilfe bei Angehörigen). Die Leistungsverwaltung dient im Wesentlichen der Umsetzung des Sozialrechts.

3. Erläuterung der Zweige des Sozialrechts Das Sozialrecht gliedert sich in die ·

Sozialversicherung

·

Fürsorge (Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Jugendhilfe)

·

Versorgung (Soziales Entschädigungsrecht)

In der Sozialversicherung herrscht grundsätzlich das Versicherungsprinzip. Es wird ergänzt durch einen sozialen Ausgleich. Die im Versicherungsfall zu erbringenden Leistungen werden vorrangig durch Beiträge finanziert. Die Beitragsleistungen begründen eigentumsähnliche Ansprüche, die verfassungsrechtlich geschützt sind. Höhere Beiträge, wie z.B. der von politischen Parteien (z.B. Bündnis 90 DIE GRÜNEN) diskutierte Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze, hätten entsprechend höhere Leistungen zur Folge. Eingriffe in die Substanz erworbener Ansprüche sind dem Gesetzgeber weitgehend verwehrt. Notwendige Anpassungen sind nur im Rahmen von Übergangs- bzw. Besitzstandsregelungen zulässig, weil sich der Versicherte in seiner Lebensplanung auf die ihm ursprünglich zugebilligten Ansprüche verlassen durfte. Ein Beispiel hierfür sind Leistungskürzungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung im Hinblick auf die sich abzeichnende demografische Entwicklung. Der soziale Ausgleich wird insbesondere in der Gesetzlichen Krankenversicherung und in der Gesetzlichen Rentenversicherung deutlich (z.B. in Gestalt der kostenfreien Familienversicherung; die Höhe des Beitrages in der Gesetzlichen Krankenversicherung orientiert sich an der Höhe des Einkommens, nicht am zu versichernden Risiko; Anspruch auf Hinterbliebenenrente in der Gesetzlichen Rentenversicherung besteht ohne höhere Beitragsleistung). In der Gesetzlichen Sozialversicherung ist für die Erlangung von Leistungen grundsätzlich ein Antrag erforderlich (Antragsprinzip). Maßstab für die Höhe der Leistungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung sind die erworbenen Anwartschaften bzw. dass während des Arbeitslebens erzielte Einkommen. Die Sozialhilfe und die Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen das unterste Netz im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland dar. Diese Leistungen erRüdiger Lenski Leitfaden für die Aus- und Weiterbildung

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halten Personen, die sich nicht selbst helfen können (Selbsthilfemöglichkeiten: Einsatz des Einkommens, des Vermögens und der Arbeitskraft) oder keine bereiten Ansprüche gegenüber Dritten besitzen (Bedürftigkeitsprinzip). Eines besonderen Antrages auf Sozialhilfe bedarf es – abgesehen von der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - nicht. Sie setzt ein, wenn dem Träger der Sozialhilfe die Notlage bekannt wird. Die genaue Abklärung des Sachverhalts obliegt der Behörde im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes. Hierbei hat der Hilfebedürftige mitzuwirken (z.B. Vorlage von Einkommensnachweisen). Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende bedarf es zur Leistungsgewährung eines Antrags. Einzelne Strukturelemente der Grundsicherung für Arbeitsuchende – so auch die Antragstellung - sind der früheren Arbeitslosenhilfe nachgebildet. Die Sozialhilfe bemisst sich nach der Besonderheit des Einzelfalls. Die Besonderheit kann in der Art des Bedarfs und in den persönlichen oder örtlichen Verhältnissen liegen (z.B. kostenaufwendigere Ernährung, hohe Mieten in Ballungsräumen). Die Sozialhilfe wird von den Kommunen aus Allgemeinen Deckungsmitteln (Steuern, Zuweisungen etc.) finanziert. Die Aufwendungen für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erstattet der Bund. Die Finanzierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende obliegt dem Bund und den Kommunen. Die Regelsatzleistungen, die Eingliederungsmaßnahmen sowie die Beiträge zur Krankenund Pflegeversicherung trägt der Bund. Die Kommunen finanzieren die Unterkunftskosten sowie zusätzliche der Eingliederung dienende Maßnahmen (z.B. für die Kinderbetreuung und Suchtberatung). Für die von den Kommunen zu tragenden Unterkunftskosten erhalten diese einen prozentualen Zuschuss des Bundes, der auch die Aufwendungen für Bildungs- und Teilhabemaßnahmen für Kinder und Jugendliche abdeckt. Das am 01.01.2017 in Teilbereichen in Kraft getretene Behindertenteilhabegesetz (BTHG) ist der Fürsorge im Sinne des Artikel 74 Grundgesetz (GG) zuzuordnen. Es beschränkt sich auf eingliederungsspezifische Leistungen, für die vorhandenes Einkommen und Vermögen nur eingeschränkt einzusetzen ist. Anspruch auf Versorgung haben Berechtigte bzw. Hinterbliebene, die Leistungen für das Gemeinwesen erbracht und - wie in der Kriegsopferversorgung - hierbei Gesundheitsschäden erlitten bzw. das Leben eingebüßt haben. Opfer von Gewalttaten haben Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Das in diesem Gesetz vorgesehene Leistungsspektrum verweist auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ein weites Feld nimmt heute die sogenannte Staatsbürgerversorgung (wie z.B. Wohngeld, BAföG, Elterngeld, Kindergeld) ein. Es handelt sich um staatliche Transferleistungen um individuelle Belastungen zu mildern.

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4. 4.1 Anzahl der Empfänger/-innen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Deutschland von 2003 bis 20151 Die Statistik zeigt die Anzahl der Empfänger/-innen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Deutschland in den Jahren von 2006 bis 2015. Im Dezember 2015 bezogen 1.038.008 Menschen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Abgebildet werden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII "Sozialhilfe").

Anzahl der Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1

Dezember 2015

1.038.008

2014

1.002.547

2013

962.187

2012

899.846

2011

844.030

2010

796.646

2009

763.864

2008

767.682

2007

732.602

2006

681.991

Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 136 vom 19.04.2016

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4.2 Anzahl der Empfänger von SGB II-Leistungen Quelle: Agentur für Arbeit Die aktuellen Entwicklungen in Kürze - November 2016 Bestand an Bedarfsgemeinschaften: 3.236.000 -5.000 ggü. Vormonat 4.000 ggü. Vorjahresmonat Bestand an Personen in Bedarfsgemeinschaften: 6.194.000 -7.000 ggü. Vormonat 39.000 ggü. Vorjahresmonat Bestand Leistungsberechtigten: 5.942.000 -14.000 ggü. Vormonat 38.000 ggü. Vorjahresmonat Bestand an Regelleistungsberechtigten: 5.907.000 -11.000 ggü. Vormonat 73.000 ggü. Vorjahresmonat Bestand an erwerbsfähigen Leistungsberechtigten: 4.280.000 -13.000 ggü. Vormonat 39.000 ggü. Vorjahresmonat Bestand an nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten: 1.627.000 2.000 ggü. Vormonat 34.000 ggü. Vorjahresmonat Vorläufige, hochgerechnete Werte. 5. Empfängerquote von Leistungen der Grundsicherung nach Bundesländern 2015 Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2016): Sozialberichterstattung der amtlichen Statistik Deutschland insgesamt Berlin

9,7 19,4

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Bremen Sachsen-Anhalt Hamburg Mecklenburg-Vorp. Nordrhein-Westfalen Brandenburg Saarland Sachsen Schleswig-Holstein Niedersachsen Thüringen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern

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18,5 13,4 13,9 13,1 12,0 11,0 10,7 10,3 10,3 9,8 9,6 9,3 7,8 6,0 5,2

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Sozialhilferecht (SGB XII) Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 5. 5.1 5.2 5.3 6. 6.1

Geschichtliche Entwicklung der Sozialhilfe Entwicklung in vorindustrieller Zeit Entstehen und Wachsen der Sozialhilfe Organisation der Sozialhilfe Grundsätze der Sozialhilfe Inhalt der Sozialhilfe Aufgaben und Ziele der Sozialhilfe Nachrang der Sozialhilfe (Subsidiaritätsprinzip) Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles (Individualitätsprinzip) Einsatz der Hilfe Familiengerechte Hilfe Rechtsanspruch auf Sozialhilfe Gesetzliche Grundlage Rechtscharakter von Leistungen Leistungsberechtigter Verwirkung des Sozialhilfeanspruchs Einstellung laufender Leistungen Sozialhilfe für Deutsche im Ausland Sozialhilfe für Ausländer in Deutschland Verfahren zur Ermittlung von Fakten Sonderregelung für Auszubildende Einschränkung der Leistungsgewährung Hilfearten Hilfe zum Lebensunterhalt Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Vorbeugende Gesundheitshilfe, Krankenhilfe, etc. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen unter Berücksichtigung der Regelungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) Hilfe zur Pflege Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten Hilfe in anderen Lebenslagen Einsatz des Einkommens, des Vermögens und der Arbeitskraft Einsatz des Einkommens Einsatz des Vermögens Einsatz der Arbeitskraft Nachträgliche Realisierung des Nachranggrundsatzes Gesetzlicher Forderungsübergang, Überleitung von Ansprüchen

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6.2 6.3

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Kostenerstattung gem. §§ 102 ff. SGB X Kostenersatz durch Leistungsempfänger und Erben

1. Geschichtliche Entwicklung der Sozialhilfe 1.1 Entwicklung in vorindustrieller Zeit In Deutschland begann erst im 16. Jahrhundert eine öffentliche Armenpflege, die zunächst in den Armenordnungen verschiedener Städte ihren rechtlichen Ausdruck fand. Die Regelungen hatten im Wesentlichen ordnungsbehördliche Zielsetzungen. Sie dienten insbesondere der Begrenzung des Zuzugs von Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestritten. Die religiöse Fürsorge, freie genossenschaftliche Hilfen und die Mildtätigkeit einzelner Personen standen im Vordergrund allen sozialen Wirkens. Spätere fürsorgerechtliche Regelungen stellten das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 und das Unterstützungswohnsitzgesetz von 1871 dar. 1.2 Entstehen und Wachsen der Sozialhilfe Die Notstände nach dem 1. Weltkrieg in Form von Geldentwertung und der dadurch verursachten Verarmung der Mittelschichten machten eine umfassende Reform des Armenrechts notwendig. Bei Handwerkern und vergleichbaren Gewerbetreibenden war es seither üblich gewesen, Ersparnisse zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter zu bilden. Diese Sparvermögen verloren durch die extreme Geldentwertung, die es in dieser Form zuvor noch nicht gegeben hatte und deshalb unbekannt war, ihren Wert. Auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes des Reichstags vom 13.10.1923 erließ die Reichsregierung am 13.02.1924 die Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV) und am 04.12.1924 die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (RGr). Die Reichsgrundsätze enthielten die materiell rechtlichen Regelungen und erklärten zur Aufgabe der Fürsorge, dem Hilfsbedürftigen den notwendigen Lebensbedarf dann zu gewähren, wenn er diesen nicht mehr aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen konnte und ihn auch nicht von anderer Seite erhielt. Als Kann-Leistung wurde erstmals auch die vorbeugende Hilfe zur Erhaltung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit vorgesehen. Ein einklagbarer Anspruch auf Fürsorgeunterstützung wurde dagegen nicht begründet.

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Die RFV und die Reichsgrundsätze, die nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 74 und 125 GG die Wirkung von Bundesgesetzen erhielten, wurden erst mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes am 01.06.1962 abgelöst. Der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe wurde nach dem Inkrafttreten des GG vom Bundesverwaltungsgericht2 unmittelbar aus dessen Regelungen abgeleitet. Nach Artikel 20 Nr. 1 ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Hieraus ergibt sich für die staatliche Gemeinschaft die Verpflichtung, Menschen in existenziellen Notlagen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Nach Nr. 3 des genannten Artikels sind vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. D.h., behördliches Handeln unterliegt grundsätzlich der Überprüfung durch die Rechtsprechung. Die Bedeutung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG): ·

Es verknüpfte das Niveau der Fürsorgeleistungen mit den Lebensumständen bzw. dem Lebensstandard der Gesamtbevölkerung ("Würde des Menschen").

·

Der als stigmatisierend empfundene Begriff "Fürsorge" wurde durch den Begriff "Sozialhilfe" ersetzt3.

·

Das in einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen4 zersplitterte Fürsorgerecht wurde in einem Gesetz zusammengefasst.

Zum 01.01.2005 wurde die Sozialhilfe als Buch XII in das Sozialgesetzbuch aufgenommen. Strukturveränderungen im Vergleich zum bisherigen BSHG sind: ·

Die Gliederung des BSHG in Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen wurde nicht weitergeführt. Die bisherige, dem Fürsorgerecht entliehene Aufteilung (Fürsorge/gehobene Fürsorge) führt nach Ansicht des Gesetzgebers im Einzelfall zu Darstellungsproblemen. Deshalb erfolgte eine veränderte Zuordnung der Bestattungskosten und der Hilfe in Sonderfällen zur Erhaltung und Sicherung der Unterkunft.

·

Der Gesetzgeber hat die Grundsicherungsleistungen nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG) in das SGB XII eingearbeitet.

·

Die Aufteilung der Leistungen zur Existenzsicherung (Hilfe zum Lebensunterhalt) erfolgte auf zwei Gesetze: Für Erwerbsfähige und ihre Angehörigen auf das SGB II, für nicht Erwerbsfähige auf das SGB XII. Eine „Hilfe zur Arbeit“ kommt folglich im

2

Urteil vom 24.06.1954, VC 78/54, FEVS Bd. 1 S. 55 Die in den sozialen Arbeitsfeldern tätigen Fachkräfte trugen nunmehr die Bezeichnung „Sozialarbeiter“; vorher: „Fürsorger“ 4 Verordnung über die Tuberkulosehilfe von 1942, Körperbehindertengesetz von 1957, Tuberkulosehilfegesetz von 1959 3

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SGB XII nicht mehr vor. Eine Hilfe zum Aufbau oder Sicherung der Lebensgrundlage ist nicht mehr ausdrücklich vorgesehen; gleichwohl im Rahmen des § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen)5 möglich. ·

Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt wurden teilweise pauschaliert. Einmalige Leistungen treten dadurch in den Hintergrund.

·

Im Bereich der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege führte der Gesetzgeber ein Persönliches Budget ein.

·

Personen, die in eingetragenen Lebenspartnerschaften leben, werden Ehepaaren gleichgestellt.

·

Die Übernahme von Bestattungskosten wird nicht mehr im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern als Hilfe in anderen Lebenslagen geregelt.

·

Für die früheren Hilfen in besonderen Lebenslagen und jetzt im SGB XII enumerativ aufgeführten Leistungen findet nur noch eine Einkommensgrenze Anwendung6.

·

Aus „Hilfesuchenden“ wurden im SGB XII „nachfragende Personen“, aus Hilfeempfängern „Leistungsberechtigte“.

1.3 Organisation der Sozialhilfe 1.3.1 Allgemeine Ausführungen Die Hilfe wird von Sozialhilfeträgern gewährt. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen „örtlichen“ und „überörtlichen“ Trägern der Sozialhilfe. Nach Landesrecht sind abweichende Regelungen möglich. Örtliche Träger sind die kreisfreien Städte und die Landkreise. Die Funktion von überörtlichen Trägern nehmen Kommunalverbände und andere Stellen (Landeswohlfahrtsverbände, Landschaftsverbände, Bezirksregierungen, Landesregierungen etc.) wahr. Nicht in allen Bundesländern, wie z.B. in Baden-Württemberg, bestehen überörtliche Träger. Die dortigen Landeswohlfahrtsverbände Baden und Württemberg-Hohenzollern wurden aufgelöst7.

5

Leistungen können auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Die Gewährung von Geldleistungen erfolgt in diesen Fällen als Beihilfe oder als Darlehen. 6 Die Bundesländer wurden ermächtigt, abweichende Regelungen zu treffen. 7 Im Rahmen des Staatsaufbaus existierten früher kleine, finanziell wenig leistungsfähige Landkreise mit oftmals nicht mehr als 30 - 40 Tsd. Einwohnern. Finanziell aufwendige Hilfearten, wie z.B. die stationäre Krankenhilfe oder die Eingliederungshilfe für Behinderte, und solche mit überörtlichem Charakter, z.B. Hilfen für

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1.3.2 Aufgabenverteilung im SGB XII Grundsätzlich besteht bei den örtlichen Trägern der Sozialhilfe eine Allzuständigkeit. Soweit das Landesrecht keine Regelungen enthält, sind die überörtlichen Träger nach § 97 Abs. 3 SGB XII zuständig für ·

die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen

·

Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten

·

Leistungen des Blindenhilfe

2. Grundsätze der Sozialhilfe 2.1 Inhalt der Sozialhilfe Die Sozialhilfe umfasst: ·

Hilfe zum Lebensunterhalt

·

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

·

Hilfen zur Gesundheit

·

Eingliederungshilfe für behinderte Menschen

·

Hilfe zur Pflege

·

Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten

Nichtsesshafte, wurden deshalb überörtlichen Trägern zugeordnet, die sich aus Umlagen der Kommunen und/oder Steuerzuweisungen der Länder finanzierten. Nach der Bildung von Großkreisen im Rahmen der Gebietsreform der 1970er-Jahre gibt es für das Bestehen überörtlicher Träger der Sozialhilfe keine sachliche Rechtfertigung mehr. Für überörtliche Aufgaben und zur Sicherstellung einer einheitlichen Hilfegewährung bieten sich andere Lösungen an (z.B. Landeszuweisungen bei gleichzeitigen fachlichen Vorgaben des Landes (Sozialhilferichtlinien), Wahrnehmung von Restaufgaben durch Landesministerien). Soweit überörtliche Träger noch bestehen, ist deren Aufgabenspektrum rückläufig.

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·

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Hilfe in anderen Lebenslagen8

sowie die jeweils gebotene Beratung und Unterstützung. Die Unterscheidung zwischen der Hilfe zum Lebensunterhalt und den anderen Hilfearten ist Ausgangspunkt für unterschiedliche Maßstäbe, die bei der Bemessung des Bedarfs, beim Verweis der nachfragenden Person auf Selbsthilfe (Umfang des Einsatzes der Arbeitskraft, des Einkommens und des Vermögens) und bei der Abgrenzung von Zuständigkeiten angelegt werden müssen. 2.2 Aufgaben und Ziele der Sozialhilfe Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist es Aufgabe der Sozialhilfe, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Leistung soll den Leistungsberechtigten so weit wie möglich befähigen, unabhängig von Hilfe zu leben. Auf dieses Ziel haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten. Das geschieht durch eine Leistungsabsprache, die durch einen Förderplan ergänzt werden kann9. Der Begriff „Würde“ unterliegt den Anschauungen der Zeit. Es handelt sich um einen „unbestimmten Rechtsbegriff“. Nicht zuletzt der allgemeine Lebensstandard der Bevölkerung ist Maßstab für die Zuordnung von Gütern und Dienstleistungen zum notwendigen Bedarf im Sinne des § 27 SGB XII (Beispiel: Während ein Kühlschrank in der 1950er-Jahren noch ein Luxusgut darstellte und mittleren und oberen Einkommensklassen vorbehalten blieb, handelt es sich heute um einen Gebrauchsgegenstand, der aus der täglichen Lebensführung nicht wegzudenken ist). Der Lebensstandard der Leistungsempfänger orientiert sich am Lebensstandard der Gesamtbevölkerung. Dies ist eine Durchschnittsgröße. Ausgangspunkt bildet der Lebensstandard unterer Einkommensgruppen. Der Lebensstandard von Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt muss grundsätzlich unter dem arbeitender Menschen mit geringer Qualifikation liegen (Lohnabstandsgebot). Dieser Gesichtspunkt gilt auch für die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Siehe auch nachfolgende Grafik!

8

Hierzu zählen die Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, die Altenhilfe, die Blindenhilfe, die Hilfe in sonstigen Lebenslagen und die Bestattungskosten. 9 Eine Möglichkeit zur Umsetzung dieser Vorgaben bietet in Teilbereichen die Eingliederungshilfe für Behinderte (z.B. Früherkennung und Frühbehandlung von Kindern). Andere Hilfearten sind weit überwiegend auf Dauerleistungen angelegt (z.B. Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und der Hilfe zur Pflege). In diesen Fällen nimmt die Sozialhilfe den Charakter einer versorgungsähnlichen Leistung an.

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Lohnabstandsgebot

Erläuterungen: Lebensstand der Gesamtbevölkerung Lebensstandard unterer Einkommensgruppen Lebensstandard von Sozialhilfeempfängern

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2.3 Nachrang der Sozialhilfe (Subsidiaritätsprinzip) Nach § 2 SGB XII erhält Sozialhilfe nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft1, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. § 2 umschreibt das in der Sozialhilfe geltende Bedürftigkeitsprinzip, von dem es nur wenige Ausnahmen gibt. Prinzipiell hat eine anfragende Person vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe erst konsequent alle möglichen und ihr zumutbaren Selbsthilfemöglichkeiten auszuschöpfen. Insoweit, als andere tatsächliche Hilfe leisten, ist nach § 2 SGB XII ein Anspruch auf Sozialhilfe nicht gegeben. Hierbei ist es unerheblich, ob die Leistungen der anderen auf Grund einer gesetzlichen, vertraglichen oder sittlichen Verpflichtung oder völlig freiwillig gewährt werden. Die tatsächliche Hilfeleistung anderer ist im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) nach den §§ 20 und 39 SGB XII bis zum Beweis des Gegenteils sogar zu unterstellen, wenn der Leistungsberechtigte mit Verwandten oder Verschwägerten in Haushaltsgemeinschaft oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebt. Personen in registrierten Partnerschaften sind wie Ehepaare zu behandeln. Trotz vorrangiger Ansprüche der nachfragenden Person darf Sozialhilfe jedoch nicht versagt werden, wenn die nachfragende Person außerstande ist, die Ansprüche rechtzeitig zu realisieren. D.h., „bereite Mittel“ nicht zur Verfügung stehen. Muss der Sozialhilfeträger danach auch insoweit eintreten, als ein Hilfeanspruch bei rechtzeitiger Leistung des Drittverpflichteten nicht bestanden haben würde, tritt ein Forderungsübergang ein bzw. kann dieser Anspruch übergeleitet oder ein Erstattungsanspruch bei einem vorrangigen Leistungsträger geltend gemacht werden. Wie bereits erwähnt, gibt es vom Grundsatz des Nachranges Ausnahmen. So sind beispielsweise Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils nicht zu berücksichtigen, wenn eine bei ihnen lebende, nachfragende Person schwanger ist oder ihr leibliches Kind bis zur Vollendung seines sechsten Lebensjahres betreut. Auch in der Behindertenhilfe sind einzelne Formen der Leistungen unabhängig vom Einkommen und Vermögen des Kindes und der Eltern des leistungsberechtigten Kindes.

1

Die Formulierungen hat der Gesetzgeber aus dem BSHG übernommen. Erwerbsfähige Personen haben seit 01.01.2005 Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Sie fallen nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfe.

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Die Sozialhilfe ist das unterste Netz im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland. Das soll nachstehende Darstellung verdeutlichen:

Regeleinkommen Beispiele:

Erwerbseinkommen, Vermögenserträge (Gehalt oder Lohn eines Arbeitnehmers, Einnahmen Selbstständiger, Zinsen, Dividenden)

Leistungen der Sozialversicherung und Staatsbürgerversorgung (staatl. Transferleistungen) Beispiele: Renten, Krankengeld, Arbeitslosengeld, BAföG, Kindergeld, Elterngeld, Pflegeversicherung, etc.

Ansprüche gegenüber Unterhaltspflichtigen und in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Personen:

Unterhaltsansprüche, tatsächliche Hilfeleistungen

Letzte, nachrangige Möglichkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts:

Fürsorgeleistungen (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II)

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2.4 Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalls (Individualitätsprinzip) Nach § 9 SGB XII richtet sich Art, Form und Maß der Hilfe nach der Besonderheit des Einzelfalls. Dieser Individualisierungsgrundsatz ist für die Sozialhilfe - wie für die abgelöste Fürsorge - charakteristisch. Besonders durch ihn unterscheidet sich die Sozialhilfe wesentlich von den weitgehend schematisierten Leistungen der Sozialversicherung und der Versorgung. Letztgenannte sind in der Regel als Pauschalleistungen ausgestaltet, deren Höhe u.a. am letzten Einkommen oder den erworbenen Anwartschaften (z.B. in der Rentenversicherung) anknüpft. Unter „Art der Hilfe“ sind die Hilfeart und die einzelnen im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen zu verstehen. Hilfeformen sind die in §§ 10, 11 SGB XII genannte persönliche Hilfe einschließlich Beratung, Unterstützung und Aktivierung sowie Geldleistungen und Sachleistungen. Unter „Maß der Hilfe“ ist das Ergebnis zu verstehen, das sich aus der Gegenüberstellung von Bedarf und eigenen Möglichkeiten der nachfragenden Person als Sozialhilfeleistung ergibt. Die Besonderheiten des Einzelfalls können in der Person des Leistungsberechtigten, in der Art seines Bedarfs und in den örtlichen Verhältnissen begründet liegen: ·

Besonderheiten, die in der Person des Hilfesuchenden liegen: z.B. Alter, Familienstand, Krankheit

·

Art des Bedarfs: z.B. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ambulante Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe für Behinderte, Bestattungskosten

·

Örtliche Besonderheiten: z.B. Besonderheiten in der für einen Aufenthaltsort typischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Struktur. Immer werden die örtlichen Lebenshaltungskosten (z. B. Mietniveau) bei der Bemessung der Hilfe von Bedeutung sein.

Der Grundsatz der Besonderheit des Einzelfalls muss dort seine Einschränkung erfahren, wo über eine größere Anzahl von gleichgelagerten Fällen unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes nach Art. 3 GG zu entscheiden ist. Den Wünschen der nachfragenden Person, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Wünschen des Leistungsberechtigten, den Bedarf stationär oder teilstationär zu decken, soll nur entsprochen werden, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalls erforderlich ist, weil anders der Bedarf nicht oder nicht ausreichend gedeckt werden kann. Vorrang haben ambulante Leistungen vor teilstationären und stationären Leistungen. Der Vorrang der ambulanten Leistung gilt nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Bei der Entscheidung ist zunächst die Zumutbarkeit zu prüfen. Da-

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bei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Bei Unzumutbarkeit ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen (§ 13 SGB XII)2. 2.5 Einsatz der Hilfe Zur Erlangung von Sozialhilfe bedarf es nicht eines förmlichen Antrags. Sie setzt nach § 18 SGB XII ein, wenn dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen die Notlage bekannt3 wird. Der Träger muss dann im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gem. § 20 SGB X tätig werden. Wird einem nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe oder einer nicht zuständigen öffentlichen Stelle im Einzelfall bekannt, dass Sozialhilfe beansprucht wird bzw. beansprucht werden kann, so sind die darüber bekannten Umstände dem zuständigen Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle unverzüglich mitzuteilen und vorhandene Unterlagen zu übersenden. Ergeben sich daraus die Voraussetzungen für die Gewährung, ist für das Einsetzen der Sozialhilfe der Zeitpunkt der Kenntnis der nicht zuständigen Stelle maßgebend (s. auch § 16 SGB I). Die Vorschrift soll vermeiden, dass die Leistung von Hilfe zur Behebung einer Notlage deshalb unterbleibt, weil die anfragende Person von der zuständigen Stelle keine Kenntnis hat. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die Grundsicherung für Arbeitsuchende und Leistungen nach dem Behindertenteilhabegesetz (BTHG) sind von einem Antrag abhängig. 2.6 Familiengerechte Hilfe Der Grundsatz der familiengerechten Hilfe bedarf im SGB XII besonderer Betonung, da es aus rechtssystematischen Gründen notwendig war, die Hilfe - im Gegensatz zum früheren Fürsorgerecht - auf die Einzelperson und nicht mehr auf die Familie abzustellen. Die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur familiengerechten Hilfe erstreckt sich nicht nur auf die Zubilligung und Bemessung von Leistungen, sondern auch auf die Regelung des 2

Die Rechtsprechung legt an die Zumutbarkeit strenge Maßstäbe. Beispiel aus der Rechtsprechung (Hess. LSG, Beschluss vom 19.05.2009, L 9 SO 65/09 B ER, Leitsatz, Quelle: Juris): Bei der Entscheidung über die Zumutbarkeit der Unterbringung eines Demenz-Kranken in einer stationären Einrichtung ist die Behörde nach § 13 Abs. 1 SGB XII verpflichtet, die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen. Stellt der Umzug des Pflegebedürftigen in ein Pflegeheim für diesen eine unzumutbare Belastung dar, so ist er in einer Demenz-Wohngemeinschaft ambulant zu betreuen. 3 Bekanntwerden bedeutet, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst wie erkennbar ist. Dem Sozialhilfeträger wird nicht angesonnen, die Notwendigkeit der Hilfe zu erahnen – so Beschluss des BVerwG vom 09.11.1976 VB 080/76 FEVS 25, 133. Die Vorschrift korrespondiert mit dem sozialhilferechtlichen Grundsatz, dass Sozialhilfe für die Vergangenheit (regelmäßig) nicht zu gewähren ist.

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Sozialhilfefalls im Ganzen. Gesichtspunkte der familiengerechten Gestaltung der Hilfe können daher auch Platz greifen bei der Heranziehung von Einkommen und Vermögen, bei der Bemessung von Kostenersatzansprüchen und bei der Heranziehung Unterhaltspflichtiger. Insbesondere ist hier zu berücksichtigen, ob durch die Heranziehung eine nachhaltige Störung des Familienfriedens zu befürchten ist4. 3. Rechtsanspruch auf Sozialhilfe 3.1 Gesetzliche Grundlage Nach § 17 SGB XII besteht auf Sozialhilfe ein Anspruch, soweit das Gesetz es bestimmt, dass die Hilfe zu erbringen ist. Der Anspruch auf Sozialhilfe ist höchstpersönlicher Natur. Er kann daher nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden. Über Form und Maß der Sozialhilfe ist nach pflichtmäßigem Ermessen zu entscheiden, soweit das SGB XII das Ermessen nicht ausschließt. Unter „Maß" der Sozialhilfe muss die Differenz zwischen dem, was die anfragende Person benötigt und dem, was sie nach den allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen entsprechend ihren wirtschaftlichen Verhältnissen als Eigenleistung zu erbringen hat, verstanden werden. 3.2 Rechtscharakter von Leistungen Dort, wo das SGB XII in „Muss"- oder „Ist"-Form spricht, ist beim Vorliegen der Tatbestände, an die das Gesetz knüpft, entsprechend zu verfahren. Bei Soll- oder Kannbestimmungen spielt das Ermessen des Sozialhilfeträgers eine mehr oder weniger erhebliche Rolle. Bei Sollbestimmungen (z.B. bei ergänzenden Darlehen nach § 37 SGB XII) besteht grundsätzlich die Verpflichtung, nach der Bestimmung zu verfahren. Ein Abweichen hiervon ist nach der Rechtsprechung im Einzelfall nur möglich, wenn dies auf Grund besonderer Umständen unter Berücksichtigung auch fürsorgerischer Erwägungen geboten erscheint5. Man spricht deshalb bei der Sollbestimmung vom sogenannten gebundenen Ermessen oder noch weitergehender von einer „Quasi"-Mussbestimmung. Im Fall einer Kannbestimmung ist der Sozialhilfeträger in seiner Entscheidung grundsätzlich frei. Die Grenzen des freien Ermessens liegen im Widerspruch zum Gesetzeszweck und im Gleichheitsgrundsatz nach dem Grundgesetz.

4

Zur Ausgestaltung der Hilfe bedarf es regelmäßig der Mitwirkung des Sozialdienstes. Beispiel: Der Leistungsberechtigte beantragt ein ergänzendes Darlehen für den Erwerb einer Waschmaschine, obwohl im Keller des Mehrfamilienhauses eine wenig genutzte Gemeinschaftswaschmaschine zur Verfügung steht. Die Behörde lehnt daher das ergänzende Darlehen ab. 5

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§ 17 Abs. 2 SGB XII enthält für alle Einzelbestimmungen über Leistungsart und Maß die generelle Vermutung, dass sie Ermessen einräumen. Das ist für die Prüfung, inwieweit das SGB XII die Verwaltung durch sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. „notwendiger Lebensunterhalt") einschränkt, von besonderer Bedeutung. Unbestimmte Rechtsbegriffe schließen nämlich ihrem Wesen nach regelmäßig eine Ermessensausübung aus. Es kann nur eine Entscheidung - unter Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls - richtig sein. Das Verwaltungshandeln unterliegt insoweit der vollen sozialgerichtlichen Nachprüfung. Die Rechtsprechung räumt den Trägern der Sozialhilfe allerdings einen sogenannten Beurteilungsspielraum ein. 3.3 Leistungsberechtigter Wem eine Leistung zusteht, bestimmt das Gesetz bei den Hilfearten ausdrücklich oder es ergibt sich aus dem Zusammenhang. Grundsätzlich geht das SGB XII von einem höchstpersönlichen Sozialhilfeanspruch des Einzelnen auch dort aus, wo im Hinblick auf den Einsatz von Einkommen und Vermögen sogenannte Bedarfsgemeinschaften gebildet werden. Ein Anspruch auf Sozialhilfe erlischt deshalb grundsätzlich mit der Überwindung oder Beendigung der Notlage (etwa durch Tod der anfragenden Person). Danach ist auch die Vererblichkeit des Anspruchs grundsätzlich ausgeschlossen. Hiervon gibt es Ausnahmen: Der Anspruch der anfragenden Person auf Hilfe für Leistungen in einer Einrichtung oder auf Pflegegeld steht, soweit die Leistung dem Berechtigten gewährt worden wäre, nach seinem Tod demjenigen zu, der die Hilfe erbracht oder die Pflege geleistet hat (§ 19 Abs. 6 SGB XII). 3.4 Verwirkung des Sozialhilfeanspruchs6 Verletzt die anfragende Person Pflichten, die ihr nach dem Gesetz obliegen, so kann sich die anfragende Person selbst dann nicht auf einen Anspruch berufen, wenn das Gesetz die Hilfe nicht ausdrücklich versagt. Beispiel: Die anfragende Person ist nicht bereit, Einkommensunterlagen vorzulegen. Das gleiche gilt für den Fall, dass die anfragende Person durch ihr Verhalten eine Durchführung von Hilfemaßnahmen unmöglich macht (z.B. ein Leistungsberechtigter verwendet eine gewährte Krankenkostzulage zum Erwerb alkoholischer Getränke).

6

In der Praxis wird der Leistungsberechtigte auf seine Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I hingewiesen. Kommt der den Auflagen nicht nach, kann die Leistung versagt bzw. teilweise eingestellt werden (z.B. bei einer nicht zweckentsprechenden Verwendung einer Krankenkostzulage. Der Leistungsberechtigte ist zuvor auf die Folgen seines Verhaltens hinzuweisen.

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3.5 Einstellung laufender Leistungen Die Sozialhilfe ist keine rentenähnliche Leistung mit Dauerwirkung; es sei denn, sie wird ausdrücklich für einen bestimmten, über einen Monat hinausgehenden Zeitraum bewilligt7. Die Fortzahlung über den jeweiligen Zahlungsabschnitt (in der Regel der Kalendermonat) hinaus gilt als stillschweigende Weiterbewilligung. Das bedeutet, dass die Einstellung der Hilfe am Ende des Bewilligungsabschnittes rechtlich als Nichterneuerung der Bewilligung, nicht jedoch als Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes anzusehen ist. Hiergegen kann die anfragende Person nur mit Verpflichtungsklage vorgehen. Der Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung. Für eine vorläufige Weiterleistung der laufenden Hilfe muss die anfragende Person eine einstweilige Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)8 erwirken. 3.6 Sozialhilfe für Deutsche im Ausland9 Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben und im Ausland der Hilfe bedürfen, erhalten keine Leistungen nach dem SGB XII. Hiervon kann bei außergewöhnlichen Notlagen und bei nicht bestehender Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland abgewichen werden, bei ·

Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss,

·

längerfristiger stationärer Betreuung in einer Einrichtung oder Schwere der Pflegebedürftigkeit oder

·

hoheitlicher Gewalt.

3.7 Sozialhilfe für Ausländer in Deutschland Die Sozialhilfe geht vom Territorialprinzip aus. Grundsätzlich haben auch Ausländer und Staatenlose Anspruch auf Leistungen. Die Hilfe kann versagt werden, wenn sich die anfragende Person in das Bundesgebiet begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen.

7

z.B. § 44 Abs. 1 SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung): Die Leistung wird in der Regel für zwölf Kalendermonate bewilligt. 8 Zu Einleitung des Verfahrens ist es ausreichend, dass die anfragende Person beim Sozialgericht vorspricht und ihr Anliegen vorträgt. Der Vortrag wird protokolliert und als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung an die zuständige Kammer weitergeleitet. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. 9 Wie auch in der Bundesrepublik Deutschland herrscht in den meisten Staaten das Territorialprinzip, d.h., Ausländer werden Einheimischen gleichgestellt, wenn sie den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen dort begründet haben. Einzelheiten regeln das Europäische Fürsorgeabkommen und die Sozialhilfeabkommen mit der Schweiz und Österreich. Die Sozialhilfe für Deutsche im Ausland findet insbesondere auf überseeische Länder, wie die USA oder Japan, Anwendung.

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Ein Rechtsanspruch besteht auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Krankenhilfe, Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen und Hilfe zur Pflege. Im Übrigen kann Sozialhilfe gewährt werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Einschränkung gilt nicht für Ausländer mit verfestigtem Aufenthaltsstatus. Für Asylbewerber gelten Sonderregelungen. Sie erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. 3.8 Verfahren zur Ermittlung von Fakten Bevor verbindliche Entscheidungen über die Gewährung oder Nichtgewährung von Sozialhilfe getroffen werden können, muss die Eigenart der Notlage und die wirtschaftliche Situation der anfragenden Person und ggf. der ihr zum Unterhalt Verpflichteten geklärt werden. Zur objektiven Klärung der Notlage der anfragenden Person muss deshalb in aller Regel ein Gespräch mit der anfragenden Person und ihren Angehörigen geführt, Stellungnahmen des Sozialen Dienstes, ggf. auch ärztliche oder amtsärztliche Gutachten eingeholt und Nachweise über Einkommen, Vermögen, Mieten und dergleichen gesammelt bzw. beschafft werden. Lässt sich trotz intensiver Bemühungen nicht klären, ob eine Bedürftigkeit vorliegt, so geht das regelhaft zu Lasten desjenigen, der Ansprüche auf Sozialhilfe geltend macht10. 3.9 Sonderregelung für Auszubildende Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) oder der Leistungen zur Förderung der Berufsausbildung gem. SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Das gilt jedoch nicht bei BAföG für Schüler oder wenn der Auszubildende an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teilnimmt. In besonderen Härtefällen11 kann beim Vorliegen der Ausschlusstatbestände Hilfe zum Lebensunterhalt als Beihilfe oder als Darlehen geleistet werden. Die Vorschrift ist mit § 7 Abs. 5 SGB II deckungsgleich. 3.10 Einschränkung der Leistungsgewährung, Aufrechnung Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder die Teilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab, vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einer ersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wiederholter Ableh-

10 11

Urteil des BVerwG v. 05.05.1983 5 C 112/81 FEVS 33, 5 z.B. die anfragende Person steht kurz vor dem Examen

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nung in weiteren Stufen um jeweils bis zu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sind vorher entsprechend zu belehren (§ 39 a SGB XII). Eine Einschränkung der Leistungen auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche ist möglich ·

bei Volljährigen, die ihr Einkommen und Vermögen in der Absicht vermindert haben, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistung herbeizuführen und

·

bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.

Es ist so weit wie möglich zu vermeiden, dass unterhaltsberechtigte Angehörige von den Sanktionen mit betroffen werden. Eine Aufrechnung ist grundsätzlich möglich, wenn die leistungsberechtigte Person oder ihr Vertreter zu Unrecht Leistungen erhalten haben und dies durch vorsätzliche, grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben oder durch pflichtwidriges Unterlassen veranlasst wurde, oder wenn es sich um Ansprüche auf Kostenersatz nach den §§ 103 und 104 SGB XII handelt. 4. Hilfearten 4.1 Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 27 SGB XII 4.1.1 Umfang der Hilfe zum Lebensunterhalt 4.1.1.1 Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts Der notwendige Lebensunterhalt umfasst die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz, d.h. die Bedürfnisse, die ständig vorhanden sind oder jedenfalls mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren, so dass sie einen unerlässlichen Teil der Daseinsvorsorge jedes Einzelnen darstellen. Mit dem Begriff des notwendigen Lebensunterhalts sind die zur Erhaltung eines menschenwürdigen Lebens erforderlichen Mittel gemeint. Der Begriff des menschenwürdigen Lebens lässt sich nicht allein als eine Formel für das physiologisch Notwendige umschreiben; zugleich wird auf die jeweils herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen verwiesen. Der unbestimmte Rechtsbegriff „notwendiger Lebensunterhalt" ermöglicht eine ständige Anpassung an die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Damit ist sichergestellt, dass die Empfänger von Sozialhilfe an der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung teilhaben können.

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Zum notwendigen Lebensunterhalt zählen: ·

Ernährung:

Die Ernährung umfasst den Regelbedarf, der nach Regelsätzen bemessen wird (§ 28 SGB XII), sowie einen etwaigen Sonderbedarf für bestimmte Personengruppen nach § 30 SGB XII oder nach den individuellen Verhältnissen (§ 27 a Abs. 4 SGB XII). Die besondere Krankenkost ist Bestandteil der Hilfe zum Lebensunterhalt. ·

Unterkunft:

Als Aufwendungen für die Unterkunft sind die tatsächlichen Kosten einzusetzen, soweit sie nicht unangemessen hoch sind. Auch in diesem Fall sind jedoch die tatsächlichen Kosten zu berücksichtigen, wenn dem Hilfesuchenden ein Wohnungswechsel oder die Senkung seiner Aufwendungen (z.B. durch Untervermietung) aus besonderen, in seiner Person liegenden Gründen (z.B. Erkrankung, Alter, Behinderung) nicht möglich oder zumutbar ist12. Ohne besondere, gegen einen Wohnungswechsel sprechende Gründe, wird eine unangemessen hohe Miete für längstens sechs Monate bei der Ermittlung des Bedarfs berücksichtigt. Eingehende Untermieten sind als Einkommen anzurechnen, wobei ein angemessener Abzug für Reinigung, Wäsche, Heizung usw. vorgenommen wird. Auch die Mietnebenkosten sind Bestandteil des Unterkunftsbedarfs. Der Gesetzgeber wählt ausdrücklich den Begriff "Kosten der Unterkunft", weil nicht nur Mietzinsen zum notwendigen Lebensunterhalt zählen, sondern auch Nutzungsgebühren und Zinszahlungen für im Besitz des Leistungsberechtigten befindliche eigengenutzte Objekte. Seither im Rahmen des § 15a BSHG zu bewilligende Wohnungsbeschaffungskosten und Mietkautionen können jetzt im Rahmen der Unterkunftskosten gem. § 35 Abs. 2 SGB XII übernommen werden, wenn der Träger der Sozialhilfe der Anmietung der Wohnung zuvor zustimmte. ·

Kleidung: Bei der Ausstattung von anfragenden Personen mit Kleidung muss vermieden werden, dass der Leistungsberechtigte sich rein äußerlich negativ von der übrigen Bevölkerung abhebt. Insbesondere bei Kindern ist dieser Gesichtspunkt von besonderer Bedeutung. Auch gebrauchte Kleidung kann zur Bedarfsdeckung geeignet sein.

12

Beispiel aus der Rechtsprechung: Der Bezieherin von Leistungen der Grundsicherung im Alter, die sehr stark sehbehindert und daher in ihrer Orientierungsfähigkeit eingeschränkt ist, ist ein Umzug nicht zuzumuten, wenn ihre monatliche Miete die zulässige Mietobergrenze um rund € 60 übersteigt. Der Klägerin sei ein Umzug aufgrund ihres Alters und ihrer eingeschränkten Sehfähigkeit zur Reduzierung der Wohnkosten um € 57,30 nicht zumutbar. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit eines Umzugs zur Senkung der Kosten der Unterkunft älterer Menschen sei deren Recht auf Verbleib in einem langjährig vertrauten Umfeld in besonderer Weise Rechnung zu tragen. SG Stuttgart, Urteil vom 20.06.2011, S 7 SO 3292/09, Quelle: Juris 05.09.2011

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Im Gegensatz zum BSHG sind im SGB XII die Bedarfe für Bekleidung mit dem (höheren) Regelsatz abgegolten. Lediglich Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt sind über den Regelsatz hinaus zu bewilligen. Die Neuregelung ist nicht unproblematisch. Bei Klientel, die nachweislich nicht zur zweckentsprechenden Verwendung von Barmitteln in der Lage ist, kann eine Herausnahme der Kleidergeldanteile aus dem Regelsatz sinnvoll sein. Bei atypischen Bedarfen (z.B. Übergrößen, Kommunion, Konfirmation, Sterbefällen, Krankenhausaufenthalten) dürfte eine Regelsatzüberschreitung gem. § 27 Abs. 4 SGB XII angezeigt sein. Für soziale Randgruppen wie z.B. Drogenabhängige und Nichtsesshafte sind weiterhin Kleiderausgabestellen unerlässlich. Dieser Personenkreis hat in der Regel keinen Marktzugang und ist auf Sachleistungen angewiesen. ·

Körperpflege und Kosten für Krankheit:

Die Aufwendungen für die Körperpflege umfassen nicht nur die Kosten der Körperreinigung, sondern auch die individuellen Kosten der Körperpflege, wie Reinigung der Leibwäsche. Die Aufwendungen der Körperpflege werden, soweit im Einzelfall keine besonderen zusätzlichen Kosten hierfür geltend zu machen sind, pauschal durch den Regelsatz abgegolten. Im Rahmen dieser Bedarfsgruppe ist nur der Gebrauch einfacher Seifen, Fettcremes, etc. möglich; nicht jedoch kostenaufwendige Kosmetika. Durch Artikel 29 des am 01.01.2004 in Kraft getretenen Gesundheitsmodernisierungsgesetzes wurde diese Bedarfsgruppe um Kosten für die Gesundheit erweitert. Hierunter fallen insbesondere die Zuzahlungen für Medikamente sowie Heil- und Hilfsmittel bis zur Belastungsgrenze. ·

Hausrat:

Die Ausstattung mit Hausrat ist zwar ebenfalls auf das Notwendige begrenzt. Gerade in diesem Bereich hat sich aber in den letzten Jahren durch die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards der Bevölkerung eine erhebliche Anhebung und Ausdehnung des anzuerkennenden Bedarfs ergeben. Für die Ausstattung mit Hausrat ist die Dauer der Notlage von besonderer Bedeutung. In langdauernden Bedarfsfällen (bei alten oder dauernd erwerbsgeminderten bzw. nicht mehr vermittelbaren Hilfeempfängern sowie bei Teilfamilien) muss in der Regel auch eine entsprechend bessere und vollständigere Ausstattung gewährt werden. Hierzu können auch Polstermöbel und Teppiche gehören. Nach der neueren Rechtsprechung zählt auch ein Fernsehgerät zum notwendigen Bedarf. Der Ergänzungsbedarf ist mit dem Regelsatz abgegolten. Einmalige Leistungen für die Erstausstattung von Wohnungen einschließlich Haushaltsgeräten werden gesondert erbracht (§ 31 Abs. 1 SGB XII).

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·

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Heizung:

Die Heizung umfasst den sogenannten Winterbrand oder den Aufwand für zentralbeheizten Wohnraum. Der Bedarf an sonstigem Heizmaterial für Kochen, Baden usw. wird durch die Regelsätze abgegolten. Die Höhe der Beihilfen für Heizmaterial richtet sich nach den besonderen örtlichen und familiären Verhältnissen (Brennstoffpreise, Größe und Anzahl der Räume und vorhandenen Heizmöglichkeiten, Zusammensetzung der Familie). Der besondere Heizbedarf bei Kleinkindern und bei pflegebedürftigen Personen muss berücksichtigt werden. ·

Persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens:

Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens zählt insbesondere die Unterrichtung über das Tagesgeschehen (Rundfunk, Tageszeitung), die Beschaffung von Genussmitteln in beschränktem Umfang (Tabakwaren usw.) sowie - in vertretbarem Umfang - die Teilnahme am kulturellen Leben und an Veranstaltungen (u.a. auch Kinobesuche). Der Bedarf ist bei der Bemessung der Regelsätze zu berücksichtigen. ·

Bildung und Teilhabe:

Bedarfe für die Bildung von Schülerinnen und Schülern, die eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, sowie Bedarfe von Kindern und Jugendlichen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft werden neben den maßgebenden Regelsatzstufen gesondert erbracht. Bei Schülerinnen und Schülern werden Bedarfe in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen anerkannt. Die Regelung gilt für Kinder, die Kindertageseinrichtungen besuchen, entsprechend. Ferner werden folgende Leistungen gewährt: ·

Für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf werden bei Schülerinnen und Schülern für den Monat, in dem der erste Schultag liegt, € 70 und für den Monat, in dem das zweite Schulhalbjahr beginnt, € 30 anerkannt.

·

Für Schülerinnen und Schüler, die für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs auf Schülerbeförderung angewiesen sind, werden die dafür erforderlichen tatsächlichen Aufwendungen berücksichtigt, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden und es der leistungsberechtigten Person nicht zugemutet werden kann, sie aus dem Regelsatz zu bestreiten.

·

Für Schülerinnen und Schüler wird eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätz-

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lich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. ·

Bei Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung werden die entstehenden Mehraufwendungen für Schülerinnen und Schüler und Kinder, die eine Tageseinrichtung besuchen oder für die Kindertagespflege geleistet wird, berücksichtigt. Für Schülerinnen und Schüler gilt dies unter der Voraussetzung, dass die Mittagsverpflegung in schulischer Verantwortung angeboten wird.

·

Für Leistungsberechtigte bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres wird ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft in Höhe von insgesamt € 10 monatlich für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Unterricht in künstlerischen Fächern (zum Beispiel Musikunterricht) und vergleichbare angeleitete Aktivitäten der kulturellen Bildung und die Teilnahme an Freizeiten berücksichtigt.

4.1.1.2 Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung § 32 SGB XII regelt die Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Gleichzeitig wird klargestellt, dass solche Beiträge nicht zur Krankenhilfe gem. § 48 gehören. Voraussetzung für die Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung ist stets, dass die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt erfüllt sind. Als Pflichtleistung ist die Übernahme von Beiträgen zu einer Kranken- und Pflegeversicherung bei Pflichtversicherten ausgestaltet. Bei freiwillig Versicherten handelt es sich um eine „Kann-Leistung". Es handelt sich bei diesem Personenkreis ebenfalls um eine Pflichtleistung, wenn die Hilfe zum Lebensunterhalt voraussichtlich nur für kurze Dauer zu leisten ist13. Auch Beiträge für eine private Krankenversicherung werden übernommen, soweit die Aufwendungen angemessen sind. Bei voraussichtlich nur kurzem Leistungsbezug können auch höhere Aufwendungen übernommen werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung eines Versicherungsverhältnisses dient. Die Übernahme von Beiträgen zur Krankenversicherung schließt die Übernahme von Beiträgen zur Pflegeversicherung ein.

13

Gerade bei älteren Leistungsberechtigten ist es für den Sozialhilfeträger finanziell günstiger, eine bestehende freiwillige Krankenversicherung fortzuführen, als selbst mit Leistungen der Krankenhilfe über die Krankenkasse gem. § 264 SGB V einzutreten.

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4.1.1.3 Übernahme von Kosten zur Alterssicherung (Vorsorge) Kosten für eine angemessene Alterssicherung sind insbesondere freiwillige Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung oder andere Vorsorgeangebote. Es handelt sich um eine Kann-Leistung, über deren Bewilligung der Träger der Sozialhilfe nach pflichtmäßigem Ermessen entscheidet. Die anfragende Person hat demzufolge auf die Übernahme der Beitragskosten keinen Anspruch. Um die Voraussetzungen eines Anspruchs auf ein angemessenes Sterbegeld zu erfüllen, können die erforderlichen Beiträge übernommen werden. 4.1.1.4 Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonderfällen Zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage können gem. § 36 SGB XII Schulden übernommen werden. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden. Die Neuregelung ist sehr viel enger gefasst als der frühere § 15 a BSHG. Gegenstand der Regelung ist die Übernahme von „Schulden". Bei im Einzelfall notwendigen Abstandszahlungen oder Genossenschaftsanteilen handelt es sich jedoch nicht um Schulden, sondern um einzugehende Verbindlichkeiten. In diesen Fällen sind künftig nur noch Ergänzende Darlehen gem. § 37 SGB XII möglich. Mietkautionen sind im SGB XII den Unterkunftskosten zugeordnet (§ 35 Abs. 2 SGB XII). 4.1.2 Bemessung der Hilfe zum Lebensunterhalt 4.1.2.1 Grundsatz der Besonderheit des Einzelfalls Nach § 9 SGB XII richtet sich vor allem auch die Festsetzung des Bedarfs nach der Besonderheit des Einzelfalls. Diese kann in der Person des Leistungsberechtigten, in der Art seines Bedarfs und in den örtlichen Verhältnissen liegen. Wünschen der anfragenden Person, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind und keine unvertretbaren Mehrkosten verursachen. Das Individualitätsprinzip unterscheidet die Sozialhilfe von den anderen Zweigen des Sozialrechts. Seine Anwendung muss einerseits eine im Einzelfall optimale und andererseits eine in gleichgelagerten Fällen übereinstimmende Hilfe gewährleisten. Aus diesem Grund musste der Gesetzgeber dort, wo gleichmäßige Sachverhalte zu unterstellen sind, das Individualitätsprinzip einschränken.

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4.1.2.2 Regelsätze Gerade bei der Hilfe zum Lebensunterhalt muss davon ausgegangen werden, dass diese Grundbedürfnisse des täglichen Lebens enthält, die zur Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes gleichmäßig bemessen werden müssen. Das geschieht dadurch, dass diese Grundbedürfnisse gemäß §§ 27 a, 28 SGB XII durch Regelsätze abgegolten werden. Hierin ist eine gewisse Einschränkung des Individualitätsgrundsatzes zu erkennen. Der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen mit Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung und einzelner Sonderbedarfe werden nach Regelsätzen erbracht. Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Regelsatzbemessung berücksichtigt Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen. Das Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz – RBEG) regelt seit seinem Inkrafttreten zum 1. Januar 2011 die Bedarfsermittlung für die Höhe der pauschalierten monatlichen Leistung bei der Hilfe zum Lebensunterhalt der Sozialhilfe in Deutschland. Es ersetzt die Regelsatzverordnung, in der zuvor die Zusammensetzung und Ermittlung der Leistungshöhe normiert war. Das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz wird nach § 20 Abs. 5 Satz 2 SGB II in entsprechender Weise auch für die Anpassung des Regelbedarfs von Beziehern der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch zugrunde gelegt. Familienstand und das Alter der anfragenden Person werden bei der Bedarfsbemessung durch der Höhe nach unterschiedlich festgelegte Regelsätze berücksichtigt. Die jeweils zum 1. Januar eines Jahres in Kraft tretenden Regelsätze für Erwachsene und Kinder berechnet das Bundesarbeitsministerium. Als Grundlage dienen ihm eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sowie Veränderungen bei den Verbraucherpreisen und dem Einkommen der Gesamtbevölkerung. Das Statistische Bundesamt ermittelte dabei für rund 60.000 Haushalte die Einnahmen, Ausgaben und Ersparnisse. SGB XII- und SGB II– Empfänger wurden herausgerechnet. Für die Regelsätze wird nur das untere Fünftel dieser Haushalte berücksichtigt. Bildungspaket: Zusätzlich zu den Regelleistungen erhalten Kinder und Jugendliche ein Bildungspaket als Sachleistung. Damit erhält jedes Kind Zugang zu einem Verein, zu Ferienfreizeiten und außerschulischer Bildung. Dafür stehen bis zu € 120 im Jahr bereit. Das Schulstarterpaket von € 100 pro Schuljahr für Schulmaterial wird beibehalten. Neu ist, dass € 70 zu Beginn

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des Schuljahres und € 30 zum Halbjahr gezahlt werden. Außerdem werden Schul- und Kita-Tagesausflüge mit € 30 im Jahr bezuschusst. Kinder und Jugendliche, die in Schule oder in Kitas zu Mittag essen, erhalten einen Zuschuss von rund zwei Euro pro Mahlzeit. Kinder mit Schulproblemen haben die Möglichkeit einer „angemessenen" Lernförderung. 4.1.2.3 Höhe der Regelsätze (Stand 1. 1. 2017) Alleinstehende und Alleinerziehende (Regelbedarfsstufe 1)

€ 409

Ehegatten und Lebenspartner sowie andere Erwachsene, die in einem gemeinsamen Haushalt leben und gemeinsam wirtschaften (Regelbedarfsstufe 2)

€ 368

Erwachsene, die keinen eigenen Haushalt führen, weil sie im Haushalt anderer Personen leben (Regelbedarfsstufe 3)

€ 327

Jugendliche von 14 bis 17 Jahren (Regelbedarfsstufe 4)

€ 311

Kinder von 6 bis 13 Jahren (Regelbedarfsstufe 5)

€ 291

Kinder unter 6 Jahren (Regelbedarfsstufe 6)

€ 237

4.1.2.4 Mehrbedarfszuschläge Bei bestimmten Gruppen von anfragenden Personen steht von vornherein fest, dass der im Regelsatz pauschalierte Bedarf ihren besonderen Verhältnissen nicht voll gerecht wird. Die genannten Pauschalbeträge stehen unter dem Vorbehalt, dass ein von der Pauschale abweichender, höherer Bedarf nicht besteht: Ein Mehrbedarf von 17 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes ist anzuerkennen ·

für Personen, die vor dem 01.01.1947 14geboren sind und für Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind und einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen "G" besitzen,

14

Für Personen, die nach dem 31.12.1946 geboren sind, wird die Altersgrenze stufenweise angehoben s. auch SGB II, Randnummer 10 zu Ziffer 4.1. Ab dem Geburtsjahrgang 1964 besteht eine Leistungsberechtigung erst nach Vollendung des 67. Lebensjahres.

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·

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für werdende Mütter nach der 12. Schwangerschaftswoche.

Für Personen, die mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern zusammenleben und allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, ist ein Mehrbedarf anzuerkennen ·

in Höhe von 36 vom Hundert des Eckregelsatzes für ein Kind unter sieben Jahren oder für zwei oder drei Kinder unter sechzehn Jahren, oder

·

in Höhe von 12 vom Hundert des Eckregelsatzes für jedes Kind, wenn die Voraussetzungen des voranstehenden Satzes nicht vorliegen, höchstens jedoch in Höhe von 60 von Hundert des Eckregelsatzes.

Für Behinderte, die das 15. Lebensjahr vollendet haben und denen Eingliederungshilfe gewährt wird, ist ein Mehrbedarf von 35 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen. Der Mehrbedarfszuschlag kann auch nach Beendigung der Eingliederungsmaßnahme für eine angemessene Übergangszeit (z.B. Einarbeitungsphase) bewilligt werden. Ferner ist ein Mehrbedarf anzuerkennen bei Personen, die einer kostenaufwendigeren Ernährung bedürfen. Ein Mehrbedarf ist auch zuzubilligen, wenn die Warmwassererzeugung durch eine in der Wohnung installierter Vorrichtung (z.B. Durchlauferhitzer) erfolgt:

Der Mehrbedarf beträgt für jede im Haushalt lebende leistungsberechtigte Person entsprechend ihrer Regelbedarfsstufe jeweils 2,3 vom Hundert der Regelbedarfsstufen 1 bis 3, 1,4 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 4, 1,2 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 5 oder 0,8 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 6, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. 4.1.3 Bewilligung einmaliger Bedarfe Leistungen für ·

Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten,

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·

Erstausstattungen für Bekleidung und Erstausstattungen bei Schwangerschaft und Geburt sowie

·

mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen

werden gesondert erbracht. Einmalige Leistungen sind aber auch zu gewähren, wenn der Leistungsberechtigte zwar keine laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt benötigt, den Lebensunterhalt jedoch aus eigenen Kräften und Mitteln nicht voll beschaffen kann. In diesem Falle kann das Einkommen berücksichtigt werden, das der Leistungsberechtigte innerhalb eines Zeitraumes von bis zu sechs Monaten nach Ablauf des Monats erwirbt, in dem über die Leistung entschieden worden ist. 4.1.4 Notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen In stationären Einrichtungen schließt die dort gewährte Leistung die Hilfe zum Lebensunterhalt ein. Der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen entspricht dem Umfang der Leistungen der Grundsicherung nach § 42 Nummer 1, 2 und 4 SGB XII (Regelbedarf, Mehrbedarf, durchschnittliche angemessene Aufwendungen für die Unterkunft). Der weitere notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Kleidung sowie einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung. Dieser beträgt bei Volljährigen mindestens 27%15 des Eckregelsatzes unter der Voraussetzung, dass die bestimmungsmäßige Verwendung der Mittel gesichert ist. Der Barbetrag entspricht somit von der Höhe her den seitherigen Regelungen im BSHG. Allerdings ist im Vergleich zu dem vor dem 01.01.2005 gültigen Recht ein Zusatzbetrag für Leistungsberechtigte mit eigenem Einkommen nicht mehr vorgesehen. 4.1.5 Ergänzende Darlehen Kann die anfragende Person ein dem Grunde nach von den Regelsätzen umfassten und nach den Umständen unabweisbar gebotenen Bedarf auf keine andere Weise decken, sollen die notwendigen Leistungen auf Antrag als Darlehen erbracht werden. Zur Tilgung des Darlehens können bei Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt bis zu 5% des monatlichen Eckregelsatzes einbehalten werden16.

15

Durch die Erhöhung des Vom-Hundert-Satzes von 26 auf 27% ab 01.01.2007 ist der Anspruch auf Weihnachtsbeihilfe abgegolten. 16 Beispiel: Die Waschmaschine ist defekt und kann nicht mehr repariert werden. Der Sozialhilfeträger stellt ein Darlehen zur Verfügung, das ratenweise getilgt wird.

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Fallbeispiele für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt/Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: Familienstand:

verheiratet

Tätigkeit:

Rentner

Erzieltes Einkommen:

Altersruhegeld in Höhe von mtl. € 1.171,96

Unterkunftskosten: (Miete inkl. Nebenkosten)

€ 740,-

Bedarfsberechnung: Regelsatz Haushaltsvorstand:

€ 409,00

Regelsatz Angehörige (Ehefr.)

€ 368,00

MBZ § 30 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII



70,00

MBZ § 30 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII



63,00

Unterkunftskosten:

€ 740,00 -------------€ 1.650,00

Laufender Bedarf insgesamt:

Dem steht ein Einkommen von € 1,171,96 gegenüber. Der Differenzbetrag zwischen laufendem Bedarf und eigenem Einkommen – hier: € 478,04 wird als ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. 4.2 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung Der Leistungsumfang entspricht der Hilfe zum Lebensunterhalt. Allerdings wird der Nachranggrundsatz insoweit durchbrochen, als Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt bleiben, wenn deren jährliches Gesamteinkommen € 100.000 nicht übersteigt. Auch ist die Vermutung der Bedarfsdeckung nach § 39 Satz 1 SGB XII nicht anzuwenden. Es wird vermutet, dass das Einkommen der Unterhaltspflichtigen diese Grenze nicht überschreitet. Gibt es Hinweise für ein Überschreiten der Einkommensgrenze, sind die Kinder oder Eltern der Leistungsberechtigten gegenüber dem Träger der Sozialhilfe verpflichtet, über ihre Einkommensverhältnisse Auskunft zu geben. Leistungsberechtigte haben keinen Anspruch auf Leistungen, wenn die Vermutung widerlegt ist.

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4.3 Vorbeugende Gesundheitshilfe, Krankenhilfe, Hilfe zur Familienplanung, Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen Diese Hilfearten sehen Leistungen für nicht krankenversicherte anfragende Personen vor. Insoweit entspricht der Leistungsrahmen dem der Gesetzlichen Krankenversicherung. Auch erfolgt die Abwicklung der Krankenhilfegewährung regelhaft über die Gesetzliche Krankenversicherung nach § 264 SGB V. 4.4 Eingliederungshilfe für behinderte Menschen unter Berücksichtigung der Regelungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) Bei der Eingliederungshilfe für Behinderte wird die Funktion der Sozialhilfe als unterstes Netz im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland besonders deutlich. Nur wenn vorrangige Leistungen nicht oder nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen, setzt die Sozialhilfe ein, wobei das Bedürftigkeitsprinzip durch die "Erweiterte Hilfe" des § 92 Abs. 2 SGB XII teilweise aufgehoben wird. Hier überwiegt das Bestreben des Gesetzgebers, die wirtschaftliche Situation von Kindern mit Behinderungen ohne Rücksicht auf das Einkommen und das Vermögen der Eltern zu verbessern. Die Eingliederungshilfe bildet einen Schwerpunkt der Sozialhilfe. Sie soll den Menschen mit Behinderungen befähigen, sein Leben selbst zu gestalten, um auf Dauer möglichst unabhängig von öffentlicher Hilfe zu leben. Folgende Fallgestaltungen stehen bei der Eingliederungshilfe für Behinderte im Vordergrund: ·

Suchthilfemaßnahmen für Abhängigkeitserkrankte mit fehlenden Anwartschaften in der Gesetzlichen Rentenversicherung und ohne Krankenversicherungsschutz

·

Nachsorgemaßnahmen für Abhängigkeitserkrankte

·

Maßnahmen für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen

·

Leistungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, soweit diese nicht unter die Krankenhilfe der Gesetzlichen Krankenversicherung fallen

·

Hilfsmittel und bauliche Maßnahmen

Leistungsberechtigte können auf Antrag Leistungen der Eingliederungshilfe auch als Teil eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets erhalten.

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Das am 01.01.2017 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ein Änderungsgesetz, durch welches das SGB IX schrittweise neu gefasst wird und weitere Gesetze, wie zum Beispiel das SGB XII, geändert werden. Die Änderungen treten zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft. Änderungen ab 01.01.2017: ·

Regelungen der 1. Stufe über den Einsatz von Vermögen und Einkommen.

·

Erhöhung des Arbeitsförderungsgeldes für Werkstattbeschäftigte auf € 52.

·

Erfordernis zur Vorlage eines Führungszeugnisses von Fachpersonal und dauerhaft ehrenamtlichen Kräften in Betreuungstätigkeit.

Änderungen ab 01.01.2018: ·

Inkrafttreten der Verfahrensvorschriften des SGB IX Teil1 (Zuständigkeiten, Bedarfsfeststellung etc.). Die Eingliederungshilfe verbleibt noch im SGB XII. Der Begriff „Stationäre Einrichtungen“ bleibt noch erhalten.

·

Im SGB XII finden im Zeitraum vom 01.01.2018 bis 31.12.2019 Regelungen des ab 01.01.2020 geltenden SGB IX Teil 2 (Eingliederungshilfe) Anwendung. Hierzu zählt u.a. das Gesamtplanverfahren mit der Klassifikation nach ICF.

·

Das Vertragsrecht der Eingliederungshilfe nach §§ 123, 124 SGB IX wird angewendet für Vereinbarungen ab 01.01.2020.

·

Einführung der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung nach § 32 SGB IX.

Änderungen ab 01.01.2020: ·

Das Recht der Eingliederungshilfe tritt vollständig als Teil 2 des SGB IX in Kraft. Das 6. Kapitel des SGB XII und die Eingliederungshilfeverordnung finden keine Anwendung mehr.

·

Zuständig für die Leistungsgewährung werden die neu zu bildenden Träger der Eingliederungshilfe.

·

Gegenstand die Leistungsgewährung ist die jeweilige „Fachleistung“. Existenzsichernde Leistungen werden über die Regelsysteme (SGB II und SGB XII) gewährt. Das SGB IX sieht keine „Stationären Einrichtungen“ mehr vor.

·

Regelungen über Mehrbedarfe nach § 42 b SGB XII treten in Kraft (z.B. Mittagsverpflegung in Werkstätten für Behinderte).

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Änderungen beim Einsatz des Einkommens und Vermögens ab 01.01.2017: Das SGB XII regelt für Bezieher von Leistungen der Eingliederungshilfe den Freibetrag für Erwerbseinkommen und den Freibetrag für das Barvermögen im Übergangszeitraum bis 2020. Der Freibetrag für das Erwerbseinkommen wird um bis zu € 260 mtl. und der Freibetrag für das Barvermögen von € 2.600 auf € 27.600 erhöht. Ab 2020 sieht das SGB IX eigene Regelungen für den Einsatz des Einkommens und des Vermögens vor. Diese gelten dann allerdings nur für die oben genannten „Fachleistungen“. Für existenzsichernde Leistungen finden weiterhin die Rechtsnormen der SGB II und SGB XII Anwendung. Die günstigeren Vorschriften der Eingliederungshilfe gelten auch dann, wenn zugleich Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII benötigt wird, sofern ein Anspruch auf Eingliederungshilfe vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze besteht. Das Einkommen und Vermögen der Ehe- und Lebenspartner wird bei der Bedarfsfeststellung bezüglich der Fachleistungen ab 2020 nicht mehr herangezogen. Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen: Eines der Anliegen des Behindertenteilhabegesetzes (BTHG) ist es, die Unterstützung für Menschen mit Behinderungen nicht mehr an einer bestimmten Wohnform, sondern ausschließlich am notwendigen individuellen Bedarf auszurichten. Das Gesetz unterscheidet daher nicht mehr zwischen ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen. Die Eingliederungshilfe konzentriert sich nach dem Willen des Gesetzgebers auf die Fachleistung. Die existenzsichernden Leistungen werden unabhängig von der Wohnform, wie bei Menschen ohne Behinderung, nach den Vorschriften des 4. Kapitels SGB XII (Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung) erbracht. Die Fachleistungen der Eingliederungshilfe umfassen ab 01.01.2020 ·

Leistungen der medizinischen Rehabilitation,

·

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,

·

Leistungen zur Teilhabe an Bildung und

·

Leistungen zur sozialen Teilhabe.

Für die Gewährung von Fachleistungen bedarf es eines Antrags. 4.5 Hilfe zur Pflege Hilfe zur Pflege ist Leistungsberechtigten zu gewähren, die infolge Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, dass sie nicht ohne Wartung und Pflege bleiben können. Zu unterscheiden ist zwischen der stationären und der ambulanten Hilfe zur Pflege.

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Stationäre Hilfe zur Pflege wird in Anstalten und vergleichbaren Einrichtungen gewährt. In den letzten Jahren gelangten auch teilstationäre Einrichtungen (z.B. Tagespflegeheime für ältere Menschen17) zu wachsender Bedeutung. Durch das Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) zum 01.01.1995 kommt der Sozialhilfe die Funktion des Komplementärkostenträgers zu. Die Anzahl der Selbstzahler hat sich durch diese neue Sozialversicherungsleistung erhöht. Gleichwohl muss die Mehrzahl der Pflegebedürftigen wegen der pauschalierten, nicht am Bedarf orientierten Leistungen der Pflegeversicherung weiterhin ergänzende Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen. Durch die Pflegestärkungsgesetze I und II und die Änderung des Abrechnungssystems von Pflegesätzen in Pflegegraden ab 01.01.2017 finden künftig auch Demenzerkrankungen Berücksichtigung. Die Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen umfasst ferner den notwendigen Lebensunterhalt, da Unterkunft und Verpflegung gewährt werden. Zur Abdeckung persönlicher Bedürfnisse besteht ein Taschengeldanspruch (Barbetrag). Neben den genannten laufenden Leistungen werden einmalige Leistungen (Bekleidungsbeihilfen) gewährt (s. auch 4.1.4). 4.6 Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten §§ 67 ff. SGB XII enthält neben den sonstigen Hilfearten der Sozialhilfe ein zusätzliches Hilfeangebot für Personen, die den steigenden Anforderungen der modernen Industriegesellschaft aus eigener Kraft nicht gerecht werden können. Mit der Einfügung dieser Hilfe wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass im Rahmen der Sozialarbeit mit so genannten Randgruppen die allgemeinen Hilfeangebote nicht immer ausreichen. Der Begriff „besondere soziale Schwierigkeiten" ist nicht eng auszulegen. Erfasst werden subjektive und objektive Verhältnisse. Die Schwierigkeiten können sowohl in der Person des Hilfesuchenden, in seiner Umwelt, als auch in seinen gegenwärtigen Lebensbedingungen liegen. Auf ein schuldhaftes Verhalten der anfragenden Person kommt es dabei nicht an. Der Zusatz „soziale" Schwierigkeiten lässt erkennen, dass es hier nicht in erster Linie um wirtschaftliche Schwierigkeiten geht, sondern um die Schaffung angemessener allgemeiner Existenzbedingungen; letztlich auch um die Schaffung gleicher Startchancen im gesellschaftlichen Bereich. Der Zusatz „besondere" macht deutlich, dass allgemeine Schwierigkeiten der Existenzbewältigung, die bei einem großen Teil der Bevölkerung vorliegen, hier nicht gemeint sind. Typische Leistungen dieser Hilfeart sind u.a.

17

·

Leistungen zur beruflichen und sozialen Integration von Nichtsesshaften,

·

Eingliederungsmaßnahmen für Haftentlassene und ehemalige Prostituierte sowie

Sie haben insbesondere entlastende Funktion für Angehörige.

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·

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Hilfeangebote für verhaltensgestörte junge Volljährige, die einen Anspruch auf Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) nicht besitzen18.

Bei einer voll- oder teilstationären Unterbringung schließt die Hilfe in besonderen sozialen Schwierigkeiten die Hilfe zum Lebensunterhalt mit ein. 4.7 Hilfen in anderen Lebenslagen 4.7.1 Hilfe zur Weiterführung des Haushalts Die Hilfe zur Aufrechterhaltung und Weiterführung des Haushalts während des vorübergehenden Ausfalls der hierzu berufenen Kraft, regelhaft der Hausfrau und Mutter, ist ein besonderes Anliegen der Sozialhilfe. Auch diese Hilfeart greift nur nachrangig. Besteht nämlich Krankenversicherungsschutz und haben die zu betreuenden Kinder das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet, übernimmt die Krankenkasse die entstehenden Aufwendungen. Nach dem Überschreiten dieser Altersgrenze besteht beim Vorhandensein von Kindern ein Anspruch auf Jugendhilfe gem. § 20 SGB VIII. Bei Jugendlichen, die zur Führung eines Haushalts noch nicht in der Lage sind, greift die Sozialhilfe. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Einsatz von Jugendhilfe und Sozialhilfe bei dem Vorhandensein von älteren Kindern und Erwachsenen und beim Fehlen einer Krankenkassenmitgliedschaft zum Tragen kommt. Voraussetzung ist jedoch stets, dass die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen (z.B. die einkommensmäßigen Voraussetzungen) erfüllt sind. Nach § 70 Abs. 4 SGB XII kann die Hilfe auch durch Übernahme der angemessenen Kosten für eine vorübergehende anderweitige Unterbringung von Haushaltsangehörigen gewährt werden, wenn diese Unterbringung in besonderen Fällen neben oder statt der Weiterführung des Haushalts geboten ist. Maßnahmen der Jugendhilfe gehen der Hilfe zur Weiterführung des Haushalts vor. Hilfe zur Weiterführung des Haushalts kann auch älteren Menschen gewährt werden, wenn die Voraussetzungen für eine Hilfe zur Pflege nicht vorliegen. Wird Hilfe zur Pflege gewährt, schließt diese auch hauswirtschaftliche Verrichtungen ein.

18

Nach § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII wird die Hilfe für junge Volljährige in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt.

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4.7.2 Altenhilfe Für alte Menschen reichen die in den übrigen Bestimmungen des Leistungsrechts der Sozialhilfe vorgesehenen Hilfen nicht immer aus, um dem durch das Alter entstehenden Bedarf voll gerecht zu werden. § 71 SGB XII sieht daher ergänzende Hilfen vor, die allein oder neben den Hilfen nach anderen Hilfearten des SGB XII gewährt werden können. Die besondere Hervorhebung der Hilfe für alte Menschen unterstreicht zugleich die Bedeutung, die der Sorge für die ältere Generation in unserer heutigen Gesellschaft zukommt. Als Maßnahmen der Hilfe kommen vor allem in Betracht: ·

Hilfe bei der Beschaffung und zur Erhaltung einer Wohnung, die den Bedürfnissen alter Menschen entspricht19

·

Hilfe in allen Fragen der Aufnahme in eine Einrichtung, die der Betreuung alter Menschen dient, insbesondere bei der Beschaffung eines geeigneten Heimplatzes

·

Hilfe in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste

·

Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen

·

Hilfe, die alten Menschen die Verbindung mit nahe stehenden Personen ermöglicht

·

Hilfe zu einer Betätigung und zum gesellschaftlichen Engagement, wenn sie vom alten Menschen gewünscht wird

4.7.3 Blindenhilfe Aufgabe der Blindenhilfe ist es, die durch diese Behinderung bedingten Nachteile und Mehrkosten (z.B. Aufwendungen für eine Begleitperson) durch finanzielle Zuwendungen auszugleichen. Blind im Sinne des Gesetzes sind auch besonders Sehschwache. Im Hinblick auf die in einigen Bundesländern bestehenden Landesblindengeldgesetze, deren Leistungen grundsätzlich denen der Blindenhilfe nach dem SGB XII entsprechen, die sich jedoch nicht am Bedürftigkeitsprinzip orientieren, kommt der Blindenhilfe nach dem SGB XII in diesen Bundesländern nur begrenzte praktische Bedeutung zu.

19

Gedacht ist an barrierefreie, zentralbeheizte Wohnungen, in denen bestimmte Reinigungsarbeiten (z.B. „große Hausordnung") von Servicekräften ausgeführt werden und in denen ein „Notruf“ zur Verfügung steht.

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4.7.4 Übernahme von Bestattungskosten Die Sozialhilfe soll unbemittelten Personen als letzten Dienst eine würdige Bestattung sicherstellen, soweit dem hierzu Verpflichteten (in der Regel Verwandten) nicht zugemutet werden kann, die Kosten zu tragen. Zu übernehmen sind die Kosten für ein ortsübliches, angemessenes Begräbnis, insbesondere die Kosten der Leichenschau und Leichenbeförderung, die Leichenhausgebühren, die Aufwendungen für Waschen und Kleiden, sowie Einsargen der Leiche und für die Leichenträger, die Grabgebühren, den Sarg und das erstmalige Herrichten des Grabes einschließlich eines Grabschmucks sowie eines einfachen, aber würdigen Grabsteins. Ferner die Übernahme der Kosten des Orgelspiels. Es handelt sich um eine Pflichtleistung der Sozialhilfe. Im Bundesland Hessen ist zwischen der Veranlassung der Bestattung und der Kostenträgerschaft zu unterscheiden. Die Landesregierung hat durch Erlass sichergestellt, dass auch dann ein Anspruch auf Übernahme der Bestattungskosten besteht, wenn beispielsweise die Leitung eines Pflegeheimes oder eines Krankenhauses die Bestattung veranlasst. Diese Rechtsansicht hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof zwischenzeitlich bestätigt. Eine gegen das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs eingelegte Revision hat das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 29.01.2004 BVerwG 5 C 2.03 als unbegründet zurückgewiesen.

4.7.5 Leistungen in sonstigen Lebenslagen Leistungen können auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden. Es handelt sich um eine Auffangvorschrift, die es ermöglicht, auf neue, bisher nicht bekannte Bedarfslagen einzugehen.

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5. Einsatz des Einkommens, des Vermögens und der Arbeitskraft 5.1 Einsatz des Einkommens 5.1.1 Grundsatz, Zweckbestimmte Leistungen, Zuwendungen freier Träger, Ermittlung des einzusetzenden Einkommens Was unter Einkommen zu verstehen ist, ergibt sich aus den Bestimmungen der §§ 82 ff. SGB XII, der nach § 96 SGB XII erlassenen Rechtsverordnung und aus sondergesetzlichen Regelungen (z.B. Lastenausgleichsgesetz, Bundeselterngeldgesetz), die als Spezialvorschriften den allgemeinen Bestimmungen des SGB XII vorgehen. Grundsätzlich sind alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert Einkommen im Sinne des SGB XII. Dabei spielen Herkunft und Rechtsnatur und der Umstand, ob sie zu den Einkunftsarten nach dem Einkommensteuergesetz gehören und der Steuerpflicht unterliegen, keine Rolle. Bei Leistungen in Geldeswert handelt es sich um Natural- und Sachbezüge, z.B. um freie Kost und Verpflegung als Teil des Arbeitseinkommens, um Deputate oder um Bezüge aus dem so genannten Altenteil. Zum Teil unter Einbeziehung von Regelungen des Einkommensteuergesetzes, zum Teil in Abweichung von diesen Vorschriften, trifft die VO zu § 96 SGB XII Regelungen über Begriff und Bewertung von Einkünften. Ist der Bedarf an Sozialhilfe einmalig oder nur von kurzer Dauer und duldet die Entscheidung über die Hilfe keinen Aufschub, so kann der Sozialhilfeträger nach Anhörung des Beziehers des Einkommens die Einkünfte schätzen. Ein Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten ist grundsätzlich nicht vorzunehmen. Nicht zum Einkommen im Sinne des SGB XII zählen: ·

Die Leistungen nach dem SGB XII selbst.

·

Die Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz, vergleichbare Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, zweckbestimmte Leistungen, die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften gewährt werden und die nicht dem gleichen Zweck dienen wie die im Einzelfall begehrte Sozialhilfe, sowie Entschädigungen, die wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, geleistet werden (Schmerzensgeld).

·

Freiwillige Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege und anderer, wenn ihre Berücksichtigung im Vergleich zu sonstigen Fällen eine Härte für den Hilfesuchenden bedeuten würde.

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Das Elterngeld wird beim Arbeitslosengeld II, bei der Sozialhilfe und beim Kinderzuschlag grundsätzlich vollständig als Einkommen angerechnet. Eltern, die vor der Geburt Erwerbseinkünfte hatten, erhalten jedoch einen Elterngeldfreibetrag. Der Elterngeldfreibetrag entspricht dem Einkommen vor der Geburt und beträgt höchstens 300 Euro. Bis zu dieser Höhe ist das Elterngeld beim Arbeitslosengeld II, bei der Sozialhilfe und beim Kinderzuschlag anrechnungsfrei. Die Sozialhilfe geht vom bereinigten Nettoeinkommen aus, denn vom Bruttoeinkommen sind die darauf zu entrichtenden Steuern, Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung, Beiträge zu öffentlichen und privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen, soweit sie gesetzlich vorgeschrieben oder nach Grund und Höhe angemessen sind und die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben abzusetzen. An Stelle des früheren Mehrbedarfszuschlags für Erwerbstätige gem. § 23 BSHG ist bei der Hilfe zum Lebensunterhalt ein Betrag in Höhe von 30% des Einkommens aus selbstständiger oder nichtselbstständiger Tätigkeit des Leistungsberechtigten abzusetzen; höchstens jedoch 50 v.H. des Eckregelsatzes. 5.1.2 Einsatz des Einkommens vor Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt Für die Hilfe zum Lebensunterhalt ergibt sich aus § 19 SGB XII vom Einkommen welcher Personen die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt abhängig ist und inwieweit diese Personen ihr Einkommen zur Deckung des Bedarfs einzusetzen haben. Der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt richtet sich nach dem Einkommen der anfragenden Person oder, wenn die anfragende Person verheiratet ist und nicht getrennt lebt, nach dem Einkommen der anfragenden Person und dem ihres Ehegatten oder, wenn die anfragende Person minderjährig und unverheiratet ist und dem Haushalt ihrer Eltern (eines Elternteils) angehört, nach dem Einkommen der anfragenden Person und ihrer Eltern (eines Elternteils). Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils sind nicht zu berücksichtigen, wenn die anfragende Person schwanger ist oder ihr leibliches Kind bis zur Vollendung ihres sechsten Lebensjahres betreut. Das Einkommen nicht bedürftiger Kinder, die mit ihren Eltern in Haushaltsgemeinschaft leben, wirkt sich auf den Anspruch der Eltern nur insofern aus, als eine tatsächliche Hilfeleistung nach § 39 SGB XII zu unterstellen ist. Der in § 19 SGB XII genannte Personenkreis hat vor Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt sein Einkommen voll einzusetzen, so dass insoweit - als Einkommen vorhanden ist - grundsätzlich kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt besteht.

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5.1.3 Einsatz des Einkommens für andere Leistungen (ohne Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung); im BSHG Hilfen in besonderen Lebenslagen genannt Der Personenkreis, von dessen Einkommen die Leistung abhängig ist, entspricht 5.1.2. Im Gegensatz zur Hilfe zum Lebensunterhalt und der Grundsicherung ist vor der Gewährung von Leistungen das Einkommen der genannten Personen nicht voll, sondern nur in zumutbarem Maße zur Bedarfsdeckung einzusetzen, soweit es die in § 85 SGB XII definierte Einkommensgrenze überschreitet. Grundsätzlich ist dabei nur das Einkommen des Bedarfsmonats maßgebend20. Die Einkommensgrenze setzt sich zusammen ·

aus einem Grundbetrag in Höhe des zweifachen Eckregelsatzes,

·

den Kosten der Unterkunft und

·

einem Familienzuschlag in Höhe von 70% des Eckregelsatzes für den nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner und jede weitere Person.

Die maßgebende Einkommensgrenze wird dem Einkommen gegenübergestellt. Entweder liegt das Einkommen über oder unter der Einkommensgrenze. Bei der Beurteilung der Frage, in welchem Umfang die Aufbringung der Mittel aus dem die Einkommensgrenze übersteigenden Einkommensteil zuzumuten ist, verweist § 87 Abs. 1 SGB XII auf die Art des Bedarfs, die Höhe und Dauer der erforderlichen Aufwendungen und besondere Belastungen. Der danach verbleibende Einkommensteil über der Einkommensgrenze ist in angemessenem Umfang auf den Bedarf anzurechnen21. Handelt es sich um eine zweckbestimmte Leistung, ist ein nur geringfügiger Bedarf abzudecken oder besteht die Leistung in einer vollstationären Unterbringung, so kann auch das unter der Einkommensgrenze liegende Einkommen herangezogen werden. Letzteres ist allerdings nur bei Leistungsberechtigten möglich, die keinen anderen überwiegend unterhalten. Liegt das Einkommen unter der Einkommensgrenze, so kann bei vollstationären und teilstationären Aufenthalten eine Haushaltsersparnis verlangt werden.

20

Lediglich wenn die nachfragende Person durch den Eintritt des Bedarfsfalles ihr Einkommen ganz oder teilweise verliert und ihr Bedarf nur von kurzer Dauer ist, kann die Aufbringung der Mittel auch aus dem Einkommen verlangt werden, das sie innerhalb eines angemessenen Zeitraumes nach dem Wegfall des Bedarfs erwirbt und das die Einkommensgrenze übersteigt, jedoch nur insoweit, als ihr ohne den Verlust des Einkommens die Aufbringung der Mittel zuzumuten gewesen wäre. 21 Bei schwerstpflegebedürftigen Menschen nach § 64 Abs. 3 und blinden Menschen nach § 72 ist ein Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze in Höhe von mindestens 60 vom Hundert nicht zuzumuten.

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Liegt das Einkommen über der Einkommensgrenze (s. 5.1.3), hat sich der Hilfesuchende an den Kosten zu beteiligen. Bei einmaligen Bedürfnissen (z.B. Kur) ist 100%, bei langandauernden Bedarfslagen 60% des die Einkommensgrenze übersteigenden Betrages einzusetzen.

Einkommensgrenze

Liegt das Einkommen unter der Einkommensgrenze, ist ein Eigenanteil grundsätzlich nicht zu leisten. Allenfalls kommt eine Haushaltsersparnis in Frage, wenn Mahlzeiten gereicht werden.

Beispiel des Einkommenseinsatzes im Rahmen der Hilfe zur Pflege: Der 85-jährige Herr Müller wohnt mit seiner 75-jährigen Gattin in einer betreuten Altenwohnung. Nach einem Schlaganfall ist Herr Müller pflegebedürftig. Zum Waschen, Anziehen etc. ist der Einsatz eines ambulanten Pflegedienstes notwendig. Alle übrigen Verrichtungen können von der noch sehr rüstigen Ehefrau durchgeführt werden. Herr Müller bezieht eine Altersrente von € 1.671,29. Über weiteres Einkommen verfügen die Eheleute nicht. Die Miete beträgt ohne Heizung € 660,-. Der ambulante Pflegedienst kalkuliert eine Stunde täglich. Der Aufwand beziffert sich auf mtl. € 1.020.-- (Stunde à € 34,00 x 30 Tage). Die Pflegekasse hat Herrn Müller in Pflegegrad 2 eingestuft und stellt monatliche Sachleistungen in Höhe von € 689,-- zur Verfügung. Der ungedeckte Aufwand beziffert sich auf € 331,--. Inwieweit haben die Eheleute Müller Anspruch auf Übernahme dieser Summe im Rahmen der Hilfe zur Pflege?

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Einkommensgrenze: Grundbetrag gemäß § 85 SGB XII Familienzuschlag Miete ohne Heizung Insgesamt:

€ 818,00 € 258,00 € 660,00 ----------€ 1.736,00

Das Einkommen beträgt € 1.671,29. Das Einkommen der Eheleute liegt demzufolge unter der Einkommensgrenze. Das Sparvermögen der Eheleute beziffert sich auf € 2.812,11. Der Freibetrag gem. § 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII beträgt € 3.214. Das Sparvermögen ist demzufolge nicht einzusetzen. Der ungedeckte Aufwand in Höhe von € 331,-- ist voll aus Sozialhilfemitteln zu übernehmen. Bei einem - angenommenen - Renteneinkommen von beiden Eheleuten in Höhe von insgesamt € 2.010,45 würde das Einkommen € 274,00 über der Einkommensgrenze liegen. Das Renteneinkommen ist noch um besondere Belastungen (z.B. anzuerkennende Versicherungsprämien) zu bereinigen. Von dem sich dann ergebenden Differenzbetrag zur Einkommensgrenze sind bei einmaligen Bedürfnissen (z.B. Kur) 100% und bei länger dauernden Bedarfslagen (z.B. Pflege) 60% als Eigenbeteiligung einzusetzen. Folgende Vermögensschonbeträge finden bei obigem Beispiel Anwendung (Näheres s. unter 5.2.2): Für den Haushaltsvorstand

€ 2.600,-

Für den Partner



614,-

Für jedes weiter unterhaltsberechtigte Familienmitglied



256,-

5.2 Einsatz des Vermögens 5.2.1 Grundsatz Grundsätzlich ist vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe das verwertbare Vermögen einzusetzen. Nicht zum verwertbaren Vermögen zählen zum Beispiel nicht realisierbare Ansprüche.

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5.2.2 Schonvermögen im Sinne des § 90 Abs. 2 SGB XII Die Sozialhilfe darf nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung ·

eines Vermögens, das aus öffentlichen Mitteln zum Aufbau oder zur Sicherung einer Lebensgrundlage oder zur Gründung eines Hausstands erbracht wird,

·

eines Kapitals einschließlich seiner Erträge, das der zusätzlichen Altersvorsorge dient und dessen Ansammlung staatlich gefördert wurde (Riester-Rente),

·

eines sonstigen Vermögens, solange es nachweislich zur baldigen Beschaffung oder Erhaltung eines angemessenen Hausgrundstücks bestimmt ist, soweit dieses Wohnzwecken behinderter oder pflegebedürftiger Menschen dient oder dienen soll und dieser Zweck durch den Einsatz oder die Verwertung des Vermögens gefährdet würde,

·

eines angemessenen Hausrats; dabei sind die bisherigen Lebensverhältnisse der nachfragenden Person zu berücksichtigen,

·

von Gegenständen, die zur Aufnahme oder Fortsetzung der Berufsausbildung oder der Erwerbstätigkeit unentbehrlich sind,

·

von Familien- und Erbstücken, deren Veräußerung für die nachfragende Person oder ihre Familie eine besondere Härte bedeuten würde,

·

von Gegenständen, die zur Befriedigung geistiger, insbesondere wissenschaftlicher oder künstlerischer Bedürfnisse dienen und deren Besitz nicht Luxus ist,

·

eines angemessenen Hausgrundstücks, das von der nachfragenden Person oder einem anderen Mitglied der Bedarfsgemeinschaft allein oder zusammen mit Angehörigen ganz oder teilweise bewohnt wird und nach ihrem Tod von ihren Angehörigen bewohnt werden soll. Die Angemessenheit bestimmt sich nach der Zahl der Bewohner, dem Wohnbedarf, der Grundstücksgröße, der Hausgröße, dem Zuschnitt und der Ausstattung des Wohngebäudes sowie dem Wert des Grundstücks einschließlich des Wohngebäudes,

·

kleinerer Barbeträgen oder sonstiger Geldwerte.

Die Sozialhilfe darf ferner nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde. Hierzu zählt nach der Rechtsprechung beispielsweise angesammeltes Elterngeld.

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5.2.3 Darlehensweise Hilfegewährung (§ 91 SGB XII) Soweit für den Bedarf des Hilfesuchenden Vermögen einzusetzen ist, jedoch der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung des Vermögens nicht möglich ist oder für den, der es einzusetzen hat, eine Härte bedeuten würde, soll die Sozialhilfe als Darlehen gewährt werden. Der nicht gedeckte, von der Sozialhilfe zu befriedigende Bedarf ist nach dem Inkrafttreten der 2. Stufe des Pflegeversicherungsgesetzes in vielen Fällen nur geringfügig und die verbleibende Lebenserwartung der anfragenden Person bei der Hilfe zur Pflege oftmals begrenzt, so dass die Verwertung von Immobilienvermögen auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten oftmals nicht sinnvoll ist. Die Gewährung kann davon abhängig gemacht werden, dass der Rückzahlungsanspruch des Sozialamtes dinglich gesichert wird (z.B. Eintragung einer Grundschuld). 5.3 Einsatz der Arbeitskraft22 5.3.1 Grundsatz Zu den Selbsthilfemöglichkeiten zählt insbesondere auch der Einsatz der Arbeitskraft. Hierzu ist grundsätzlich jede anfragende Person verpflichtet. Eine Arbeit ist insbesondere nicht allein deshalb unzumutbar, weil sie nicht einer früheren beruflichen Tätigkeit entspricht, sie im Hinblick auf die Ausbildung als geringerwertig anzusehen ist, der Beschäftigungsort vom Wohnort weiter entfernt ist als ein früherer Beschäftigungs- oder Ausbildungsort und die Arbeitsbedingungen ungünstiger sind als bei den bisherigen Beschäftigungen der anfragenden Person. Nicht zumutbar ist hingegen eine Tätigkeit, die strafbar oder mit den "guten Sitten" im herkömmlichen Sinn nicht vereinbar ist. 5.3.2 Ausnahmetatbestände Den Leistungsberechtigten darf eine Arbeit nicht zugemutet werden, wenn sie geistig und körperlich hierzu nicht in der Lage sind oder wenn ihnen die künftige Ausübung ihrer bisherigen überwiegenden Tätigkeit wesentlich erschwert würde oder wenn der Arbeit ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht. Wichtige Gründe sind (§ 11 Abs. 4 SGB XII): ·

Erwerbsminderung, Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit

22

Den Ausführungen kommt nur geringe Bedeutung zu, weil arbeitsfähige Personen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) haben. Die Ausführungen wurden der Vollständigkeit halber in diesen Reader aufgenommen.

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·

Erreichen der Regelaltersgrenze der Gesetzlichen Rentenversicherung

·

Sonstiger wichtiger Grund

Der anfragenden Person darf eine Arbeit vor allem nicht zugemutet werden, soweit dadurch die geordnete Erziehung eines Kindes gefährdet würde. Auch sonst sind die Pflichten zu berücksichtigen, die der anfragenden Person die Führung eines Haushalts oder die Pflege eines Angehörigen auferlegt. Ein Studium ist im Gegensatz zu einer Berufsausbildung im dualen System kein wichtiger Grund, der nach Ansicht des Gesetzgebers eine anfragende Person von der Verpflichtung zum Einsatz seiner Arbeitskraft freistellen könnte (vgl. § 22 SGB XII). Die Finanzierung eines Studiums ist durch BAföG-Leistungen abschließend geregelt. 6. Nachträgliche Realisierung des Nachranggrundsatzes der Sozialhilfe 6.1 Gesetzlicher Forderungsübergang, Überleitung von Ansprüchen Insoweit, als dem Sozialhilfeträger Aufwendungen erwachsen, weil ein nach § 2 SGB XII vorrangig Verpflichteter Leistungen nicht oder nicht rechtzeitig erbringt, muss ihm das Recht zugestanden werden, sich an dem an sich Verpflichteten schadlos zu halten. §§ 93, 94 SGB XII, der den Übergang von Ansprüchen regelt, gilt nicht für Sozialleistungsträger. Hier finden die §§ 102 ff. SGB X Anwendung. Ansprüche gegen Unterhaltspflichtige gehen für die Zeit, für die Hilfe gewährt wird, bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Träger der Sozialhilfe über. Der Übergang des Anspruchs ist ausgeschlossen, ·

soweit der Unterhaltsanspruch durch laufende Zahlung erfüllt wird,

·

wenn der Unterhaltspflichtige selbst der Bedarfsgemeinschaft angehört,

·

mit dem Hilfeempfänger im zweiten oder in einem entfernteren Grad verwandt ist oder

·

es sich um Unterhaltsansprüche gegen Verwandte ersten Grades einer Hilfeempfängerin handelt, die schwanger ist oder ihr leibliches Kind bis zur Vollendung seines sechsten Lebensjahres betreut.

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Der Übergang ist ausgeschlossen, wenn dies eine unbillige Härte23 bedeuten würde. Der Anspruch einer volljährigen unterhaltsberechtigten Person gegen ihre Eltern, die Eingliederungshilfe für Behinderte oder Hilfe zur Pflege erhält, geht nur in Höhe von bis zu € 31,71 bzw. € 24,38 bei Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt über24. 6.2 Kostenerstattung gemäß §§ 102 ff. SGB X Diese Rechtsnorm regelt das Erstattungsverfahren zwischen den Sozialleistungsträgern nach dem Sozialgesetzbuch. Sie findet immer dann Anwendung, wenn zwar vorrangige Ansprüche dem Grunde nach bestehen, diese aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht rechtzeitig realisiert werden können (z.B. Vorleistung auf eine beantragte Altersrente bei deutschstämmigen Umsiedlern). Der Träger der Sozialhilfe hat einen eigenständigen Anspruch, der ggf. auf dem Rechtsweg realisiert werden kann. Durch die Kenntnis der Sozialhilfegewährung ist der vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger gehalten, dem Sozialamt die erbrachten Aufwendungen zu erstatten. Hierdurch wird der Hilfeempfänger so gestellt, als wenn ihm die vorrangige Leistung von Anfang an zur Verfügung gestanden hätte. 6.3 Kostenersatz durch Leistungsempfänger und Erben 6.3.1 Grundsatz Die Sozialhilfe wird nicht aus Beiträgen der Leistungsempfänger aufgebracht oder für erlittene Schädigungen gewährt, die die Allgemeinheit zu einem Ausgleich verpflichten, sondern aus allgemeinen öffentlichen Mitteln dem zugestanden, der mit seinem eigenen Schicksal nicht selbst fertig werden kann und daher die Hilfe der Allgemeinheit braucht. Dies rechtfertigt die Überlegung, in geeigneten Fällen den Ersatz der Kosten vorzusehen. Das frühere Fürsorgerecht war noch von dem Grundsatz geprägt, dass die Leistungen der Fürsorge als Vorschuss aus Mitteln der Allgemeinheit an den Einzelnen anzusehen sind, den er zurückzuzahlen hat, sobald er dazu in der Lage ist.

23

Beispiel: Ein in Pflegestellen aufgewachsenes Kind soll einen Unterhaltsbeitrag für den pflegeheimuntergebrachten Vater leisten, obwohl dieser seinen Elternpflichten zu keinem Zeitpunkt nachgekommen ist. 24 Zum 01.01.2007 bezifferten sich die Beträge wie folgt: HLU € 20, Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege € 26. Die Unterhaltsbeiträge werden entsprechend der Kindergelderhöhung angepasst. Zum 01.01.2005 betrug das Kindergeld € 154, zum 01.01.2009 € 164, zum 01.01.2010 € 184, zum 01.01.2015 € 188; zum 01.01.2016 € 190 und zum 01.01.2017 € 192. Die Steigerung von 2005 nach 2009 betrug 6,49%, von 2009 nach 2010 12,20%, von 2010 nach 2015 1,02%, von 2015 nach 2016 1,01% und von 2016 nach 2017 1,05%. HLU € 20 x 6,49% = € 21,30 x 12,20% = € 23,90 x 1,02% = € 24,14 x 1,01% = 24,38 x 1,05% = € 25,60; Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege € 26 x 6,49% = € 27,69 x 12,20% = € 31,07 x 1,02% = € 31,39 x 1,01% = € 31,71 x 1,05% = € 33,30;

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Die grundsätzliche Verpflichtung zum Kostenersatz durch den Unterstützten, den Ehegatten, die Eltern und den Erben wurde allerdings im Laufe der Zeit durch zahlreiche Ausnahmeregelungen wesentlich eingeschränkt. Demgegenüber sieht das SGB XII die Leistungen der Sozialhilfe unabhängig von der Frage des Kostenersatzes als eigenständige Maßnahme staatlicher Sozialpolitik, deren Gewährung grundsätzlich nicht mehr mit einer Rückzahlungsverpflichtung belastet ist. Nur wenn besondere Gründe der Billigkeit einen solchen Verzicht auf eine spätere Ersatzforderung nicht vertretbar erscheinen lassen, bleibt der Anspruch auf Kostenersatz als Ausnahme von der Regel bestehen. 6.3.2 Kostenersatz bei schuldhaftem Verhalten Zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe ist verpflichtet, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe an sich selbst oder andere durch vorsätzliches oder grobfahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat. Bei mangelnder Leistungsfähigkeit ist im Einzelfall vom Kostenersatz abzusehen. Vorsätzlich handelt, wer sich der Rechtswidrigkeit seines Handelns bewusst ist und den Eintritt irgendeines Schadens voraussieht; grobfahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt besonders schwer verletzt. Die Gewährung von Sozialhilfe muss die unmittelbare Folge des schuldhaften Verhaltens sein. 6.3.3 Darlehensweise Hilfegewährung gem. § 38 SGB XII25 Die Vorschrift gibt dem Träger der Sozialhilfe die Möglichkeit, bei nur vorübergehender Gewährung laufender Leistungen zum Lebensunterhalt die Hilfe als Darlehen zu gewähren. Ihre Einfügung beruht auf der Überlegung, dass in solchen Fällen vorübergehender Bedürftigkeit nachträglich wieder Einkommensverhältnisse eintreten können, die es nicht vertretbar erscheinen lassen, die Sozialhilfeleistungen als verlorenen Zuschuss zu gewähren. Unter "kurzer Dauer" wird in der Regel ein Zeitraum von bis zu sechs Monaten zu verstehen sein. Ein nach § 38 SGB XII gewährtes Darlehen kann vom Sozialamt nach pflichtgemäßem Ermessen in einen verlorenen Zuschuss umgewandelt werden. Eine solche Umwandlung kann insbesondere geboten sein, wenn die zunächst als vorübergehend eingeschätzte Notlage später zur dauernden wird.

25

Die Vorschrift bezieht sich auf die Hilfe zum Lebensunterhalt. Ihr kommt in der Praxis nur geringe Bedeutung zu, da im SGB XII in der Regel nur Ältere und Erwerbsgeminderte Leistungen (Grundsicherung) erhalten, deren Bezug regelhaft auf Dauer angelegt ist.

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6.3.4 Kostenersatz durch Erben In besonders gelagerten Einzelfällen ist der Erbe des Hilfeempfängers zum Ersatz der Sozialhilfeaufwendungen verpflichtet. Das kann nur dann sein, wenn der Hilfeempfänger über geschütztes Vermögen (z.B. ein kleines Hausgrundstück, eine Eigentumswohnung) verfügte. In diesen Fällen hat der Erbe die in den letzten zehn Jahren gewährte Hilfe zu ersetzen; max. in Höhe des Nachlasses. Den Erben wird ein Schonbetrag belassen. Dieser beziffert sich auf den dreifachen Grundbetrag nach § 85 SGB XII (RS HV x 2 = Grundbetrag x 3). Bei Pflege der verstorbenen leistungsberechtigten Person durch Ehegatten/Lebenspartner oder Verwandte beträgt der Schonbetrag € 15.340. Vom Kostenersatz ist ferner abzusehen, wenn dies eine besondere Härte bedeuten würde. Kostenersatz wird nicht betrieben bei der Gewährung von Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte und wenn die leistungsberechtigte Person Erbe des Ehegatten/Lebenspartners ist.

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Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 5. 6. 6.1 6.2 7. 8.

Aufgaben, Ziele und Maßnahmen der Grundsicherung Bedeutung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland Allgemeine Ausführungen Definition der Erwerbsfähigkeit Rechtsgrundlage der Grundsicherung Nachrang von Leistungen der Grundsicherung, Besonderheit des Einzelfalls, Zumutbarkeit, Leistungsarten Nachrang Besonderheit des Einzelfalls Zumutbarkeit Leistungsarten Leistungsberechtigte Personenkreis Einsatz des Einkommens und des Vermögens Örtliche Zuständigkeit Antragsprinzip Träger der Grundsicherung Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende Aufgaben der Kommunen Aufgaben der Bundesagentur Nachträgliche Realisierung des Nachranggrundsatzes Kostenersatz und Erbenhaftung

1. Aufgaben, Ziele und Maßnahmen der Grundsicherung 1.1 Bedeutung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland Das SGB II fasst die beruflichen Eingliederungsmaßnahmen und die Leistungen zum Lebensunterhalt für bedürftige Erwerbsfähige zusammen:

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Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt

Lohnersatzleistungen nach dem SGB III

alte Menschen

Arbeitslosengeld

Behinderte

Unterhalts-/ Übergangsgeld

Alleinerziehende Arbeitslosenhilfe arbeitslose Personen

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Das SGB II enthält Grundsätze der Sozialhilfe und der Arbeitsförderung

Arbeitsförderung: • Vermittlung in Arbeit • Förderung durch Eingliederungsmaßnahmen unter Einbeziehung von Elementen des SGB III • Sanktionen bei fehlender Mitwirkung

Sozialhilfe: • Uneingeschränktes Bedürftigkeitsprinzip der Sozialhilfe (insbesondere Rückgriff auf das Einkommen des Partners) • Elemente des Grundsatzes der Besonderheit des Einzelfalls • Neben dem Eckregelsatz Zuschläge für Familienangehörige • Übernahme der Hilfe zur Arbeit (§§ 18 – 20 BSHG) • Sanktionen bei fehlender Mitwirkung

1.2 Allgemeine Ausführungen Analog der Sozialhilfe soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende es dem Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Sie soll erwerbsfähige Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können. Leistungen der Grundsicherung sind insbesondere darauf auszurichten, dass

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·

durch eine Erwerbstätigkeit Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird,

·

die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen erhalten, verbessert oder wieder hergestellt wird,

·

geschlechtsspezifische und behinderungsspezifische Nachteile sowie familiäre Besonderheiten berücksichtigt werden und

·

Anreize zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit geschaffen und aufrechterhalten werden.

Die Grundsicherung umfasst Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit durch Eingliederung in Arbeit und zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Der erwerbsfähige Hilfebedürftige muss aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken. Hierzu gehört auch der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung. Ist eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht möglich, besteht die Verpflichtung, eine angebotene zumutbare Arbeitsgelegenheit zu übernehmen. 1.3 Definition der Erwerbsfähigkeit26 Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ausländer können nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. 2. Rechtsgrundlage der Grundsicherung Rechtsgrundlage ist Artikel 1 des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (Bundesgesetzblatt I Seite 2954). Artikel 1 sieht die Eingliederung der Vorschriften als Zweites Buch in das Sozialgesetzbuch vor. Daneben sind die übrigen Sozialgesetzbücher maßgeblich.

26

Erwerbsfähig im Sinne der Definition des SGB II sind auch Personen, die dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht zur Verfügung stehen (z.B. Personen, die Kinder oder nahe Angehörige betreuen oder pflegen; Schülerinnen und Schüler, die schulpflichtig sind).

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3. Nachrang von Leistungen der Grundsicherung, Besonderheit des Einzelfalls, Zumutbarkeit, Leistungsarten 3.1 Nachrang Leistungen zur Eingliederung in Arbeit können erbracht werden, soweit sie zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich sind. Das gilt insbesondere für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Vorrang haben Maßnahmen, die die unmittelbare Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen27. Bei der Leistungserbringung sind die Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Bei Jugendlichen und junge Volljährigen bis zum 25. Lebensjahr ohne Berufsabschluss steht eine Ausbildung im Vordergrund. Ist eine Vermittlung in eine Ausbildung nicht möglich, soll die vermittelte Arbeit oder Arbeitsgelegenheit auch zur Verbesserung der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten beitragen. Ferner finden die allgemeinen Nachrangregeln der Sozialhilfe (Bedürftigkeitsprinzip) Berücksichtigung. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. 3.2 Besonderheit des Einzelfalls Bei dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist bei den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit die Eignung, die individuelle Lebenssituation, insbesondere die familiäre Situation, die voraussichtliche Dauer der Hilfebedürftigkeit und die Dauer der Eingliederung zu berücksichtigen. Der Auftrag des Gesetzgebers setzt eine umfassende Abklärung der persönlichen und familiären Verhältnisse voraus. Hierzu sind entsprechende Ermittlungen erforderlich. In zahlreichen Fällen liegen gesundheitliche Störungen (z.B. psychiatrische Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen) vor. Deren Behandlung muss einer Eingliederungsmaßnahme und einer anschließenden Vermittlung zur Sicherung des Ergebnisses vorgehen28. 27

Die Aussage steht im Gegensatz zu der Vorgabe in § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB II, bei den Leistungen zur Eingliederung die Dauerhaftigkeit der Eingliederung zu berücksichtigen. Es ist in der Arbeitsmarktforschung allgemein anerkannt, dass durch Qualifizierungsmaßnahmen die Gefahr von Arbeitslosigkeit gemindert und die Möglichkeit, bei Eintritt von Arbeitslosigkeit einen neuen Arbeitsplatz zu finden, deutlich erhöht wird. Die in § 3 Abs. 1 Satz 3 SGB II formulierte Aussage ist auch deshalb zu hinterfragen, weil der technische Fortschritt tendenziell ein allgemein höheres Qualifikationsniveau erfordert. Leistungsberechtigte, die für eine Aus/Fortbildung in Frage kommen, sollten bei der Agentur für Arbeit rückhaltlose Unterstützung finden. 28 Die Gemeinsamen Einrichtungen (Jobcenter) verfügen regelhaft nicht über einen eigenen Sozialen Dienst. Sie können die Kommune um Amtshilfe ersuchen.

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3.3 Zumutbarkeit Die Kriterien der Zumutbarkeit sind – wie im Fürsorgerecht (auch das Arbeitslosengeld II ist verfassungsrechtlich unter den Begriff "Fürsorge" zu subsumieren) üblich – weit gefasst. Ausnahmsweise scheidet eine Vermittlung aus, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige ·

zu der bestimmten Arbeit körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist,

·

die Ausübung der Arbeit ihm die künftige Ausübung seiner bisherigen überwiegenden Arbeit wesentlich erschweren würde, weil die bisherige Tätigkeit besondere körperliche Anforderungen stellt oder

·

ein sonstiger wichtiger Grund dem Einsatz der Arbeitskraft entgegensteht (Erziehung eines Kindes, Pflege eines Angehörigen etc.).

3.4 Leistungsarten Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden in Form von Dienstleistungen, Geldleistungen und Sachleistungen erbracht. 4. Leistungsberechtigte 4.1 Personenkreis Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die ·

das 15. Lebensjahr vollendet und das 65.29 Lebensjahr noch nicht vollendet haben,

29

§ 7a Altersgrenze Personen, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Altersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Für Personen, die nach dem 31. Dezember 1946 geboren sind, wird die Altersgrenze wie folgt angehoben: für den Geburtsjahrgang

erfolgt eine Anhebung um Monate

auf Vollendung eines Lebensalters von

1947

1

65 Jahren und 1 Monat

1948

2

65 Jahren und 2 Monaten

1949

3

65 Jahren und 3 Monaten

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·

erwerbsfähig sind,

·

hilfebedürftig sind und

·

ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Ausgenommen sind ·

Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes /EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

·

Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen30,

1950

4

65 Jahren und 4 Monaten

1951

5

65 Jahren und 5 Monaten

1952

6

65 Jahren und 6 Monaten

1953

7

65 Jahren und 7 Monaten

1954

8

65 Jahren und 8 Monaten

1955

9

65 Jahren und 9 Monaten

1956

10

65 Jahren und 10 Monaten

1957

11

65 Jahren und 11 Monaten

1958

12

66 Jahren

1959

14

66 Jahren und 2 Monaten

1960

16

66 Jahren und 4 Monaten

1961

18

66 Jahren und 6 Monaten

1962

20

66 Jahren und 8 Monaten

1963

22

66 Jahren und 10 Monaten

ab 1964

24

67 Jahren.

30

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mir Urteil vom 15. September 2015, C-67/14, Pressemitteilung C-67/14, entschieden, dass die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedsstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, bestimmte "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen" zu gewähren, die auch eine Leistung der "Sozialhilfe" darstellen, nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedsstaats nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der "Unionsbürgerrichtlinie" (Richtlinie 2004/38/EG) erfüllt. Für Arbeitsuchende wie im vorliegenden Fall gibt es zwei Möglichkeiten, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen: ·

Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zu Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für min-

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·

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Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetz.

Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören ·

die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten,

·

die im Haushalt lebenden Eltern oder der im Haushalt lebende Elternteil eines unverheirateten erwerbsfähigen Kindes, welches das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, und die im Haushalt lebende Partnerin oder der im Haushalt lebende Partner dieses Elternteils,

·

der Ehegatte, der Lebenspartner oder die in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Person und

·

die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie den Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen bestreiten können.

Eine eheähnliche Gemeinschaft wird vermutet, wenn Partner ·

länger als ein Jahr zusammenleben,

·

mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,

·

Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder

·

befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

4.2 Einsatz des Einkommens und des Vermögens Das SGB II übernimmt grundsätzlich die Regelungen des SGB XII hinsichtlich des Einsatzes von Einkommen und Vermögen in einer Bedarfsgemeinschaft und die hiervon bestehenden Ausnahmen. Allerdings sieht das SGB II im Vergleich zum SGB XII großzügigere Maßstäbe vor. Das geschützte Vermögen ist z.B. deutlich höher. Vom einzusetzenden Vermögen ist beispielsweise bis zu den Höchstbeträgen des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II ein Grundfreibetrag von € 150 je vollendetem Lebensjahr des erwerbsfähigen Hilfebedestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. ·

Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedstaat jedoch jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.

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dürftigen und seines Partners abzusetzen, mindestens aber jeweils € 3.100. Der Freibetrag für alle in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Kinder beträgt ebenfalls jeweils € 3.100. Abweichend von der Sozialhilfe, wo ein Kraftfahrzeug nur im Einzelfall als geschützt gilt, wird im SGB II jedem in der Bedarfsgemeinschaft lebenden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ein angemessenes Kraftfahrzeug zugestanden. Abweichungen bestehen auch beim Einkommen. Im Gegensatz zur Sozialhilfe handelt es sich bei der Eigenheimzulage nicht um Einkommen, soweit die Zulage nachweislich zur Finanzierung einer geschützten Immobilie verwendet wird. Ansonsten decken sich die Definitionen von Einkommen und Vermögen im SGB II mit den Regelungen der Sozialhilfe. 4.3 Örtliche Zuständigkeit Örtlich zuständig ist die Agentur für Arbeit bzw. der Kommunale Träger, in dessen Bezirk der Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt31 hat. 4.4 Antragsprinzip Leistungen der Grundsicherung werden auf Antrag erbracht. Die Leistungen sollen jeweils für sechs Monate bewilligt und monatlich im Voraus erbracht werden. 4.5 Leistungsanspruch Leistungen nach dem SGB II erhält nicht, wer für länger als sechs Monate in einem Krankenhaus im Sinne des § 107 SGB V32 untergebracht ist oder Rente wegen Alters oder wegen vollständiger Erwerbsminderung bezieht. Ferner haben Auszubildende keinen Anspruch, wenn die Ausbildung dem Grunde nach BAföG oder SGB III förderungsfähig ist. Das gilt nicht für Formen von Schüler-BAföG oder entsprechenden Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe. In besonderen Härtefällen können Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen geleistet werden. Da es sich um eine Fürsorgeleistung handelt, haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. Zudem sieht § 39 SGB II die sofortige Vollziehbarkeit von Verwaltungsakten vor. 31

Das SGB II verwendet den gleichen Begriff wie das SGB I, SGB XII und SGB VIII, meint jedoch den tatsächlichen Aufenthalt! 32 Nach den Gesetzesmaterialien zum SGB II zählen hierzu auch Rehabilitationseinrichtungen.

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Ggf. ist zur vorläufigen Leistungsgewährung eine einstweilige Anordnung nach § 86 b SGG zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels zu erwirken. 5. Träger der Grundsicherung Träger der Grundsicherung sind ·

die Bundesagentur für Arbeit,

·

die kreisfreien Städte und Landkreise, soweit nach Landesrecht keine andere Regelung getroffen wurde und

·

zugelassene Kommunale Träger (Optionskommunen)33.

6. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 6.1 Aufgaben der Kommunen Die sachliche Zuständigkeit der kreisfreien Städte und Landkreise ist im Gesetz enumerativ genannt. Sie sind zuständig für ·

weitere Leistungen zur Eingliederung erwerbsfähiger Hilfebedürftiger in das Erwerbsleben. Dazu zählen die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder die häusliche Pflege von Angehörigen, die psychosoziale Betreuung und die Schuldnerberatung,

·

Leistungen für Unterkunft und Heizung und

·

Leistungen für die Erstausstattung der Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten, Erstausstattung für Bekleidung einschließlich bei Schwangerschaft und Geburt sowie mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen.

Für alle anderen Leistungen - wie Sicherung des Lebensunterhalts, Krankenkassenbeiträge oder Eingliederungshilfen - ist die Agentur für Arbeit zuständig.

33

Die zugelassenen Kommunalen Träger nehmen alle Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende wahr. Sie übernehmen die im Gesetz vorgesehenen Befugnisse der Agentur für Arbeit.

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Leistungen nach dem SGB II

Leistungen der Agentur für Arbeit: · · ·

Berufliche Eingliederungsmaßnahmen Finanzierung des Lebensunterhalts Kosten der Pflichtversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung

Leistungen des Kommunalen Trägers: · · · ·

· · ·

Unterkunftskosten Erstausstattung mit Hausrat und Bekleidung Mietschulden Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder und häusliche Pflege von Angehörigen Schuldnerberatung Psychosoziale Betreuung Suchtberatung

6.2 Aufgaben der Bundesagentur 6.2.1 Eingliederungsvereinbarung Grundlage der Leistungsgewährung ist die Eingliederungsvereinbarung. Sie enthält Regelungen, welche Leistungen der Erwerbsfähige zur Eingliederung in Arbeit erhält und welche Bemühungen der erwerbsfähige Hilfebedürftige in welcher Häufigkeit zur Eingliederung in Arbeit mindestens unternehmen muss und in welcher Form er die Bemühungen nachzuweisen hat. Enthält die Eingliederungsvereinbarung eine Bildungsmaßnahme, so kann auch geregelt werden, ob und ggf. in welchem Umfang eine Schadenersatzpflicht des Hilfebedürftigen bei Abbruch der Maßnahme gegeben ist. Alternativ hierzu sind Regelungen durch Verwaltungsakt möglich.

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6.2.2 Leistungen zur Eingliederung Die Bundesagentur kann im Rahmen der vorhandenen Budgetmittel („Kannleistung") auf das Leistungsspektrum des SGB III zurückgreifen. Ferner ist ein Einstiegsgeld vorgesehen. Für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, sollen Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Sie beinhalten die Gewährung einer Entschädigung für Mehraufwendungen. Ferner sind Leistungen zur Beschäftigungsförderung vorgesehen. 6.2.3 Einbeziehung Dritter Die Agentur für Arbeit soll eigene Einrichtungen und Dienste nicht neu schaffen, soweit geeignete Angebote und Dienste Dritter vorhanden sind, ausgebaut oder in Kürze geschaffen werden können. Das SGB II sieht explizit eine Unterstützung der Träger der Freien Wohlfahrtspflege durch die Bundesagentur für Arbeit vor, soweit diese arbeitsmarktpolitische Angebote vorhalten34. 6.2.4 Sicherstellung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II) 6.2.4.1 Regelleistung Die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben. Die monatliche Regelleistung (Eckregelsatz) beträgt für Personen, die alleinstehend oder allein erziehend sind oder deren Partner minderjährig ist, € 409. Haben zwei Angehörige der Bedarfsgemeinschaft das 18. Lebensjahr vollendet, beträgt die Regelleistung jeweils 90 vom Hundert des Eckregelsatzes. Die Regelleistung für sonstige erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft beträgt 60 bis 80 vom Hundert des Eckregelsatzes (s. SGB XII). Die Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen denen der Sozialhilfe (s. SGB XII).

34

In der Praxis werden zu erbringende Bildungsleistungen grundsätzlich ausgeschrieben. Den Zuschlag erhält der kostengünstigste Anbieter. Fragen der Tarifbindung des Anbieters bzw. die Höhe der gewährten Vergütung an die Beschäftigten sind im Ausschreibungsverfahren der Agentur für Arbeit nicht vorgesehen.

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Mehrbedarfe Es finden die Regelungen der Sozialhilfe Anwendung. 6.2.4.3 Leistungen für Unterkunft und Heizung Es finden die Regelungen der Sozialhilfe Anwendung. Wenn Personen umziehen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, werden die Kosten für Unterkunft und Heizung nur übernommen, wenn der Kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages zugesichert hat. Bei wichtigen Gründen ist der Kommunale Träger zur Zusicherung verpflichtet (z.B. schwerwiegende soziale Gründe, Bezug der Unterkunft zur Aufnahme einer Tätigkeit)35. 6.2.4.4 Einmalige Bedarfe, Abweichende Erbringung von Leistungen Es finden die Regelungen der Sozialhilfe Anwendung. Allerdings wird ein Darlehen für ergänzende Leistungen in Höhe von bis zu 10 vom Hundert der Regelsatzleistung getilgt (in der Sozialhilfe 5 vom Hundert). 6.2.4.5 Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung SGB II- Empfänger sind in der Kranken- und Pflegeversicherung pflichtversichert. Als Beitrag zur Gesetzlichen Krankenversicherung übernimmt die Agentur für Arbeit (Erstattung durch den Bund) eine Summe in Höhe von € 142,80 mtl36. In der Pflegeversicherung wird zur Ermittlung des beitragspflichtigen Einkommens der monatliche Bezugswert mit dem 0,3620-fachen multipliziert. Das ergibt ein beitragspflichtiges Einkommen von € 1.026,27, das mit dem Beitragssatz von 2,25%37 zu multiplizieren ist. Der monatlich von der Agentur für Arbeit zu übernehmende Beitrag zur Pflegeversicherung beträgt demzufolge € 23,09. Freiwillig Versicherte erhalten Zuschüsse max. in Höhe der Beiträge, die ohne die Befreiung von der Versicherungspflicht zu zahlen wären38. 35

Hierzu ergangene Rechtsprechung: LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19.03.2007, L 11 B 13/07 AS ER, FEVS 58, 459 LSG Hamburg, Beschluss vom 25.08.2005, L 5 B 201/05 ER AS LSG Hamburg, Beschluss vom 02.05.2006, L 5 B 160/06 ER AS, FEVS 58, 89 36 Grundlage ist § 232 a Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Danach betragen die beitragspflichtigen Einnahmen das 0,3450fache der monatlichen Bezugsgröße. Das sind derzeit € 1.002,23 mtl. (€ 2.835 x 0,3450); multipliziert mit 14,6% = € 142,80 37 Bei Kinderlosen beträgt der Beitragssatz 2,5% 38 BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 4 AS 108/10 R, Quelle: Juris 22.09.2011:

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6.2.4.6 Sozialgeld Bedürftige Angehörige von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen erhalten ein Sozialgeld. Die Leistungen orientieren sich an der Sozialhilfe. 6.2.5 Anreize zur Aufnahme einer Tätigkeit, Sanktionen bei Verweigerung Ferner sind Freibeträge vom Einkommen zu berücksichtigen. Die ersten € 100 des bereinigten Einkommens bleiben anrechnungsfrei. Vom bereinigten Einkommen zwischen € 100,01 und € 1.000 bleiben 20% und von dem € 1.000 übersteigenden Teil des bereinigten Einkommens bleiben 10% anrechnungsfrei. Als Obergrenze sind € 1.200 für Bedarfsgemeinschaften ohne Kind und € 1.500 für Bedarfsgemeinschaften mit Kind vorgesehen. Das Arbeitslosengeld II kann gemindert oder eingestellt werden, wenn der Arbeitsuchende seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt oder er nicht bereit ist, eine zumutbare Tätigkeit oder Umschulungsmaßnahme aufzunehmen. Die Regelungen der Sozialhilfe über die Mitwirkungspflichten finden entsprechend Anwendung. 7. Nachträgliche Realisierung des Nachranggrundsatzes Die Regelungen der Sozialhilfe über den Übergang von Ansprüchen finden entsprechend Anwendung. 8. Kostenersatz und Erbenhaftung Die Regelungen der Sozialhilfe finden grundsätzlich Anwendung; allerdings weichen die Beträge voneinander ab. Der Schonbetrag für Erben beziffert sich auf € 1.700, bei vorheriger Pflege des verstorbenen Hilfeempfängers auf € 15.500.

Ein privat krankenversicherter Bezieher von Arbeitslosengeld II-Leistungen kann die Übernahme seiner unterhalb des hälftigen Höchstbeitrages zur Gesetzlichen Krankenversicherung liegenden Beiträge zur privaten Krankenversicherung im Wege einer analogen Anwendung für freiwillig in der Gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Personen geltenden Regelung von dem SGB II-Träger beanspruchen.

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Jugendhilfe (SGB VIII) Gliederung: 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 8. 9. 9.1 9.2 10.

Geschichtliche Entwicklung, Leitbild des Gesetzgebers Rechtsgrundlagen Allgemeine Vorschriften der Kinder- und Jugendhilfe Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz Angebote der Jugendarbeit Kennzeichen der Jugendarbeit Mitgestaltung Anbieter der Jugendarbeit Jugendverbände Mädchenarbeit Flexible Altersgrenze Jugendsozialarbeit Förderung der Erziehung in der Familie Begriff "Familie" Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung Beratung und Unterstützung bei Ausübung der Personensorge, Hilfe für alleinerziehende Mütter und Väter Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen Unterstützung bei notwendiger Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht. Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen Definition Tagespflege Anspruch auf Kindergartenplatz Unterstützung selbstorganisierter Förderung von Kindern Kosten Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige Übersicht über die Hilfeformen Voraussetzungen Berechtigte Zuständigkeit Anspruch Zusätzliche Leistungen Begleitende Maßnahmen, Verfahrensgrundsätze Einsatz von Einkommen und Vermögen Durchsetzung der Leistung Vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und in Einrichtungen Pflegeerlaubnis Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren

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Pflegeschaft und Vormundschaft für Kinder und Jugendliche Beurkundung und Beglaubigung, vollstreckbare Urkunden Sachliche und örtliche Zuständigkeit Adoptionsvermittlung Haager Minderjährigenschutzabkommen, Europäisches Fürsorgeabkommen

1. Geschichtliche Entwicklung, Leitbild des Gesetzgebers Das Kinder- und Jugendhilfegesetz vom 26. Juni 1990 ist das Ergebnis langjähriger Bemühungen zur Neuordnung der Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendhilfe. Es trat an die Stelle des Jugendwohlfahrtsgesetzes vom 11. August 1961, das in seiner Systematik und den wesentlichen Inhalten auf dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vom 09. Juli 1922 beruhte. Der Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist fachlich nicht eindeutig definiert. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz verstand darunter die Gesamtheit der Bestrebungen zur Förderung der Jugend aller Altersklassen. Jedoch wurde der Anspruch, alle bis dahin verschiedenen Behörden übertragenen Aufgaben (z.B. Vormundschaftsgericht im Rahmen der Gefahrenabwehr, Polizei- und Gesundheitsbehörden) den Jugendämtern zu übertragen, nicht eingelöst. Als nicht mehr zeitgemäß hatte sich auch die Unterscheidung von „Jugendpflege" und „Jugendfürsorge" erwiesen. Die Unterteilung in Maßnahmen für die „gesunde" Jugend (Jugendpflege) und Maßnahmen für die „kranke bzw. verwahrloste" Jugend (Jugendfürsorge) wird den vielen fließenden Übergängen sowie Funktionszusammenhängen nicht gerecht. Zwei weitere Paradigmenwechsel sind bemerkenswert: 1. Kinder- und Jugendhilfe wird als Leistung zur Unterstützung der Familie definiert. Hieraus leitet man ab, dass Anspruch auf Hilfe zur Erziehung die Sorgeberechtigten haben. Eine Fremdplatzierung ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten bedarf daher prinzipiell der vorherigen Genehmigung des Familiengerichts. Diese Anbindung des Anspruchs auf Hilfe zur Erziehung an die Sorgeberechtigten hat ferner zur Folge, dass für die Übernahme der Kosten der Jugendhilfeträger zuständig ist, in dessen Bereich die Sorgeberechtigten den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen haben. Ein Wechsel des Wohnsitzes der Sorgeberechtigten bedeutet daher oftmals auch einen Wechsel des kostenpflichtigen Trägers der Jugendhilfe. Ergebnis: Die sehr detaillierten Kostenerstattungsregelungen der Jugendhilfe sind mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden und beschäftigen überdurchschnittlich häufig die Verwaltungsgerichtsbarkeit. 2. Der Gesetzgeber ließ sich von dem Bestreben leiten, möglichst alle für Kinder- und Jugendliche erforderlichen Leistungen in einem Gesetz zusammenzufassen (z.B. Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, Krankenhilfe, Eingliederungshilfe für Behinderte für seelisch Erkrankte bzw. von einer derartigen Erkrankung Bedrohte). Die Folgen sind Diskussionen auf politischer Ebene über steigende finanzielle Aufwen-

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dungen für die Jugendhilfe. Entsprechende Verweisungen auf das Leistungsrecht der Sozialhilfe wären ausreichend gewesen. 2. Rechtsgrundlagen Rechtsgrundlage der Kinder und Jugendhilfe sowie der Hilfen für junge Volljährige in der Bundesrepublik Deutschland ist – wie oben erwähnt – das SGB VIII. Daneben ist übernationales Recht, wie z.B. das Haager Minderjährigenschutzabkommen und das Europäische Fürsorgeabkommen von Bedeutung. Zu beachten ist ferner die UN-Kinderrechtskonvention, die für die Bundesrepublik Deutschland am 05.04.1992 Gültigkeit erlangt hat. Hierauf soll im Rahmen der Abhandlung noch näher eingegangen werden. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes wird aus dem Kompetenztitel „Öffentliche Fürsorge" (Artikel 74 Nr. 7 Grundgesetz (GG)) hergeleitet. Er gibt einen Hinweis auf die Ursprünge der Kinder- und Jugendhilfe. Unter „Öffentlicher Fürsorge" im Sinne des GG werden die Sozialhilfe, die Kinder- und Jugendhilfe sowie das Arbeitslosengeld II zusammengefasst. 3. Allgemeine Vorschriften der Kinder- und Jugendhilfe § 1 SGB VIII enthält das Leitbild des Gesetzes. Danach hat jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Die Kinder- und Jugendhilfe soll insbesondere ·

junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

·

Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,

·

Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und

·

dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

Nach dem Gesetz ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht und Pflicht der Eltern. Hierüber wacht die staatliche Gemeinschaft (entspricht Art. 6 Abs. 2 GG). § 2 beschreibt die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, auf die noch näher einzugehen sein wird. Das Tätigwerden von öffentlicher (staatlicher) Jugendhilfe und Angeboten der Träger der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Zusammenarbeit wird in §§ 3, 4 thematisiert. § 5 regelt das Wunsch- und Wahlrecht. Es ist § 9 Abs. 2 SGB XII bzw. dem früheren § 3 BSHG nachgebildet. Danach haben die Erziehungsberechtigten und junge Volljährige das

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Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Der Wahl und den Wünschen soll entsprochen werden, sofern diese nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Sie können sich unmittelbar an das Jugendamt wenden. Sie können ohne Kenntnis des Erziehungsberechtigten beraten werden, wenn ansonsten der Beratungszweck vereitelt würde (§ 8). 4. Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz 4.1 Angebote der Jugendarbeit (§ 11 Abs. 3 SGB VIII) Junge Menschen sollen die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung gestellt bekommen. Schwerpunktmäßig bestehen die Angebote der Jugendarbeit aus ·

Außerschulischer Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung,

·

Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit,

·

Arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit,

·

Internationaler Jugendarbeit,

·

Kinder- und Jugenderholung,

·

Jugendberatung.

4.2 Kennzeichen der Jugendarbeit (§ 11 Abs. 1 SGB VIII) Kennzeichen für die Jugendarbeit sind ·

Freiwilligkeit der Teilnahme an den einzelnen Veranstaltungen,

·

Vielfalt der Träger, Methoden und Inhalte,

·

altersspezifische Gliederung.

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4.3 Mitgestaltung (§ 11 Abs. 1 SGB VIII) Die Angebote sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen. 4.4 Anbieter der Jugendarbeit (§ 11 Abs. 2 SGB VIII) Jugendarbeit wird angeboten von Jugendverbänden mit religiös, weltanschaulich oder politisch begründeter Ausrichtung. Viele Verbände dieser Art sind auf ehrenamtliche Tätigkeit angewiesen. Damit eröffnen sich auch für die Jugendlichen Gelegenheiten zur Übernahme von Aufgaben und Verantwortung. Ergänzt werden die Angebote durch Gruppen und Initiativen der Jugend, Clubs und Vereinen. Mit Jugendhäusern und Offenen Türen wird das Angebot an Jugendarbeit durch die Öffentlichen Träger abgerundet. 4.5 Jugendverbände (§ 12 Abs. 2 SGB VIII) In Jugendverbänden und Jugendgruppen wird Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und mit verantwortet. Ihre Arbeit ist auf Dauer angelegt und in der Regel auf die eigenen Mitglieder ausgerichtet; sie kann sich aber auch an junge Menschen wenden, die nicht Mitglieder sind. Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten. 4.6 Mädchenarbeit (§ 9 SGB VIII) Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern. Daher ist im Rahmen der Jugendarbeit gezielte Mädchenarbeit nötig, solange Mädchen die Angebote der Jugendarbeit weniger als Jungen nutzen und es in diesem Bereich noch weniger Mitarbeiterinnen als Mitarbeiter gibt. 4.7 Flexible Altersgrenze (§ 11 Abs. 4 SGB VIII) Angebote der Jugendarbeit können auch Personen, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, in angemessenem Umfang einbeziehen.

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4.8 Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) 4.8.1 Aufgabenstellung Jugendsozialarbeit umfasst folgende Hilfen: ·

Sozialpädagogische Hilfen zur Förderung der schulischen und beruflichen Ausbildung und der Eingliederung in die Arbeitswelt

·

Sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen

·

Unterkunftsgewährung (einschließlich Unterhalt und Krankenhilfe)

4.8.2 Sozialpädagogische Hilfen (§ 13 Abs. 1 SGB VIII) Bei der Jugendsozialarbeit geht es hauptsächlich um Erziehungshilfen im Rahmen des Berufsbeginns. Es sollen differenzierte Angebote zur Berufsvorbereitung und Berufseingliederung entwickelt werden, insbesondere für junge Menschen, die wegen sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind. Damit soll ihre soziale Integration gefördert werden. 4.8.3 Begleitende Maßnahmen (§ 13 Abs. 2 SGB VIII) Soweit die Ausbildung dieser jungen Menschen nicht durch Maßnahmen und Programme anderer Träger und Organisationen sichergestellt wird, können geeignete sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen angeboten werden, die den Fähigkeiten und dem Entwicklungsstand dieser jungen Menschen Rechnung tragen. 4.8.4 Wohnmöglichkeiten (§ 13 Abs. 3 SGB VIII) Zur Unterstützung der Ausbildung oder der beruflichen Eingliederung kann das Jugendamt auch Wohnmöglichkeiten in Jugendwohnheimen, Jugendwohngemeinschaften oder in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen schaffen.

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5. Förderung der Erziehung in der Familie 5.1 Begriff "Familie" Zunächst muss klargestellt werden, dass der Begriff der Familie nicht nur verheiratete Ehepaare mit Kindern umfasst, sondern die gesamte Bandbreite familiärer Situationen: Kinder mit allein stehenden Müttern oder Vätern, unverheiratete Paare, erziehende Großeltern oder Stiefeltern. Der Leistungskatalog zur Förderung der Erziehung in der Familie enthält: ·

Angebote zur Familienbildung

·

Angebote der Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen

·

Angebote der Familienfreizeit und der Familienerholung

5.2 Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung (§ 17 SGB VIII) Mütter und Väter haben Anspruch auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, wenn sie für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben. Die Beratung hat drei Schwerpunkte: ·

Es soll ein partnerschaftliches Zusammenleben in der Familie aufgebaut oder erhalten werden.

·

Es sollen Konflikte oder Krisen in der Familie bewältigt werden.

·

Es sollen im Falle der Trennung oder Scheidung die Bedingungen für eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen förderliche Wahrnehmung der Elternverantwortung geschaffen werden.

Im Falle der Trennung oder Scheidung hat das Jugendamt die Aufgabe, die Eltern unter angemessener Beteiligung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen zu befähigen, ein einvernehmliches Konzept für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge zu finden; dieses Konzept kann auch als Grundlage für die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge nach der Trennung oder Scheidung dienen.

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5.3 Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge, Hilfe für alleinstehende Mütter und Väter (§ 18 SGB VIII) Alleinstehende Mütter und Väter haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge einschließlich der Geltendmachung von Unterhalts- oder Unterhaltsersatzansprüchen des Kindes oder des Jugendlichen. Dies gilt auch für die Situation der werdenden Mutter eines nichtehelichen Kindes. Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Sie sollen darin unterstützt werden, dass die Personen, die zum Umgang mit ihnen berechtigt sind, von diesem Recht zu ihrem Wohl Gebrauch machen. Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen, in deren Obhut sich das Kind befindet, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Ein junger Volljähriger hat bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Geltendmachung von Unterhalts- oder Unterhaltsersatzansprüchen. 5.4 Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder (§ 19 SGB VIII) Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, sollen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Das bedeutet, dass diese Hilfe nicht nur minderjährigen Vätern oder Müttern angeboten werden soll, sondern unabhängig von ihrem Alter, sofern sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Hilfe bedürfen. Die Betreuung schließt auch ältere Geschwister ein, sofern die Mutter oder der Vater für sie allein zu sorgen hat. Eine schwangere Frau kann auch vor der Geburt des Kindes in der Wohnform betreut werden. Während dieser Zeit soll darauf hingewirkt werden, dass die Mutter oder der Vater eine schulische oder berufliche Ausbildung beginnt oder fortführt oder eine Berufstätigkeit aufnimmt. Die Leistung soll auch den notwendigen Unterhalt der betreuten Personen sowie Krankenhilfe umfassen, sofern sie nötig wird. 5.5 Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen (§ 20 SGB VIII) Fällt der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen (Krankheit, Kur, Inhaftierung, Tod) aus, so soll der andere Elternteil bei der Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes unterstützt werden, wenn

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·

er wegen berufsbedingter Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen,

·

die Hilfe erforderlich ist, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten,

·

Angebote der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Tagespflege nicht ausreichen.

Fällt ein allein erziehender Elternteil oder fallen beide Elternteile aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen aus, so soll das Kind im elterlichen Haushalt versorgt und betreut werden, wenn und solange es für sein Wohl erforderlich ist. 5.6 Unterstützung bei notwendiger Unterbringung zur Erfüllung der Schulpflicht (§ 21 SGB VIII) Hier geht es um die besondere Situation von Familien von Binnenschiffern, Artisten und Schaustellern. Diese Erziehungsberechtigten haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung. In geeigneten Fällen können die Kosten der Unterbringung in einer für das Kind oder den Jugendlichen geeigneten Wohnform einschließlich des notwendigen Unterhalts sowie die Krankenhilfe übernommen werden, wenn und soweit dies dem Kind oder dem Jugendlichen und seinen Eltern aus ihrem Einkommen und Vermögen nicht zuzumuten ist. Die Kosten können über das schulpflichtige Alter hinaus übernommen werden, sofern eine begonnene Schulausbildung noch nicht abgeschlossen ist, längstens aber bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres. 6. Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen 6.1 Definition Der Begriff "Tageseinrichtungen für Kinder" umfasst Kinderkrippen, Krabbelstuben, Kindergärten, Kindertagesstätten und Horte. Kinderkrippen und Krabbelstuben sind Einrichtungen für Kinder bis drei Jahre, Kindergärten und Kindertagesstätten sind für Kinder zwischen dem vierten und dem sechsten Lebensjahr gedacht. Daneben gibt es auch altersgemischte Gruppen, in denen Kinder von null bis sechs Jahren zusammengefasst werden. Kindertagesstätten, Kinderkrippen und Krabbelstuben haben in der Regel längere Öffnungszeiten, um auch Kinder berufstätiger Eltern aufnehmen zu können. Die Kinder bekommen meistens auch eine warme Mahlzeit in der Einrichtung. Horte richten sich in ihrem Förderangebot an schulpflichtige Kinder bis zum 14. Lebensjahr. Durch Integrationsplätze in Tageseinrichtungen wird dem Inklusionsgedanken Rechnung getragen. Integrationsplätze implizieren eine ergänzende, auf die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen abgestellte Personalausstattung.

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Ziel aller Tageseinrichtungen für Kinder soll sein, die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern. Zu den Aufgaben der Kindertageseinrichtungen gehört neben der Betreuung und der Erziehung auch die Bildung des Kindes. Das Leistungsangebot soll sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien orientieren. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sollen die in den Einrichtungen tätigen Fachkräfte und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den Erziehungsberechtigten zum Wohl der Kinder zusammenarbeiten. Die Erziehungsberechtigten sind an den Entscheidungen in wesentlichen Angelegenheiten der Tageseinrichtung zu beteiligen. 6.2 Tagespflege (§ 23 SGB VIII) Zur Förderung der Entwicklung des Kindes, insbesondere in den ersten Lebensjahren, kann auch eine Person vermittelt werden, die das Kind für einen Teil des Tages oder ganztags entweder im eigenen oder im Haushalt des Erziehungsberechtigten betreut (Tagespflegeperson). Tagespflege ist ein Erziehungsangebot, das keine Erziehungsdefizite voraussetzt; es ist als Alternative zu den Tageseinrichtungen zu verstehen. Die Tagespflegeperson und der Personensorgeberechtigte sollen zum Wohl des Kindes zusammenarbeiten. Sie haben Anspruch auf Beratung in allen Fragen der Tagespflege. Wird eine geeignete Tagespflegeperson vermittelt und ist die Förderung des Kindes in Tagespflege für sein Wohl geeignet und erforderlich, so sollen dieser Person die entstehenden Aufwendungen einschließlich der Kosten der Erziehung ersetzt werden. Die entstehenden Aufwendungen einschließlich der Kosten der Erziehung sollen auch ersetzt werden, wenn das Jugendamt die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Tagespflege für das Wohl des Kindes und die Eignung einer von den Erziehungsberechtigten nachgewiesenen Pflegeperson feststellt. Zusammenschlüsse von Tagespflegepersonen sollen beraten und unterstützt werden. 6.3 Anspruch auf einen Kindergartenplatz (§ 24 SGB VIII) Ein Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter sind nach Bedarf Plätze in Tageseinrichtungen vorzuhalten. Die Träger der Öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht.

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6.4 Unterstützung selbstorganisierter Förderung von Kindern (§ 25 SGB VIII) Mütter, Väter und andere Erziehungsberechtigte, die die Förderung von Kindern selbst organisieren wollen, sollen beraten und unterstützt werden. 6.5 Kosten (§§ 90, 91 SGB VIII) Für die Inanspruchnahme von Angeboten zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen können Teilnahmebeiträge oder Gebühren festgesetzt werden. Landesrecht kann eine Staffelung der Teilnahmebeiträge und Gebühren, die für die Inanspruchnahme der Tageseinrichtungen für Kinder zu entrichten sind, nach Einkommensgruppen und Kinderzahl oder der Zahl der Familienangehörigen vorschreiben oder selbst entsprechend gestaffelte Beträge festsetzen. 7. Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige 7.1 Übersicht über die Hilfeformen Hilfe zur Erziehung ist in verschiedene einzelne Hilfen aufgegliedert. Das sind im Einzelnen: ·

Erziehungsberatung (Beratung in anerkannten Erziehungsberatungsstellen)

·

Soziale Gruppenarbeit (neues Instrument der Jugendhilfe; von der Praxis noch zu füllen)

·

Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (freiwillige Hilfeform)

·

Sozialpädagogische Familienhilfe (Einsatz einer Fachkraft in der Familie, praktische Unterstützung, viele Defizite können konkret angegangen werden)

·

Erziehung in einer Tagesgruppe (Fremdplatzierung des Kindes in den Tagesstunden, Verbindung mit Elternarbeit notwendig)

·

Vollzeitpflege (Hilfe in Ersatzfamilie; zeitlich befristet, u.U. auch auf Dauer)

·

Heimerziehung, sonstige betreute Wohnformen (verschiedene Formen der Unterbringung in Heimen, Wohnungen bzw. vergleichbaren Unterkünften)

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·

Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (hoher Betreuungsaufwand, überdurchschnittlich hoher Personaleinsatz, betreutes Wohnen in Außenwohngruppe oder nach Beendigung der Heimerziehung)

·

Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Der Gesetzgeber hat andere, im Gesetz nicht genannte Formen der Hilfe zugelassen, die sich möglicherweise noch in der Praxis entwickeln werden. 7.2 Voraussetzungen Generell ist Voraussetzung, dass eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Dies ist daran zu messen, ob das Recht auf Erziehung (Förderung der Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit) ausreichend verwirklicht ist. Dabei hat das Jugendamt eine Ermessensentscheidung zu treffen. Der Bürger hat Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung im Sinne des § 39 Abs. 1 SGB I. Die getroffenen Maßnahmen in Form einer Hilfe gem. §§ 28 bis 35 SGB VIII - oder anderer Form - müssen geeignet sein, den festgestellten Mangel an Erziehung auszugleichen. Die Maßnahmen dürfen den Mangel nicht überkompensieren und damit zu stark in die Erziehung der eigentlich Verpflichteten (i.d.R. Eltern) eingreifen. Andererseits müssen sie von der Zielvorgabe und voraussichtlichen Wirkung her dem zu behebenden Mangel adäquat sein. Dabei stellen die in den §§ 28 bis 35 SGB VIII genannten Maßnahmen in aufsteigender Reihenfolge kontinuierlich zunehmende Hilfen aber auch Eingriffe dar. 7.3 Berechtigte Hilfe zur Erziehung wird grundsätzlich den Erziehungsberechtigten - also in der Regel den Eltern - gewährt. Kinder können sich als Ratsuchende an das Jugendamt wenden und dort - unter bestimmten Umständen auch ohne das Wissen der Eltern - beraten werden. Damit können sie dem Jugendamt das Vorliegen der Voraussetzungen anzeigen und einen Anspruch der Erziehungsberechtigten auf Hilfe zur Erziehung auslösen. Den Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche haben im Gegensatz zur Hilfe zur Erziehung die Kinder und Jugendlichen, vertreten durch die Sorgeberechtigten. Junge Volljährige haben einen eigenständigen Anspruch gem. § 41 SGB VIII. Dieser entspricht inhaltlich der Hilfe zur Erziehung. Die Hilfe für junge Volljährige kann auch mit der Hilfe für junge Menschen mit seelischen Behinderungen gem. § 35 a SGB VIII verknüpft sein.

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7.4 Zuständigkeit Der Gesetzgeber weist die Pflicht zur Leistungserbringung den Trägern der Öffentlichen Jugendhilfe zu. Es ist das Jugendamt zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt besitzen. Leben die Eltern nicht in der Bundesrepublik Deutschland, so ist das Jugendamt zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche in den letzten drei Monaten aufgehalten hat. In Zweifelsfällen muss das Jugendamt, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche tatsächlich aufhält, vorläufig tätig werden (§ 85 Abs.3 SGB VIII). 7.5 Anspruch Bei Vorliegen der Voraussetzungen besteht auf die o.g. Hilfen ein Rechtsanspruch. Es handelt sich also um Pflichtleistungen. Auch Ausländer haben einen Anspruch, wenn sie sich rechtmäßig (d.h. mit einem Aufenthaltstitel) oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Überlagert wird nationales durch übernationales Recht, nämlich das Haager Minderjährigenschutzabkommen und das Europäische Fürsorgeabkommen. Ergänzt werden die Zuständigkeitsregelungen des Europäischen Minderjährigenschutzabkommens in den Staaten der Europäischen Union durch die sogenannte Brüssel-IIa-VO (Verordnung [EG] Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung [Abl. EU L 338 vom 23. Dezember 2003]). 7.6 Zusätzliche Leistungen Wird Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege oder Heimerziehung gewährt, so umfasst die Hilfe auch die Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts (§ 39 SGB VIII). Da der Gesetzgeber die gleichen Begriffe wie im SGB XII wählte, werden sich die Leistungssätze an denen nach dem SGB XII orientieren. Außerdem wird den Minderjährigen dann, wenn sie nicht über andere Personen krankenversichert sind - Krankenhilfe entsprechend den Vorschriften des SGB XII gewährt (§ 40 SGB VIII). Das bedeutet, dass sich der Jugendhilfeträger der Gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 264 SGB V bedient und der Krankenkasse den entstehenden Aufwand einschließlich entsprechender Verwaltungskosten erstattet (max. 5% der abgerechneten Kosten). 7.7 Begleitende Maßnahmen/Verfahrensgrundsätze Im Verfahren über die Entscheidung über die Hilfe zur Erziehung sind der Personensorgeberechtigte und der Minderjährige zu beraten. Die Entscheidung über die Hilfe soll in Zu-

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sammenarbeit von verschiedenen Fachkräften erfolgen und Beginn eines planvollen Handelns sein. Der Hilfeplan soll regelmäßig überprüft und orientiert an der Entwicklung des Minderjährigen fortentwickelt werden. Dabei ist regelmäßig zu beurteilen, ob die gewährte Hilfe aktuell notwendig und geeignet ist, dem Recht des Kindes auf Erziehung gerecht zu werden. 7.8 Einsatz von Einkommen und Vermögen Für die folgenden Leistungen sieht das Gesetz eine Kostenbeteiligung vor: ·

Unterkunft junger Menschen in einer sozialpädagogisch begleiteten Wohnform

·

Betreuung von Müttern oder Vätern und Kindern in gemeinsamen Wohnformen

·

Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen

·

Unterstützung bei notwendiger Unterbringung junger Menschen zur Erfüllung der Schulpflicht und zum Abschluss der Schulausbildung

·

Hilfe zur Erziehung

·

Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche

·

Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen

·

Hilfe für junge Volljährige

Die Kosten umfassen auch die Aufwendungen für den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe. Für die Beurteilung der Frage, in welchem Umfang die Kostenbeteiligung erfolgen soll, gelten die Vorschriften für den Einkommens- und Vermögenseinsatz nach dem SGB XII (§§ 85 – 91) entsprechend. Das bedeutet, dass vorbehaltlich explizit benannter Ausnahmen alle Einkünfte in die Betrachtung einzubeziehen sind. Für die Festsetzung der Kostenbeiträge von Eltern, Ehegatten und Lebenspartnern junger Menschen werden nach Einkommensgruppen gestaffelte Pauschalbeträge durch Rechtsverordnung des zuständigen Bundesministeriums mit Zustimmung des Bundesrats bestimmt. Die Beträge sind alle zwei Jahre, erstmals zum 1. Juli 2007, der Entwicklung des durchschnittlich verfügbaren Arbeitseinkommens anzupassen. Unabhängig hiervon sind die Vorgaben der Rechtsprechung zu beachten: Das BVerwG hat mit Urteil vom 19.08.2010, 5 C 10.09, veröffentlicht in Juris am 20.08.2010, entschieden, dass die Heranziehung eines Vaters zum Kostenbeitrag für seine beiden in Jugendhilfeeinrichtungen untergebrachten Kinder rechtswidrig ist, soweit ihm weniger von seinem Einkommen verbleibt, als er

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nach dem Unterhaltsrecht für sich behalten dürfte. Die Heranziehung sei rechtswidrig, weil die Kostenbeitragspflichtigen aus ihrem Einkommen nur in angemessenem Umfang herangezogen werden dürfen (§ 94 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Die Begrenzung auf einen "angemessenen" Kostenbeitrag soll gerade bei den unteren Einkommensgruppen einen Wertungswiderspruch zum Unterhaltsrecht verhindern und dem Unterhaltspflichtigen so viel belassen, dass er dadurch seine allgemeinen Lebenshaltungskosten bestreiten kann.

(Fundstelle: BGBl. I 2013, 4041)

Maßgebliches Einkommen nach § 93 des Achten Buches Sozialgesetzbuch

Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe 1 2 3 4 vollstationär erste Person

Spalte 1 Einkommensgruppe

vollstationär zweite Per- vollstationär son dritte Person teilstationär

Spalte 2

Spalte 3

Spalte 4

Spalte 5

Euro

Euro

Euro

Euro

Euro

1

bis 1 100,99

0

0

0

0

2

1 101,00 bis 1 200,99

50

0

0

40

3

1 201,00 bis 1 300,99

130

0

0

50

4

1 301,00 bis 1 450,99

210

30

0

60

5

1 451,00 bis 1 600,99

259

60

30

70

6

1 601,00 bis 1 800,99

289

85

40

85

7

1 801,00 bis 2 000,99

342

105

50

95

8

2 001,00 bis 2 200,99

378

140

60

105

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Maßgebliches Einkommen nach § 93 des Achten Buches Sozialgesetzbuch Spalte 1 Einkommensgruppe

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Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe 1 2 3 4 vollstationär vollstationär zweite Per- vollstationär erste Person son dritte Person teilstationär Spalte 2

Spalte 3

Spalte 4

Spalte 5

Euro

Euro

Euro

Euro

Euro

9

2 201,00 bis 2 400,99

437

175

80

115

10

2 401,00 bis 2 700,99

510

220

120

130

11

2 701,00 bis 3 000,99

570

275

165

145

12

3 001,00 bis 3 300,99

630

335

210

160

13

3 301,00 bis 3 600,99

725

410

260

175

14

3 601,00 bis 3 900,99

825

485

320

190

15

3 901,00 bis 4 200,99

932

560

380

205

16

4 201,00 bis 4 600,99

1 056

635

440

220

17

4 601,00 bis 5 000,99

1 152

715

500

240

18

5 001,00 bis 5 500,99

1 313

790

555

265

19

5 501,00 bis 6 000,99

1 438

865

605

290

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Maßgebliches Einkommen nach § 93 des Achten Buches Sozialgesetzbuch Spalte 1 Einkommensgruppe

Euro

Seite 86

Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe Beitragsstufe 1 2 3 4 vollstationär vollstationär zweite Per- vollstationär erste Person son dritte Person teilstationär Spalte 2

Spalte 3

Spalte 4

Spalte 5

Euro

Euro

Euro

Euro

20

6 001,00 bis 6 500,99

1 563

940

658

315

21

6 501,00 bis 7 000,99

1 688

1 015

710

340

22

7 001,00 bis 7 500,99

1 813

1 090

763

365

23

7 501,00 bis 8 000,99

1 938

1 165

815

390

24

8 001,00 bis 8 500,99

2 063

1 240

868

415

25

8 501,00 bis 9 000,99

2 188

1 315

920

440

26

9 001,00 bis 9 500,99

2 313

1 390

973

465

27

9 501,00 bis 10 000,99

2 438

1 465

1 025

490

7.9 Durchsetzung der Leistung Gegen einen Bescheid des Jugendamts können die Erziehungsberechtigten binnen eines Monats Widerspruch erheben. Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, ist eine Klage vor dem Verwaltungsgericht möglich. Dem schließen sich weitere Rechtsmittel an.

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8. Vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen § 42 SGB VIII gibt dem Jugendamt im Rahmen der Krisenintervention die Möglichkeit unmittelbaren Handelns zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen in Eil- und Notfällen. Die elterliche bzw. familiengerichtliche Entscheidungskompetenz bleibt im Grundsatz bestehen, lässt jedoch im Interesse eines effektiven Schutzes des Kindes oder Jugendlichen eine vorläufige Hilfestellung des Jugendamtes zu, die unverzüglich durch elterliche Zustimmung oder vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sorgerechtlich zu legitimieren ist. Geregelt werden zwei Alternativen: ·

Die Inobhutnahme auf Bitten des Kindes oder Jugendlichen

·

Die Inobhutnahme bei dringender Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen, die auch gegen seinen Willen erfolgen kann

Im Gegensatz zu den Leistungen der Jugendhilfe ist die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen mit der Befugnis verbunden, vorläufig über den Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen zu bestimmen und innerhalb dieses Zeitraums auch die erforderlichen Erziehungsaufgaben zu übernehmen. 9. Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und in Einrichtungen 9.1 Pflegeerlaubnis Die Vorschrift knüpft die regelmäßige Betreuung oder Unterkunftsgewährung für ein Kind oder einen Jugendlichen außerhalb des Elternhauses in einer anderen Familie an einen Erlaubnisvorbehalt der Pflegeperson. 9.2 Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung Der Träger einer Einrichtung, in der Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten, bedarf für den Betrieb der Einrichtung der Erlaubnis.

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10. Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren Im SGB VIII ist ferner die Mitwirkung des Jugendamts in Verfahren vor den Familiengerichten, in Adoptionsverfahren sowie in jugendgerichtlichen Verfahren geregelt. Das Jugendamt unterstützt das Familiengericht bei allen Maßnahmen, die die Sorge für die Person von Kindern und Jugendlichen betreffen. Es hat in Verfahren vor dem Familiengericht mitzuwirken. Einzelheiten sind in dem am 1. September 2009 in Kraft getretenen Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) geregelt, das das Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) ablöste. Das FamFG schafft eine klare Trennung zwischen den parteibestimmten ZPO-Verfahren und den Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Allerdings sind nach § 113 FamFG auch für bestimmte Familiensachen nach wie vor Bestimmungen und Verfahrensprinzipien der ZPO anwendbar. Es bestehen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zur Beratung in Fragen der Trennung und Scheidung und zur Mitwirkung der Jugendhilfe im familiengerichtlichen Verfahren. 11. Pflegschaft und Vormundschaft für Kinder und Jugendliche Im 4. Abschnitt des SGB VIII werden die Vorschriften über die Pflegschaft und die Vormundschaft für Kinder und Jugendliche zusammengefasst, die das Jugendamt berechtigen und verpflichten. Nach der Systematik des Bürgerlichen Gesetzbuches ist das Familiengericht alleiniges Organ der Obervormundschaft und übt die Aufsicht über die Führung von Vormundschaften und Pflegschaften aus. Das Jugendamt wird in diesem Zusammenhang in zwei Funktionen tätig. Zum einen fungiert es selbst als gesetzlicher oder bestellter Amtsvormund bzw. Amtspfleger, auf den sich die vormundschaftsgerichtliche Aufsicht erstreckt. Andererseits hat das Jugendamt eine Gehilfenstellung gegenüber dem Familiengericht erhalten39. Das Jugendamt hat dem Familiengericht Personen und Vereine vorzuschlagen, die sich im Einzelfall zum Pfleger oder Vormund eignen. 12. Beurkundung und Beglaubigung, vollstreckbare Urkunden Die Vorschrift regelt die Befugnis der beim Jugendamt bestellten Person (Urkundsperson) zu Beurkundungen und Beglaubigungen. Beurkundungen und Beglaubigungen sind nach dem Beurkundungsgesetz in erster Linie Aufgaben des Notars oder anderer durch Landesrecht bestimmter Stellen (z.B. Ortsgerichte im Bundesland Hessen).

39

Für Volljährige ist seit 01.09.2009 das Betreuungsgericht (früher Vormundschaftsgericht) zuständig.

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Die Urkundsperson bei dem Jugendamt ist befugt: ·

Die Erklärung zu beurkunden bzw. beglaubigen, durch die die Vaterschaft anerkannt oder die Anerkennung widerrufen wird, die Zustimmungserklärung der Mutter sowie die etwa erforderliche Zustimmung des Mannes, der im Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet ist, des Kindes, des Jugendlichen oder eines gesetzlichen Vertreters zu einer solchen Erklärung.

·

Die Erklärung zu beurkunden, durch die die Mutterschaft (nach ausländischem Recht) anerkannt wird sowie die etwa erforderliche Zustimmung des gesetzlichen Vertreters der Mutter (§ 44 Abs. 2 Personenstandsgesetz).

·

Die Verpflichtung zur Erfüllung von Unterhaltsansprüchen eines Abkömmlings zu beurkunden, sofern die unterhaltsberechtigte Person zum Zeitpunkt der Beurkundung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

·

Die Verpflichtung zur Erfüllung von Ansprüchen einer Frau auf Zahlung von Entbindungskosten und Unterhalt zu beurkunden.

·

Die Bereiterklärung der Adoptionsbewerber zur Annahme eines ihnen zur internationalen Adoption vorgeschlagenen Kindes zu beurkunden.

·

Den Widerruf der Einwilligung des Kindes in die Annahme als Kind zu beurkunden.

·

Die Erklärung, durch die der Vater auf die Übertragung der Sorge verzichtet, zu beurkunden.

·

Die Sorgeerklärung sowie die etwa erforderliche Zustimmung des gesetzlichen Vertreters eines beschränkt geschäftsfähigen Elternteils zu beurkunden.

Aus Urkunden, die von einem Beamten oder Angestellten des Jugendamts innerhalb der Grenzen seiner Amtsbefugnis in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden sind, findet die Zwangsvollstreckung statt, wenn die Erklärung die Zahlung einer bestimmten Geldsumme betrifft und der Schuldner sich in der Urkunde der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen hat. 13. Sachliche und örtliche Zuständigkeit Die Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe werden, jedenfalls soweit sie auf der örtlichen Ebene zu erfüllen sind, im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung wahrgenommen. Sie sind deshalb auch aus kommunalen Mitteln zu finanzieren. Mit der Feststellung der örtlichen Zuständigkeit ist deshalb automatisch auch die Bestimmung des jeweiligen kommunalen Kostenträgers verbunden. Entsprechend der Sicht des Gesetzgebers, der das Kind nicht als singuläres Rechtssubjekt, sondern im Kontext seiner Eltern sieht, wird die örtliche Zuständigkeit primär nicht am

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gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen, sondern an dem der Eltern angeknüpft. Dies gilt unabhängig davon, ob die Eltern sorgeberechtigt sind oder nicht. Erst wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche oder keinen gewöhnlichen Aufenthalt haben, treten für die Anknüpfung der örtlichen Zuständigkeit andere Aspekte in den Vordergrund, nämlich ·

der gewöhnliche Aufenthalt des erziehungsberechtigten Elternteils mit weiteren Detailregelungen im Fall der gemeinsamen elterlichen Sorge,

·

der gewöhnliche Aufenthalt des Kinder oder Jugendlichen oder

·

der tatsächliche Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen.

Bei einer Anknüpfung am tatsächlichen Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen entsteht ein Anspruch auf Kostenerstattung. Der Schutz der Anstaltsorte, der in den meisten Fällen durch die Anknüpfung am gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern erreicht wird, erfolgt im Rahmen der Kostenerstattung. Die örtliche Zuständigkeit wechselt mit der Änderung des gewöhnlichen bzw. des tatsächlichen Aufenthalts der maßgeblichen Person. Anknüpfungspunkt der Leistungen an junge Volljährige ist der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts vor Beginn der Leistung. Hat der junge Volljährige keinen gewöhnlichen Aufenthalt, so richtet sich die Zuständigkeit nach seinem tatsächlichen Aufenthalt. Eine vor der Vollendung des 18. Lebensjahres bereits bestehende Zuständigkeit wird beibehalten, wenn eine Leistung über diesen Zeitpunkt hinaus fortgesetzt wird. 14. Adoptionsvermittlung Die Jugendhilfe als Summe von Hilfe- und Förderungsmaßnahmen innerhalb der Familie zu deren Unterstützung und in Erziehungsfeldern außerhalb von Familie, Schule und Berufsausbildung umfasst auch Tätigkeiten, die im Extremfall darauf abzielen, Kinder endgültig neuen Eltern zuzuordnen. Anders als alle übrigen Aufgaben der Jugendhilfe ist die Adoptionsvermittlung jedoch, wenn sie zum Erfolg führt, mit der Schaffung eines neuen kindschaftsrechtlichen Status verknüpft. Unter Adoptionsvermittlung ist das Zusammenführen von Kindern unter achtzehn Jahren und Personen, die ein Kind annehmen wollen (Adoptionsbewerber), mit dem Ziel der Annahme als Kind. Adoptionsvermittlung ist auch der Nachweis der Gelegenheit, ein Kind anzunehmen oder annehmen zu lassen, und zwar auch dann, wenn das Kind noch nicht geboren oder noch nicht gezeugt ist. Geregelt ist die Adoptionsvermittlung nicht im SGB VIII, sondern im Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern.

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15. Haager Minderjährigenschutzabkommen, Europäisches Fürsorgeabkommen Dem Übereinkommen über die Zuständigkeit und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (Haager Minderjährigenschutzabkommen) kommt im Hinblick auf die steigende Mobilität der Menschen eine immer größere Bedeutung zu. Das Abkommen gilt für alle Minderjährigen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat haben. Auf die Staatsangehörigkeit kommt es nicht an. Es knüpft grundsätzlich am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen an. In dringenden Fällen braucht der Aufenthalt nur ein tatsächlicher zu sein. Bei dem Aufenthalt kommt es nicht auf den formalen Wohnsitz des jungen Menschen an, sondern auf den Schwerpunkt der sozialen, insbesondere familiären Bindungen. Er wird bei der Einreise aus einem anderen Land im Inland bereits dann begründet, wenn aus den Umständen ersichtlich wird, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Zeitdauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig an die Stelle des bisherigen Lebensmittelpunktes treten soll. Im Einzelfall kann bereits mit der Einreise der gewöhnliche Aufenthalt begründet sein, wenn sich nur ein kurzfristiger Verbleib im Inland abzeichnet. Das Europäische Fürsorgeabkommen hat die Gleichbehandlung bei der Gewährung von Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zum Inhalt. Es ist Bestandteil des SGB VIII.

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Einführung in die Gesetzliche Sozialversicherung Gliederung: 1. 2. 3. 4.

Geschichtliche Entwicklung Wesen der Sozialversicherung Gliederung der Sozialversicherung Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger

1. Geschichtliche Entwicklung Die Entwicklung Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat verlangte, insbesondere wegen der wachsenden Anzahl von Industriearbeitern, neue und wirksame Formen sozialer Sicherung. Es dürfte weitgehend der Verdienst des damaligen Reichskanzlers Bismarck gewesen sein, dass in der Kaiserlichen Botschaft von 1881 eine größere Sicherheit für Hilfsbedürftige angekündigt und durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter (1883), das Unfallversicherungsgesetz (1884) und das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversorgung (1889) verwirklicht wurde. Mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 wurden die Krankenversicherung, die Rentenversicherung und die Unfallversicherung systematisiert und zu einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammengefasst. Das Krankenversicherungsrecht der RVO trat 1914 in Kraft. Bis zum Inkrafttreten des Gesundheitsreformgesetzes von 1989 war die RVO die entscheidende Rechtsgrundlage des Krankenversicherungsrechts. Die RVO dehnte die Versicherungspflicht auf Dienstboten, Wanderarbeiter sowie Beschäftigte der Land- und Forstwirtschaft aus. Wie aus dem Ablauf der Gesetzgebungsverfahren ersichtlich, widmete sich die Sozialversicherung in ihren Anfängen ausschließlich dem Schutz der Arbeiter. Für die geringe Anzahl von Angestellten, die leitende Funktionen innehatten und in der Regel durch die Fabrikherren bzw. -besitzer finanziell abgesichert waren (Fabrikbeamte) bestand hierfür keine Notwendigkeit. Erst die mit dem technischen Wandel einhergehende wachsende Zahl der Angestellten, verbunden mit dem gleichzeitigen Verlust finanzieller Privilegien, machte auch für diesen Personenkreis eine soziale Absicherung erforderlich. Mit eigenständigen Trägern (Ersatzkassen, Versicherungsanstalt für Angestellte) wahrte man den „gesellschaftlichen Abstand" zu den Arbeitern. Diese Trägerstrukturen sahen auch günstigere - an das Beamtenrecht angelehnte - Leistungen als vergleichbare Regelungen für Arbeiter vor. Mit der im 19. Jahrhundert etablierten Sozialversicherung wurden auch staatspolitische Ziele verfolgt. Es sollte die Strukturen des von inneren Widersprüchen geschwächten Wilhelminischen Deutschlands (niedriger Lebensstandard der Fabrik- und Landarbeiter, wohl-

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habende Oberschicht, Verbot der Sozialdemokratie, Einfluss des Adels, undemokratische Wahlverfahren, Benachteiligung von Frauen) konsolidieren. Das Recht der Gesetzlichen Sozialversicherung (insbesondere der Renten- und Krankenversicherung) ist in den vergangenen Jahren wiederholt veränderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen angepasst worden. Ermöglichten die Leistungen ursprünglich lediglich die Sicherung des Existenzminimums, ist es heute Ziel der Sozialversicherung, nach dem Eintritt des Versicherungsfalls (Krankheit, Arbeitsunfall, Erwerbsminderung, Alter, Tod) den Versicherten bzw. dessen Hinterbliebenen weiterhin am Lebensstandard der Gesamtbevölkerung partizipieren zu lassen. Rentenversicherung: Die Tabelle „Entwicklung der Ausgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und des Bruttoinlandprodukts (BIP) ab 1970" im Abschnitt „Gesetzliche Rentenversicherung" dieses Leitfadens zeigt eine deutlich über dem BIP liegende Entwicklung der Ausgaben der GRV. Insbesondere die sich abzeichnende demografische Entwicklung machte eine Anpassung der Rentenausgaben an die Steigerung des BIP erforderlich. In Kenntnis dieser Zusammenhänge hat der Gesetzgeber beispielsweise einzelne nicht mit Beiträgen belegte Zeiten aus der Berechnung der Höhe der Rente herausgenommen40. Die Gesetzliche Rentenversicherung hat in den Rentenreformgesetzen von 1992 und 1999 ihre derzeitige Ausbildung erfahren. Sie wurde als Buch VI in das Sozialgesetzbuch eingefügt. Krankenversicherung: Rechtsgrundlage der Gesetzlichen Krankenversicherung ist das am 01. Januar 1989 in Kraft getretene Gesundheitsreformgesetz (GRG), das als Buch V Eingang in das Sozialgesetzbuch gefunden hat. Weiterhin gültig bleibt die Reichsversicherungsordnung für wenige Einzelbestimmungen. Ferner sind als Rechtsgrundlage die Satzungen einschließlich der Versicherungsbedingungen und die Krankenordnungen der einzelnen Kassen zu nennen. Unfallversicherung: Rechtsgrundlage der gesetzlichen Unfallversicherung ist das Sozialgesetzbuch VII. Das zum 01.01.2009 in Kraft getretene Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz (UVMG) sieht eine Zusammenlegung der Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften von seither 23 auf nur noch neun vor. Die Unfallkassen sollen auf 17 sinken. Ferner wird ein "Lastenausgleich" eingeführt, der die Belastungen der einzelnen Berufsgenossenschaften durch historisch bedingte Altlasten (z.B. aus dem früheren Kohlebergbau) gleichmäßig auf alle Träger verteilt. Arbeitslosenversicherung: Im Juli 1927 verabschiedete der Reichstag mit überwältigender Mehrheit das Gesetz zur Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung. Die Pflichtversicherung sollte die 40

Das betrifft insbesondere Zeiten eines Studiums.

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Erwerbslosenfürsorge der Gemeinden ablösen. Erstmals besaßen Arbeiter und Angestellte einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung, der gebunden war an Arbeitswilligkeit und unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatten die Beiträge maximal drei Prozent des Lohns - in jeweils gleicher Höhe aufzubringen. Träger der Versicherung war die "Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung". Heute ist die Arbeitslosenversicherung im SGB III geregelt. Pflegeversicherung: Neu im Spektrum der gesetzlichen Sozialversicherung ist das mit Wirkung vom 01. Januar 1995 in Kraft getretene Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz) vom 28. Mai 1994. Es wurde als XI. Buch in das Sozialgesetzbuch eingegliedert. Ergänzende Rechtsgrundlage sind die für alle Zweige der gesetzlichen Sozialversicherung geltenden Vorschriften des I., IV., IX. und X. Buchs des Sozialgesetzbuchs sowie überund zwischenstaatliches Recht (z.B. Sozialversicherungsabkommen und EU-Recht). 2. Wesen der Sozialversicherung Die Sozialversicherung dient nicht ausschließlich - im Vergleich zur Privatversicherung dem Ausgleich der Risiken innerhalb der Versichertengemeinschaft, sondern auch dem sozialen Ausgleich. Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gebietet Regelungen zu schaffen, die darauf ausgerichtet sind, bestehender Not - gleich welcher Bevölkerungsschicht - entgegen zu wirken, einen gerechten Ausgleich zwischen wirtschaftlich Starken und wirtschaftlich Schwachen zu finden und die unterschiedlichen Startbedingungen der einzelnen in der Gesellschaft im Sinne sozialer Gerechtigkeit einander anzugleichen. Das Beitragsprinzip wird durch das Bemühen um eine angemessene Versorgung ergänzt. Neben den Sachleistungen stehen die Lohn- bzw. Gehaltsersatzleistungen im Vordergrund. Sie sollen bei berechtigter Untätigkeit die wirtschaftliche Existenz sicherstellen. Die Sozialversicherung ist grundsätzlich eine öffentlich-rechtliche Zwangsversicherung. Die Versicherungspflichtigen können nicht selbst entscheiden, ob sie versichert sein wollen oder nicht. Auch diejenigen, die sich eine umfassende Versicherung nicht oder kaum leisten können, werden zur Mitgliedschaft und regelmäßig zur Beitragsleistung gezwungen. Dieser Zwang erscheint gerechtfertigt, weil diese Personen in den Wechselfällen des Lebens (Krankheit, Alter, Erwerbsminderung usw.) im besonderen Maße schutzbedürftig sind. Auf die Leistungen der Gesetzlichen Sozialversicherung haben die Versicherten grundsätzlich einen Rechtsanspruch. Die erworbenen Anwartschaften stehen unter der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes. Die Leistungen werden nach Eintritt des Versicherungsfalls oder als Vorsorgemaßnahme gewährt. Als „Versicherungsfall" bezeichnet man die Ereignisse im Leben des Versicherten,

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gegen deren Nachteile er und seine Angehörigen geschützt werden sollen (Alter, Krankheit, Erwerbsminderung, Tod, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit etc.). Die Mittel werden durch Beiträge aufgebracht; in der Rentenversicherung daneben durch Zuschüsse des Bundes aus Steuermitteln. Letztere dienen dem teilweisen Ausgleich versicherungsfremder Leistungen. Bei Pflichtversicherten der Kranken-, Renten-, Arbeitslosenund Pflegeversicherung tragen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge. Die Gesetzliche Unfallversicherung wird ausschließlich durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert. 3. Gliederung der Sozialversicherung Krankenversicherung Träger : Leistungen:

Krankenkassen Gesundheitsvorsorge, Medizinische Rehabilitation, Krankenhilfe, Mutterschaftshilfe

Unfallversicherung Träger: Leistungen:

Berufsgenossenschaften, Unfallkassen Unfallverhütung, nach Arbeitsunfällen Medizinische und Berufliche Rehabilitation, Renten an Verletzte und Hinterbliebene

Rentenversicherung Träger: Leistungen:

Deutsche Rentenversicherung (Bund, Länder) Medizinische und Berufliche Rehabilitation, Renten an Versicherte wegen Erwerbsminderung und Alter, Renten an Hinterbliebene, Erziehungsrenten

Knappschaftliche Versicherung Träger: Leistungen:

Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See Krankenversicherung, Medizinische und Berufliche Rehabilitation, Renten an Versicherte wegen Erwerbsminderung und Alter, Renten an Hinterbliebene

Altershilfe für Landwirte Träger: Leistungen:

Landwirtschaftliche Alterskassen41 Medizinische Rehabilitation, Altersgeld an Versicherte und Witwen/Witwer, Landabgaberente (nur noch für Bestandsfälle)

41

Die landwirtschaftlichen Alterskassen bilden mit den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und den landwirtschaftlichen Kranken- und Pflegekassen die Landwirtschaftliche Sozialversicherung (LSV).

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Arbeitsförderung Träger: Leistungen:

Bundesagentur für Arbeit Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Berufsbildungsförderung, Berufliche Rehabilitation, Verhütung und Beseitigung von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, Schlechtwettergeld, Insolvenzausfallgeld

Pflegeversicherung Träger: Leistungen:

Pflegekassen Sach- und Geldleistungen bei ambulanter und stationärer Pflege, Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen für Pflegepersonen

4. Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger Die Träger der Sozialversicherung sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung wird grundsätzlich durch die Versicherten und die Arbeitgeber ausgeübt. Die Versicherungsträger erfüllen im Rahmen des für sie maßgebenden Rechts ihre Aufgaben in eigener Verantwortung. Die Versicherungsträger dürfen ihre Mittel nicht zweckentfremden und Aufgaben anderer Versicherungsträger und Träger öffentlicher Verwaltungen nur aufgrund eines Gesetzes gegen Kostenerstattung übernehmen. Selbstverwaltungsorgane sind die Vertreterversammlung und der Vorstand. Der Geschäftsführer gehört dem Vorstand mit beratender Stimme an. Die Vertreterversammlung beschließt über Satzungen und autonomes Recht des Versicherungsträgers. Sie wählt den Vorstand. Der Vorstand verwaltet den Versicherungsträger und vertritt ihn gerichtlich und außergerichtlich. Der Vorstand erlässt Richtlinien für die Führung der Verwaltungsgeschäfte, soweit diese dem Geschäftsführer obliegen. Der Geschäftsführer führt hauptamtlich die laufenden Verwaltungsgeschäfte und vertritt insoweit den Versicherungsträger gerichtlich und außergerichtlich. Er haftet für „Getreue Geschäftsführung". Der Geschäftsführer und sein Stellvertreter werden auf Vorschlag des Vorstands von der Vertreterversammlung gewählt. Die Zahl der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane wird durch Satzung entsprechend der Größe des Versicherungsträgers bestimmt. Die Selbstverwaltungsorgane setzen sich grundsätzlich je zur Hälfte aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammen; bei den Ersatzkassen nur aus Vertretern der Versicherten. Die Mitglieder der Vertreterversammlung werden grundsätzlich in Sozialversicherungswahlen ermittelt.

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Schematische Darstellung der Selbstverwaltung

Geschäftsführer (Präsident, Direktor u.ä.) Erledigung der laufenden Verwaltung

Vorstand Vertritt den Sozialversicherungsträger nach außen. Überwacht die Geschäftsführung. Schlägt den Geschäftsführer vor. Setzt sich hälftig aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammen.

Vertreterversammlung Wählt den Vorstand. Beschließt über Satzungen. Setzt sich hälftig aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammen.

Besonderheiten: In der Gesetzlichen Krankenversicherung können Vorstandsmitglieder auch hauptamtlich tätig sein. In Vertreterversammlungen der Ersatzkassen haben nur Arbeitnehmervertreter Sitz und Stimme. Als Selbstverwaltungsorgane der Bundesagentur werden der Verwaltungsrat und die Verwaltungsausschüsse bei den Agenturen für Arbeit gebildet (§ 371 SGB III). Der Vorstand der Agentur für Arbeit führt die Geschäfte (§ 381 Abs. 1 SGB III). Es handelt sich bei der Bundesagentur um eine Form der kollektiven Geschäftsführung. Die Geschäftsführung der Deutschen Rentenversicherung wird durch ein erweitertes Direktorium koordiniert (§ 139 SGB VI).

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Gesetzliche Krankenversicherung – GKV (SGB V) Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 4.

Einführung Aufgaben der GKV Rechtliche Grundlagen Struktur Gliederung Kosten der GKV nach Leistungsbereichen im Mrd. im Jahr 2015 Versicherter Personenkreis Versicherung kraft Gesetzes Freiwillige Versicherung Familienversicherung Leistungen der GKV Allgemeine Vorschriften Krankenhilfe Mutterschaftshilfe Belastungsgrenze

Anhang: Rechengrößen und Werte der SV 2016/2017 1. Einführung 1.1 Aufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung Die Gesetzliche Krankenversicherung dient dem Schutz des Versicherten und seiner Familie. In der Bundesrepublik Deutschland sind knapp 88% der Bevölkerung, das sind ca. 72 Millionen Bürgerinnen und Bürger, in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Hierdurch ist ein umfassender gesundheitlicher Versorgungsschutz für die Bevölkerung gewährleistet. Rund 50% aller Ausgaben des deutschen Gesundheitswesens werden über die Gesetzliche Krankenversicherung finanziert. Die Gesetzliche Krankenversicherung gewährt Leistungen bei folgenden Versicherungsfällen: · Krankheit, ·

Entbindung (einschl. Schwangerschaftsbeschwerden)

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1.2 Rechtliche Grundlagen Rechtsgrundlage für die Gesetzliche Krankenversicherung ist hauptsächlich das am 1. Januar 1989 in Kraft getretene Gesundheitsreformgesetz (GRG), das als Buch V Eingang in das Sozialgesetzbuch gefunden hat. Die danach vorgenommenen Detailänderungen sind zahlreich und kaum noch überschaubar. Der Verfasser beschränkt sich daher auf grundlegende Änderungen. Am 01.01.2009 traten im Rahmen des GKV-WSG Regelungen zum Gesundheitsfonds, einem System zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, in Kraft: Beiträge und Steuergelder werden zentral eingenommen und an die Krankenkassen weitergeleitet. Die bisher unterschiedlichen Beitragssätze der Krankenkassen wurden durch einen einheitlichen Beitragssatz abgelöst, der von der Bundesregierung festgelegt wird. Krankenkassen, die mit den aus dem Gesundheitsfond zugeteilten Mitteln nicht auskommen, können einen zusätzlichen Beitrag von ihren Mitgliedern verlangen. Die im Jahre 2010 gültige Beschränkung der KrankenkassenZusatzbeiträge auf 1% des Bruttoeinkommens, oder höchstens € 37,50 mtl. ist entfallen. Diese Zusatzprämie muss von den Mitgliedern allein getragen werden. Ferner sind Satzungen einschließlich der Versicherungsbedingungen und die Krankenordnungen der einzelnen Kassen als Rechtsgrundlagen zu nennen. Ergänzende Vorschriften sind die für alle Zweige der Gesetzlichen Sozialversicherung geltenden Vorschriften des I., IV., IX. und X. Buchs des Sozialgesetzbuchs sowie über- und zwischenstaatliches Recht (z.B. Sozialversicherungsabkommen und EU-Recht). 1.3 Struktur Die Leistungen und sonstigen Ausgaben der Krankenkassen werden durch Beiträge finanziert. Dazu entrichten die Mitglieder und die Arbeitgeber Beiträge, die sich in der Regel nach den beitragspflichtigen Einnahmen42 der Mitglieder richten. Für versicherte Familienangehörige werden Beiträge nicht erhoben. Die Gesetzliche Krankenversicherung stellt eine Risikogemeinschaft dar, die zu einer Umverteilung innerhalb der Gruppen der Versicherten führt. Diese Umverteilung hat wesentlich versicherungsmäßigen Charakter, indem sie einen Ausgleich zwischen guten und schlechten Risiken bewirkt, ist aber auch sozialer Art. Die Umverteilung besteht im Wesentlichen darin, dass 42

Vermögenserträge finden bei der Bemessung der beitragspflichtigen Einnahmen keine Berücksichtigung.

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·

alle Versicherte Beiträge entsprechend ihrem (Arbeits-)Verdienst zahlen, die Leistungen jedoch grundsätzlich für alle gleich sind,

·

die Unverheirateten und Kinderlosen zu den Kosten der übrigen Versicherten beitragen und

·

die Gesünderen die Kosten mittragen, die die Krankheitsanfälligeren verursachen. Da die Krankheiten mit zunehmendem Alter an Zahl und Schwere im Durchschnitt zunehmen, findet auch ein Ausgleich zwischen Jüngeren und Älteren statt.

Wirkungsunterschiede zwischen einer Privaten und einer Gesetzlichen Krankenversicherung: Beitragshöhe in € 450

Beiträge für eine private Krankenversicherung bei unverändertem Tarif

400 350 300 250 200

Beiträge der gesetzl. KV

150 100

Krankenvers. d. Rentner

150 25 30 Alter in Jahren

35

40

45

50

55

60

65

70

Die Gesetzlichen Krankenkassen sind gemeinnützig. Sie dürfen keine Gewinne erzielen. Sie sollen eine Rücklage bilden. Die Gesetzlichen Krankenkassen sind öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften. Im Rahmen des gesetzlich verankerten Satzungsrechts beschließen die zuständigen Organe auch über bestimmte Mehrleistungen.

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1.4 Gliederung Die Gesetzliche Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland ist stark gegliedert. Die Krankenversicherung wird durchgeführt von ca. 132 organisatorisch und finanziell unabhängigen Versicherungsträgern43. Sie lassen sich in nachstehenden Kassengruppen zusammenfassen: Gesetzliche Krankenkassen

RVO oder Pflichtkassen (Orts-, Betriebs- u. Innungskrankenkassen)

Ersatzkassen (z.B. BEK, DAK, KKH)

Sonstige (Seekasse, Knappschaft

43

Die Anzahl der gesetzlichen Krankenkassen ist kontinuierlich rückläufig. Ursächlich sind die schwierige finanzielle Situation und die angestrebte Vermeidung von Zusatzbeiträgen. In diesem Zusammenhang gibt es Zusammenschlüsse zwischen unterschiedlichen Krankenkassengruppen, z.B. zwischen Betriebs- und Ersatzkassen.

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1.5 Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung nach Leistungsbereichen in Mrd. im Jahr 2015

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2. Versicherter Personenkreis 2.1 Versicherung kraft Gesetzes 2.1.1 Versicherungspflichtiger Personenkreis Versicherungspflichtig sind: ·

Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind

·

Leistungsempfänger nach dem SGB III (Bezieher von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld) und nach dem SGB II (Bezieher von Arbeitslosengeld II)

·

Landwirte, ihre mitarbeitenden Familienangehörigen und Altenteiler nach Maßgabe des Zweiten Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte

·

Künstler und Publizisten nach näherer Bestimmung des Künstlersozialversicherungsgesetzes

·

Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden sollen

·

Teilnehmer an berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation

·

Behinderte Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen oder in Blindenwerkstätten

·

Behinderte Menschen, die in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbringen, die einem Fünftel der Leistung eines voll erwerbstätigen Beschäftigten in gleichartiger Beschäftigung entspricht

·

Studenten bis zum Abschluss des vierzehnten Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des dreißigsten Lebensjahres

·

Praktikanten

·

Rentner und Rentenantragsteller, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens der Gesetzlichen Krankenversicherung angehört haben

·

Flüchtlinge, Vertriebene und Verfolgte, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der GRV erfüllen und diese Renten beantragt haben und ihren Wohnsitz innerhalb der letzten 10 Jahre vor Stellung des Rentenantrags in das In-

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land verlegt haben ·

Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren1

2.1.2 Versicherungsfreier Personenkreis Versicherungsfrei sind: ·

Arbeiter und Angestellte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die Versicherungspflichtgrenze übersteigt2

·

nicht-deutsche Besatzungsmitglieder deutscher Seeschiffe, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz haben

·

Beamte3, Richter, Soldaten auf Zeit, Geistliche und sonstige Personen, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe oder Heilfürsorge haben

·

Studierende, die während ihres Studiums gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind

·

Satzungsmäßige Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen und ähnliche Personen, die nicht mehr als freien Unterhalt oder ein geringes Entgelt beziehen, das nur zur Beschaffung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse an Wohnung, Verpflegung, Kleidung und dergleichen ausreicht

·

Personen, die nach dem Krankheitsfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften bei Krankheit geschützt sind

Nicht versicherungspflichtig sind Beschäftigungen, die innerhalb eines Jahres seit ihrem Beginn auf längstens zwei Monate oder fünfzig Arbeitstage nach ihrer Eigenart begrenzt zu sein pflegen oder im Voraus vertraglich begrenzt sind. Sonderregelungen gelten für "Mini-Jobs" bis € 450,-. Der Arbeitnehmer entrichtet keine Beiträge. Der Arbeitgeber pauschal 30% (15% RV, 13% KV, 2% Pauschalsteuer). Bei Mini-Jobs in Privathaushalten hat der Arbeitgeber 5% Krankenversicherung, 5% Ren1

Gilt nach § 5 Abs. 8 a SGB V nicht für Empfänger laufender Leistungen nach dem SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz 2 2017 = € 57.600 jährlich; € 4.800 mtl. 3 Hierunter fallen auch Lehrer, die an privaten genehmigten Ersatzschulen hauptamtlich beschäftigt sind, sowie Geistliche der als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannten Religionsgemeinschaften, wenn sie nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen bei Krankheit Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge und auf Beihilfe haben.

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tenversicherung und 2% Lohnsteuer zu entrichten. Der Arbeitgeber kann 10% seiner Aufwendungen steuerlich geltend machen – maximal jedoch € 510,- jährlich. Ferner gibt es Mini-Jobs in der Gleitzone von € 400,01 bis € 800,-. Sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber entrichten Beiträge nach einer besonderen Berechnungsgrundlage bzw. aus dem tatsächlichen Arbeitsentgelt. Werden mehrere Mini-Jobs nebeneinander ausgeübt, sind diese zur Beurteilung, ob die Geringfügigkeitsgrenze noch nicht erreicht ist, zusammenzurechnen. Dies gilt auch für die Addition mit einer Hauptbeschäftigung. Ausnahme hier: Wird nur eine geringfügige Beschäftigung neben einer Hauptbeschäftigung ausgeübt, erfolgt keine Addition. 2.1.3 Befreiung von der Versicherungspflicht § 8 SGB V sieht die Möglichkeit der Befreiung von der Versicherungspflicht vor, wenn eine Versicherungspflicht begründet wird. Beispiele: ·

Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze

·

Bezug von Arbeitslosengeld oder Unterhaltsgeld, wenn in den letzten fünf Jahren ein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz nicht bestand und von dem privaten Krankenversicherungsunternehmen Vertragsleistungen bezogen werden, die der Art und dem Umfang der GKV entsprechen

·

Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung während der Elternzeit

2.1.4 Das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis Bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung entsteht ein öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis mit Beitragspflicht. Das Versichertsein in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist grundsätzlich nicht von einer Beitragsleistung abhängig. Das Beschäftigungsverhältnis setzt voraus, dass der Arbeitnehmer ·

gegen Entgelt arbeitet (Ausnahme: Auszubildende),

·

rechtlich und tatsächlich dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und

·

vom Arbeitgeber abhängig ist.

Die persönliche Abhängigkeit besteht im Wesentlichen darin, dass der Arbeitnehmer in

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den Betrieb eingegliedert ist und im Allgemeinen bei Ausführung seiner Arbeit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers bezüglich Zeit, Dauer, Ort und Art der Tätigkeit unterworfen ist. Keine Versicherungspflicht besteht bei Verstoß gegen die guten Sitten4 oder die Strafgesetze. Die Beschäftigung von Ehegatten als Arbeitnehmer durch den anderen Ehegatten ist versicherungspflichtig; auch in der Rentenversicherung. Die Familienangehörigen land- und forstwirtschaftlicher Unternehmer sind auch ohne Vorliegen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses versicherungspflichtig. Beginn, Unterbrechung und Ende des Beschäftigungsverhältnisses und der Mitgliedschaft fallen nicht immer zeitlich zusammen. Das Beschäftigungsverhältnis beginnt regelmäßig mit dem Beginn der tatsächlichen Arbeitsleistung, evtl. schon mit dem Antritt des Weges zur Arbeit oder bei Verhinderung am ersten Tag durch Krankheit oder mit Beginn eines vorgeschalteten kurzen unbezahlten Urlaubs. Eine bloße Scheinbeschäftigung schließt eine versicherungspflichtige Beschäftigung aus. 2.2 Freiwillige Versicherung Der Versicherung können beitreten: ·

Personen, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens vierundzwanzig Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren

·

Personen, für die ein Anspruch auf Familienkrankenhilfe nicht (mehr) besteht

·

Schwerbehinderte Menschen nach dem Schwerbehindertengesetz, wenn sie, ein Elternteil oder ihr Ehegatte in den letzten fünf Jahren vor dem Beitritt mindestens drei Jahre versichert waren, es sei denn, sie konnten wegen ihrer Behinderung diese Voraussetzung nicht erfüllen; die Satzung kann das Recht zum Beitritt von einer Altersgrenze abhängig machen

·

Arbeitnehmer, deren Mitgliedschaft durch Beschäftigung im Ausland endete, wenn sie innerhalb von zwei Monaten nach Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland wieder eine Beschäftigung aufnehmen

4

Die Prostitution ist nach dem ProstG nicht sittenwidrig; eine Versicherung in der gesetzlichen Sozialversicherung ist möglich (§ 3 ProstG: „Bei Prostituierten steht das eingeschränkte Weisungsrecht im Rahmen einer abhängigen Tätigkeit der Annahme einer Beschäftigung im Sinne des Sozialversicherungsrechts nicht entgegen"). Von dieser Möglichkeit wird jedoch nicht in nennenswertem Umfang Gebrauch gemacht.

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·

Rentner, die die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung für diesen Personenkreis nicht erfüllen

·

Spätaussiedler, ihre Ehegatten und ihre Abkömmlinge, die bis zum Verlassen ihres früheren Versicherungsbereichs bei einem dortigen Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert waren

Der Beitritt zur Krankenkasse ist innerhalb von drei Monaten anzuzeigen. 2.3 Familienversicherung Der Ehegatte, der Lebenspartner und die Kinder von Mitgliedern sind familienversichert, wenn sie ·

ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, der EU oder in Staaten mit Sozialversicherungsabkommen haben,

·

nicht pflicht- oder freiwillig versichert oder versicherungsfrei sind,

·

nicht hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind und

·

kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr (Bezugsgröße) 5 überschreitet; bei Renten wird der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallende Teil berücksichtigt; für geringfügig Beschäftigte beträgt das zulässige Gesamteinkommen € 450.

Bei Kindern müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Sie sind versichert ·

bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres,

·

bis zur Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahres, wenn sie nicht erwerbstätig sind,

·

bis zur Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres, wenn sie sich in Schuloder Berufsausbildung befinden oder ein freiwilliges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Jugendfreiwilligendienstgesetzes oder Bundesfreiwilligendienst nach dem Bundesfreiwilligendienstgesetz leisten; wird die Schuloder Berufsausbildung durch Erfüllung einer gesetzlichen Dienstpflicht des Kindes unterbrochen oder verzögert, besteht die Versicherung auch für einen der Dauer dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das fünfundzwanzigste Lebensjahr hinaus,

5

mtl. Bezugsgröße 2017 = € 2.975; hiervon ein Siebtel = € 425, vorvergangenes Kalenderjahr (2015) = € 2.835; hiervon ein Siebtel = € 405

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·

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ohne Altersgrenze, wenn sie wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind familienversichert war.

Kinder sind nicht versichert, wenn der mit den Kindern verwandte Ehegatte des Mitglieds nicht Mitglied einer Gesetzlichen Krankenkasse ist und sein Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze6 übersteigt und regelmäßig höher als das Gesamteinkommen des Mitglieds ist; bei Renten wird der Zahlbetrag berücksichtigt. Einbezogen in die Familienversicherung sind auch Stiefkinder, Enkel und Pflegekinder, die das Mitglied überwiegend unterhält. Adoptivkinder gelten als leibliche Kinder. 3. Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung 3.1 Allgemeine Vorschriften 3.1.1 Anspruchsvoraussetzungen Leistungen werden gewährt ·

bei Eintritt des Versicherungsfalls (Krankheit, Entbindung),

·

bei Mitgliedschaft,

·

wenn ein Antrag vorliegt und

·

wenn bei einzelnen Leistungen weitere Bedingungen erfüllt sind (z.B. Arbeitsunfähigkeit für den Bezug von Krankengeld).

Der Anspruch auf Leistungen ruht, solange der/die Versicherte ·

sich außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufhält (Aufenthalte in einem Mitgliedsstaat der EU oder einem Staat, mit dem ein Sozialversicherungsabkommen besteht, sind wie Aufenthalte in der Bundesrepublik Deutschland zu behandeln),

·

Anspruch nach dienstrechtlichen Vorschriften auf Heilfürsorge hat oder als Entwicklungshelfer Entwicklungsdienst leistet oder

·

sich in Untersuchungs- oder Strafhaft befindet, soweit ein Anspruch auf Gesund-

6

Jahresarbeitsentgeltgrenze = Versicherungspflichtgrenze 2017 = € 57.600; ein Zwölftel = € 4.800 mtl.

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heitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz besteht. Der Anspruch auf Leistungen ruht, wenn Mitglieder mit einem Betrag in Höhe von Beitragsanteilen für zwei Monate im Rückstand sind und trotz Mahnung nicht zahlen; ausgenommen sind Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten, zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. 3.1.2 Wirtschaftlichkeitsgebot Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag. 3.2 Krankenhilfe 3.2.1 Leistungen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten 3.2.1.1 Allgemeines Die Krankenkassen arbeiten mit den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung bei arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zusammen. Der früher sehr umfängliche Leistungskatalog, der insbesondere die Aufklärung beinhaltete, ist entfallen. 3.2.1.2 Zahnbehandlung Die Krankenkassen haben im Zusammenwirken mit den Zahnärzten und den Ländern gemeinsam und einheitliche Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen der Versicherten, die das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu fördern und sich an den Kosten der Durchführung zu beteiligen. In Schulen und Behinderteneinrichtungen, in denen das durchschnittliche Kariesrisiko der Schüler überproportional hoch ist, werden die Maßnahmen bis zum 16. Lebensjahr durchgeführt. Versicherte, die das sechste, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, können sich zur Verhütung von Zahnerkrankungen einmal in jedem Kalenderhalbjahr zahnärztlich untersuchen lassen.

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3.2.1.3 Medizinische Vorsorgeleistungen Versicherte haben Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmittel, wenn diese notwendig sind, ·

eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen,

·

einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken,

·

Krankheiten zu verhüten oder deren Verschlimmerung zu vermeiden oder

·

Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.

3.2.1.4 Vorsorgekuren für Mütter/Väter Die Krankenkasse hat aus medizinischen Gründen erforderliche Maßnahmen in Form einer Vorsorgekur in einer Einrichtung des Müttergenesungswerks oder einer gleichartigen Einrichtung zu erbringen. Der Kostenbeitrag der/des Versicherten beträgt € 10,- tgl. 3.2.1.5 Empfängnisverhütung Versicherte haben Anspruch auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung. Zur ärztlichen Beratung gehören auch die erforderliche Untersuchung und die Verordnung von empfängnisregelnden Mitteln. Versicherte bis zum vollendeten 20. Lebensjahr haben Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln, soweit sie ärztlich verordnet werden. 3.2.1.6 Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation Versicherte haben Anspruch auf Leistungen bei einer durch Krankheit erforderlichen Sterilisation und bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt. Der Anspruch auf Leistungen bei einem nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch besteht nur, wenn dieser in einer Einrichtung mit der notwendigen Nachbehandlung vorgenommen wird (§ 13 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetzes – SchKG).

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3.2.2 Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten Versicherte, die das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet haben, besitzen jedes zweite Jahr einen Anspruch auf eine ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, insbesondere zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie der Zuckerkrankheit. Versicherte haben höchstens einmal jährlich Anspruch auf eine Untersuchung zur Früherkennung von Krebserkrankungen, Frauen frühestens vom Beginn des zwanzigsten Lebensjahres an, Männer frühestens vom Beginn des fünfundvierzigsten Lebensjahres an. Voraussetzung für eine Untersuchung ist, dass ·

es sich um Krankheiten handelt, die wirksam behandelt werden können,

·

das Vor- oder Frühstadium dieser Krankheiten durch diagnostische Maßnahmen erfassbar ist,

·

die Krankheitszeichen medizinisch-technisch genügend eindeutig zu erfassen sind und

·

genügend Ärzte und Einrichtungen vorhanden sind, um die aufgefundenen Verdachtsfälle eingehend zu diagnostizieren und zu behandeln.

Versicherte Kinder haben bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres Anspruch auf Untersuchungen sowie nach Vollendung des zehnten Lebensjahres auf eine Untersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche oder geistige Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden. Zu den Früherkennungsuntersuchungen auf Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten gehören insbesondere die Inspektion der Mundhöhle, die Einschätzung oder Bestimmung des Kariesrisikos, der Ernährungs- und Mundhygieneberatung sowie Maßnahmen zur Schmelzhärtung der Zähne und zur Keimzahlsenkung. 3.2.3 Leistungen bei Krankheit 3.2.3.1 Definition der Krankheit Krankheit im Sinne der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nach der Rechtsprechung ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Die Ursache der Krankheit ist unbeachtlich. Behandlungsbedürftigkeit und damit das Vorliegen einer Krankheit ist zu bejahen, wenn die Körperfunktion wesentlich gebessert oder eine Verschlimmerung verhindert werden kann oder ärztlich Beschwerden gelindert werden können oder wenn bei angeborenen

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Leiden durch ärztliche Behandlung im Frühstadium eine wesentliche Besserung oder gar Beseitigung des Leidens erreicht werden kann. Dauernde fehlerhafte Zustände des Körpers oder Geistes, die einer Behandlung nicht zugänglich sind, stellen keine Krankheiten, sondern Gebrechen dar. Letztere fallen in die sachliche Zuständigkeit der Gesetzlichen Pflegeversicherung. 3.2.3.2 Krankenbehandlung Die Krankenbehandlung umfasst: ·

Ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung

·

Zahnärztliche Behandlung einschließlich Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen

·

Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln

·

Häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe

·

Krankenhausbehandlung und

·

Leistungen zur Medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen

3.2.3.3 Ärztliche und zahnärztliche Behandlung Die ärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist. Zur ärztlichen Behandlung gehört auch die Hilfeleistung anderer Personen, die von dem Arzt angeordnet und von ihm zu verantworten ist. Die zahnärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist; sie umfasst auch konservierend-chirurgische Leistungen und Röntgenleistungen, die im Zusammenhang mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen erbracht werden. 3.2.3.4 Kostenerstattung bei kieferorthopädischer Behandlung Versicherten haben 20 v.H. der Kosten der im Rahmen der kassenzahnärztlichen Versorgung durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Bei-

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ßen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht, selbst zu tragen. Befinden sich mindestens zwei versicherte Kinder, die bei Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und mit ihren Erziehungsberechtigten in einem gemeinsamen Haushalt leben, in kieferorthopädischer Behandlung, beträgt der Anteil für das zweite und jedes weitere Kind 10 vom Hundert. Die Krankenkasse erstattet den Versicherten ihren Kostenanteil, wenn die Behandlung in dem durch den Behandlungsplan bestimmten medizinisch erforderlichen Umfang abgeschlossen worden ist. 3.2.3.5 Kostenerstattung bei Zahnersatz Die Versicherten haben einen Anspruch auf befundbezogene Festzuschüsse bei einer medizinisch notwendigen Versorgung mit Zahnersatz einschließlich Zahnkronen und Suprakonstruktionen (zahnärztliche und zahntechnische Leistungen). Der Anteil der Versicherten beträgt 50 v. H. der Kosten. Für eigene Bemühungen zur Gesunderhaltung der Zähne erhöhen sich die Festzuschüsse um 20 vom Hundert. Die Festzuschüsse erhöhen sich um weitere 10%, wenn der Versicherte seine Zähne regelmäßig gepflegt und sich hat regelmäßig untersuchen lassen. Die Krankenkasse hat bei der Versorgung mit Zahnersatz zusätzlich zu den Festzuschüssen einen Betrag in jeweils gleicher Höhe, höchstens jedoch in Höhe der tatsächlichen Kosten vorzusehen, wenn Versicherte ansonsten unzumutbar belastet würden. Eine unzumutbare Belastung liegt vor, wenn ·

die monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt des Versicherten 40 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV nicht überschreiten7,

·

der Versicherte HLU oder Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII, Arbeitslosengeld II oder Ausbildungsförderung erhält oder

·

die Kosten einer Heimunterbringung vom Träger der Sozialhilfe getragen werden.

Ferner gibt es eine weitere Härteregelung in § 55 Abs. 3 SGB V für Versicherte, die weder Hilfeempfänger noch minderbemittelt sind, im Zusammenhang mit Zahnersatz jedoch sehr hohe Aufwendungen entstehen. 3.2.3.6 Arznei- und Verbandmittel, Heilmittel und Hilfsmittel Versicherte haben grundsätzlich Anspruch auf Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, Heilmitteln und Hilfsmitteln. Ausgeschlossen von der Versorgung sind Arzneimittel, die 7

Mtl. Bezugsgröße 2017 = € 2.835; hiervon 40% = € 1.134

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nicht verschreibungspflichtig sind (davon ausgenommen sind Verordnungen für Kinder bis zum 12. Lebensjahr und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum 18. Lebensjahr). Weitere Ausnahmen gelten für schwerwiegende Erkrankungen, bei denen diese Arzneimittel zum Therapiestandard gehören. Arzneimittel, die überwiegend der Verbesserung der privaten Lebensführung dienen, wie zum Beispiel zur Nikotinentwöhnung, Gewichtsregulierung oder Potenzmittel (Viagra), werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen. Soweit für ein Arznei- oder Verbandmittel ein Festbetrag festgesetzt ist, trägt die Krankenkasse die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages. Für andere Arznei- oder Verbandmittel trägt die Krankenkasse die vollen Kosten abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung. Diese beträgt 10% des Abgabepreises, mindestens aber € 5,- und höchstens € 10,-, jedoch nicht mehr als die Kosten des Mittels. Die Zuzahlung bei Heilmitteln beträgt für jede Anwendung 10% des Abgabepreises. Dazu werden € 10,- je Verordnung gezahlt. Bei den Sehhilfen (Brillen) ist der Anspruch generell auf Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres und auf schwer sehbeeinträchtigte Versicherte begrenzt. Die Sehbeeinträchtigung muss dabei bei beiden Augen gegeben sein. 3.2.3.7 Häusliche Krankenpflege Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird. Die häusliche Krankenpflege umfasst die im Einzelfall erforderliche Grund- und Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung. Der Anspruch besteht bis zu vier Wochen je Krankheitsfall. In begründeten Ausnahmefällen kann die Krankenkasse die häusliche Krankenpflege für einen längeren Zeitraum bewilligen, wenn der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) das Vorliegen der Gründe festgestellt hat. Versicherte erhalten als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Der Anspruch besteht auch für solche Versicherte in zugelassenen Pflegeeinrichtungen, die auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, einen besonders hohen Bedarf an Medizinischer Behandlungspflege haben. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Kann die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen oder besteht Grund, davon abzusehen, sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft

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in angemessener Höhe zu erstatten. Versicherte, die häusliche Krankenpflege nutzen, zahlen je Kalendertag der Leistungsinanspruchnahme eine Zuzahlung von mindestens 10% der Kosten sowie € 10,- je Verordnung, begrenzt auf die ersten 28 Kalendertage der Leistungsinanspruchnahme je Kalenderjahr. 3.2.3.8 Haushaltshilfe Versicherte erhalten Haushaltshilfe, wenn ihnen wegen Krankenhausbehandlung, Kurverschickung o.ä. die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist. Voraussetzung ist ferner, dass im Haushalt ein Kind lebt, das bei Beginn der Haushaltshilfe das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder das behindert und auf Hilfe angewiesen ist. Die Satzung der Gesetzlichen Krankenkasse kann bestimmen, dass die Krankenkasse in weiteren Fällen Haushaltshilfe erbringt, wenn Versicherten wegen Krankheit die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist. Der Anspruch auf Haushaltshilfe besteht nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Haushalt nicht weiterführen kann. Kann die Krankenkasse keine Haushaltshilfe stellen oder besteht Grund, davon abzusehen, sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Haushaltshilfe in angemessener Höhe zu erstatten. Für Verwandte und Verschwägerte bis zum zweiten Grad werden keine Kosten erstattet; die Gesetzliche Krankenkasse kann jedoch die erforderlichen Fahrtkosten und den Verdienstausfall erstatten, wenn die Erstattung in einem angemessenen Verhältnis zu den sonst für eine Ersatzkraft anfallenden Kosten steht. Versicherte, die eine Haushaltshilfe benötigen, leisten je Kalendertag der Leistungsinanspruchnahme eine Zuzahlung von 10% des Aufwandes, mindestens € 5,- und höchstens € 10,-. 3.2.3.9 Krankenhausbehandlung Versicherte haben Anspruch auf Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Die Krankenhausbehandlung wird vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht. Sie umfasst im Rahmen des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung.

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Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, zahlen vom Beginn des Krankenhausaufenthalts an innerhalb eines Kalenderjahres für längstens 28 Tage € 10,- je Kalendertag an das Krankenhaus. 3.2.3.10 Medizinische Rehabilitationsmaßnahmen Reicht bei Versicherten eine ambulante Krankenbehandlung einschließlich ambulanter Rehabilitationsmaßnahmen nicht aus, kann die Krankenkasse aus medizinischen Gründen erforderliche Maßnahmen in Form einer ambulanten Rehabilitationskur erbringen. Reichen ambulante Maßnahmen nicht aus, kann die Krankenkasse stationäre Behandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einer anerkannten Rehabilitationseinrichtung gewähren. Die Krankenkasse bestimmt nach den medizinischen Erfordernissen des Einzelfalls Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Leistungen der GKV sind im Verhältnis zu den Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Unfallversicherung nachrangig. Bei Inanspruchnahme einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme beträgt die Zuzahlung ebenfalls täglich € 10,- für maximal 28 Tage je Kalenderjahr. Bereits geleistete Krankenhauszuzahlungen werden angerechnet. 3.2.3.11 Müttergenesungskuren Die gesetzlichen Krankenkassen erbringen aus medizinischen Gründen erforderliche Maßnahmen in Form von Rehabilitationskuren in Einrichtungen des Müttergenesungswerks oder gleichartigen Einrichtungen. Es handelt sich um eine Pflichtleistung dem Grunde nach. 3.2.3.12 Belastungserprobung und Arbeitstherapie, ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, stufenweise Wiedereingliederung Versicherte haben Anspruch auf Belastungserprobung und Arbeitstherapie, wenn nach den für andere Träger der Sozialversicherung geltenden Vorschriften solche Leistungen nicht erbracht werden können. Hierzu zählen auch Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung. Der behandelnde Arzt soll auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeiten angeben und dabei in geeigneten Fällen die Stellungnahme des Betriebsarztes oder mit Zustimmung der Krankenkasse die Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einholen.

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Die Leistungen der Medizinischen Rehabilitation werden ergänzt durch ·

den ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung, einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen (§ 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX),

·

ärztlich verordnetes Funktionstraining in Gruppen unter fachkundiger Anleitung und Überwachung,

·

Leistungen zur Rehabilitation, die unter Berücksichtigung von Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um das Ziel der Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern, aber nicht zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder den Leistungen zur allgemeinen sozialen Eingliederung gehören,

·

wirksame und effiziente Patientenschulungsmaßnahmen für chronisch Kranke; Angehörige und ständige Betreuungspersonen sind einzubeziehen, wenn dies aus medizinischen Gründen erforderlich ist,

·

Übernahme von Reisekosten und

·

die Übernahme von Aufwendungen für eine Betriebs- oder Haushaltshilfe und von Kinderbetreuungskosten.

3.2.3.13 Krankengeld 3.2.3.13.1 Allgemeines Versicherte haben Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus oder in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Krankengeld ist eine Lohnersatzleistung. Der Anspruch auf Leistungen nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz ist vorrangig. Der Anspruch auf Krankengeld entsteht bei Krankenhausbehandlung oder Behandlung in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung von ihrem Beginn an, im Übrigen von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit folgt. Durch Abgabe einer Wahlerklärung können hauptberuflich selbstständige Erwerbstätige einen Versicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld erwerben. Der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts bei Arbeitsunfähigkeit richtet sich nach arbeitsrechtlichen Vorschriften.

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Der Anspruch auf Krankengeld ruht im Falle des Bezugs von Arbeitseinkommen, Mutterschaftsgeld, Versorgungskrankengeld, Verletztengeld, Lohnersatzleistungen nach dem SGB III sowie während der Elternzeit nach dem Elterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG). Ist die Erwerbsfähigkeit von Versicherten nach ärztlichem Gutachten gefährdet oder gemindert, kann ihnen die Krankenkasse eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation zu stellen haben. 3.2.3.13.2 Krankengeld bei Erkrankung des Kindes Versicherte haben Anspruch auf Krankengeld, wenn es nach ärztlichem Zeugnis erforderlich ist, dass sie zur Beaufsichtigung, Betreuung oder Pflege ihres erkrankten und versicherten Kindes der Arbeit fernbleiben, eine andere in ihrem Haushalt lebende Person das Kind nicht beaufsichtigen, betreuen oder pflegen kann und das Kind das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder behindert und auf Hilfe angewiesen ist. Anspruch auf Krankengeld besteht in jedem Kalenderjahr für jedes Kind längstens für 10, für Alleinerziehende für 20 Arbeitstage. Der Gesamtanspruch ist auf 25 Arbeitstage, für Alleinerziehende auf 50 Arbeitstage im Kalenderjahr begrenzt. Bei zum Tode des Kindes führenden Erkrankungen besteht ein Anspruch auf Krankengeld ohne Befristung. 3.2.3.13.3 Höhe, Berechnung und Dauer des Krankengeldes Das Krankengeld beträgt 70 v. H. des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt (Regelentgelt). Das aus dem Arbeitsentgelt berechnete Krankengeld darf 90 v. H. des Nettoarbeitsentgelts nicht übersteigen. Das Krankengeld wird für Kalendertage gezahlt. Ist es für einen ganzen Kalendermonat zu zahlen, ist dieser mit dreißig Tagen anzusetzen. Versicherte erhalten Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung. Für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für längstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren gerechnet vom Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an. Tritt während der Arbeitsunfähigkeit eine weitere Krankheit hinzu, wird die Leistungsdauer nicht verlängert. Ein Anspruch wegen derselben Krankheit lebt nach Ablauf des Dreijahreszeitraums auf, wenn bei Eintritt der erneuten Arbeitsunfähigkeit der Versicherte mit Anspruch auf Krankengeld versichert ist und in der Zwischenzeit mindestens sechs Monate nicht wegen dieser Krankheit arbeitsunfähig war, Erwerbstätigkeit bestand oder er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand.

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Sollte nach Ablauf von 78 Wochen noch immer Arbeitsunfähigkeit vorliegen, besteht Anspruch auf Arbeitslosengeld gem. § 125 SGB III (Minderung der Leistungsfähigkeit). 3.3 Mutterschaftshilfe 3.3.1 Rechtsgrundlage, Leistungen Rechtsgrundlage ist vorrangig das SGB V und bei fehlendem Versicherungsschutz in der Gesetzlichen Krankenversicherung das Mutterschutzgesetz. Die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft umfassen: ·

ärztliche Betreuung und Hebammenhilfe

·

Versorgung mit Arznei-, Verband- und Heilmitteln

·

stationäre Entbindung

·

häusliche Pflege

·

Haushaltshilfe

·

Mutterschaftsgeld

3.3.2 Ambulante und stationäre Leistungen Die Versicherte hat während der Schwangerschaft, bei und nach der Entbindung Anspruch auf ärztliche Betreuung einschließlich der Untersuchungen zur Feststellung der Schwangerschaft und zur Schwangerenvorsorge sowie auf Hebammenhilfe. Bei Schwangerschaftsbeschwerden und im Zusammenhang mit der Entbindung erhält die Versicherte Arznei-, Verband und Heilmittel. Zuzahlungen durch die Versicherte sind nicht zu leisten. Die Versicherte hat Anspruch auf häusliche Pflege, soweit diese wegen Schwangerschaft oder Entbindung erforderlich ist. Auch Hilfe zur Weiterführung des Haushalts wird gewährt. Im Falle einer stationären Entbindung hat die Versicherte für sich und das Neugeborene Anspruch auf Unterkunft, Pflege und Verpflegung für die Zeit nach der Entbindung; jedoch für längstens sechs Tage.

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3.3.3 Mutterschaftsgeld8 Weibliche Versicherte, die bei Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Krankengeld haben oder denen wegen der Schutzfristen des Mutterschutzgesetzes kein Arbeitsentgelt gezahlt wird, haben Anspruch auf Mutterschaftsgeld. Das Mutterschaftsgeld der gesetzlichen Krankenkasse beträgt kalendertäglich höchstens € 13. Der Differenzbetrag zum Nettogehalt wird vom Arbeitgeber aufgestockt. Besteht ein Arbeitsverhältnis nicht (z.B. Bezug von SGB III-Leistungen), wird Mutterschaftsgeld in Höhe des Krankengeldes gewährt. Besteht kein Versicherungsschutz in einer Gesetzlichen Krankenkasse oder ist die Gebärende familienversichert, wird auf Antrag eine Mutterschaftsbeihilfe in Höhe von € 210 zu Lasten des Bundes vom Bundesversicherungsamt ausgezahlt. Das Mutterschaftsgeld wird für die letzten sechs Wochen vor der Entbindung, den Entbindungstag und für die ersten acht Wochen, bei Mehrlings- und Frühgeburten für die ersten zwölf Wochen nach der Entbindung gezahlt. Irrt sich der Arzt oder die Hebamme über den Zeitpunkt der Entbindung, verlängert sich die Bezugsdauer entsprechend. 4. Belastungsgrenze Versicherte leisten Zuzahlungen jedes Jahr bis zu einer Belastungsgrenze von 2% - bei chronisch Kranken, die wegen derselben schwerwiegenden Erkrankung in Dauerbehandlung sind, 1% - der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Auf Familien wird dabei besonders Rücksicht genommen. So werden Freibeträge für Kinder und Ehepartner bei der Höhe des zu Grunde gelegten Einkommens zusätzlich berücksichtigt. Darüber hinaus gilt: Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr sind grundsätzlich von allen Zuzahlungen befreit. Für Zahnersatz gibt es Sonderregelungen (s. Zahnersatz). Liegt bei einem Versicherten aufgrund diverser Zuzahlungen eine so genannte unzumutbare Belastung vor, so kann er für den Rest des Kalenderjahres von den Eigenbeteiligungen befreit werden. Ob im Einzelfall eine unzumutbare Belastung vorliegt, prüft und bescheinigt die jeweilige Krankenkasse.

8

Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen: Entbindungsgeld und Leistungen bei Sterilisation, die nicht aus medizinischen Gründen geboten sind, werden nicht mehr von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Versicherungsfremde Leistungen wie zum Beispiel Mutterschaftsgeld, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes werden aus Steuermitteln, die dem Staat durch stufenweise Erhöhung der Tabaksteuer zufließen, mitfinanziert.

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Anhang: Rechengrößen und Werte der Sozialversicherung 2017: 1. Bezugsgröße in der Sozialversicherung: Kranken-/Pflegeversicherung

bundesweit € 34.020 p.a.; mtl. € 2.835

Renten-/Arbeitslosenversicherung West:

€ 35.700 jährlich € 2.975 monatlich

Ost:

€ 31.920 jährlich € 2.660 monatlich

2. Beitragsbemessungsgrenzen: a) Rentenversicherung und Arbeitsförderung West:

€ 76.200 € 6.350

jährlich monatlich

Ost:

€ 68.400 jährlich € 5.700 monatlich

Krankenversicherung € 52.200 jährlich € 4.350 monatlich 3. Versicherungspflichtgrenze: für gesetzlich Krankenversicherte:

jährlich € 57.600 mtl. € 4.800

4. Beitragssätze: Rentenversicherung:

18,7%

Krankenversicherung:

14,6% (benötigt die Krankenkasse zusätzliche Mittel, kann sie einen Zusatzbeitrag erheben, dessen Höhe im Ermessen der Krankenkasse liegt. Empfehlung des Gesetzgebers 0,9%. Der Zusatzbeitrag wird allein vom Versicherten getragen.

Arbeitslosenversicherung:

3,0%

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Pflegeversicherung: Zuschlag für Kinderlose über 23 Jahre in der Pflegeversicherung:

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2,35 % 0,25 % (allein vom Versicherten zu tragen)

Aktueller Rentenwert ab 01.07.2016: Alte Bundesländer: € 30,45 Neue Bundesländer: € 28,66 Aktueller Rentenwert ab 01.07.2017: (Modellrechnung der Deutschen Rentenversicherung Bund auf der Grundlage der von der Bundesregierung angenommenen wirtschaftlichen Eckdaten) Alte Bundesländer: € 31,15 Neue Bundesländer: € 29,81

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Gesetzliche Rentenversicherung – GRV (SGB VI) Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Einführung in die GRV Aufgabe der GRV Rechtliche Grundlagen Struktur der GRV Darstellung des Generationenvertrages Gliederung der Versicherungsträger Finanzierung der Aufgaben der GRV Versicherter Personenkreis Überblick Versicherungsfreiheit Befreiung von der Versicherungspflicht Nachversicherung, Versorgungsausgleich und Rentensplitting Freiwillige Versicherung Leistungen der GRV Medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen der Rehabilitation bzw. Teilhabe Renten aus der GRV Krankenversicherung der Rentner Pflegeversicherung für Rentner

1. Einführung in die Gesetzliche Rentenversicherung 1.1 Aufgabe der Gesetzlichen Rentenversicherung Die Gesetzliche Rentenversicherung wurde geschaffen, um insbesondere die Arbeitnehmer gegen Not in bestimmten Wechselfällen des Lebens (Alter, Erwerbsminderung, Tod) wirksam zu schützen.

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1.2 Rechtliche Grundlagen Rechtsgrundlage für die Gesetzliche Rentenversicherung ist das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 92), das als SGB VI in das Sozialgesetzbuch eingefügt wurde, und weitere Änderungsgesetze. Wichtige Rechtsgrundlage ist ferner das Fremdrentengesetz. Zu beachten ist weiterhin das Recht der Europäischen Gemeinschaften (EG) und zwischenstaatliches Recht. Für die Berechnung der Rente gilt der Grundsatz, dass jeder EU/EWR- oder Abkommensstaat die Rente nur aus seinen eigenen Zeiten und nach seinen Rechtsvorschriften zahlt. Eine Zusammenrechnung von Versicherungszeiten erfolgt nur für die Erfüllung der Mindestversicherungszeiten und besondere versicherungsrechtliche Voraussetzungen.

1.3 Struktur der Gesetzlichen Rentenversicherung Die Gesetzliche Rentenversicherung ist eine öffentlich-rechtliche Versicherung mit Zwangscharakter für alle Versicherungspflichtigen. Die Rentenversicherung bewirkt eine Einkommensumverteilung nach sozialen Grundsätzen. Sie ist u.a. dadurch sozial, dass ·

bestimmte beitragslose Zeiten (z.B. Ersatzzeiten und Kindererziehungszeiten) im gleichen Maße wie Beitragszeiten angerechnet werden,

·

die Beiträge von Versicherungspflichtigen nur nach der Höhe des Entgelts bemessen werden, nicht nach dem Familienstand und dem Alter,

·

die Leistungen durch die Zahlung von Hinterbliebenenrente dagegen familiengerecht sind und

·

die Rehabilitations- und Teilhabeleistungen unabhängig von der Beitragshöhe sind.

1.4 Darstellung des Generationenvertrages und Daten der Gesetzlichen Rentenversicherung

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Alterssicherung in vorindustrieller Zeit

arbeitende Generation

Kinder

alte und erwerbsgeminderte Menschen

Erläuterungen: Die unmittelbare Existenz der Gesellschaft ist von der arbeitenden Generation abhängig. Ihr obliegt der Unterhalt der Kinder und die Unterstützung alter und erwerbsgeminderter Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht bzw. nicht mehr voll am Erwerbsprozess teilnehmen können. Die alten und erwerbsgeminderten Menschen1 wohnen noch auf dem Hof und versehen kleinere Arbeiten, wie z.B. Versorgung des Kleinviehs, Betreuung der Enkelkinder, Mithilfe bei der Ernte.

1

Alte, nicht mehr voll im Erwerbsprozess stehende Menschen, die das landwirtschaftliche Anwesen bereits an die Nachkommen übergeben hatten, wurden „Altenteiler" genannt.

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Alterssicherung in industrialisierten Gesellschaften

Staat bzw. Gemeinschaft

Kinder

arbeitende Generation

Rentenversicherung Umlageverfahren

alte und erwerbsgeminderte Menschen

Erläuterungen: Darstellung der Umlagefinanzierung: Die arbeitende Generation kommt in der Regel nicht mehr unmittelbar für die aus dem Erwerbsprozess ausgeschiedenen Menschen auf. Sie entrichten Beiträge in eine Rentenversicherung. Die Beiträge werden sofort in Form von Renten an die nicht mehr im Erwerbsprozess Stehenden ausgezahlt. Ergänzt wird die Rentenfinanzierung durch Steuermittel. Sie dienen der Abdeckung von Versicherungsleistungen, für die keine Beiträge entrichtet worden sind (z.B. Kindererziehungszeiten, Wehr- und Zivildienstzeiten, Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz).

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Aktuelle Eckzahlen zur Statistik der Deutschen Rentenversicherung Thema Versicherte ohne Rentenbezug Gezahlte Renten Rentner und Rentnerinnen ohne Waisenrenten Rentenneuanträge Rentenzugänge Rentenwegfälle Anträge auf Leistungen zur Rehabilitation Abgeschlossene Leistungen zur Rehabilitation Personal der Deutschen Rentenversicherung

Zeitpunkt/Zeitraum

Anzahl in Millionen

31.12.2014 31.12.2015 01.07.2016 2015 2015 2015 2015 2015

53.330 25.520 20.963 1.717 1.467 1.383 2.094 1.181

30.6.2016

0,061

(in Vollzeitbeschäftigte umgerechnet) Stand: 25.10.2016 Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund Ausgewählte Einnahmen- und Ausgabenpositionen der allgemeinen Rentenversicherung für 2014 und 2015 (endgültige Rechnungsergebnisse) in Milliarden Euro: Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund Art der Einnahmen 2014 Einnahmen insgesamt 263,5 Beiträge 200,9 Bundeszuschüsse zur allgemeinen Rentenversicherung 39,8 Zusätzliche Bundeszuschüsse zur allgemeinen Rentenversicherung 21,5 Art der Ausgaben Ausgaben insgesamt Renten Krankenversicherung der Rentner Leistungen zur Teilhabe Verwaltungs- und Verfahrenskosten

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2014 260,4 225,8 16,0 5,7 3,7

2015 272,0 236,2 16,7 5,9 3,7

2015 270,4 206,6 40,2 22,2

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Auswirkungen der demographischen Entwicklung, d.h. der Überalterung der Bevölkerung: Heute kommen auf 100 Erwerbsfähige im Alter von 20 bis 59 Jahren etwa 42 Personen, die 60 und älter sind. In 15 Jahren werden es 52 sein und in spätestens 30 Jahren 78. Für die Gesetzliche Rentenversicherung bedeutet dies, dass sich die Relation von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten zu Rentenempfängern zunehmend ungünstiger gestaltet. Heute liegt das Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern bei 60 zu 100. Schon in 15 Jahren wird dieser Quotient bei knapp 76 liegen und in spätestens 30 Jahren muss jeder Beitragszahler einen Rentner versorgen. Verschärft wird die Problematik außerdem durch immer längere Rentenbezugszeiten. Von politischer Seite (z.B. Bündnis 90 Die Grünen) wird gelegentlich gefordert, die Grundlage für die Beitragserhebung „zu verbreitern“, um so die finanzielle Basis der Gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken und erkennbaren Problemen in der Zukunft zu begegnen. Gemeint ist die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in die Gesetzliche Rentenversicherung und der Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze. Diese politisch motivierten Vorstellungen lassen außer Acht, dass von Versicherten entrichtete Beiträge nach dem Grundgesetz und der hierzu ergangenen Rechtsprechung eigentumsähnliche Ansprüche darstellen. Den Mehreinnahmen durch die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in die Gesetzliche Rentenversicherung sowie der Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze würden entsprechende Leistungen an den genannten Personenkreis entgegenstehen. Derartige Vorschläge leisten demzufolge keinen Beitrag zur langfristigen Finanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung.

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Einmal in jeder Legislaturperiode veröffentlicht die Bundesregierung den Alterssicherungsbericht, der ergänzend zum Rentenversicherungsbericht die Gesamteinkommenssituation von Ruheständlern, sowie den Grad der Verbreitung von betrieblicher und privater Altersvorsorge dokumentiert. Danach ist die Gesetzliche Rentenversicherung mit 77 Prozent aller Alterssicherungsleistungen, die an 65-Jährige und Ältere gezahlt werden, die wichtigste Einkommensquelle. Zu den Alterssicherungsleistungen im Sinne des Berichts zählen: ·

Gesetzliche Rentenversicherung (GRV)

·

Alterssicherung der Landwirte (AdL)

·

Zusatzversorgung für Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes (ZÖD)

·

Betriebliche Altersversorgung in der Privatwirtschaft (BAV)

·

Versorgung der Beamten, Richter und Berufssoldaten (BV)

·

Berufsständische Versorgungssysteme für verkammerte freie Berufe (BSV).

Zählt man außer diesen Alterssicherungsleistungen auch alle anderen Einkommenskomponenten mit (Bruttogesamteinkommen), so ist auch hier die GRV mit 65 Prozent die dominierende Einkommensquelle. Dabei kommt in den alten Ländern ein größerer Teil des Einkommensvolumens aus Quellen jenseits der Alterssicherungssysteme. Bei Ehepaaren in den alten Ländern liegt dieser Anteil mit 24 Prozent doppelt so hoch wie in den neuen Ländern mit rund 12 Prozent. Noch größer ist die Differenz bei allein stehenden Frauen: In den alten Ländern resultieren 12 Prozent, in den neuen Ländern nur 4 Prozent der Gesamteinkommen aus zusätzlichen Einnahmequellen.

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Ohne eigene Vorsorge droht in Deutschland Altersarmut!

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Grundlage der Rentenanpassung ist die Lohnentwicklung. Neben der Lohnentwicklung ist auch der Nachhaltigkeitsfaktor in der Anpassungsformel relevant, der die Veränderung des Verhältnisses von Rentenbeziehern zu Beitragszahlern auf die Rentenanpassung überträgt. Auch der sogenannte Riester-Faktor geht in die Rentenanpassung ein. Er spiegelt die Belastungen der Beschäftigten beim Aufbau ihrer Altersvorsorge wider.

1.5 Gliederung der Versicherungsträger Der Gesetzgeber hat die unterschiedlichen Träger der Gesetzlichen Rentenversicherung zur Deutschen Rentenversicherung zusammengeschlossen. Historische Struktur der Gesetzlichen Rentenversicherung: Traditionell war die Gesetzliche Rentenversicherung nach Berufsgruppen (Arbeiter, Angestellte, knappschaftlich Versicherte) und in der Rentenversicherung der Arbeiter außerdem regional gegliedert gewesen. Für Angestellte zuständig ist die Deutsche Rentenversicherung Bund (früher Bundesversicherungsanstalt für Angestellte), 10704 Berlin, Ruhrstraße 2; in deren Auftrag die Seekasse für Angestellte auf Seeschiffen. Bergleute erhalten Leistungen von der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft (früher Bundesknappschaft, Bochum, Pieperstr. 14-28). Arbeiter sind in der Deutschen Rentenversicherung (es folgt eine Zusatzbezeichnung wie "Hessen") (früher Landesversicherungsanstalt Hessen) versichert. Neue Versicherte werden auf die einzelnen Gliederungen der Deutschen Rentenversicherung verteilt – ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Arbeiter oder Angestellte handelt. 1.6 Finanzierung der Aufgaben der Gesetzlichen Rentenversicherung 1.6.1 Allgemeine Ausführungen In der Rentenversicherung werden die Ausgaben eines Kalenderjahres durch die Einnahmen des gleichen Kalenderjahres und, soweit erforderlich, durch Entnahmen aus der Nachhaltigkeitsrücklage gedeckt. Einnahmen der allgemeinen Rentenversicherung sind insbesondere auch die Beiträge und die Zuschüsse des Bundes. Einnahmen der knappschaftlichen Rentenversicherung sind die Beiträge und die Mittel des Bundes zum Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben.

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1.6.2 Beitragsbemessung Beitragsbemessungsgrundlage für Versicherungspflichtige sind die beitragspflichtigen Einnahmen. Beitragsbemessungsgrundlage für freiwillig Versicherte ist jeder Betrag zwischen der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage und der Beitragsbemessungsgrenze. 1.6.3 Menschen mit Behinderungen in Werkstätten Für Menschen mit Behinderungen erstattet der Bund den Trägern der Einrichtungen die Beiträge und zwar im Umfang zwischen dem tatsächlich erzielten Entgelt und 80 vom Hundert der monatlichen Bezugsgröße (mtl. Bezugsgröße 2017 = € 2.975; hiervon 80% = 2.380). Die nicht vom Bund übernommenen Beitragsanteile erstatten die jeweiligen Kostenträger. 1.6.4 Empfänger von Grundsicherung für Arbeitsuchende Durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011 entfiel die Rentenversicherungspflicht für SGB IILeistungsempfänger mit Wirkung vom 01.01.2011. Zeiten, in denen Versicherte Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II beziehen, sind seit dem 01.01.2011 Anrechnungszeiten (§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VI)63. Durch den Wegfall der Beitragspflicht für SGB II-Empfänger mindert sich die später zu gewährende Versicherungsleistung. Dieser Personenkreis wird in erheblichem Umfang auf die vom Bund zu finanzierenden Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen sein. 2. Versicherter Personenkreis 2.1 Überblick Der versicherte Personenkreis ist gesetzlich genau eingegrenzt. Er setzt sich hauptsächlich aus Pflichtversicherten zusammen.

63

Durch die Berücksichtigung als Anrechnungszeit werden Lücken in der Versicherungsbiografie vermieden. Anwartschaften auf Erwerbsminderungsrenten und Leistungen zur Rehabilitation werden aufrechterhalten. Die Zeiten wirken nicht rentensteigernd.

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Seite 135

Hierbei handelt es sich im Wesentlichen ·

um Beschäftige (§ 1 SGB VI), einschließlich Auszubildende in außerbetrieblichen Einrichtungen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung tätig sind einschließlich der Empfänger von Lohnersatzleistungen (z.B. Krankengeld),

·

behinderte Menschen, die in einer Behindertenwerkstatt oder vergleichbaren Einrichtung eine Tätigkeit verrichten,

·

Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in Berufsbildungswerken oder ähnlichen Einrichtungen für behinderte Menschen für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden sollen und

·

Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen und Angehörige ähnlicher Gemeinschaften während ihres Dienstes für die Gemeinschaft und während der Zeit ihrer außerschulischen Ausbildung.

Ferner sind versicherungspflichtig ·

Personen in der Zeit, für die ihnen Kindererziehungszeiten anzurechnen sind,

·

in der sie einen Pflegebedürftigen nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen, wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der Gesetzlichen Pflegeversicherung hat,

·

für die sie von einem Leistungsträger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld oder Arbeitslosengeld beziehen, wenn sie im letzten Jahr vor Beginn der Leistung zuletzt versicherungspflichtig waren und

·

für die sie Vorruhestandsgeld beziehen, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Leistung versicherungspflichtig waren.

Ferner sind selbstständig Tätige (§ 2 SGB VI), wie Gewerbetreibende, Lehrer und Erzieher, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, pflichtversichert. Weiterhin auch Pflegepersonen, Hebammen, Seelotsen, Hausgewerbetreibende etc. Auch ist die Pflichtversicherung auf Antrag möglich. Berechtigt sind insbesondere Selbstständige, die nicht pflichtversichert sind sowie Entwicklungshelfer und Deutsche, die sich für eine begrenzte Zeit im Ausland aufhalten.

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2.2 Versicherungsfreiheit Versicherungsfrei sind Beamte und Richter auf Lebenszeit, auf Zeit oder auf Probe, Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst und ihnen in Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts gleichgestellte Personen. Ferner satzungsmäßige Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen und Angehörige ähnlicher Gemeinschaften, wenn ihnen nach den Regeln der Gemeinschaft Anwartschaft auf die in der Gemeinschaft übliche Versorgung bei verminderter Erwerbsfähigkeit und im Alter gewährt und die Erfüllung der Gewährleistung gesichert ist. Weiterhin sind versicherungsfrei Bezieher von Vollrente wegen Alters, Versorgungsempfänger, geringfügig Beschäftigte und Studierende, die im Rahmen der Studienordnung ein Praktikum ableisten.

2.3 Befreiung von der Versicherungspflicht Hierzu zählen insbesondere Beschäftigte und selbstständig Tätige, die Mitglied einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind (z.B. Architekten, Ärzte). Auch Lehrer und Erzieher, die an nicht-öffentlichen Schulen beschäftigt sind, können von der Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, wenn ein Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen gewährleistet ist. 2.4 Nachversicherung, Versorgungsausgleich und Rentensplitting Versichert sind auch Personen, die nachversichert sind oder für die aufgrund eines Versorgungsausgleichs oder eines Rentensplittings Rentenanwartschaften übertragen oder begründet werden. Nachversichert werden Personen, die als Beamte oder ihnen gleichgestellte Personen bisher versicherungsfrei oder von der Versicherungspflicht befreit waren, wenn sie ohne Anspruch oder Anwartschaft auf Versorgung aus der Beschäftigung ausgeschieden sind oder ihren Anspruch auf Versorgung verloren haben. 2.5 Freiwillige Versicherung Personen, die nicht versicherungspflichtig sind, können sich für Zeiten von der Vollendung des 16. Lebensjahres an freiwillig versichern. Das gilt auch für Deutsche, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben.

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3. Leistungen der Rentenversicherung 3.1 Medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen der Rehabilitation bzw. Teilhabe 3.1.1 Allgemeines Kuren gehören ebenso wie Umschulungen - in der Gesetzessprache medizinische oder berufsfördernde Rehabilitationsleistungen genannt - zu den Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit als Rehabilitation bezeichnet werden und der Wiedereingliederung von Kranken oder Menschen mit Behinderungen in Beruf und Gesellschaft dienen. Für den Bereich der Rentenversicherung werden medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen erbracht, um ·

den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und

·

dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wieder einzugliedern.

Leistungen der Rehabilitation haben Vorrang vor Rentenleistungen. Das bedeutet, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst dann bewilligt werden können, wenn zuvor Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt worden sind; es sei denn, ein Erfolg solcher Leistungen ist nicht zu erwarten. 3.1.2 Anspruchsvoraussetzungen 3.1.2.1 Persönliche (medizinische) Voraussetzungen ·

Erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung und

·

Aussicht auf Erfolg, dass durch Rehabilitationsmaßnahmen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet bzw. bei bereits geminderter Erwerbsfähigkeit diese wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder der Eintritt der Erwerbsminderung abgewendet werden kann.

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Seite 138

3.1.2.2 Versicherungsrechtliche Voraussetzungen Die Versicherten müssen für Leistungen zur Rehabilitation ·

die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt haben oder

·

eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehen.

Für medizinische Leistungen reicht es aus, wenn Versicherte ·

in den letzten zwei Jahren vor der Antragstellung sechs Kalendermonate mit Pflichtbeitragszeiten haben,

·

zwei Jahre nach Beendigung einer Ausbildung eine versicherte Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit aufgenommen und bis zum Antrag ausgeübt haben oder nach einer solchen Beschäftigung oder Tätigkeit bis zum Antrag arbeitsunfähig oder arbeitslos gewesen sind oder

·

vermindert erwerbsfähig sind oder bei denen dies in absehbarer Zeit zu erwarten ist, wenn sie die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden an Versicherte auch erbracht, ·

wenn ohne diese Leistungen Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu leisten wäre oder

·

wenn sie für eine voraussichtlich erfolgreiche Rehabilitation unmittelbar im Anschluss an Leistungen zur Medizinischen Rehabilitation der Träger der Rentenversicherung erforderlich sind.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen haben auch überlebende Ehegatten erfüllt, die Anspruch auf große Witwenrente oder große Witwerrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit haben. Sie gelten für die genannten Regelungen als Versicherte. 3.1.3 Umfang der Leistungen Der Rentenversicherungsträger bestimmt im Einzelfall Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung. Ausgeschlossen sind medizinische Rehabilitationsleistungen in Phasen akuter Behandlungsbedürftigkeit an Stelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung oder wenn sie dem allgemeinen Stand medizinischer Erkenntnisse nicht entsprechen.

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Medizinische Leistungen zur Rehabilitation umfassen vor allem die Heilbehandlung in Kliniken und Spezialeinrichtungen einschließlich ärztlicher Behandlung, Arznei- und Verbandmittel, Heilmittel sowie Krankengymnastik. Die Leistungen erfolgen grundsätzlich stationär. Zu den berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation zählen insbesondere: ·

Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme

·

Berufsvorbereitung einschließlich der wegen einer Behinderung erforderlichen Grundausbildung

·

berufliche Anpassung, Fortbildung, Ausbildung und Umschulung (also auch das Erlernen eines neuen Berufs, dessen Ausübung dem Versicherten aufgrund seiner Behinderung möglich ist) einschließlich eines hierfür erforderlichen schulischen Abschlusses

·

Arbeits- und Berufsförderung im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für Menschen mit Behinderungen

Ferner haben die Versicherten Anspruch auf Übergangsgeld. Voraussetzung hierfür ist, dass der Versicherte vor der Gesundheitsmaßnahme in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand oder Lohnersatzleistungen bezog. Die Höhe richtet sich nach dem letzten versicherten Einkommen, nach der Art der Leistung (medizinische oder berufsfördernde) und danach, ob der Versicherte beispielsweise ein Kind hat oder im gemeinsamen Haushalt ein pflegebedürftiger Ehegatte lebt. Versicherte, die mindestens 18 Jahre alt sind, müssen sich an den Aufwendungen für eine medizinische Rehabilitationsleistung mit € 10,-- pro Tag beteiligen. Die Zuzahlungspflicht ist auf 14 Tage (anstatt auf 28 Tage) begrenzt, wenn die stationäre Heilbehandlung der Krankenhausbehandlung entspricht oder sich an diese ergänzend anschließt. Die Zuzahlung entfällt, wenn sie für den Betreffenden unzumutbar ist. 3.2 Kinderrehabilitation Aus medizinischer Sicht ist eine Rehabilitation für ein Kind dann angebracht, wenn es erheblich erkrankt ist, aber die Chance besteht, dass die Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Bei einer Rehabilitation für Kinder muss ein Elternteil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen. „6 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen in den letzten 2 Jahren“ ist die am häufigsten erfüllte Voraussetzung. Ein Antrag kann auch bei der Gesetzlichen Krankenkasse oder einem Versicherungsamt gestellt werden.

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Im Falle einer Bewilligung trägt der Rentenversicherungsträger die Kosten für Reise, Unterkunft, Verpflegung, ärztliche Betreuung, therapeutische Leistungen und medizinische Anwendungen. Bei fehlender Zuständigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung trägt die Gesetzliche Krankenkasse die Kosten. 3.3 Renten aus der Rentenversicherung 3.2.0 Aktuelle Entwicklung Die durchschnittliche Standardrente – als solche bezeichnet man die Rente beim Vorliegen von 45 Versicherungsjahren mit Durchschnittsverdienst – ist mit der Rentenanpassung zum 01.07.2016 in den alten Bundesländern auf € 1.370,25 und im Osten auf € 1.289,70 gestiegen. 3.2.1 Allgemeines Entsprechend dem bisherigen Recht unterscheidet das SGB VI zwischen Renten wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes. Die Oberbegriffe - Alter, verminderte Erwerbsfähigkeit, Tod - bezeichnen das jeweils versicherte Risiko. 3.2.2 Rentenarten 3.2.2.1 Renten wegen Alters ·

Regelaltersrente

·

Altersrente für langjährig Versicherte

·

Altersrente für Schwerbehinderte und Erwerbsgeminderte (bzw. Berufs- und Erwerbsunfähige)

·

Altersrente für besonders langjährig Versicherte

·

Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute

·

Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit

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·

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Altersrente für Frauen

3.2.2.2. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Hierzu zählen: ·

Erwerbsminderungsrenten

3.2.2.3 Renten wegen Todes Hierzu zählen: ·

Witwenrente oder Witwerrente

·

Erziehungsrente

·

Waisenrente

Die früher sogenannte Wiederauflebensrente, die nach Wiederheirat des überlebenden Ehegatten und Auflösung der erneuten Ehe oder Erklärung ihrer Nichtigkeit gewährt wurde, wird mit der Bezeichnung "Witwenrente oder Witwerrente nach dem vorletzten Ehegatten" als eine besondere Art der Witwen-/Witwerrente im SGB VI geregelt. Die Erziehungsrente ist entgegen den anderen, von den verstorbenen Versicherten abgeleiteten Renten, eine Rente aus eigener Versicherung. Sie wird jedoch trotzdem zu den Renten wegen Todes gezählt, weil auch bei ihr der Tod des geschiedenen Ehegatten als die entscheidende Voraussetzung angesehen wird. Gleichwohl ist die Erziehungsrente keine Hinterbliebenenrente im eigentlichen Sinne64. Die Renten an frühere Ehegatten, deren Ehe vor dem 1. 7. 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, werden zwar in der gesetzlichen Zusammenfassung der Renten wegen Todes nicht mit aufgezählt, doch werden diese Renten einschließlich der entsprechenden „Witwenrente/Witwerrente nach dem vorletzten Ehegatten" nach dem Übergangsrecht des SGB VI als ergänzende Sonderfälle geleistet. 3.2.2.4 Sonstige Rentenformen Keine eigenständigen Rentenarten sind: · 64

die Teilrente

Die Erziehungsrente ersetzt die Unterhaltszahlungen des verstorbenen geschiedenen Ehegatten.

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·

Renten auf Zeit

·

Renten wegen Todes bei Verschollenheit

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Die Teilrente ist im Unterschied zur Vollrente lediglich eine in der Höhe herabgesetzte Altersrente. Sie eröffnet für Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen Alters haben, erstmals im Rentenrecht die freie Wahlmöglichkeit, entweder die ihnen zustehende Vollrente zu beantragen oder nur eine Teilrente in Höhe von einem Drittel, der Hälfte oder von zwei Dritteln dieser erreichten Vollrente. Renten auf Zeit stellen keine eigenständige Rentenart dar. Sie sind Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie werden nur auf bestimmte Zeit geleistet, wenn begründete Aussicht auf Behebung der für die Rentenleistung maßgeblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht oder wenn die Rentenleistung auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist. Die Renten wegen Todes bei Verschollenheit werden als Witwen-/Witwerrente und Waisenrente - darüber hinaus auch als Erziehungsrente - dann geleistet, wenn sich nicht feststellen lässt , ob der Tod des Ehegatten, des geschiedenen Ehegatten oder eines Elternteils eingetreten ist, weil er verschollen ist. 3.2.3 Voraussetzung für einen Rentenanspruch Versicherte und ihre Hinterbliebenen haben Anspruch auf Rente, wenn die für die jeweilige Rentenart erforderliche Mindestversicherungszeit, d.h. die Wartezeit, erfüllt ist und die jeweiligen besonderen versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen vorliegen. Außerdem dürfen die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Hinzuverdienstgrenzen nicht in einem unzulässigen Maß überschritten werden. Die allgemeine Wartezeit beträgt 60 Kalendermonate. Sie ist Voraussetzung für die Gewährung einer Regelaltersrente, einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und einer Hinterbliebenenrente. Sie gilt als erfüllt, wenn der Versicherte bis zur Vollendung des 65. (67.) Lebensjahres eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente bezogen hat, bei Hinterbliebenen, wenn der Verstorbene bis zum Tode Rente bezog. Die Erfüllung der Wartezeit von 20 Jahren ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung an Versicherte, wenn diese bereits vor Erfüllung der Wartezeit voll erwerbsgemindert waren. Diese Regelung findet insbesondere für Versicherte in Werkstätten für behinderte Menschen Anwendung.

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Die Erfüllung der Wartezeit von 35 Jahren ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Zudem müssen sie das 65. Lebensjahr vollendet haben. Versicherte haben Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben. 3.2.4 Rentenrechtliche Zeiten 3.2.4.1 Allgemeine Erläuterungen Rentenrechtliche Zeiten sind Beitragszeiten, ·

als Zeiten mit vollwertigen Beiträgen,

·

als beitragsgeminderte Zeiten,

·

beitragsfreie Zeiten und

·

Berücksichtigungszeiten.

Zeiten mit vollwertigen Beiträgen sind Kalendermonate, die mit Beiträgen belegt und nicht beitragsgeminderte Zeiten sind. Beitragsgeminderte Zeiten sind Kalendermonate, die sowohl mit Beitragszeiten als auch Anrechnungszeiten, einer Zurechnungszeit oder Ersatzzeiten belegt sind. Als beitragsgeminderte Zeiten gelten Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen für eine Berufsausbildung (Zeiten einer beruflichen Ausbildung). Beitragsfreie Zeiten sind Kalendermonate, die mit Anrechnungszeiten, mit einer Zurechnungszeit oder mit Ersatzzeiten belegt sind, wenn für sie nicht auch Beiträge gezahlt worden sind. 3.2.4.2 Kindererziehungs-/Kinderberücksichtigungszeiten Für Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren gelten Pflichtbeiträge als gezahlt. Diese Regelung gilt für Kinder, die ab dem 01.01.1992 geboren worden sind. Für alle anderen Kinder werden zwei Jahre berücksichtigt. Unter den Voraussetzungen, die für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten gelten, kann die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendeten 10. Lebensjahr einem Elternteil als sog. Berücksichtigungszeit angerechnet werden. Bei Mehrlingsgeburten wird die Zeit doppelt und auch dreifach (oder mehr) berücksichtigt. Für die Kindererziehungszeit wird unterstellt, dass ein durchschnittlicher Verdienst erzielt wurde.

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Die Kinderberücksichtigungszeit beginnt im Monat der Geburt eines Kindes und endet mit Vollendung des 10. Lebensjahres. Werden mehrere Kinder bis zur Vollendung ihres 10. Lebensjahres gleichzeitig erzogen, wird die einzelne Berücksichtigungszeit hierdurch nicht verlängert. Der Gesamtzeitraum der Kinderberücksichtigungszeiten endet in diesen Fällen mit der Vollendung des 10. Lebensjahres des jüngsten Kindes. Die Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung hat Einfluss auf die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente und – über die Gesamtleistungsbewertung – ggf. auch auf die Höhe der Rente. 3.2.4.3 Pflegeberücksichtigungszeiten Die Zeit der Pflegetätigkeit wird von der Aufnahme der Pflegetätigkeit an als Berücksichtigungszeit angerechnet, wenn der Antrag bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach Aufnahme der Pflegetätigkeit gestellt wird. 3.2.4.4 Anrechnungszeiten Es handelt sich um Zeiten, in denen zwar keine Beiträge gezahlt werden, die aber für die die Rentenberechnung als rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt werden. Sie werden Versicherten gutgeschrieben, die aus gesundheitlichen oder persönlichen Gründen gehindert waren, Pflichtbeiträge zu entrichten. Dabei handelt es sich insbesondere um Zeiten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, einer Rehabilitationsleistung, einer Schwangerschaft oder Mutterschaft sowie einer Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug. Zeiten des Schul- und Hochschulbesuchs nach dem 17. Lebensjahr werden bis zu acht Jahre berücksichtigt. Allerdings wirken nur Fachschulzeiten und Zeiten der Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen bis zu drei Jahre rentensteigernd. 3.2.4.5 Ersatzzeiten Es handelt sich um Zeiten, in denen Versicherte aus nicht in ihrer Person liegenden Gründen keine Beiträge zahlen konnten. Hierzu zählen insbesondere die Zeiten des Kriegsdienstes (auch Wehrdienst einschl. Ersatzdienst), der Kriegsgefangenschaft, der Evakuierung, der Flucht und der Vertreibung. 3.2.4.6 Zurechnungszeiten Um Versicherten, die in jungen Jahren vermindert erwerbsfähig werden, eine Erwerbsminderungsrente in ausreichender Höhe zu sichern, werden ihnen Zurechnungszeiten

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angerechnet. Eine Zurechnungszeit ist die Zeit vom Eintritt der Erwerbsminderung bis zur Vollendung des 62. Lebensjahres. Die letzten vier Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung werden nicht bewertet, wenn dies günstiger ist. Der/die Versicherte wird so gestellt, als wären während dieser Zeit Beiträge zur Rentenversicherung in Höhe der bisher durchschnittlich gezahlten Beiträge weitergezahlt worden. Von dieser Regelung partizipieren auch Hinterbliebene bei der Geltendmachung eines Anspruchs auf Hinterbliebenenrente. 3.2.5.1 Höhe der Rente 3.2.5.1.1 Allgemeine Ausführungen Die Höhe einer Rente richtet sich vor allem nach der Höhe des während des Versicherungslebens erzielten Arbeitseinkommens und der hierfür entrichteten Beiträge. Das in den einzelnen Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in Entgeltpunkte umgerechnet. Die Versicherung eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgelts65 eines Kalenderjahres ergibt einen vollen Entgeltpunkt. Für beitragsfreie Zeiten werden Entgeltpunkte angerechnet, deren Höhe von der Höhe der in der übrigen Zeit versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen abhängig ist. Das Sicherungsziel der jeweiligen Rentenart im Verhältnis zu einer Altersrente wird durch den Rentenartfaktor bestimmt. Das bedeutet beispielsweise, dass bei einer Rente aufgrund dauerhafter Erwerbsminderung ein höherer Rentenartfaktor als bei einer teilweisen Erwerbsminderung zugrunde gelegt wird. Bei teilweiser Erwerbsminderung besteht die Möglichkeit, die Arbeitskraft weiterhin, wenn auch in reduziertem Umfang, einzusetzen. Der Versicherte hat dadurch die Möglichkeit, einen Teil des Lebensunterhalts durch eine Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor vermieden. Bei vorzeitigem Renteneintritt vermindert sich die Rente dauerhaft um 0,3% pro Monat; maximal um 10,8%. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden. Der aktuelle Rentenwert wird entsprechend der Entwicklung des Durchschnittsentgelts unter Berücksichtigung der Veränderung des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversicherung jährlich angepasst. Er beträgt derzeit in den alten Bundesländern € 30,45 und in den neuen Bundesländern € 28,66.

65

Entspricht der Bezugsgröße in der Gesetzlichen Rentenversicherung; 2017 = € 35.700/West und € 31.920/Ost; hierfür ist ein Entgeltpunkt vorgesehen.

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Beispiel 1: Herr Müller ist 1951 geboren. Er hat 56 Entgeltpunkte und hat Anspruch auf Altersrente. Der Rentenartfaktor beträgt 1, der Zugangsfaktor 0. Die Rente beträgt demnach € 1.795,20 mtl. (56 x 0 x € 30,45). Beispiel 2: Herr Mayer ist 55 Jahre alt und nach Feststellung der Deutschen Rentenversicherung Bund wegen eines Lungenleidens dauerhaft vollständig erwerbsgemindert. Unter Berücksichtigung von Zurechnungszeiten weist das Rentenkonto 45 Entgeltpunkte auf. Der Rentenartfaktor beträgt 1, der Zugangsfaktor 89,4% (100 -10,6%). Die Rente beträgt demnach € 1.225. 3.2.5.1.2 Gesamtleistungsbewertung Die Zuordnung von Entgeltpunkten für beitragsfreie Zeiten und beitragsgeminderte Zeiten erfolgt im Rahmen der sog. Gesamtleistungsbewertung. Entscheidend für die Höhe des Gesamtleistungswertes ist die Höhe aller geleisteten Beiträge und deren Dichte. Die beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten erhalten einen Durchschnittswert an Entgeltpunkten, der sich aus der Gesamtleistung der Beiträge im belegungsfähigen Gesamtzeitraum errechnet. Der Gesamtleistungswert ergibt sich entweder aus der Grundbewertung oder aus der Vergleichsbewertung; der höhere Wert ist für die Bewertung maßgebend. 3.2.5 Renten wegen Alters 3.2.5.1 Allgemeines Der Bereich der Altersrenten wurde durch das Rentenreformgesetz 1999 umgestellt. Nachdem schon durch das Rentenreformgesetz 1992, das Gesetz zur Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand und das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz festgelegt wurde, dass der Bezug von Altersrenten vor Vollendung des 65. Lebensjahres durch Abschläge ausgeglichen werden soll, entfallen nunmehr für Versicherte, die nach dem 01.01.1952 geboren sind, die meisten Altersrenten. Lediglich die Altersrente für Schwerbehinderte kann dann noch mit entsprechenden Abschlägen mit 60 Jahren bezogen werden. Für Versicherte, die vor 1952 geboren wurden, gelten bis dahin verschiedene Übergangsbestimmungen. Der Anspruch auf eine Rente wegen Alters ist kein Grund, das Arbeitsverhältnis nach dem Kündigungsschutzgesetz durch den Arbeitgeber zu beenden. Bei einer Kündigung aus

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dringenden betrieblichen Gründen darf bei der sozialen Auswahl der Anspruch eines Arbeitnehmers auf eine Altersrente vor Vollendung des 65. (67.) Lebensjahres nicht berücksichtigt werden. Allerdings sehen die bestehenden Tarifverträge regelhaft vor, dass das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersgrenze vollendet hat, endet (z. B. § 33 Abs. 1 Satz 1 a) TVöD). Die Altersgrenze für die Regelaltersrente (Regelaltersgrenze) wird zwischen 2012 und 2029 schrittweise von 65 Jahre auf 67 Jahre angehoben. Beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1947 erfolgt die Anhebung ab 2012 zunächst in EinMonats-, von 2024 an in Zwei-Monats-Schritten, so dass dann für Versicherte ab Jahrgang 1964 die Regelaltersgrenze von 67 Jahren gilt. Wer vor dem 01.01.1955 geboren ist und vor dem 01.01.2007 Altersteilzeitarbeit verbindlich vereinbart hat oder wer Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen hat, ist von der Anhebung der Altersgrenze ausgenommen. Arbeiten über die Altersgrenze hinaus Für jeden Monat, den ein Versicherter über das reguläre Rentenalter hinaus arbeitet und keine Rente bezieht, gibt es einen Rentenzuschlag von Höhe von 0,5%. Wer seine Rente um ein Jahr aufschiebt, erhält also allein dafür einen Zuschlag von 6%. Zusätzlich erhöht sich die Rente durch die weitere Beitragszahlung. Wer über das reguläre Rentenalter hinaus noch arbeitet und bereits eine Vollrente wegen Alters bezieht, muss keine Rentenversicherungsbeiträge mehr zahlen. Bei einer Beschäftigung muss allerdings der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil zur Rentenversicherung abführen. Die Rente erhöht sich dadurch jedoch nicht. Zukünftig sollen Rentner vor Erreichen der Regelaltersgrenze € 6.300 im Jahr anrechnungsfrei hinzuverdienen können. Ein über diesen Betrag hinausgehender Verdienst wird zu 40% auf die Rente angerechnet. Liegt die Summe aus gekürzter Rente und dem Hinzuverdienst über dem bisherigen Einkommen der letzten 15 Kalenderjahre, wird der darüber liegenden Hinzuverdienst vollauf die verbliebene Teilrente angerechnet. 3.2.5.2 Altersrente für besonders langjährig Versicherte Mit der Anhebung der Regelaltersgrenze auf das 67. Lebensjahr wird eine neue Rentenart, die Altersrente für besonders langjährig Versicherte, eingeführt: Wer 63 Jahre alt ist und eine Wartezeit von 45 Jahren erfüllt hat, kann ohne Abschläge in Rente gehen. Ab Jahrgang 1953 steigt diese Altersgrenze für die abschlagsfreie Rente wieder schrittweise an. Für alle 1964 oder später Geborenen liegt sie wieder wie bislang bei 65 Jahren. Auf die Wartezeit von 45 Jahren werden angerechnet:

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·

Pflichtbeiträge aus Beschäftigung

·

geringfügige, nicht versicherungspflichtige Beschäftigung (anteilige Berücksichtigung)

·

Pflichtbeiträge aus selbstständiger Tätigkeit

·

freiwillige Beiträge, wenn mindestens 18 Jahre mit Pflichtbeiträgen aus Beschäftigung oder selbstständiger Tätigkeit vorhanden sind

·

Wehr- oder Zivildienst

·

nicht erwerbsmäßige Pflege von Angehörigen

·

Kindererziehung bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes

·

Arbeitslosengeld, Teilarbeitslosengeld, Leistungen bei Krankheit

·

Leistungen bei beruflicher Weiterbildung

·

Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Winterausfallgeld

·

Insolvenzgeld und Konkursausfallgeld

·

Ersatzzeiten

Nicht berücksichtigt werden bestimmte Anrechnungszeiten (zum Bespiel wegen eines Schul-, Fachschul- oder Hochschulbesuchs), Zeiten des Bezugs von Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosengeld II, Zurechnungszeiten und zusätzliche Wartezeitmonate aufgrund eines Versorgungsausgleichs oder Rentensplitting. Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn zählen nur mit, wenn diese Folge einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers sind. Wird diese Voraussetzung erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt, kann eine abschlagsfreie Rente im Folgemonat beginnen. Wenn zum Beispiel erst mit 65 Jahren und sechs Monaten im Januar 2021 die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt ist, beginnt die Altersrente für besonders langjährig Versicherte im Februar 2021. 3.2.5.3 Altersrente für langjährig Versicherte Die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Altersrente für langjährig Versicherte wird beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1949 stufenweise von heute 65 auf 67 Jahre angehoben. Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Altersrente ist frühestens mit 63 Jahren möglich

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sein. Der Bezug dieser Altersrente mit 63 Jahren ist mit einem Rentenabschlag von 14,4 Prozent verbunden. Ausnahmen bestehen für Versicherte, die vor dem 01.01.1955 geboren sind und vor dem 01.01.2007 Altersteilzeitarbeit verbindlich vereinbart haben oder die Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben. Für sie wird die Altersgrenze von 65 Jahren nicht angehoben. Für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1947 geboren sind und entweder vor dem 1. Januar 1955 geboren sind und vor dem 1. Januar 2007 Altersteilzeitarbeit vereinbart haben oder die Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben, wird die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme stufenweise auf das 62. Lebensjahr abgesenkt. 3.2.5.4 Altersrente für schwerbehinderte Menschen Die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen wird beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1952 stufenweise von heute 63 auf 65 Jahre angehoben. Gleichzeitig wird die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente von 60 auf 62 Jahre angehoben. Damit verbleibt es bei einem maximalen Abschlag in Höhe von 10,8 Prozent bei der frühestmöglichen Inanspruchnahme. Für Versicherte, die am 1. Januar 2007 als schwerbehinderte Menschen anerkannt waren und entweder vor dem 1. Januar 1955 geboren sind und vor dem 1. Januar 2007 Altersteilzeitarbeit vereinbart haben oder die Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben, besteht weiterhin ein Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben. Eine vorzeitige Inanspruchnahme ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres mit Abschlägen (maximal 10,8 Prozent) möglich. Für die Geburtsjahrgänge bis 1951 verbleibt es bei den bisherigen Regelungen. Wer vor dem 17.11.1950 geboren ist und spätestens am 16.11.2000 anerkannt schwerbehindert war, kann weiterhin die Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit 60 Jahren ohne Abschläge in Anspruch nehmen. Versicherte, die vor dem 1. Januar 1951 geboren sind und bei Beginn der Altersrente berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31. Dezember 2000 geltenden Recht sind, haben ebenfalls Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben. Auch hier ist eine vorzeitige Inanspruchnahme nach Vollendung des 60. Lebensjahres mit Abschlägen (maximal 10,8 Prozent) möglich.

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3.2.5.5 Abschläge Wer seine Rente vor der für ihn maßgeblichen angehobenen Altersgrenze in Anspruch nimmt, muss mit einem Abschlag rechnen. Der Abschlag beträgt pro Monat vorzeitiger Inanspruchnahme 0,3 %, pro Jahr 3,6 %. Dies gilt seit 01.01.2001 nicht nur für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten, sondern auch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Renten wegen Todes vor Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten. Der maximale Abschlag beträgt hierbei 10,8 %. Bezieht ein Versicherter eine solche um einen Abschlag geminderte Rente, so gilt dieser Abschlag auch nach Erreichen des 65. Lebensjahres, ggf. auch bei einer späteren Hinterbliebenenrente. Für Versicherte der Jahrgänge 1937 bis 1950 gibt es Besitzstandsregelungen. 3.2.6 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 3.2.6.1 Allgemeines Bei der Erwerbsminderungsrente wird die Altersgrenze für den abschlagsfreien Rentenbeginn, die heute beim vollendeten 63. Lebensjahr liegt, grundsätzlich ebenfalls um 2 Jahre auf das vollendete 65. Lebensjahr angehoben. Wer die Erwerbsminderungsrente mit 64 Jahren in Anspruch nimmt, hat einen Rentenabschlag von 3,6 Prozent, mit 63 Jahren von 7,2 Prozent und ab dem 62. Lebensjahr und jünger den Höchstabschlag von 10,8 Prozent. Für erwerbsgeminderte Versicherte mit 35 Pflichtbeitragsjahren verbleibt es bei dem heute geltenden Alter von 63 Jahren. Ab 2024 gilt dies dann nur noch für erwerbsgeminderte Versicherte, die 40 Pflichtbeitragsjahre nachweisen können. Als Pflichtbeitragszeiten gelten grundsätzlich dieselben Zeiten wie bei der Altersrente für besonders langjährig Versicherte. 3.2.6.1.1 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit zwischen drei bis sechs Stunden täglich im Rahmen einer 5-Tage-Woche unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann. Die Rentenhöhe entspricht der Hälfte einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Liegt dagegen Arbeitslosigkeit vor, gilt der Arbeitsmarkt für die Vermittlung in eine Teilzeittätigkeit als verschlossen. Es besteht also keine Möglichkeit, Einkommen tatsächlich zu erzielen. In diesem Ausnahmefall wird Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt.

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3.2.6.1.2 Rente wegen voller Erwerbsminderung Eine volle Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit oder Behinderung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung wird – wie bisher die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit – aus allen bis zum Eintritt der vollen Erwerbsminderung zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten errechnet. Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres sind Rentenabschläge hinzunehmen. Diese wurden ab 01.01.2001 stufenweise eingeführt und betragen für jeden Kalendermonat, für den die Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres beansprucht wird, 0,3 v. H. Sie sind auf insgesamt 10,8 v. H. begrenzt. 3.2.6.2 Vorrang der Befristung Die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind grundsätzlich als Zeitrenten zu leisten. Liegt auch nach insgesamt neun Jahren Rentenbezug die Erwerbsminderung weiterhin vor, wird eine Dauerrente daraus. 3.2.6.3 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit Für vor dem 02.01.1961 geborene Versicherte ist eine Vertrauensschutzregelung geschaffen worden. Sie kommt in Betracht für Versicherte, die vor Eintritt der Erwerbsminderung die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt und eine versicherungspflichtige Tätigkeit mit zumindest längerer Anlernzeit ausgeübt haben. Erst wenn weder der bisherige Beruf noch eine zumutbare andere Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausgeübt werden können, liegt Berufsunfähigkeit vor. 3.2.6.4 Versicherungsmäßige Voraussetzungen Die Wartezeit beträgt fünf Jahre. Ferner müssen 36 Pflichtbeiträge in den letzten fünf Jahren geleistet worden sein. Darüber hinaus gilt eine Wartezeit von 20 Jahren für Versicherte, die schon vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit erwerbsunfähig waren und es noch ununterbrochen sind. Gedacht ist dabei insbesondere an Menschen mit Behinderungen, die von vornherein erwerbsunfähig sind oder es in jungen Jahren wurden und die Pflichtbeiträge zahlen (z.B. in Werkstätten für Behinderte).

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3.2.6.5 Vorzeitige Wartezeiterfüllung In bestimmten Fällen reicht für den Anspruch auf Rente wegen vorzeitiger Erwerbsminderung eine geringere Mindestversicherungszeit als fünf Jahre aus. Das gilt vor allem für Versicherte, deren Erwerbsminderung auf ·

einem Arbeitsunfall (dazu zählen begrifflich auch Wegeunfälle und Berufskrankheiten),

·

einer Wehr- oder Zivildienstbeschädigung (bei Zeitsoldaten, Wehr- und Zivildienstleistenden) oder

·

politischem Gewahrsam im Sinne des Häftlingshilfegesetzes beruht.

·

Ferner verkürzt sich die allgemeine Wartezeit auf mindestens zwölf Pflichtbeiträge in den letzten zwei Jahren, wenn Erwerbsminderung (durch Unfall oder Krankheit) innerhalb von sechs Jahren nach einer Ausbildung eintritt.

3.2.7 Renten an Hinterbliebene (Renten wegen Todes) 3.2.7.1 Allgemeines Hinterbliebenenrenten heißen nach neuer Diktion Renten wegen Todes. Erziehungsrenten zählen - obwohl sie auf eigener Versicherung beruhen - ebenfalls dazu, weil sie an den Tod (des geschiedenen Ehegatten) anknüpfen. Es gibt sie als ·

kleine und große Witwen/Witwerrente nach dem letzten Ehegatten für Witwen und Witwer sowie für geschiedene Eheleute bei Ehescheidungen vor dem 1. 7. 1977 (große Witwenrente: 55% der vollen Erwerbsminderungsrente des Ehegatten; kleine Witwenrente: 25% der vollen Erwerbsminderungsrente des Ehegatten)66,

·

kleine und große Witwen-/Witwerrente nach dem vorletzten Ehegatten (sie hieß bisher Wiederauflebensrente),

·

Erziehungsrente (bei Ehescheidung ab 1. 7. 1977) und

·

Halbwaisen- und Vollwaisenrente.

Die bisher nur für die Witwen- und Witwerrente geltende Einkommensanrechnung (bei Todesfällen ab 1986) ist auf die Waisenrente an über 18jährige und die Erziehungsrente 66

Der Anspruch auf die kleine Witwen- und Witwerrente besteht längstens für 24 Kalendermonate nach Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

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ausgedehnt worden. Bei diesen Renten galten bisher starre Einkommensgrenzen, deren Überschreitung zum völligen Wegfall des Rentenanspruchs führte. Neu ist ferner, dass Waisenrenten nicht nur längstens bis zum 25., sondern bis zum 27. Lebensjahr gezahlt werden können. 3.2.7.2 Witwen- und Witwerrente67 Witwe bzw. Witwer ist, wer mit dem Versicherten bis zu dessen Tod rechtsgültig verheiratet war. Für den Rentenanspruch kommt es grundsätzlich nicht darauf an, wie lange die Ehe bestanden hat und ob der Verstorbene bei Eheschließung bereits Rentenbezieher war. Allerdings muss bei Ehen unter einem Jahr seit 01.01.2005 nachgewiesen werden, dass die Eheschließung nicht der alleinige oder überwiegende Grund war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Seit 1986 erhalten Witwen und Witwer unter gleichen Voraussetzungen Hinterbliebenenrente. Vorher galt eine andere Regelung. Die Witwerrente war davon abhängig, dass die verstorbene Ehefrau den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hatte. Darauf kommt es seit 1992 nur noch ausnahmsweise an, wenn ·

die Ehefrau vor 1986 gestorben ist oder

·

die Eheleute von der bis 1988 bestehenden Möglichkeit, sich für die weitere Anwendung des bis 1985 geltenden Hinterbliebenenrechts zu entscheiden, Gebrauch gemacht haben.

Die Wahl zugunsten dieses Rechts bewirkt, dass auch jetzt und künftig für Witwen und Witwer eigenes Einkommen der Witwe/des Witwers nicht auf die Rente angerechnet werden darf und Witwerrente nur unter erschwerten Voraussetzungen - ebenfalls ohne Einkommensanrechnung - zusteht. Nach dem Tode des Ehegatten besteht ein Anspruch auf eine Witwen-/Witwerrente, wenn der verstorbene Ehegatte die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt oder bereits eine Rente bezogen hat. Die Ehe muss zum Zeitpunkt des Todes rechtsgültig bestanden haben. Auf die allgemeine Wartezeit sind anzurechnen: ·

Beitragszeiten

·

Kindererziehungszeiten

·

Zeiten aus dem Versorgungsausgleich

67

Die Regelungen über die Witwen- bzw. Witwerrente finden auf eingetragene Lebenspartnerschaften entsprechende Anwendung.

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·

Zeit geringfügiger Beschäftigung mit Beitragszahlung des Arbeitgebers

·

Ersatzzeiten (z.B. Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft)

Anstelle der kleinen Rente, für die es genügt, wenn die Wartezeit erfüllt ist, steht große Witwen- bzw. Witwerrente nur unter folgenden weiteren persönlichen Bedingungen zu: ·

Vollendung des 45.68 Lebensjahres oder

·

Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes, welches das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, oder

·

Erwerbsminderung

Die Rente beträgt 55% der Rente wegen voller Erwerbsminderung des/der verstorbenen Versicherten (die kleine Witwenrente beträgt 25%). Stirbt der Versicherte vor Vollendung des 63. Lebensjahres, ohne selbst eine Rente bezogen zu haben, sind auch bei der Hinterbliebenenrente Rentenabschläge hinzunehmen. Diese Rentenabschläge werden seit 01.01.2001 stufenweise eingeführt. Für jeden Kalendermonat, für den die Rente wegen Todes vor Vollendung des 63. Lebensjahres des Verstorbenen beansprucht wird, beträgt der Rentenabschlag 0,3 v. H. Der Rentenabschlag ist auf 10,8 v. H. begrenzt. Für die ersten drei Monate erhält die Witwe bzw. der Witwer die volle Rente, die dem verstorbenen Ehegatten zugestanden hätte (sogenanntes „Gnadenquartal"). Wenn eine Witwe bzw. ein Witwer wieder heiratet, fällt die Rente weg. Es besteht dann Anspruch auf eine Abfindung in Höhe von 24 Monatsrenten. Bei Auflösung der Ehe kann die zuvor gewährte Rente wieder aufleben. Ein Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente besteht nicht von dem Kalendermonat an, zu dessen Beginn das Rentensplitting69 durchgeführt worden ist.

68

Analog zur Regelaltersrente erhöht sich auch das Alter für den Bezug der großen Witwen- beziehungsweise Witwerrente. Die Altersgrenze wird abhängig vom Todesjahr des Versicherten, ab dem Jahr 2012 beginnend stufenweise vom 45. auf das 47. Lebensjahr angehoben. Die Stufen der Anhebung sollen zunächst einen Monat pro Jahr (45 bis 46) und dann 2 Monate pro Jahr (46 bis 47) betragen. Für Todesfälle ab dem Jahr 2029 gilt die Altersgrenze 47 Jahre für die große Witwen- beziehungsweise Witwerrente. 69 Seit dem 1.1.2002 können Ehegatten zwischen der Hinterbliebenenrente und dem Rentensplitting unter Ehegatten wählen. Beim Rentensplitting bestimmen die Ehegatten gemeinsam, dass die von ihnen in der Ehe erworbenen Ansprüche auf eine Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung gleichmäßig zwischen ihnen aufgeteilt werden. Der Ehegatte, der in der Ehezeit die höheren Rentenansprüche erworben hat, gibt einen Teil seiner ehezeitlichen Rentenansprüche an den anderen Ehegatten ab, und zwar die Hälfte des Wertunterschiedes zwischen den beiderseitigen ehezeitlichen Rentenansprüchen. Nach Durchführung des Rentensplittings sind die von den Ehegatten während der Ehe erworbenen Rentenansprüche in der Gesetzlichen Rentenversicherung gleich hoch. Für den begünstigten Ehegatten werden durch das Rentensplitting die eigenen Rentenansprüche in der Gesetzlichen Rentenversicherung erhöht. Die Rentenansprüche des anderen Ehegatten mindern sich durch das Rentensplitting entsprechend.

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3.2.7.3 Geschiedenenrente Anspruch auf Rente haben geschiedene Ehegatten, die zu Lebzeiten ihres früheren Ehepartners (Versicherter) nicht wieder geheiratet haben, wenn ·

deren Ehe vor dem 1. 7. 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist und

·

sie bis zu dessen Tod von ihm Unterhalt bekommen haben oder ein Anspruch darauf bestand (nach dem Ehegesetz oder aus sonstigen Gründen, z.B. aus einem Unterhaltsurteil oder gerichtlichem Vergleich).

3.2.7.4 Erziehungsrente Erziehungsrenten nehmen unter den Renten wegen Todes - bis 1991 gehörten sie zu den Versichertenrenten - eine Sonderstellung ein, insofern als sie an den Tod des früheren Ehegatten, nicht jedoch an dessen Versicherung anknüpfen, sondern aus eigener Versicherung zustehen. Eine Erziehungsrente erhalten Versicherte auf Antrag, ·

deren Ehe nach dem 30.06.1977 geschieden und deren geschiedener Ehegatte gestorben ist,

·

die ein eigenes Kind oder ein Kind des geschiedenen Ehegatten erziehen,

·

die nicht wieder geheiratet haben und

·

die bis zum Tode des geschiedenen Ehegatten die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt haben.

Auf die allgemeine Wartezeit sind u. a. anzurechnen: ·

Beitragszeiten

·

Kindererziehungszeiten

·

Zeiten aus dem Versorgungsausgleich

·

Ersatzzeiten (z.B. Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft)

Eigenes Einkommen wird auf die Erziehungsrente angerechnet, wenn ein Freibetrag überschritten wird. Das den Freibetrag überschreitende Einkommen wird aber nur zu 40% angerechnet. Der zu berücksichtigende Freibetrag beziffert sich auf das 26,4-fache des Rentenwerts. Letzteres sind z.Zt. € 30,45 in den alten und € 28,66 in den neuen Bundes-

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ländern. Der Freibetrag erhöht sich für jedes waisenrentenberechtigtes Kind um das 5,6fache des Rentenwerts. 3.2.7.5 Waisenrente Kinder haben Anspruch auf Halb- oder höhere Vollwaisenrente. Das hängt davon ab, ob nach dem Tod eines Elternteils, aus dessen Versicherung Rente beantragt wird, weitere ihnen gesetzlich zum Unterhalt verpflichtete Personen vorhanden sind: ·

Halbwaisenrente, wenn von Vater und Mutter nur noch ein Elternteil vorhanden ist;

·

Vollwaisenrente, wenn beide Elternteile tot sind.

Waisenrentenberechtigt sind ·

alle Kinder im bürgerlich-rechtlichen Sinne (eheliche, für ehelich erklärte und nichteheliche und Adoptivkinder) des verstorbenen Versicherten und

·

die in den Haushalt des Verstorbenen aufgenommenen Stief- und Pflegekinder sowie Enkel und Geschwister. Letztere auch, wenn der Verstorbene ihren Unterhalt überwiegend bestritten hatte.

Rente steht der Waise bis zum 18. Lebensjahr zu. Sie wird über dieses Lebensalter hinaus - regelmäßig bis längstens zum 27. Lebensjahr gezahlt, wenn das Kind ·

sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet,

·

ein freiwilliges soziales Jahr leistet oder

·

wegen einer Behinderung außerstande ist, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen.

Verlängerung des Anspruchs auch über das 27. Lebensjahr ist möglich, wenn die Schuloder Berufsausbildung durch Ableistung des gesetzlichen Wehr- oder Zivildienstes unterbrochen oder verzögert worden ist. Für Zeiten eines Waisenrentenbezugs nach Vollendung des 18. Lebensjahres wird eigenes Einkommen auf die Waisenrente angerechnet. Es gibt aber einen Freibetrag. Der übersteigende Betrag wird zu 40% auf die Waisenrente angerechnet. Dies kann ggf. dazu führen, dass die Waisenrente nur gekürzt gezahlt wird. Der zu berücksichtigende Freibetrag beträgt das 17,6-fache des derzeitigen Rentenwerts von € 30,45 (alte Bundesländer). Angerechnet werden: ·

Erwerbseinkommen, z.B. Arbeitsentgelte, Dienstbezüge

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·

Erwerbsersatzeinkommen, z.B. Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Übergangsgeld, Rente aus eigener Versicherung, Renten aus berufsständischer Versorgung

·

Vermögenseinkommen

·

Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung

Nicht angerechnet werden: ·

Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung

·

Unfall-/Lebensversicherungen bei Leistungen wegen Todes

Die Höhe der Halbwaisenrente beträgt rund 10 %, die Höhe der Vollwaisenrente rund 20% der Rente wegen voller Erwerbsminderung des/der Versicherten. Zur Waisenrente wird ein Zuschlag gewährt, der sich aus den rentenrechtlichen Zeiten der/des verstorbenen Versicherten errechnet. 3.2.8 Die Rentenberechnung nach dem SGB VI 3.2.8.1 Die Rentenformel Die neue Rentenformel ist eine mathematische Umwandlung der bisherigen Rentenformel. Sie bestimmt die Höhe der Monatsrente. Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn ·

die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte,

·

der Rentenartfaktor und

·

der aktuelle Rentenwert

·

mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.

3.2.8.2 Entgeltpunkte Die Entgeltpunkte entsprechen den bisherigen Werteinheiten, wobei je 100 Werteinheiten einen Entgeltpunkt darstellen. Die Versicherung eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgeltes eines Kalenderjahres ergibt einen vollen Entgeltpunkt. Ein Versicherter, der z.B. zehn Jahre lang ein beitragspflichtiges Bruttoarbeitsentgelt in Höhe des jeweiligen

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durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts aller Versicherten bezieht, hat also zehn Entgeltpunkte erworben. Der Zugangsfaktor ist in der Regel 1,0, so dass die Entgeltpunkte, die mit diesem Faktor zu vervielfältigen sind, grundsätzlich auch die persönlichen Entgeltpunkte darstellen. Kindererziehungszeiten, die nach dem SGB VI unabhängig davon, wann sie zurückgelegt wurden, generell Pflichtbeitragszeiten sind, erhalten für jeden Kalendermonat 0,0833 Entgeltpunkte. Das entspricht jährlich 100% des Durchschnittsentgelts aller Versicherten. Neben den Beitragszeiten können auch beitragsfreie Zeiten insofern rentensteigernd wirken, als ihnen ebenfalls Entgeltpunkte zugeordnet werden. Zu den beitragsfreien Zeiten gehören die Anrechnungszeiten70, die Zurechnungszeit und die Ersatzzeiten, wenn für sie nicht auch Beiträge gezahlt worden sind. Maßgebend für die Bewertung der beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten ist der Durchschnitt der Gesamtleistung an Beiträgen im belegungsfähigen Zeitraum (Gesamtleistungsbewertung). Der belegungsfähige Zeitraum umfasst außer den Beitragszeiten auch die Lücken im Versicherungsverlauf. Zeiten einer beruflichen oder schulischen Ausbildung werden mit 0,75 Entgeltpunkten jährlich berücksichtigt; Zeiten schulischer Ausbildung für höchstens drei Jahre. Im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung werden Berücksichtigungszeiten Entgeltpunkte zugeordnet. Jedem Kalendermonat Berücksichtigungszeit sind im Rahmen der Gesamtleistungsbewertung 0,0625 (= 0,75 jährlich) Entgeltpunkte zuzuordnen, es sei denn, dass dieser Kalendermonat als Beitragszeit einen höheren Wert hat. 3.2.8.3 Mindestrentenregelung Durch das SGB VI wird die bisherige Bewertung nach Mindesteinkommen durch eine Regelung über "Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt" abgelöst. Voraussetzung ist, dass ·

mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind und

·

sich aus allen Kalendermonaten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen ein Durchschnittswert von weniger als 0,0625 Entgeltpunkten ergibt.

70

Seit Anfang der 1990er Jahre hat in Deutschland ein schrittweiser Abbau der Anrechnungszeiten für Schul-, Fachhochschul- und Hochschulausbildung bei der Berechnung der Rentenhöhe stattgefunden. Bei einem Rentenbeginn ab 2009 gelten die vorgenannten Zeiten nicht mehr als rentensteigernde Anrechnungszeit. Sie werden nur noch als Anrechnungszeit zur Erfüllung der Wartezeit für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen und für die Altersrente für langjährig Versicherte berücksichtigt. Im Eckpunktepapier zur Rentenreform von 2003 hieß es, dass vor dem Hintergrund steigender demografischer Belastungen der Alterssicherungssysteme es nicht länger Aufgabe der Versichertengemeinschaft sein könne, Ausbildungszeiten ohne Beitragszahlungen rentenrechtlich auszugleichen (Quelle: Wikipedia).

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Die zusätzlichen Entgeltpunkte sind so zu bemessen, dass sich für die Kalendermonate mit vollwertigen Pflichtbeiträgen vor 1992 ein Durchschnittswert in Höhe des 1,5-fachen des tatsächlichen Durchschnittswertes, höchstens aber 0,0625 Entgeltpunkte ergibt. Das bedeutet, dass für Pflichtbeiträge ab 1992 eine Aufstockung der Entgeltpunkte entfällt. Bei hierdurch bedingten sehr niedrigen Renten unter dem Niveau der Sozialhilfe besteht deshalb Anspruch auf Grundsicherung im Alter nach Abschnitt 4 des SGB XII. 3.2.8.4 Zugangsfaktor Mit dem Zugangsfaktor sind die ermittelten Entgeltpunkte zu vervielfältigen. Das Ergebnis sind persönliche Entgeltpunkte. Der Zugangsfaktor beträgt grundsätzlich 1,0. Er ist größer als 1,0, wenn eine Rente wegen Alters trotz erfüllter Wartezeit erst nach Vollendung des 65. (67.) Lebensjahres in Anspruch genommen wird. Der Zugangsfaktor ist kleiner als 1,0, wenn eine Rente vorzeitig in Anspruch genommen wird. 3.2.8.5 Rentenfaktor Nach der Rentenformel sind die persönlichen Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert zu vervielfältigen. Der Rentenartfaktor ist bei Renten wegen Alters

1,0

Renten wegen Berufsunfähigkeit bzw. teilweiser Erwerbsminderung

0,6667

Renten wegen voller Erwerbsminderung

1,0

Erziehungsrenten

1,0

kleine Witwenrenten

0,25

große Witwenrenten

0,6

Halbwaisenrenten

0,1

Vollwaisenrenten

0,2

Beispiel: Herr Müller, gelernter Maurer und in den letzten 15 Berufsjahren als Polier tätig, ist 66 Jahre alt und möchte Altersrente in Anspruch nehmen:

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Entgeltpunkte:

59

Rentenwert ab 01.07.2016:

€ 30,45

Rentenfaktor:

1,0

Zugangsfaktor:

1,0

Berechnung: 59 x 30,45 x 1,0 x 1,0 =

€ 1.796,55 Monatsrente

3.2.8.6 Rentenanpassung Der aktuelle Rentenwert ist der Faktor der Rentenformel, der die Dynamisierung der Renten bewirkt. Er wird zum 1. Juli eines Jahres angepasst. Seine Fortschreibung orientiert sich an der Entwicklung der Bruttoentgelte der Arbeitnehmer. Zusätzlich werden auch die Belastungsveränderungen bei den Bruttoarbeitsentgelten und den Renten berücksichtigt. Damit wird erreicht, dass die Renten wie die verfügbaren Arbeitnehmereinkommen steigen (Nettoanpassung). Darüber hinaus gibt es seit 01.01.2005 einen „Nachhaltigkeitsfaktor", der die jährlichen Rentenanpassungen dämpft und das Rentenniveau langfristig deutlich senkt. Die Höhe des jährlichen Abschlags ist abhängig davon, wie sich die Zahl der Beitragszahler im Verhältnis zu der der Rentenbezieher entwickelt. 3.2.9 Rentensplitting 3.2.9.1 Allgemeine Ausführungen Seit dem 1.1.2002 können Ehegatten zwischen der Hinterbliebenenrente und dem Rentensplitting unter Ehegatten wählen. Beim Rentensplitting bestimmen die Ehegatten gemeinsam, dass die von ihnen in der Ehe erworbenen Ansprüche auf eine Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung gleichmäßig zwischen ihnen aufgeteilt werden. Der Ehegatte, der in der Ehezeit die höheren Rentenansprüche erworben hat, gibt einen Teil seiner ehezeitlichen Rentenansprüche an den anderen Ehegatten ab, und zwar die Hälfte des Wertunterschiedes zwischen den beiderseitigen ehezeitlichen Rentenansprüchen. Nach Durchführung des Rentensplittings sind die von den Ehegatten während der Ehe erworbenen Rentenansprüche in der Gesetzlichen Rentenversicherung gleich hoch. Für den begünstigten Ehegatten werden durch das Rentensplitting die eigenen Rentenansprüche in der Gesetzlichen Rentenversicherung erhöht. Die Rentenansprüche des anderen Ehegatten mindern sich durch das Rentensplitting entsprechend.

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3.2.9.2 Folgen des Rentensplittings Mit der verbindlichen Entscheidung für das Rentensplitting schließen die Ehegatten die spätere Zahlung einer Witwenrente oder Witwerrente zwar aus. Vorteile können sich jedoch vor allem für Frauen ergeben, da die im Wege des Rentensplittings erworbenen eigenen Rentenansprüche im Gegensatz zu den Witwenrenten oder Witwerrenten nicht der Einkommensanrechnung unterliegen und nach dem Tod eines Ehegatten und einer späteren Wiederheirat mit einem anderen Ehepartner nicht wegfallen. 3.2.9.3 Anspruchsberechtigter Personenkreis Die Durchführung des Rentensplittings ist nur für Ehegatten möglich, die ·

entweder nach dem 31.12.2001 geheiratet haben oder

·

die bei einer am 31.12.2001 bereits bestehenden Ehe beide nach dem 1.1.1962 geboren wurden.

3.2.10 Einkommensanrechnung bei Renten wegen Todes Nach dem vor dem 01.01.1986 in den alten Bundesländern geltenden Recht hatten Witwen einen unbedingten Anspruch auf Witwenrente, während Witwer nur dann anspruchsberechtigt waren, wenn die verstorbene Ehefrau den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hatte. Die aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebotene Gleichbehandlung von Witwen und Witwern wurde durch das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz für Todesfälle ab 01.01.1986 in der Weise eingeführt, dass nunmehr auch Witwer einen unbedingten Anspruch haben, jedoch bei dem überlebenden Ehegatten, also der Witwe oder dem Witwer, jeweils Einkommen angerechnet wird. Das eigene Einkommen wirkt sich nur dann rentenmindernd aus, wenn es einen dynamisch ausgestalteten Freibetrag überschreitet. Das den Freibetrag überschreitende Einkommen wird zu 40% angerechnet. Der Freibetrag beziffert sich monatlich ·

bei Witwen-, Witwer-, Geschiedenen- oder Erziehungsrenten auf das 26,4-fache des aktuellen Rentenwerts (aktueller Rentenwert für die alten Bundesländer seit 01.07.2016: € 30,45),

·

bei Waisenrenten (an über 18-jährige) wegen des geringeren Unterhaltsbedarfs 2/3 davon.

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Der Freibetrag erhöht sich für jedes waisenrentenberechtigte Kind des Rentenberechtigten um das 5,6-fache des Rentenwerts. Beispiel: Herr Müller, Sozialarbeiter, verstirbt an einer Geschwulsterkrankung. Er hinterlässt Ehefrau und zwei Kinder, 13 und 8 Jahre alt. Frau Müller ist ebenfalls Sozialarbeiterin mit 19,25 Wochenstunden und erhält Nettobezüge in Höhe von € 1.050,-. Die fiktive volle Erwerbsminderungsrente von Herrn Müller hätte bei Berücksichtigung von Abschlägen in Höhe von insgesamt 10,6% € 1.520 betragen. Wie hoch ist die Frau Müller zu gewährende Witwenrente? Ermittlung des Multiplikators des Rentenwertes: 26,4 für Frau Müller zuzüglich 5,6 für jedes Kind, insgesamt also 37,6. Dieser multipliziert mit dem Rentenwert in Höhe von € 30,45 = € 1.144,92 Der Freibetrag liegt über dem Arbeitseinkommen von Frau Müller. Sie erhält folglich die große Witwenrente in Höhe von 55% von € 1.520 = € 836 in voller Höhe. Hinzu kommt die Halbwaisenrente für die Kinder. Würde Frau Müller vollschichtig arbeiten und erhielte Sie eine Nettovergütung von € 1.900, so würde die Nettovergütung den Freibetrag von € 1.144,92 um € 755,08 übersteigen. 40% hiervon = € 302,03 wären auf die Witwenrente anzurechnen, d.h. die Witwenrente würde sich um diesen Betrag auf € 533,64 vermindern. 3.3 Krankenversicherung der Rentner 3.3.1 Allgemeine Ausführungen Rentner können in der Krankenversicherung folgendermaßen versichert sein: ·

In der Gesetzlichen Krankenversicherung

-

als Versicherungspflichtige

-

als freiwillig Versicherte

-

als Familienversicherte

·

In der privaten Krankenversicherung

Eine Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner tritt nur ein, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Grundsätzlich ist die Erfüllung der Vorversicherungszeit Bedingung. Das heißt, der Versicherte muss in der zweiten Hälfte des Zeitraumes von der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Ren-

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tenantrages mindestens zu neun Zehnteln Pflichtmitglied einer Gesetzlichen Krankenversicherung gewesen sein. Dabei werden auch Zeiten einer Familienversicherung vor dem 01.01.1989 berücksichtigt. 3.3.2 Höhe der Beiträge Die Höhe der Beiträge berechnet sich aus der Höhe der monatlichen Bruttorente. Von dem dabei ermittelten Betrag trägt der Versicherungsträger 7,3% und der Rentenbezieher 7,3%. Die Beiträge werden unmittelbar vom Versicherungsträger an die Krankenkassen abgeführt. Bei mehreren Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung wird dieser Krankenkassenbeitrag von jeder Rente einbehalten und abgeführt. 3.3.3 Freiwillig und privat Versicherte Zu einer Rente wird ein Zuschuss zu den Aufwendungen für die Krankenversicherung gezahlt, wenn der Berechtigte freiwillig in der Gesetzlichen Krankenversicherung oder einem privaten Krankenversicherungsunternehmen, das der deutschen Aufsicht unterliegt, versichert und nicht gleichzeitig in der Gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert ist. Der monatliche Zuschuss der Rentenversicherung beziffert sich auf 7,3% der Rente (Stand: Oktober 2016). Der Zuschuss wird nur auf Antrag geleistet. 3.4 Pflegeversicherung für Rentner Das für die Krankenversicherung der Rentner Gesagte gilt prinzipiell auch für die Pflegeversicherung der Rentner. Wer in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert ist, ist das auch in der Pflegeversicherung. Seit 01.04.2004 haben versicherte Rentner den Beitrag in voller Höhe (2,35%71) selbst zu tragen.

71

Kinderlose 2,60%

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Gesetzliche Unfallversicherung – GUV (SGB VII) Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4.

Einführung Aufgaben der GUV Rechtliche Grundlagen Struktur Gliederung Versicherter Personenkreis Versicherte Personengruppen Beginn und Ende der Versicherungspflicht Leistungen Unfallverhütung und Erste Hilfe Leistungen nach Eintritt des Arbeitsunfalls Mitgliedschaft

1. Einführung 1.1 Aufgaben der Gesetzlichen Unfallversicherung Die Unfallversicherung hat folgende Aufgaben: ·

Mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten und für wirksame Erste Hilfe zu sorgen,

·

nach Eintritt eines Arbeitsunfalls den Verletzten, seine Angehörigen und seine Hinterbliebenen zu entschädigen durch

·

-

Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten, Arbeits- und Berufsförderung und Erleichterung der Verletzungsfolgen,

-

Leistungen in Geld an den Verletzten, seine Angehörigen und seine Hinterbliebenen.

Sie befreit die Betriebe und die im Unternehmen tätigen Mitarbeiter weitgehend von Schadenersatzansprüchen wegen verschuldeter Arbeitsunfälle.

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1.2 Rechtliche Grundlagen Durch das Gesetz zur Einordnung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz-UVEG) vom 07. August 1996 (BGBl. I S. 1254) wurde dieser Sozialversicherungszweig als SGB VII in das Sozialgesetzbuch eingefügt. Das am 01.01.2009 in Kraft getretene Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz (UVMG) sieht eine Zusammenlegung der Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften bis Ende 2009 von derzeit 23 auf nur noch neun vor. Die Unfallkassen sollen auf 17 sinken. Ferner wird ein "Überaltlastenausgleich" eingeführt, der die Belastungen der einzelnen Berufsgenossenschaften durch historisch bedingte Altlasten (z.B. Bergbau) gleichmäßig auf alle Träger verteilt. Das Leistungsrecht blieb durch das UVMG unverändert. Es sind ferner zu beachten die Bestimmungen des I., IV., IX. und X. Teils des Sozialgesetzbuchs (SGB), die Satzungen der einzelnen Versicherungsträger sowie EUVerordnungen und Sozialversicherungsabkommen. 1.3 Struktur Die gesetzliche Unfallversicherung hat 1884 die bis dahin bei Verschulden und zum Teil auch bei Gefährdung bestehende unzureichende Haftpflicht des Arbeitgebers abgelöst. Die Gesetzliche Unfallversicherung führte Berufsgenossenschaften ein, gegen die der Arbeitnehmer öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche geltend machen kann. Mitglieder der Berufsgenossenschaften sind die Arbeitgeber. Die Selbstverwaltungsorgane dieser öffentlich-rechtlichen Körperschaften sind je zur Hälfte mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter/innen besetzt. Die Mittel werden im Umlageverfahren von den Arbeitgebern aufgebracht. Seit Bestehen der Unfallversicherung ist der Entschädigungsanspruch unabhängig davon, wer den Unfall verursacht hat. Die Unfallversicherung gewährt Leistungen von Amt wegen, also ohne Antrag, im Unterschied zu den anderen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung. 1.4 Gliederung Allgemeine Unfallversicherung: Gewerbliche Berufsgenossenschaften (BG), nach Gewerbezweigen gegliedert; die Unfallkassen des Bundes und der Länder

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Landwirtschaftliche Unfallversicherung: Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften; Gartenbau-Berufsgenossenschaft See-Unfallversicherung: See-Berufsgenossenschaft, Hamburg Die allgemeine Unfallversicherung umfasst alle Unternehmen und die in ihnen gegen Arbeitsunfall Versicherten, soweit sie nicht der landwirtschaftlichen oder der See-Unfallversicherung unterliegen. 2. Versicherter Personenkreis 2.1 Versicherte Personengruppen Versichert sind kraft Gesetzes: ·

Beschäftigte, Hausgewerbetreibende und Zwischenmeister sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten

·

Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung in Betriebsstätten, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen

·

Personen, die sich Untersuchungen, Prüfungen oder ähnlichen Maßnahmen unterziehen, soweit diese Maßnahmen vom Unternehmen oder einer Behörde veranlasst worden sind

·

Behinderte und Blinde in anerkannten Werkstätten

·

Personen, die in landwirtschaftlichen Unternehmen und Organisationen (auch ehrenamtlich) tätig sind

·

Küstenschiffer und –fischer sowie ihre mitarbeitenden Familienangehörigen

·

Arbeitslose bei Erfüllung ihrer Meldepflicht

·

Personen, die an einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitationsmaßnahme teilnehmen

·

Personen, die im öffentlichen Interesse tätig werden (z.B. ehrenamtliche Helfer, Blutspender, Lebensretter)

·

Kinder in Kindergärten, Schüler und Studierende

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·

Pflegepersonen nach dem Pflegeversicherungsgesetz

·

Personen, die ein Haus in Selbsthilfe errichten

·

Personen, die wie Versicherte tätig werden und

·

Strafgefangene und Personen, die Arbeitsgelegenheiten im Sinne des SGB II wahrnehmen.

Die Satzung kann bestimmen, dass und unter welchen Voraussetzungen sich die Versicherung auf Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten sowie Personen, die sich auf der Unternehmenstätte aufhalten, erstrecken kann. Nicht versichert sind Beamte oder vergleichbare Personengruppen (z.B. Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Schwestern vom Roten Kreuz). Sie haben Anspruch auf Unfallfürsorge. Versicherungsberechtigt sind Unternehmer und ihre im Unternehmen mitarbeitenden Ehegatten. Auf schriftlichen Antrag können sich weitere Personengruppen versichern (z.B. gewählte oder beauftragte Ehrenamtsträger in gemeinnützigen Organisationen). 2.2 Beginn und Ende der Versicherungspflicht Der Versicherungsschutz beginnt, wenn der Versicherte seine Arbeitskraft der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers unterstellt und in einer dem Unternehmen förderlichen und dem ausgesprochenen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechenden Weise tätig wird, evtl. schon mit dem Weg zur erstmaligen Aufnahme der Arbeit. Nach Beendigung der Beschäftigung sind noch versichert der Heimweg und Handlungen, die notwendig sind, um ein Arbeitsverhältnis durch Kündigung oder Einigung über eine vorzeitige Auflösung zu beenden. Ferner der Weg zum Abholen der Papiere vom früheren Arbeitgeber. 3. Leistungen 3.1 Unfallverhütung und Erste Hilfe 3.1.1 Unfallverhütungsvorschriften Die Berufsgenossenschaften erlassen verbindliche Vorschriften über ·

Einrichtungen, Anordnungen und Maßnahmen, welche die Unternehmer zur Verhütung von Arbeitsunfällen zu treffen haben,

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·

das Verhalten, das die Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu beachten haben,

·

ärztliche Untersuchungen von Versicherten vor Aufnahme von Arbeiten, die mit arbeitsbedingten Unfall- oder Gesundheitsgefahren verbunden sind.

Diese Vorschriften und die Strafvorschriften sind bekannt zu machen. Geldbußen bis zu € 10.000 kann der Vorstand gegen Mitglieder oder Versicherte festsetzen, die vorsätzlich oder grob fahrlässig gegen Unfallverhütungsvorschriften verstoßen. 3.1.2 Überwachung der Unfallverhütungsvorschriften Die Aufsichtspersonen (früher: Technische Aufsichtsbeamte) der Berufsgenossenschaften überwachen die Durchführung der Unfallverhütungsvorschriften und beraten die Mitglieder. Wer vorsätzlich oder fahrlässig seinen Pflichten gegenüber den Aufsichtspersonen oder ihren Anordnungen zuwiderhandelt, kann mit einer Geldbuße belegt werden. 3.1.3 Psychologische Unfallverhütung und sonstige Verhütungsmaßnahmen Zur Unfallverhütung werden alle geeigneten neuzeitlichen Mittel wie Plakate, Filme, Merkblätter, Zeitschriften, Fernsehspots usw. eingesetzt. Das kann betrieblich, überbetrieblich, regional und überregional geschehen. Zur Forschung über Unfallverhütung steht vor allem die Bundesanstalt für Unfallerforschung und Unfallschutz in Dortmund zur Verfügung. 3.1.4 Sicherheitsbeauftragte In Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten hat der Arbeitgeber einen oder mehrere Sicherheitsbeauftragte zu bestellen. Die Sicherheitsbeauftragten unterstützen den Arbeitgeber bei der Durchführung des Unfallschutzes und überzeugen sich insbesondere von dem Vorhandensein der ordnungsgemäßen Benutzung der Schutzvorrichtungen. 3.1.5 Erste Hilfe Die Berufsgenossenschaften haben die Betriebe anzuhalten, eine wirksame Erste Hilfe sicherzustellen. Hierzu gehören u.a. die Ausbildung von Betriebshelfern und die Bereitstellung von Verbandkästen.

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3.2 Leistungen nach Eintritt des Arbeitsunfalls 3.2.1 Umfang der Leistungen Die Leistungen umfassen ·

Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten,

·

Arbeits- und Berufsförderung,

·

Maßnahmen zur Erleichterung der Verletzungsfolgen,

·

Leistungen in Geld an den Verletzten und seine Hinterbliebenen.

3.2.2 Voraussetzungen Die Leistungen sind davon abhängig, dass ·

die unfallbringende Tätigkeit gegen Unfall gesetzlich geschützt ist und

·

ein Arbeitsunfall im Sinne des SGB VII eingetreten ist.

Die Leistungen sind von Amts wegen festzustellen. Geschieht das nicht, so ist der Anspruch zur Vermeidung von Nachteilen binnen zwei Jahren nach dem Unfall anzumelden. 3.2.3 Der Arbeitsunfall Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ungeborene Kinder stehen einem Versicherten gleich, wenn die Mutter einen Arbeitsunfall erlitten hat. Sachschäden werden von der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich nicht berücksichtigt. Als Arbeitsunfälle im weiteren Sinne gelten ·

Wegeunfälle,

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·

Berufskrankheiten und

·

Elementarereignisse (Sturm usw.), die bei Betrieben der See- und Binnenschifffahrt auftreten können.

Kein Arbeitsunfall liegt vor, wenn die Unfallgefahr in den persönlichen Verhältnissen begründet liegt, z.B. bei einem Unfall aus innerer Ursache wie Ohnmacht und Epilepsie, oder die Unfallursache im privaten, eigenwirtschaftlichen Bereich liegt. Zum privaten Bereich gehört grundsätzlich auch das Bedürfnis nach Schlaf, Nahrung und Erholung sowie nicht betriebsbezogene Gefälligkeitsleistungen. Versichert ist das Abheben eines Geldbetrages, wenn der Versicherte nach Ablauf eines Lohn- oder Gehaltszahlungszeitraums das Geldinstitut persönlich aufsucht. Verbotswidriges oder fahrlässiges Verhalten schließt das Vorliegen eines mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Arbeitsunfalls nicht aus. Keine Ansprüche bestehen, wenn der Unfall absichtlich bzw. vorsätzlich herbeigeführt wurde. Bei Wegeunfällen muss der Unfall mit dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der versicherten Tätigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Wege, die nur persönlichen oder eigenwirtschaftlichen Zwecken dienen, sind grundsätzlich unversichert. Versichert sind Abweichungen vom unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit, wenn ein Kind, das mit im Haushalt lebt, sich in fremder Obhut befindet und nach dort gebracht bzw. abgeholt wird. Ferner sind Abweichungen im Falle von Fahrgemeinschaften versichert. Eine Berufskrankheit liegt vor, wenn ·

eine Krankheit vorliegt, die in der Berufskrankheiten-Verordnung als Berufskrankheit bezeichnet ist und

·

ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit besteht.

Eine Krankheit soll wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, wenn nach neuen Erkenntnissen eine Anerkennung als Berufskrankheit gerechtfertigt wäre, sie aber in die Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung noch nicht aufgenommen worden ist. Der Arbeitgeber hat binnen drei Tagen nach Kenntnis alle Arbeitsunfälle dem Träger der Unfallversicherung anzuzeigen, die den Tod oder eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen verursachen.

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3.2.4 Medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen (Leistungen zur Teilhabe) 3.2.4.1 Allgemeines Die Heilbehandlung und die Berufshilfe sollen mit allen geeigneten Mitteln (ohne Beschränkung auf das Maß des Notwendigen) ·

die durch den Arbeitsunfall bedingte Körperverletzung und Minderung der Erwerbsfähigkeit beseitigen oder bessern, ihre Verschlimmerung verhüten und

·

den Verletzten nach seiner Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung seiner Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit möglichst auf Dauer beruflich eingliedern.

3.2.4.2 Heilbehandlung Die Träger der Unfallversicherung haben alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst bald nach dem Arbeitsunfall einsetzende, schnelle und sachgemäße Heilbehandlung, soweit nötig eine fachärztliche oder besondere unfallmedizinische Versorgung gewährleistet wird. Grundsätzlich sind die Arbeitgeber, die Krankenkassen und der zuerst tätige Arzt verpflichtet, alle arbeitsunfähigen durch Arbeitsunfälle Verletzten einem Durchgangsarzt zuzuleiten. Der Durchgangsarzt entscheidet, ob berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung notwendig ist oder ob der Verletzte im Rahmen der Krankenpflege der Krankenversicherung zu behandeln ist. Die Heilbehandlung umfasst ·

ärztliche Behandlung,

·

Versorgung mit Arznei, anderen Heilmitteln und Hilfsmitteln und anderen geeigneten Heilmaßnahmen und

·

Gewährung von Pflege.

3.2.4.3 Berufshilfe Die Berufshilfe sollte frühzeitig, möglichst bereits während der Heilbehandlung einsetzen, damit der Versicherte befähigt und ermutigt wird, bald in das Erwerbsleben zurückzukehren. Sie endet erst mit der endgültigen beruflichen Wiedereingliederung. Sie umfasst

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Hilfen zur Erhaltung und Erlangung eines Arbeitsplatzes, evtl. auch Eingliederungsbeihilfen an den Arbeitgeber,

·

Berufsfindung und Arbeitserprobung und

·

berufliche Anpassung, Ausbildung, Fortbildung und Umschulung.

Der Berufshelfer der Unfallversicherung wirkt möglichst auf die Unterbringung am alten Arbeitsplatz und beim bisherigen Unternehmer hin; eine neue Stelle vermittelt er meist unter Beteiligung des Arbeitsamtes. Eine Umschulung wird durchgeführt, wenn der bisherige Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann und sich der Verletzte für den neuen angestrebten Beruf eignet. Während einer Maßnahme der Berufshilfe erhält der Verletzte Übergangsgeld. 3.2.4.5 Verletztengeld Der Verletzte erhält während der Dauer der Arbeitsunfähigkeit Verletztengeld, wenn er infolge des Versicherungsfalles arbeitsunfähig ist oder wegen einer Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben kann und zuvor Anspruch auf Arbeitsentgelt oder Lohnersatzleistungen hatte. Das Verletztengeld wird für max. 78 Wochen gewährt. Das Verletztengeld beträgt 80 vom Hundert des Regelentgelts und darf das nach den Bestimmungen des SGB V zu errechnende Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen. 3.2.5 Entschädigung durch Renten oder sonstige Geldleistungen 3.2.5.1 Allgemeines Die wichtigsten Geldleistungen sind die Verletzten- und die Hinterbliebenenrenten. Diese bemessen sich nach der Höhe des Jahresarbeitsverdienstes vor dem Arbeitsunfall. Als Jahresarbeitsverdienst gilt das Arbeitseinkommen des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall. Für Zeiten ohne Arbeitseinkommen wird das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das der letzten Tätigkeit vor diesen Zeiten entspricht. Der Verletzte wird also so gestellt, als hätte die vor der Unterbrechung ausgeübte Beschäftigung bis zur nächsten Beschäftigung fortbestanden. Arbeitseinkommen ist das Bruttoarbeitsentgelt des Arbeitnehmers aus unselbstständiger Beschäftigung.

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3.2.5.2 Verletztenrente Die Verletztenrente ist zu gewähren, wenn die zu entschädigende Minderung der Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche nach dem Unfall andauert. Zu entschädigen ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit, wenn sie mindestens 20 v.H. beträgt. Ist die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch den Arbeitsunfall um 10 oder 15 v. H. gemindert, so wird die Rente nur gewährt, wenn ein anderer Arbeitsunfall die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v. H. mindert. Die Rente beginnt normalerweise mit dem Tag nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung. Die Rente beträgt ·

bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v. H. zwei Drittel des Jahresarbeitsverdienstes (= Vollrente),

·

bei teilweiser Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Arbeitsunfall den Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht (= Teilrente).

Der Unfallversicherungsträger gewährt regelmäßig zunächst eine vorläufige Rente. Diese Rente kann bei Eintritt einer wesentlichen Änderung jederzeit herabgesetzt oder erhöht werden. Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall muss der Versicherungsträger die Dauerrente (positiv oder negativ) feststellen. Ist zu erwarten, dass nur eine vorläufige Rente zu gewähren ist, so kann der Verletzte nach Abschluss der Heilbehandlung durch eine Gesamtvergütung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwands abgefunden werden. Für Schwerverletzte, die dauerhaft erwerbsgemindert sind und infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können sowie bei Arbeitslosigkeit gibt es Zuschläge. Bei Heimpflege von mehr als einem Kalendermonat kann der Unfallversicherungsträger die Rente um höchstens die Hälfte mindern. 3.2.5.3 Leistungen bei Tod durch Arbeitsunfall Der Tod des Versicherten muss mit dem Arbeitsunfall in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Es genügt, wenn der Arbeitsunfall den Tod um mindestens ein Jahr beschleunigt hat. Bei Tod durch Arbeitsunfall sind zu gewähren ·

ein Sterbegeld,

·

die Kosten für die Überführung,

·

Hinterbliebenenrenten und

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·

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eine Überbrückungshilfe für die Witwe bzw. den Witwer in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen Witwenrente und Vollrente für drei Monate.

Bei den Hinterbliebenenrenten ist zu unterscheiden: Witwen- und Witwerrente Die Witwe bzw. der Witwer erhalten bis zu ihrem Tod oder ihrer Wiederverheiratung eine Witwen- bzw. Witwerrente. Sie beträgt 40 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes, wenn die Witwe bzw. der Witwer das 47. Lebensjahr vollendet hat oder solange mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzogen wird oder Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung vorliegt, sonst nur 30 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes. In diesem Fall wird die Rente längstens für 24 Monate gewährt. Einkommen, das mit einer Witwen- oder Witwerrente zusammentrifft, wird angerechnet. Anrechenbar ist das Einkommen, das monatlich das 26,4fache des aktuellen Rentenwerts der Gesetzlichen Rentenversicherung übersteigt. Von dem danach verbleibenden Einkommen werden 40 vom Hundert angerechnet. Rente an die frühere Ehefrau Einer früheren Ehefrau des durch Arbeitsunfall Verstorbenen wird nach seinem Tod eine Rente in Höhe der Witwenrente vom Tag des Antrages ab gewährt, wenn der Verstorbene ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt zu leisten hatte oder wenigstens während des letzten Jahres vor dem Tod Unterhalt geleistet hat. Beruht der Unterhaltsanspruch auf den §§ 1572, 1573, 1575 oder 1576 BGB, so wird die Rente gewährt, solange die frühere Ehefrau ohne den Arbeitsunfall unterhaltsberechtigt gewesen wäre. Die Regelung gilt für frühere Ehemänner, deren Frauen durch einen Arbeitsunfall verstorben sind, sinngemäß. Waisenrente Waisenrente wird an jedes Kind des (der) durch Arbeitsunfall Verstorbenen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, bei Berufsausbildung bzw. bei Gebrechlichkeit bis zum vollendeten 27. Lebensjahr gewährt. Vollwaisen erhalten eine Rente in Höhe von 30 vom Hundert, Halbweisen eine Rente von 20 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes. Elternrente Verwandte der aufsteigenden Linie sowie Stief- und Pflegeeltern haben unter besonderen Voraussetzungen Anspruch auf Elternrente. Höchstbetrag der Hinterbliebenenrente Die Hinterbliebenenrenten dürfen zusammen 80 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes nicht übersteigen. Beihilfen an Hinterbliebene können gewährt werden, wenn der Tod eines Schwerverletzten mit einem Arbeitsunfall nicht in einem ursächlichen Zusammenhang steht. In der Regel

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handelt es sich um eine einmalige Zahlung in Höhe von 40 vom Hundert des Jahresarbeitsverdienstes. In besonderen Fällen kann eine laufende Beihilfe gewährt werden. 3.2.5.4 Abfindung von Renten Durch die Abfindung von Verletztenrenten wird der Anspruch auf Heilbehandlung und Berufshilfe nicht berührt: Abfindung mit einer Gesamtvergütung Ist zu erwarten, dass nur eine Rente in Form der vorläufigen Entschädigung zu zahlen ist, kann der Unfallversicherungsträger die Versicherten nach Abschluss der Heilbehandlung mit einer Gesamtvergütung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes abfinden. Das schließt Rentenzahlungen nach Ablauf des Zeitraumes, für den die Gesamtvergütung bestimmt ist, nicht aus, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen. Abfindung bei Minderung der Erwerbsfähigkeit unter 40 vom Hundert Die kleinen Dauerrenten wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von unter 40% werden auf Antrag mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abgefunden. Durch diese Abfindung erlöschen die Rentenansprüche aus dem betreffenden Unfall für immer, falls sich die Unfallfolgen später nicht verschlimmern. Abfindung bei Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 40 vom Hundert Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 vom Hundert und mehr haben, können auf ihren Antrag durch einen Geldbetrag abgefunden werden. Die Abfindung kann bis zur Hälfte der Rente für einen Zeitraum von zehn Jahren betragen. Als Abfindungssumme wird das Neunfache des der Abfindung zugrundeliegenden Jahresbetrages der Rente gezahlt. Heiratet eine Witwe oder ein Witwer, so wird das Zweifache des Jahresbetrages der Rente als Abfindung gewährt. Der Rentenanspruch lebt ganz oder teilweise wieder auf, falls diese Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt wird. 4. Mitgliedschaft Mitglieder der Berufsgenossenschaften sind die Arbeitgeber, nicht die versicherten Arbeitnehmer. Die Mitgliedschaft beginnt mit der Eröffnung oder der Aufnahme der vorbereitenden Arbeiten für den Betrieb. Der Arbeitgeber hat die in seinem Betrieb Beschäftigten über die zuständige Berufsgenossenschaft und die Frist zur Anmeldung von Entschädigungsansprüchen zu unterrichten. Die Mittel für die Ausgaben der Berufsgenossenschaften werden durch Beiträge der Arbeitgeber aufgebracht. Die Arbeitnehmer werden zur Beitragsleistung nicht herangezogen. In der Regel werden zunächst Vorschüsse auf die Beiträge von der Berufsgenossenschaft

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gefordert. Die Beitragshöhe ist in der allgemeinen Unfallversicherung (ohne Unfallkassen) abhängig von dem Entgelt der Versicherten und dem Grad der Unfallgefahr im Unternehmen.

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Recht der Arbeitsförderung (SGB III) Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 5.3 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7. 7.1 7.2 7.3 8. 9.

Aufgaben (Versicherungsfälle) und Ziele der Arbeitsförderung Organisation Rechtsgrundlage Begünstigter Personenkreis Leistungen Beratung und Vermittlung Leistungen an Versicherte Leistungen an Träger Lohnersatzleistungen Arbeitslosengeld Unterhaltsgeld Übergangsgeld (Ausbildungsgeld) Kurzarbeitergeld Insolvenzgeld Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung beim Bezug von Lohnersatzleistungen Krankenversicherung Unfallversicherung Rentenversicherung Aufbringung der Mittel Arbeitserlaubnis

1. Aufgaben (Versicherungsfälle) und Ziele der Arbeitsförderung Die Arbeitsförderung soll dem Entstehen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken, die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzen und den Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützen. Die Leistungen der Arbeitsförderung sollen dazu beitragen, dass ein hoher Beschäftigungsstand erreicht und die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert wird. Dabei ist die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Prinzip zu verfolgen. Die Leistungen der Arbeitsförderung sollen insbesondere ·

die Transparenz auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erhöhen und die berufliche und regionale Mobilität unterstützen,

·

die zügige Besetzung offener Stellen ermöglichen,

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·

die individuelle Beschäftigungsfähigkeit durch Erhalt und Ausbau von Kenntnissen, Fertigkeiten sowie Fähigkeiten fördern,

·

unterwertiger Beschäftigung entgegenwirken und

·

die berufliche Situation von Frauen verbessern, indem sie auf die Beseitigung bestehender Nachteile sowie auf die Überwindung eines geschlechtsspezifisch geprägten Ausbildungs- und Arbeitsmarktes hinwirken und Frauen mindestens entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen und ihrer relativen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit gefördert werden.

Aufgaben der Agentur für Arbeit sind: ·

Unterstützung der Beratung und Vermittlung

·

Verbesserung der Eingliederungsaussichten

·

Förderung der Aufnahme einer Beschäftigung

·

Förderung der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit

·

Förderung der Berufsausbildung

·

Förderung der beruflichen Weiterbildung

·

Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben

·

Entgeltersatzleistungen

·

Insolvenzgeld bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers

2. Organisation Die Aufgaben werden von der Bundesagentur für Arbeit ausgeführt. Die Bundesagentur für Arbeit ist eine rechtsfähige bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Sitz der Bundesagentur ist Nürnberg. Sie gliedert sich in eine Zentrale auf der oberen Verwaltungsebene, Regionaldirektionen auf der mittleren Verwaltungsebene und Agenturen für Arbeit auf der örtlichen Verwaltungsebene. Die Organe der Bundesanstalt sind ·

der Verwaltungsrat,

·

der Vorstand,

·

die Verwaltungsausschüsse der Regionaldirektionen und

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die Verwaltungsausschüsse der örtlichen Arbeitsagenturen.

Der Verwaltungsrat und die Verwaltungsausschüsse der Bundesagentur für Arbeit setzen sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften zusammen. Der Verwaltungsrat überwacht den Vorstand und die Verwaltung. Er kann vom Vorstand die Durchführung von Prüfungen durch die Innenrevision verlangen und Sachverständige mit einzelnen Aufgaben der Überwachung beauftragen. Der Verwaltungsausschuss überwacht und berät die Agentur für Arbeit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Ist der Verwaltungsausschuss der Auffassung, dass die Geschäftsführung ihre Pflichten verletzt hat, kann er die Angelegenheit dem Verwaltungsrat vortragen. Die Amtsdauer der Mitglieder der Organe beträgt sechs Jahre.

Der Vorstand leitet die Bundesagentur und führt deren Geschäfte. Er vertritt die Bundesagentur gerichtlich und außergerichtlich.

Die Aufsicht über die Bundesagentur für Arbeit nimmt der Bundesminister für Arbeit wahr. 3. Rechtsgrundlage Das Dritte Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) regelt das deutsche Arbeitsförderungsrecht. Es ist Nachfolger des Arbeitsförderungsgesetzes, das bis zum 31. Dezember 1997 das Arbeitsförderungsrecht regelte. Das SGB III umfasst sämtliche Leistungen und Maßnahmen zur Arbeitsförderung. Es ist damit die Grundlage für die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitsagenturen. Das Sozialgesetzbuch III enthält zudem Regelungen zur Arbeitslosenversicherung. Die Leistungen werden dabei in die drei großen Bereiche Leistungen an Arbeitnehmer, Leistungen an Arbeitgeber sowie Leistungen an Träger unterteilt. Rechtsquellen sind neben dem I., IV., IX. und X. Buch ferner EU-Richtlinien und zwischenstaatliche Abkommen. 4. Begünstigter Personenkreis In einem Versicherungspflichtverhältnis nach dem SGB III stehen Personen, die als Beschäftigte oder aus sonstigen Gründen versicherungspflichtig sind.

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5. Leistungen 5.1 Beratung und Vermittlung 5.1.1 Allgemeine Ausführungen Die Agentur für Arbeit hat Jugendlichen und Erwachsenen, die am Arbeitsleben teilnehmen oder teilnehmen wollen, Berufsberatung und Arbeitgebern Arbeitsmarktberatung anzubieten. Art und Umfang der Beratung soll sich nach dem Beratungsbedarf des einzelnen Ratsuchenden richten. Einbezogen werden sollen bei der Beratung die Kenntnisse über den Arbeitsmarkt des Europäischen Wirtschaftsraumes und die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit den Arbeitsverwaltungen anderer Staaten. Die Vermittlung umfasst alle Tätigkeiten, die darauf gerichtet sind, Ausbildungssuchende mit Arbeitgebern zur Begründung eines Ausbildungsverhältnisses und Arbeitsuchende mit Arbeitgebern zur Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses zusammenzuführen. Die Agentur für Arbeit soll sicherstellen, dass Arbeitslose und Ausbildungssuchende, deren berufliche Eingliederung voraussichtlich erschwert ist, eine verstärkte vermittlerische Unterstützung erhalten. Arbeitsvermittlung und Berufsberatung werden unentgeltlich ausgeübt. Eine Arbeitsvermittlung durch Dritte ist nur mit einer Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit zulässig. Nach Erhebungen wissenschaftlicher Institute wird nur jeder dritte freie Arbeitsplatz trotz der in § 81 SGB IX niedergelegten Pflichten der Agentur für Arbeit gemeldet. Noch geringer sind die Vermittlungsergebnisse. Ca. 12 % der Arbeitgeber bedienen sich der Vermittlungstätigkeit der Agentur für Arbeit. Quantitativ und qualitativ bedeutsamer ist die Personalwerbung durch die Arbeitgeber selbst (z.B. durch Anzeigen oder Internet) oder durch persönliche Kontakte. Die gesetzlichen Vorgaben, die der Agentur für Arbeit eine herausragende Bedeutung bei der Vermittlung beimessen, werden nur unzureichend umgesetzt. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Kritisiert wird von Arbeitgebern und berufsständischen Kammern, dass Besetzungsvorschläge der Agentur für Arbeit nur zögerlich und oft wenig passgenau erfolgten. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll laut einem Prüfbericht des Bundesrechnungshofs ihre Vermittlungsstatistiken manipuliert haben. Das berichtet der Spiegel. Die Agentur würde sich hauptsächlich auf Kunden konzentrieren, die auch ohne Hilfe einen Job bekämen und diese dann als Vermittlungserfolge verbuchen, heißt es in dem Bericht. Arbeitslose mit weniger guten Voraussetzungen würden dagegen schlechter betreut. Der Rechnungshof hatte laut Spiegel in einer Stichprobe sieben der 156 Arbeitsagenturen sowie sieben Regionaldirektionen drei Monate lang untersucht. „Die Tatsache, dass wir in allen geprüften Agenturen Fehlsteuerungen festgestellt haben, zeigt, dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt", heißt es im Fazit (Zeit Online vom 23.06.2013).

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Die Vermittlung von Arbeitsuchenden wird in der Praxis auf die Arbeitslosen überwälzt. Beispielsweise müssen sich SGB II-Empfänger in der Eingliederungsvereinbarung gem. § 15 SGB II regelhaft verpflichten, monatlich fünf Bewerbungen zu tätigen und diese der Agentur für Arbeit nachzuweisen. Ansonsten droht eine Kürzung der Leistungen. 5.1.2 Frühzeitige Arbeitssuche Versicherte, deren Arbeitsverhältnis endet, sind verpflichtet, sich unverzüglich persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden, wenn sie vom Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses Kenntnis erlangen. Im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses hat die Meldung jedoch frühestens drei Monate vor dessen Beendigung zu erfolgen. Die Pflicht zur Meldung besteht unabhängig davon, ob der Fortbestand des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht wird. 5.1.3 Unterstützung der Beratung und Vermittlung Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitsuchende sowie Ausbildungssuchende können zur Beratung und Vermittlung unterstützende Leistungen erhalten, soweit der Arbeitgeber gleichartige Leistungen nicht oder voraussichtlich nicht erbringen wird. Als unterstützende Leistungen können Kosten für die Erstellung und Versendung von Bewerbungsunterlagen und Reisekosten übernommen werden. 5.1.4 Zumutbarkeit Einem arbeitslosen Versicherten sind alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen. Allgemeine Gründe liegen vor, wenn die neue Beschäftigung gegen gesetzliche oder Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstößt. Aus personenbezogenen Gründen ist eine Beschäftigung einem Arbeitslosen insbesondere nicht zumutbar, wenn das daraus erzielbare Arbeitsentgelt erheblich niedriger ist als das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zugrunde liegende Arbeitsentgelt. In den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit ist eine Minderung um mehr als 20 Prozent und in den folgenden drei Monaten um mehr als 30 Prozent dieses Arbeitsentgelts nicht zumutbar. Vom siebten Monat der Arbeitslosigkeit an ist dem Arbeitslosen eine Beschäftigung nur dann nicht zumutbar, wenn das daraus erzielbare Nettoeinkommen unter Berücksichtigung der mit der Beschäftigung zusammenhängenden Aufwendungen niedriger ist als das Arbeitslosengeld.

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5.1.5 Eingliederungszuschüsse Betriebe können zur Eingliederung von Arbeitnehmern mit Vermittlungshemmnissen Zuschüsse zu den Arbeitsentgelten erhalten, wenn deren Vermittlung wegen in ihrer Person liegender Umstände erschwert ist. Die Förderhöhe und die Förderdauer richten sich nach dem Umfang einer Minderleistung des Arbeitnehmers und nach den jeweiligen Eingliederungserfordernissen. 5.2 Leistungen an Versicherte 5.2.1 Mobilitätshilfen Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Versicherte, können durch Mobilitätshilfen gefördert werden. Sie umfassen ·

Leistungen für den Lebensunterhalt bis zur ersten Arbeitsentgeltzahlung,

·

Leistungen für Arbeitskleidung und Arbeitsgerät,

·

Übernahme der Kosten für die Fahrt zum Antritt einer Arbeitsstelle, tägliche Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstelle, getrennte Haushaltsführung und Umzugsbeihilfe.

Leistungen kommen auch für Auszubildende in Frage, die bei der Agentur für Arbeit als Bewerber für eine berufliche Ausbildungsstelle gemeldet sind. 5.2.2 Förderung der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden oder vermeiden, haben zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf Überbrückungsgeld. 5.2.3 Förderung der Berufsausbildung Auszubildende haben Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe während einer beruflichen Ausbildung oder einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, wenn die Maßnahme förderungsfähig ist, sie zum begünstigten Personenkreis zählen und die erforderlichen Mittel zur Deckung des Bedarfs für den Lebensunterhalt, die Fahrtkosten, die sonstigen Aufwendungen und die Lehrgangskosten nicht anderweitig zur Verfügung stehen.

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Maßnahmen an einer Fachhochschule, Hochschule oder vergleichbaren Bildungsstätte sind keine beruflichen Bildungsmaßnahmen im Sinne des Arbeitsförderungsgesetzes. 5.2.4 Förderung der beruflichen Weiterbildung Versicherte können bei Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung durch Übernahme der Weiterbildungskosten und Gewährung von Unterhaltsgeld gefördert werden, wenn ·

die Weiterbildung notwendig ist, um sie bei Arbeitslosigkeit beruflich einzugliedern, eine ihnen drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden, bei Ausübung einer Teilzeitbeschäftigung eine Vollzeitbeschäftigung zu erlangen oder weil bei ihnen wegen eines fehlenden Berufsabschlusses die Notwendigkeit der Weiterbildung anerkannt ist,

·

die Vorbeschäftigungszeit erfüllt ist,

·

vor Beginn der Teilnahme eine Beratung durch die Agentur für Arbeit erfolgte und

·

die Maßnahme und der Träger der Maßnahme für die Förderung zugelassen sind.

Betriebe, die einem Arbeitnehmer die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung ermöglichen und dafür einen Arbeitslosen einstellen, können einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt des Vertreters erhalten. Wird ein Arbeitsloser von einem Verleiher eingestellt, um ihn als Vertreter für einen anderen Arbeitnehmer, der sich beruflich weiterbildet, zu verleihen, kann der Entleiher einen Zuschuss für das dem Verleiher zu zahlende Entgelt erhalten. 5.2.5 Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben Behinderten Menschen können Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern. Bei der Auswahl der Leistungen sind Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes angemessen zu berücksichtigen. Soweit es erforderlich ist, schließt das Verfahren zur Auswahl der Leistungen eine Abklärung der beruflichen Eignung oder eine Arbeitserprobung ein. Zu unterscheiden ist zwischen allgemeinen und besonderen Leistungen. Die allgemeinen Leistungen umfassen die Leistungen zur ·

Unterstützung der Beratung und Vermittlung,

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·

Verbesserung der Aussichten auf Teilhabe am Arbeitsleben,

·

Förderung der Aufnahme einer Beschäftigung,

·

Förderung der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit,

·

Förderung der Berufsausbildung und

·

Förderung der beruflichen Weiterbildung.

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Die besonderen Leistungen sind anstelle der allgemeinen Leistungen insbesondere zur Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung einschließlich Berufsvorbereitung sowie blindentechnischer und vergleichbarer spezieller Grundausbildungen zu erbringen. 5.3 Leistungen an Träger 5.3.1 Berufliche Ausbildung Träger von Maßnahmen der beruflichen Ausbildung können durch Zuschüsse gefördert werden, wenn sie ·

durch zusätzliche Maßnahmen zur betrieblichen Ausbildung für förderungsbedürftige Auszubildende diesen eine berufliche Ausbildung ermöglichen und ihr Eingliederungsaussichten verbessern oder

·

besonders benachteiligte Jugendliche, die keine Beschäftigung haben und nicht ausbildungssuchend oder arbeitssuchend gemeldet sind, durch zusätzliche soziale Betreuungsmaßnahmen an Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung heranführen.

5.3.2 Förderung von Einrichtungen der beruflichen Aus- oder Weiterbildung oder der beruflichen Rehabilitation Träger von Einrichtungen der beruflichen Aus- oder Weiterbildung oder Einrichtungen der Beruflichen Rehabilitation können durch Darlehen und Zuschüsse gefördert werden, wenn dies für die Erbringung von anderen Leistungen der aktiven Arbeitsförderung erforderlich ist und die Träger sich in angemessenem Umfang an den Kosten beteiligen. Gefördert werden der Aufbau, die Erweiterung und die Ausstattung von Einrichtungen, die der beruflichen Bildung behinderter Menschen dienen sowie Maßnahmen zur Entwicklung oder Weiterentwicklung von Lehrgängen, Lehrprogrammen und Lehrmethoden zur beruflichen Bildung behinderter Menschen.

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Voraussetzung für eine Förderung ist die vorherige Abstimmung mit dem zuständigen Bundesministerium sowie die Mitwirkung der Bundesagentur für Arbeit. Das hier Gesagte gilt für Träger von Jugendwohnheimen entsprechend. 6. Lohnersatzleistungen 6.1 Arbeitslosengeld 6.1.1 Anspruchsberechtigte Anspruch auf Arbeitslosengeld haben Versicherte, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und die Anwartschaft erfüllt haben. Arbeitslos ist ein Versicherter, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht und eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung sucht. Der Versicherte hat sich persönlich bei der zuständigen Agentur für Arbeit arbeitslos zu melden. Eine Meldung ist auch zulässig, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht eingetreten, der Eintritt der Arbeitslosigkeit aber innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist. Die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld hat erfüllt, wer in einer Rahmenfrist von zwei Jahren mindestens zwölf Monate (in Ausnahmefällen sechs Monate) in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. 6.1.2 Sonderformen des Arbeitslosengeldes Anspruch auf Arbeitslosengeld haben auch Versicherte, die allein deshalb nicht arbeitslos sind, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben können, die auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind. Verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der Gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht festgestellt worden sein. Es handelt sich in der Regel um Versicherte, die aus dem Leistungsbezug von Krankengeld nach 78-wöchiger Bezugsdauer ausgesteuert worden sind. 6.1.3

Anspruchsdauer Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt

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Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) - Arbeitsförderung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, BGBl. I S. 594) § 147 Grundsatz (1) Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld richtet sich nach 1. der Dauer der Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der um drei Jahre erweiterten Rahmenfrist und 2. dem Lebensalter, das die oder der Arbeitslose bei der Entstehung des Anspruchs vollendet hat. Die Vorschriften des Ersten Unterabschnitts zum Ausschluss von Zeiten bei der Erfüllung der Anwartschaftszeit und zur Begrenzung der Rahmenfrist durch eine vorangegangene Rahmenfrist gelten entsprechend. (2) Die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld beträgt nach Versicherungspflichtverhältnissen mit einer Dauer von insgesamt mindestens … Monaten

und nach Vollendung des … Lebensjahres

… Monate

12

6

16

8

20

10

24

12

30

50.

15

36

55.

18

48 58. 24 (3) Bei Erfüllung der Anwartschaftszeit nach § 142 Absatz 2 beträgt die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld unabhängig vom Lebensalter

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nach Versicherungspflichtverhältnissen mit einer Dauer von insgesamt mindestens … Monaten … Monate 6

3

8

4

10 5 Abweichend von Absatz 1 sind nur die Versicherungspflichtverhältnisse innerhalb der Rahmenfrist des § 143 zu berücksichtigen. (4) Die Dauer des Anspruchs verlängert sich um die Restdauer des wegen Entstehung eines neuen Anspruchs erloschenen Anspruchs, wenn nach der Entstehung des erloschenen Anspruchs noch nicht fünf Jahre verstrichen sind; sie verlängert sich längstens bis zu der dem Lebensalter der oder des Arbeitslosen zugeordneten Höchstdauer.

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Bei verspäteter Meldung, bei Anlass zu Sperrzeiten oder bei Arbeitskämpfen kann der Anspruch auf Arbeitslosengeld vorübergehend ruhen oder ganz erlöschen. Nebeneinkommen sind grundsätzlich anzurechnen.

6.1.4 Teilarbeitslosengeld Teilarbeitslosigkeit und damit Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht, wenn ein Versicherter eine versicherungspflichtige Beschäftigung verloren hat, die er neben einer weiteren versicherungspflichtigen Beschäftigung ausübte, und eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht. 6.2 Unterhaltsgeld Versicherte können bei Teilnahme an einer Vollzeitmaßnahme der Umschulung oder Weiterbildung Unterhaltsgeld erhalten, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen. Bei Teilnahme an einer für die Weiterbildungsförderung anerkannten Teilzeitmaßnahme, die mindestens zwölf Stunden wöchentlich umfasst, ist die Gewährung von Teilunterhaltsgeld möglich. Auf das Unterhaltsgeld finden die Vorschriften des Arbeitslosengeldes entsprechend Anwendung. 6.3 Übergangsgeld (Ausbildungsgeld) Versicherte, die behindert sind, haben Anspruch auf Übergangsgeld, wenn die Vorbeschäftigungszeit erfüllt ist und sie an einer Maßnahme der Berufsausbildung, der Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der Behinderung erforderlichen Grundausbildung oder an einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung teilnehmen. In bestimmten, im SGB III näher konkretisierten Fällen besteht auch die Möglichkeit, behinderte Menschen ohne Vorbeschäftigungszeit zu fördern. 6.4 Kurzarbeitergeld Versicherte haben Anspruch auf Kurzarbeitergeld, wenn es zu einem erheblichen Arbeitsausfall mit entsprechend geringerem Entgelt kommt, die betrieblichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind und der Arbeitsausfall der Agentur für Arbeit angezeigt worden ist.

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Von einem erheblichen Arbeitsausfall spricht man, wenn mindestens ein Drittel der im Betrieb Beschäftigten von einem Entgeltausfall von jeweils mehr als zehn Prozent ihres monatlichen Bruttoentgelts betroffen ist. Das Kurzarbeitergeld beträgt 60 bzw. 67% der Nettoentgeltdifferenz. Es handelt sich hierbei um den Unterschiedsbetrag zwischen pauschaliertem Nettoentgelt aus dem Sollentgelt und dem pauschalierten Nettoentgelt aus dem Istentgelt. Die Bezugsdauer ist gesetzlich auf sechs Monate begrenzt. Danach läuft eine Sperrfrist von drei Monaten. Die Regelbezugsdauer kann bei gesamtwirtschaftlichen Problemen („außergewöhnliche Umstände") durch Rechtsverordnung auf bis zu 24 Monate verlängert werden. 6.5 Insolvenzgeld Versicherte haben bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens, bei Abweisung des Antrags mangels Masse oder bei vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland Anspruch auf Insolvenzgeld. Es dient als Lohnersatzleistung für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses. Der Anspruch auf Insolvenzgeld geht auf den Erben des Arbeitnehmers über. Das Insolvenzgeld wird in Höhe des Nettoarbeitsentgelts geleistet. Dieses ergibt sich aus dem auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze der Gesetzlichen Rentenversicherung begrenzte Bruttoarbeitsentgelt abzüglich der gesetzlichen Abzüge. 6.6 Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft Versicherte in der Bauwirtschaft haben Anspruch auf Abgeltung witterungsbedingter Mehraufwendungen für geleistete Arbeitsstunden sowie auf Winterausfallgeld (SaisonKurzarbeitergeld). Voraussetzung hierfür ist, dass der Arbeitnehmer auf einem witterungsabhängigen Arbeitsplatz beschäftigt ist und das Arbeitsverhältnis in der Schlechtwetterzeit nicht aus witterungsbedingten Gründen gekündigt werden kann.

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7. Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung beim Bezug von Lohnersatzleistungen 7.1 Krankenversicherung Empfänger von Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld und Übergangsgeld sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Die Mitgliedschaft beginnt mit dem Tag, von dem Leistungen bezogen werden. Sie endet mit Ablauf des letzten Tags des Leistungsbezugs. Die Beiträge trägt die Bundesanstalt für Arbeit. 7.2 Unfallversicherung Empfänger von Lohnersatzleistungen der Bundesagentur für Arbeit sind versichert, soweit sie ihrer Meldepflicht nachkommen. Im Übrigen gelten die Vorschriften des SGB VII. 7.3 Rentenversicherung Zeiträume, in denen Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld oder Übergangsgeld bezogen wird, gelten in der Gesetzlichen Rentenversicherung als Beitragszeit (früher: Anrechnungszeit). 8. Aufbringung der Mittel Die zur Erfüllung der Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit notwendigen Mittel werden durch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber, durch Umlagen (Wintergeld und Insolvenzausfallgeld) und Zuschüsse des Bundes aufgebracht. Die Versicherungspflicht ist der in der Gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen. Daneben sind auch Gefangene versichert. Hier gelten die Länder als Arbeitgeber. Die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber betragen ab 01.01.2011 je 1,5 vom Hundert der Bemessungsgrundlage (s. Anlage zum Kapitel Krankenversicherung). 9. Arbeitserlaubnis An Stelle der Arbeitsagentur ist seit dem 01.01.2005 mit dem Zuwanderungsgesetz die Ausländerbehörde für die Erteilung der Arbeitserlaubnis zuständig. Die Arbeitsagentur wird, soweit erforderlich, nur noch in einem behördeninternen Zustimmungsverfahren beteiligt.

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Arbeitnehmer, die nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind, bedürfen grundsätzlich einer Arbeitserlaubnis. Ausgenommen sind Arbeitnehmer aus den EU-Staaten, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und der Schweiz. Die Arbeitserlaubnis ist in den Aufenthaltstitel integriert. Eine Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet darf grundsätzlich nur dann ausgeübt werden, wenn der Aufenthaltstitel dies erlaubt. Für Staatsangehörige von Australien, Israel, Japan, Kanada, Südkorea, Neuseeland und den Vereinigten Staaten von Amerika gelten Sonderregelungen. Sie können den erforderlichen Aufenthaltstitel auch nach der Einreise bei der zuständigen Ausländerbehörde in Deutschland einholen. Für Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen ist ein Arbeitsmarktzugang nur nachrangig möglich.

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Seite 192

Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI)72

Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Vorgeschichte der Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland Wesen der Gesetzlichen Pflegeversicherung Rechtsgrundlagen Träger der Gesetzlichen Pflegeversicherung Versicherter Personenkreis Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung Stufen der Pflegebedürftigkeit Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung ab 01.01.2017 Ergänzende Erläuterungen Leistungsarten Pflegesachleistungen und Barleistungen Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen 6.8 Teilstationäre Pflege 6.9 Vollstationäre Pflege 6.10 Pflegebedürftige in Einrichtungen für behinderte Menschen 6.11 Pflegehilfsmittel und technische Hilfen 6.12 Rentenversicherungsbeiträge für die Pflegeperson 72

Die angegebenen Beträge entsprechen dem seit 01.01.2015 gültigen Ersten Pflegestärkungsgesetz und dem ab 01.01.2017 Anwendung findenden Pflegestärkungsgesetz II. Folgende Maßnahmen wurden eingeleitet: · · ·

Ein Drittel der zusätzlichen Einnahmen (1,2 Mrd. €) fließen in einen Vorsorgefonds. Damit sollen ab 2035 die Beiträge gedämpft werden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Der Fonds soll bei der Bundesbank angelegt werden. Wer kurzfristig die Pflege eines Angehörigen organisieren muss, kann eine bezahlte zehntägige Auszeit vom Job nehmen. Die 100 Millionen € dafür stammen aus der Beitragserhöhung. Die Pflegezeit wird in einem gesonderten Gesetz geregelt. Beschäftigte in Pflegeheimen sollen nach Tariflohn bezahlt werden, wenn dazu eine Vereinbarung besteht. Bei Vergütungsverhandlungen zwischen Pflegekassen und Heimen darf die Bezahlung nach Tarif nicht mehr als unwirtschaftlich abgelehnt werden.

Die nächste Stufe (Pflegestärkungsgesetz II) wurde im Jahr 2016 als Gesetz eingebracht. Die Beiträge werden um weitere 0,2 Prozentpunkte angehoben. Das erbringt für die Gesetzliche Pflegeversicherung Einnahmen in Höhe von 2,4 Mrd. €. Durch die neue Definition von Pflegebedürftigkeit und ein neues Begutachtungssystem werden geistige und psychische Beeinträchtigungen gleichberechtigt wie körperliche Leiden berücksichtigt. Statt bisher drei Pflegestufen gibt es ab 01.01.2017 fünf Pflegegrade.

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7. 8. 9. 9.1 9.2 9.3 10.

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Rechtsbeziehungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung zu den Leistungsanbietern Pflegestützpunkte und Pflegeberatung Finanzierung der Pflegeeinrichtungen Allgemeines Pflegesätze Vergütung für ambulante Pflegeleistungen Wechselbeziehungen zwischen der Gesetzlichen Pflegeversicherung und der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII

1. Vorgeschichte der Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland In den 1970er und 1980er Jahren ist in der Bundesrepublik Deutschland mehrfach versucht worden, eine Risikoabsicherung für den Fall der Pflegebedürftigkeit zu etablieren. Bereits im Gesundheitsreformgesetz von 1989 hat der Gesetzgeber den Begriff der „Schwerpflegebedürftigkeit" eingeführt und für den Fall des Vorliegens der Voraussetzungen entsprechende Leistungen aus der Gesetzlichen Krankenversicherung vorgesehen. Vielen Älteren sind die Aussagen des früheren Ministers Blüm noch in Erinnerung, wonach die Leistungskürzungen im Zusammenhang mit der Einführung des Gesundheitsreformgesetzes dazu genutzt werden sollten, die Beiträge zu senken und einen Einstieg in die Absicherung bei Pflegebedürftigkeit vorzunehmen. 2. Wesen der Gesetzlichen Pflegeversicherung Die Gesetzliche Pflegeversicherung ist trotz der Pflegestärkungsgesetze I und II ihrem Wesen nach eine Grundsicherung, keine am Bedarf orientierte Vollsicherung, auch wenn sie grundsätzlich als Sachleistung konzipiert ist. Die Höhe der Leistungen ist betragsmäßig festgeschrieben. In Einzelfällen ist eine Vorversicherungszeit erforderlich. Die Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung gehen von einer punktuellen Absicherung des pflegebedingten Aufwands mit relativ enger Abgrenzung aus. Die Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung ist von vielen kommunalen Gebietskörperschaften und kirchlichen Trägern zum Anlass genommen worden, finanzielle Eigenleistungen zurückzuführen. 3. Rechtsgrundlagen Rechtsgrundlage ist das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz) vom 28. Mai 1994. Es ist als XI. Buch in das Sozialgesetzbuch eingefügt worden. Weitere Ausgestaltungen dieses Zweiges der Sozialversicherung sind kaum noch überschaubar und gehen einher mit Beitragserhöhungen. Besonders zu erwähnen sind das seit 01.01.2015 gültige Erste Pflegestärkungsgesetz sowie das vom Bundestag am 13. Novem-

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ber 2015 verabschiedete "Zweite Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz - PSG II -)". Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt. Es ist am 01. Januar 2016 in Kraft getreten. Wesentliche inhaltliche Vorschriften finden erst ab 01.01.2017 Anwendung. Das PSG II führt einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren ein. Zur Finanzierung der PSG steigen die Beiträge zur Pflegeversicherung 2017 um 0,2 Prozentpunkte. Die neue Definition der Pflegebedürftigkeit soll insbesondere dazu beitragen, dass nicht mehr zwischen körperlichen Einschränkungen einerseits und kognitiven und psychischen Einschränkungen andererseits unterschieden wird. Der individuelle Unterstützungsbedarf jedes Einzelnen soll ausschlaggebend sein. Damit ist eine Besserstellung von Demenzkranken verbunden. Mit dem PSG II erhalten pflegende Angehörige ab 01. Januar 2016 einen Rechtsanspruch auf eine Pflegeberatung. Im Übrigen dient das Jahr 2016 der Vorbereitung auf das ab 01. Januar 2017 geltende neue System der Pflegebegutachtung mit fünf Pflegegraden an Stelle der bisher drei Pflegestufen. Für Pflegebedürftige, die zum 01. Januar 2017 bereits Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, enthält das Gesetz Überleitungsregelungen. Auch die anderen Bücher des Sozialgesetzbuches (Teil I - Allgemeiner Teil, Teil IV - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung und Teil X - Verwaltungsverfahren) finden Anwendung. 4. Träger der Gesetzlichen Pflegeversicherung Träger der Gesetzlichen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen. Bei jeder Gesetzlichen und bei jeder privaten Krankenkasse wurde als Abteilung dieser juristischen Personen eine Pflegekasse errichtet. Ihre Mittel sind von denen der Krankenversicherung getrennt zu verwalten. Die Pflegekassen sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Organe der Pflegekassen sind die Organe der Gesetzlichen Krankenkassen bzw. der privaten Krankenversicherungen, bei denen sie errichtet worden sind. Arbeitgeber der für die Pflegekasse tätigen Beschäftigten ist die Krankenkasse/Krankenversicherung, bei der die Pflegekasse errichtet ist. 5. Versicherter Personenkreis Aus dem Grundsatz "Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung" ergibt sich, dass alle Personen, die der Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen, in der Gesetzlichen Pflegeversicherung pflichtversichert sind. Darüber hinaus sind jedoch auch alle Personen pflichtversichert, die Mitglied einer privaten Krankenversicherung sind. Sowohl die Familien- als auch die Weiterversicherung orientieren sich inhaltlich an den Maßstäben der Gesetzlichen Krankenversicherung.

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6. Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung 6.1 Stufen der Pflegebedürftigkeit Für die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz sind pflegebedürftige Personen einer von fünf Pflegegraden zuzuordnen: ·

Pflegegrad 1 geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

·

Pflegegrad 2 erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

·

Pflegegrad 3 schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

·

Pflegegrad 4 schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit

·

Pflegegrad 5 schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

Überleitung von Pflegestufe zu Pflegegrad: Die Überleitung von Pflegestufen in Pflegegrade erfolgte zum 01.01.2017 automatisch. Menschen mit körperlichen Einschränkungen wurden in den nächst höheren Pflegegrad übergeleitet. Menschen, bei denen man zusätzlich eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz feststellte, wurden direkt in den übernächsten Pflegegrad eingestuft. Daraus folgt, dass die Überleitungsregeln bei Personen mit rein körperlichen Einschränkungen und den Menschen mit geistigen oder psychischen Einschränkungen unterschiedlich sind: Bis Dezember 2016

Ab Januar 2017

Pflegestufe 0 mit eingeschränkter Alltagskompetenz

Pflegegrad 2

Pflegestufe I mit eingeschränkter Alltagskompetenz

Pflegegrad 3

Pflegestufe II mit eingeschränkter Alltagskompetenz

Pflegegrad 4

Pflegestufe III mit eingeschränkter Alltagskompetenz

Pflegegrad 5

Pflegestufe III plus Härtefall und/oder eingeschränkter Alltagskompetenz

Pflegegrad 5

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Seite 196

6.2 Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung ab 01.01.201773: Leistungen

Pflegegrade 1

2

3

4

5

ab 2017

-

€ 316

€ 545

€ 720

€ 901

bis 2016

-

€ 12374

€ 31675

€ 54576

€ 72877

€ 24478

€ 45879

€ 72880

Pflegegeld

Pflegesachleistungen ab 2017

-

€ 689

€ 1.298

€ 1.612

€ 1.995

bis 2016

-

€ 23174

€ 68975

€ 1.29876

€ 1.61277

€ 46878

€ 1.14479

€ 1.61280

€ 1.99581

73

Quelle: Verbraucherzentrale Pflegestufe 0 75 Pflegestufe I + eingeschränkte Alltagskompetenz 76 Pflegestufe II + eingeschränkte Alltagskompetenz 77 Pflegestufe III + eingeschränkte Alltagskompetenz 78 Pflegestufe I 79 Pflegestufe II 80 Pflegestufe III 74

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Tages- und Nachtpflege ab 2017

-

€ 689

€ 1.298

€ 1.612

€ 1.995

bis 2016

-

€ 23174

€ 68975

€ 1.29876

€ 1.61277

€ 46878

€ 1.14479

€ 1.61280

-

Vollstationäre Pflege ab 2017

-

€ 770

€ 1.262

€ 1.775

€ 2.005

bis 2016

-

€ 1.06479

€ 1.06476

€ 1.33077

€ 1.61278

-

€ 1.33080

€ 1.61281

€ 1.99582

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6.3 Ergänzende Erläuterungen Der Pflegegrad 1 erstreckt sich auf Personen, die nur wenig personelle Unterstützung (Teilhilfe bei Selbstversorgung, Verlassen der Wohnung, Haushaltsführung) benötigen. Dies betrifft vor allem Personen, die nach dem bisherigen System gar keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung haben. Ab 2017 können sie sich für Hilfen, die sie im Alltag unterstützen, bis zu € 125 erstatten lassen. Wer in einem Pflegeheim wohnt, erhält € 125 als Zuschuss. Das Pflegestärkungsgesetz II sieht vor, dass eine Überleitung in das neue System bis zum 01.01.2019 ohne eine neue Begutachtung erfolgt. Braucht jemand mehr Pflege als zuvor, kann er weiterhin jederzeit einen Antrag auf ein neues Gutachten stellen. Pflegebedürftige, die bis zum 31.12.2016 bereits eine Pflegestufe haben und Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, genießen einen Bestandsschutz. Er gilt ein Leben lang und auch bei einem Wechsel der Pflegekasse. Maßgeblich ist künftig, inwieweit jemand tägliche Anforderungen selbst bewältigen kann. Das Gutachten berücksichtigt körperliche ebenso wie geistige und psychische Einschränkungen. Nach deren Schwere richtet sich die Einstufung in einen der Pflegegrade. Um zu bestimmen, wie selbstständig jemand noch handeln kann, werden künftig sechs Lebensbereiche betrachtet und erkennbare körperliche, geistige und psychische Einschränkungen erfasst. Diese sechs geprüften Lebensbereiche fließen mit unterschiedlicher Gewichtung in die Gesamtbewertung ein. Gewichtung: Mobilität

10 %

Kognitive und kommunikative Fähigkeiten oder Verhaltensweisen und psychische Problemlagen

15 %

Selbstversorgung

40 %

Umgang mit krankheits- und Therapiebedingten Anforderungen

20 %

Gestaltung des Alltagslebens

15 %

Die Gewichtung hat sich zugunsten von Beeinträchtigungen im geistigen und psychischen Bereich verändert. Es ist daher zu erwarten, dass Personen, die ausschließlich körperliche Beeinträchtigungen haben, schwerer hohe Pflegegrade erreichen werden. Die neue Begutachtung erlaubt es, auf die Belange der Kinder besser einzugehen. Dabei wird berücksichtigt, dass sich ihr jeweiliger Pflegebedarf stark von dem Erwachsener unterscheidet. Als Vergleich dienen gesunde gleichaltrige Kinder.

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Eine Sonderregelung gibt es für Kinder bis zu 18 Monaten. Sie werden einen Pflegegrad höher eingestuft als Erwachsene mit gleicher Bedürftigkeit. Diesen Pflegegrad können sie ohne eine erneute Begutachtung bis zum 18. Lebensmonat behalten – es sei denn, ihre Situation verbessert oder verschlechtert sich und macht deshalb eine erneute Begutachtung erforderlich. Änderungen hinsichtlich des Anspruchs auf Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen: ·

Der Pflegebedürftige hat mindestens den Pflegegrad 2.

·

Die Pflegeperson wendet mindestens 10 Stunden in der Woche für Pflege auf.

·

Die zehn Stunden sind auf mindestens zwei Tage verteilt.

·

Die Pflegeperson arbeitet nicht mehr als 30 Stunden in der Woche.

Es besteht die Möglichkeit, die erforderlichen 10 Stunden zu erreichen, indem die Pflegezeit bei mehreren Pflegebedürftigen addiert wird. 6.4 Leistungsarten Die Gesetzliche Pflegeversicherung gewährt folgende Leistungen: ·

Pflegesachleistungen (Einsatz von Pflegekräften durch die Pflegekassen oder ambulante Dienste)

·

Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (Barleistungen)

·

Kombination von Sach- und Geldleistungen

·

Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson

·

Pflegehilfsmittel und technische Hilfen

·

Tagespflege und Nachtpflege (teilstationäre Pflege)

·

Kurzzeitpflege

·

Vollstationäre Pflege

·

Pflege in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen

·

Leistungen zur sozialen Absicherung der Pflegeperson (Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen)

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·

Zusätzliche Leistungen bei Pflegezeit

·

Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen

·

Zusätzliche Betreuungsleistungen

·

Leistungen des Persönlichen Budgets

·

Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen

6.5 Pflegesachleistungen und Barleistungen Siehe Darstellung bei 6.2 6.6 Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson Bei Verhinderung der Pflegeperson wegen Erholungsurlaub, Krankheit oder aus anderen Gründen übernimmt die Gesetzliche Pflegeversicherung die Kosten für eine Ersatzpflegekraft für längstens sechs Wochen je Kalenderjahr. Hierfür ist für alle Pflegegrade ein Betrag von € 1.612 vorgesehen. 6.7 Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen Pflegebedürftige aller Pflegegrade haben Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 205 Euro monatlich, wenn sie in ambulant betreuten Wohngruppen in einer gemeinsamen Wohnung mit häuslicher pflegerischer Versorgung leben. 6.8 Teilstationäre Pflege Der Anspruch umfasst je Kalendermonat: ·

Pflegegrad 1:

bis € 468

·

Pflegegrad 2:

bis € 1.144

·

Pflegegrad 3:

bis € 1.612

Pflegebedürftige können teilstationäre Tages- und Nachtpflege zusätzlich zu ambulanten Pflegesachleistungen, Pflegegeld oder der Kombinationsleistung nach

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§ 38 in Anspruch nehmen, ohne dass eine Anrechnung auf diese Ansprüche erfolgt. 6.9 Vollstationäre Pflege Siehe Grafik zu Ziffer 6.2. Abgegolten durch die Gesetzliche Pflegeversicherung werden nur reine Pflegeleistungen (nicht Unterkunftskosten einschließlich Kapitalkosten und Verpflegung). Der von der Pflegekasse einschließlich einer Anpassung an die Preisentwicklung zu übernehmende Betrag darf 75 vom Hundert des Gesamtbetrages aus Pflegesatz, Entgelt für Unterkunft und Verpflegung und gesondert berechenbare Investitionskosten (Miete, Pacht, Nutzung oder Mitbenutzung von Gebäuden, sonstige abschreibungsfähige Anlagegüter – soweit die Aufwendungen nicht durch öffentliche Förderung vollständig abgedeckt worden sind) nicht übersteigen. 6.10 Pflegebedürftige in Einrichtungen für behinderte Menschen Für Pflegebedürftige in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen übernimmt die Pflegekasse zehn vom Hundert des nach § 75 Abs. 3 des Zwölften Buches vereinbarten Heimentgelts. Die Aufwendungen der Pflegekasse dürfen im Einzelfall je Kalendermonat 266 Euro nicht überschreiten. Wird für die Tage, an denen die pflegebedürftigen Behinderten zu Hause gepflegt und betreut werden, anteiliges Pflegegeld beansprucht, gelten die Tage der An- und Abreise als volle Tage der häuslichen Pflege. Abhängig von der persönlichen Pflegesituation auf der Grundlage der dauerhaften und regelmäßigen Schädigungen oder Fähigkeitsstörungen werden bis zu € 104 mtl. (Grundbetrag) bzw. bis zu € 208 mtl. (erhöhter Betrag) gewährt. Auch das Leistungsangebot in Heimen wird durch gesonderte Angebote für dementiell Erkrankte verbessert. In vollstationären Dauer- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen wird zusätzliches Betreuungspersonal für Heimbewohner mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf eingesetzt. Die Kosten hierfür tragen die Gesetzlichen und Privaten Pflegekassen. Vorgesehen ist für rund 25 dementiell erkrankte Heimbewohner eine zusätzliche Betreuungskraft. 6.11 Pflegehilfsmittel und technische Hilfen Die Aufwendungen der Pflegekassen für zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel (z.B. Einwegwindeln) dürften monatlich den Betrag von € 40 nicht übersteigen. Technische Hilfsmittel (z.B. Gehhilfen) werden vorrangig leihweise überlassen. Versicherte nach dem 18. Lebensjahr haben zu den Kosten der Hilfsmittel grundsätzlich zehn vom

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Hundert, höchstens jedoch € 25 je Hilfsmittel an die abgebende Stelle zu leisten. Härtefälle sind von der Zuzahlung zu befreien. Zuschüsse zu Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes (z.B. Bau von Rampen, Treppenliften, Fahrstühlen, Verbreiterung der Wohnungstüren, Umbau von Nasszellen) dürfen € 4.000 nicht übersteigen. 6.12 Rentenversicherungsbeiträge für die Pflegeperson Wenn die Pflegeperson regelmäßig nicht mehr als 30 Wochenstunden erwerbstätig ist, entrichten die Pflegekassen für sie Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung. 7. Rechtsbeziehungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung zu den Leistungsanbietern Grundlage ist ein Versorgungsvertrag zwischen dem Träger der Pflegeeinrichtung bzw. einer vertretungsberechtigten Vereinigung gleicher Träger und den Landesverbänden der Pflegekassen, der im Einvernehmen mit dem Sozialhilfeträger abgeschlossen wird. Mit Abschluss des Vertrages wird die Pflegeeinrichtung für die Dauer des Vertrages zur pflegerischen Versorgung der Versicherten zugelassen. Die zugelassene Pflegeeinrichtung ist im Rahmen ihres Versorgungsauftrages zur pflegerischen Versorgung der Versicherten verpflichtet. 8. Pflegestützpunkte und Pflegeberatung Die Pflegereform 2008 sieht Pflegestützpunkte vor, in denen Auskunft, Beratung, individuelles Fallmanagement und möglichst großer Service unter einem Dach geboten werden sollen. Pflegestützpunkte werden nur dann errichtet, wenn ein Bundesland dies ausdrücklich wünscht. Dabei wird auf vorhandene vernetzte Beratungsstrukturen zurückgegriffen. Seit dem 01.01.2009 gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf einen Pflegeberater. Die Pflegekassen setzen für die persönliche Beratung und Betreuung entsprechend qualifiziertes Personal ein, insbesondere Pflegefachkräfte, Sozialversicherungsangestellte oder Sozialarbeiter mit der jeweils erforderlichen Zusatzqualifikation. 9. Finanzierung der Pflegeeinrichtungen 9.1 Allgemeines Die Aufwendungen gliedern sich wie folgt:

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·

Pflegevergütung (allgemeine Pflegeleistungen) Kostenträger: Pflegeversicherung

·

Unterkunft und Verpflegung bei teil- und vollstationären Einrichtungen Kostenträger: Die Aufwendungen sind vom Pflegebedürftigen, seinen Angehörigen oder dem Sozialhilfeträger zu tragen

·

Raumkosten, Pachten, Abschreibungen, Instandsetzungen Kostenträger: Die Aufwendungen sind nach dem Gesetz vorrangig von den Ländern, anderenfalls von den Pflegebedürftigen bzw. den Sozialhilfeträgern zu finanzieren

9.2 Pflegesätze Die Pflegesätze sind entsprechend dem Versorgungsaufwand in fünf Pflegegrade eingeteilt. Parteien der Pflegesatzvereinbarung sind die Pflegekassen, der Sozialhilfeträger und der Träger der Einrichtung. Es gelten prospektive Pflegesätze. D.h., sie sind vor Beginn der jeweiligen Wirtschaftsperiode des Pflegeheims für einen künftigen Zeitraum zu treffen. Kommt eine Pflegesatzvereinbarung innerhalb von sechs Wochen nicht zustande, nachdem eine Vertragspartei schriftlich zu Pflegesatzverhandlungen aufgefordert hat, setzt die Schiedsstelle auf Antrag einer Vertragspartei die Pflegesätze unverzüglich fest. 9.3 Vergütung für ambulante Pflegeleistungen Vertragsparteien sind der Träger des Pflegedienstes, die Pflegekassen und der örtliche Sozialhilfeträger. Die Vergütungen können nach dem erforderlichen Zeitaufwand oder unabhängig vom Zeitaufwand nach dem Leistungsinhalt des jeweiligen Pflegeeinsatzes, nach Gesamtleistungen oder in Ausnahmefällen auch nach Einzelleistungen bemessen werden. 10. Wechselbeziehungen zwischen der Gesetzlichen Pflegeversicherung und der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII Gesetzliche Pflegeversicherung und Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII gehen von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus. Die Pflegeversicherung sieht begrenzte Pauschalleistungen vor, wo hingegen die Sozialhilfe bedarfsorientiert ist. Die Pflegeversicherung fragt nach dem Zeitaufwand, die Sozialhilfe hingegen differenziert nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit.

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Mit dem Gesetz zur sozialen Absicherung der Pflegebedürftigkeit (Pflegeversicherungsgesetz) werden neue Maßstäbe in der Pflege gesetzt, denen sich letztendlich die bedarfsorientierte Sozialhilfe unterzuordnen hat. Das wird in der Übernahme der Leistungskriterien der Pflegeversicherung in der Hilfe zur Pflege deutlich.

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Rehabilitation und Teilhabe (SGB IX)82 Gliederung: 1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1

Begriff der Sozialen Rehabilitation/Teilhabe Rechtsquellen der Sozialen Rehabilitation/Teilhabe Überblick Ausführungen Einrichtungen der Sozialen Rehabilitation Begriff der Einrichtungen

1. Begriff der Sozialen Rehabilitation/Teilhabe Innerhalb der Rehabilitation wird unterschieden zwischen Medizinischer, Schulischer, Beruflicher und Sozialer Rehabilitation. Man spricht von den vier Phasen oder Arten der Rehabilitation. Ziel der Rehabilitation insgesamt ist die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung Bedrohter in die Gesellschaft. Im weitesten Sinne ist Rehabilitation also stets Soziale Rehabilitation. Meist wird jedoch der Begriff Soziale Rehabilitation in einem anderen - engeren - Sinn gebraucht, um die Ziele zu bezeichnen, die über die Medizinische, Schulische und Berufliche Rehabilitation hinaus zur Eingliederung eines Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung Bedrohten in die Gesellschaft angestrebt werden. Zugleich werden alle Maßnahmen als Soziale Rehabilitation beschrieben, die diesen Zwecken dienen. Die Ziele und Maßnahmen der Sozialen Rehabilitation sind im Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) als Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft umfassend beschrieben. Im Mittelpunkt des Gesetzes steht, Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung Bedrohten ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Aufgabe der Sozialleistungen ist die Förderung der Teilhabe dieses Personenkreises, insbesondere am Arbeitsleben. Dieses Ziel soll mit medizinischen, beruflichen und sozialen Leistungen schnell, wirkungsvoll, umfassend, wirtschaftlich und auf Dauer erreicht werden. Ab 01.01.2020 wird die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII als Teil 2 in das SGB IX eingegliedert. Ab diesem Zeitpunkt ist des SGB IX nicht nur ein Leistungsgesetz im Sinne des Sozialrechts, sondern enthält auch umfangreiche Verfahrensvorschriften.

82

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) findet schrittweise ab 01.01.2018 Anwendung. Im gleichen Umfang werden diese Teile aus der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII herausgenommen.

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Leistungen zur Teilhabe § 5 SGB IX: Zur Teilhabe werden erbracht 1. Leistungen zur Medizinischen Rehabilitation, 2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Berufliche Rehabilitation), 3. unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, 4. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Soziale Rehabilitation d. Verf.). Träger der Leistungen zur Teilhabe (Rehabilitationsträger) können neben den Sozialversicherungsträgern (Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) auch die Träger der Sozialhilfe und der Jugendhilfe sein. Die Einbeziehung der Sozialhilfeträger und der Jugendhilfeträger in die für alle Rehabilitationsträger geltenden Verfahrens- und Abstimmungsvorschriften soll insbesondere eine enge Zusammenarbeit der Leistungsträger ermöglichen. § 29 Abs. 1 Nr. 1- 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) beschreibt die Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: ·

Leistungen zur Medizinischen Rehabilitation, insbesondere Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder, ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arznei- und Verbandmittel sowie Heilmittel einschließlich physikalischer, Sprach- und Beschäftigungstherapie, Körperersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel, Belastungserprobung und Arbeitstherapie

·

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, insbesondere Hilfen zum Erhalten oder Erlangen eines Arbeitsplatzes, Berufsvorbereitung, berufliche Anpassung, Ausbildung und Weiterbildung, sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben

·

Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, insbesondere Hilfen zur Entwicklung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten vor Beginn der Schulpflicht, zur angemessenen Schulbildung, zur heilpädagogischen Förderung, zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, zur Ausübung einer angemessenen Tätigkeit, soweit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht möglich sind, zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt, zur Freizeitgestaltung und sonstigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

Leistungen zur Sozialen Rehabilitation werden heute im Wesentlichen von der Sozialhilfe, der gesetzlichen Unfallversicherung, der Pflegeversicherung und der Opferversorgung gewährt. Maßnahmen der Sozialen Rehabilitation sind im SGB XII als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zusammengefasst. Nach der Eingliederungshilfe-Verordnung

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zählen dazu u.a. Maßnahmen, die geeignet sind, Menschen mit Behinderungen die Begegnung und den Umgang mit Personen ohne Behinderungen zu ermöglichen oder zu erleichtern, und die Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen. Während andere Bereiche der Rehabilitation überschaubar und gesetzgeberischen Maßnahmen zugänglich sind, gilt dies für weite Bereiche der Sozialen Rehabilitation im eigentlichen Sinne nur mit Einschränkungen. Das menschliche Miteinander oder der Menschen mit Behinderungen untereinander und zwischen Menschen mit und ohne Behinderung lässt sich durch gesetzgeberische und andere staatliche Maßnahmen allenfalls mittelbar und nur langfristig beeinflussen. Soziale Integration setzt eine Wechselwirkung voraus. Menschen mit Behinderungen sind dann sozial eingegliedert, wenn sie und Menschen ohne Behinderungen sich aufeinander zu bewegen und wechselseitig soziale Beziehungen aufnehmen. Soziale Integration und Rehabilitation ist mehr als die bloße einseitige soziale Anpassung der Menschen mit Behinderungen an die Mehrheit der Menschen ohne Behinderungen. Während sich beim bloßen Anpassungsvorgang lediglich der Mensch mit Behinderungen verändert, vollziehen sich bei der eigentlichen Sozialen Rehabilitation Veränderungen auf beiden Seiten. Erst wenn sich auch die Erwartungen, Einstellungen und das Handeln der Menschen ohne Behinderungen an die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen anpassen, Menschen mit und ohne Behinderungen sich als gleichwertige Partner begegnen, vollzieht sich die Soziale Rehabilitation. Besondere Schwierigkeiten bereitet dieser Vorgang, wenn die Beeinträchtigung des Menschen mit Behinderungen seine Fähigkeit zur Aufnahme sozialer Beziehungen erheblich einschränkt (Hörbehinderte, Schwerstbehinderte, geistig Behinderte) oder wenn die Beeinträchtigung des Menschen mit Behinderungen gerade in der Unfähigkeit zur Pflege und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen besteht (Menschen mit seelischen Behinderungen)83. Weitere gesetzliche Grundlagen für die Soziale Rehabilitation befinden sich in anderen Vorschriften der Sozialhilfe (z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt gem. § 28 SGB XII (Erschwerniszulagen), Vorbeugende Gesundheitshilfe gem. § 47 SGB XII (Mutter- und Kind-Kuren), Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff. SGB XII, Hilfe zur Weiterführung des Haushalts gem. §§ 70 ff. SGB XII, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten gem. §§ 67 ff. SGB XII, Altenhilfe gem. § 71 SGB XII). Des Weiteren enthält auch die Kinder- und Jugendhilfe bzw. die Hilfe für junge Volljährige im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG - SGB VIII) wichtige Elemente der Sozialen Rehabilitation.

83

Weichlein, Fachlexikon der sozialen Arbeit des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

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2. Rechtsquellen der Sozialen Rehabilitation/Teilhabe 2.1 Überblick ·

Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen -

·

Gesetzliche Sozialversicherung

·

-

Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)

-

Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI)

Soziales Entschädigungsrecht -

·

Bundesversorgungsgesetz einschl. Opferentschädigungsgesetz

Fürsorgeleistungen (vgl. Artikel 74 Absatz 1 Satz 1 Nr. 7 GG) -

Sozialhilfe (SGB XII)

-

Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

-

Jugendhilfe (SGB VIII)

2.2 Ausführungen 2.2.1 Betrachtungen zur Gesetzlichen Sozialversicherung Die Gesetzliche Sozialversicherung ist als Rechtsquelle in der Sozialen Rehabilitation von nachgeordneter Bedeutung. Hierzu sind folgende Anmerkungen zweckmäßig: Die Gesetzliche Sozialversicherung ist als Auffangnetz für genau definierte Wechselfälle des Lebens (Versicherungsfälle) konzipiert, die mit dem Erwerbsprozess in einem engen Zusammenhang stehen. Leistungen der Gesetzlichen Sozialversicherung greifen also immer dann, wenn der Versicherte am Einsatz der Arbeitskraft aus Alters- oder Krankheitsgründen gehindert ist bzw. seine Arbeitskraft wegen eines Mangels an Arbeit nicht verwerten kann. Mit der Sozialen Rehabilitation gibt es hier in der Regel keine Berührungspunkte. Eine Ausnahme hiervon stellt die Gesetzliche Pflegeversicherung dar. Sie ist nicht mehr allein nur für Arbeitnehmer und vergleichbar schutzbedürftige Selbstständige konzipiert, sondern hat den Charakter einer alle Bevölkerungsgruppen einschließenden Pflichtversicherung.

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2.2.2 Gesetzliche Krankenversicherung Die Gesetzliche Krankenversicherung sieht Leistungen für die Versicherungsfälle Krankheit, und Entbindung vor. Krankheit ist nach der Rechtsprechung ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der Behandlungsbedürftigkeit oder/und Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Ist ein Körper- oder Geisteszustand einer Behandlung nicht zugänglich (z.B. bei Pflegebedürftigkeit oder bei Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung), spricht man von einem Gebrechen. Hierfür - und da liegt einer der Schwerpunkte der Sozialen Rehabilitation - ist nach der Struktur der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik Deutschland die Gesetzliche Krankenversicherung, die sich aus den Beiträgen der Versicherten bzw. deren Arbeitgeber finanziert, sachlich nicht zuständig. Um eine wirksame ganzheitliche Hilfe sicherzustellen, haben sich in Zuständigkeitsfragen im Einzelfall Mischformen herausgebildet. Als Beispiel sind die Sozialpädiatrischen Zentren gem. § 119 SGB V zu nennen. Nach § 43 a SGB V haben versicherte Kinder Anspruch auf nicht-ärztliche sozialpädiatrische Leistungen, insbesondere auf psychologische, heilpädagogische und psychosoziale Leistungen, wenn sie erforderlich sind, um eine Krankheit zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erkennen und einen Behandlungsplan aufzustellen. Nicht zuständig ist die Gesetzliche Krankenversicherung folglich für die notwendige Behandlung der Kinder in Sozialpädiatrischen Zentren, soweit die durchgeführten Maßnahmen nicht unter den Krankheitsbegriff des SGB V fallen (z.B. Beratungsgespräch der Eltern mit einem Psychologen, heilpädagogische Maßnahmen). Die Finanzierung dieses Teilbereichs erfolgt durch den Träger der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte. 2.2.3 Gesetzliche Rentenversicherung Die Gesetzliche Rentenversicherung schließt die Soziale Rehabilitation ebenfalls aus. Das Rentenreformgesetz (SGB VI) sieht Rehabilitationsleistungen nur zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit vor. Es ist nach dem Motto „Rehabilitation vor Rente" Ziel der Gesetzlichen Rentenversicherung, den Renteneintritt hinauszuschieben und den Versicherten als Beitragszahler zu erhalten. Nach dieser Vorgabe stehen Versicherten Rehabilitationsmaßnahmen dann nicht zu, wenn die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zu erwarten ist (z.B. bei langjährigen Suchtmittelabhängigen mit zur Erwerbsminderung führenden Folgeerkrankungen). Auch in der Gesetzlichen Rentenversicherung gibt es in einzelnen Arbeitsfeldern Berührungspunkte zur Sozialhilfe. Zu nennen sind insbesondere die Nachsorgeangebote für Abhängigkeitserkrankte (z.B. Betreutes Wohnen oder Therapeutische Wohngemeinschaften), die in der Regel über die Eingliederungshilfe für Behinderte nach dem SGB XII finanziert werden.

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2.2.4 Gesetzliche Unfallversicherung Das Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) sieht Leistungen zur Sozialen Rehabilitation und ergänzende Leistungen vor. Sie umfassen ·

Kraftfahrzeughilfe,

·

Wohnungshilfe,

·

Beratung für sozialpädagogische und psychosoziale Betreuung,

·

Haushaltshilfe,

·

ärztlich verordneten Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und

·

sonstige Leistungen zur Erreichung und zur Sicherstellung des Rehabilitationserfolges.

Auch in der Gesetzlichen Unfallversicherung steht neben der Unfallverhütung das Bestreben nach Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit im Vordergrund. Bei bleibenden Schäden entlässt die Unfallversicherung die Versicherten jedoch nicht aus ihrer Verantwortung und sieht Maßnahmen der Sozialen Rehabilitation vor (z.B. Maßnahmen zur Erleichterung der Verletzungsfolgen). Partizipieren von diesen Leistungen können nur Versicherte, die infolge eines Arbeits- bzw. Wegeunfalls oder einer Berufserkrankung einen körperlichen Schaden erlitten haben. Allerdings beschränkt sich der Kreis der Versicherten nicht nur auf Erwerbstätige. Versichert sind u.a. auch Kinder in Tagesstätten und Schulen sowie Studierende. Orientiert an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich gleichwohl um einen zahlenmäßig begrenzten Personenkreis. 2.2.5 Gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) Die Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung dienen der Abdeckung des Bedarfs an Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung sowie der Kostenerstattung. Die Gesetzliche Pflegeversicherung ist ihrem Wesen nach eine Grundsicherung, keine am Bedarf orientierte Vollsicherung, auch wenn sie grundsätzlich als Sachleistung konzipiert ist. Die Höhe der Leistungen ist betragsmäßig festgeschrieben. In Einzelfällen ist eine Vorversicherungszeit erforderlich. Die Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung gehen von einer punktuellen Absicherung des pflegebedingten Aufwands mit relativ enger Abgrenzung aus. Die Gesetzliche Pflegeversicherung gewährt folgende Leistungen:

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·

Pflegesachleistungen (Einsatz von Pflegekräften durch die Pflegekassen oder ambulante Dienste)

·

Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen (Barleistungen)

·

Kombination von Sach- und Geldleistungen

·

Häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson

·

Pflegehilfsmittel und technische Hilfen

·

Tagespflege und Nachtpflege (teilstationäre Pflege)

·

Kurzzeitpflege

·

Vollstationäre Pflege

·

Pflege in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen

·

Leistungen zur sozialen Absicherung der Pflegepersonen (Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen)

·

Zusätzliche Leistungen bei Pflegezeit

·

Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen

·

Zusätzliche Betreuungsleistungen

·

Leistungen des Persönlichen Budgets

·

Zusätzliche Leistungen für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen

2.2.6 Bundesversorgungsgesetz einschließlich Opferentschädigungsgesetz Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz hat, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des Dienstes eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Angehörige sind in die Entschädigung einbezogen. Opfer von Impfschäden und Opfer von (zivilen) Gewalttaten, die in der Bundesrepublik Deutschland oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr einen gesundheitlichen Schaden erlitten haben, erhalten wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.

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Die Versorgung umfasst: ·

Heilbehandlung, Versehrtenleibesübungen und Krankenbehandlung

·

Leistungen der Kriegsopferfürsorge

·

Beschädigtenrente

·

Bestattungsgeld

·

Hinterbliebenenrente

·

Bestattungsgeld beim Tode von Hinterbliebenen

Der Umfang des begünstigten Personenkreises ist nicht (mehr) erheblich. 2.2.7 Sozialhilfe nach dem SGB XII 2.2.7.1 Aufgabe der Sozialhilfe im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland Die Sozialhilfe ist das unterste, aus Steuermitteln der Kommunen finanzierte Netz im System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Netz greift immer dann, wenn vorrangige Ansprüche auf Leistungen nicht oder nicht in ausreichendem Umfang vorhanden sind. In der Sozialhilfe gilt grundsätzlich das Bedürftigkeitsprinzip. Das heißt, Sozialhilfe wird nur gewährt, wenn alle anderen vorrangigen Möglichkeiten (z.B. Einsatz des Einkommens, des Vermögens, der Arbeitskraft, Ansprüche gegenüber Dritten) ausgeschöpft sind. Hiervon gibt es Ausnahmen, wie z.B. bei therapeutischen Leistungen für Kinder mit Behinderungen. Diese Leistungen sind unabhängig vom Einkommen und Vermögen des Kindes und seiner Eltern. Die Soziale Rehabilitation wird schwerpunktmäßig aus Mitteln der Sozialhilfe finanziert. Ursächlich hierfür ist die Fokussierung der Gesetzlichen, beitragsfinanzierten Sozialversicherung auf die Medizinische und Berufliche Rehabilitation. 2.2.7.2 Hilfe zum Lebensunterhalt Zusätzlich zu den Regelsätzen können Pauschalbeträge (Regelsatzüberschreitungen/Erschwerniszulagen) für Leistungen der persönlichen Hilfe (z.B. Einkauf von Lebensmitteln, Zubereitung von Mahlzeiten) bewilligt werden. Im Gegensatz zur Hilfe zur Pflege und Hilfe zur Weiterführung des Haushalts kann sich diese Hilfe nur auf einzelne Tätigkeiten erstrecken, die zudem in ihrer Bedeutung nicht so wesentlich sein dürfen, dass der Leistungsberechtigte ohne ihre Sicherstellung in seiner menschenwürdigen Existenz ernstlich gefähr-

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det wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat bei Leistungen für eine Putzhilfe im Umfang von zwei Stunden je Tag und an sieben Tagen in der Woche diese Vorschrift noch als anwendbar angesehen. Voraussetzung für die Gewährung von Erschwerniszulagen ist, dass der Leistungsberechtigte einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt besitzt oder zum Personenkreis der Minderbemittelten zählt. 2.2.7.3 Vorbeugende Gesundheitshilfe Die Vorbeugende Gesundheitshilfe dient der Komplementärfinanzierung von Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, wie z.B. Erholungskuren für ältere Menschen. Die anfallenden Kosten werden in vollem Umfang übernommen, wenn ein Krankenversicherungsschutz in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht besteht. Für die Vorbeugende Gesundheitshilfe gilt ein weniger strenger Einkommenseinsatz als in der Hilfe zum Lebensunterhalt. 2.2.7.4 Eingliederungshilfe für Behinderte Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen wendet sich schwerpunktmäßig an folgende Personenkreise: ·

Kinder mit Behinderungen

·

Abhängigkeitserkrankte

·

Menschen mit Behinderungen in Werkstätten

Kinder mit Behinderungen erhalten nur dann Leistungen aus der Gesetzlichen Krankenversicherung, wenn ein behandlungsfähiger Versicherungsfall vorliegt. Wie oben bereits aufgezeigt, gibt es Mischfinanzierungsformen, bei denen sich die Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung und die Träger der Sozialhilfe die Kosten teilen. Besondere Formen der Frühförderung (z.B. Pädagogische Frühförderung) gehen ausschließlich zu Lasten der Sozialhilfe. Auch Betreuungskosten (Integrationspauschalen) in Integrativen Kindertagesstätten und Heimeinrichtungen für Kinder mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Kinder werden, abgesehen von einer Kostenbeteiligung der Gesetzlichen Pflegeversicherung nach § 43 a SGB XI in vollstationären Einrichtungen, ausschließlich im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte finanziert. Für die Entgiftung und die Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter ist die Zuständigkeit der Gesetzlichen Sozialversicherung gegeben, soweit ein Versicherungsschutz besteht. Anderenfalls tritt die Eingliederungshilfe für Behinderte ein. Leistungen im Rahmen dieser Rechtsvorschrift erfolgen sowohl für der Entwöhnungsbehandlung vorgeschaltete Hilfen

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(wie z.B. Aufenthalt in Übergangseinrichtungen) wie auch für Nachsorgeangebote. Das gilt sowohl für in der Gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung Versicherte als auch für Nichtversicherte. Typische Nachsorgeangebote sind Therapeutische Wohngemeinschaften, Formen des Betreuten Wohnens und die Begleitung durch Selbsthilfegruppen. Eine wirksame Nachsorge ist zur Gewährleistung des Rehabilitationserfolges unerlässlich. 2.2.7.5 Blindenhilfe Die Blindenhilfe sieht Geld- und Sachleistungen vor. Die Landesblindengeldgesetze der Länder sind, soweit solche existieren, vorrangig. Sie haben die Besonderheit, dass Leistungen der Blindenhilfe ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen des Blinden zu gewähren sind. Aufgabe dieser Hilfeart ist es, die durch die fehlende oder stark eingeschränkte Sehkraft bedingten Nachteile mittels der Heranziehung von Hilfskräften oder des Gebrauchs technischer Hilfsmittel teilweise auszugleichen. 2.2.7.6 Hilfe zur Pflege Die Pflegeversicherung sieht vom Einkommen der Versicherten unabhängige Pauschalleistungen vor. Diese Pauschalleistungen decken in der Regel nicht den vollständigen Bedarf und unterliegen teilweise weiteren Einschränkungen. Verfügt der Versicherte oder seine Angehörigen nicht über entsprechende finanzielle Mittel, um die von der Pflegeversicherung nicht gedeckten Kosten zu tragen, tritt insoweit die Sozialhilfe (hier: Hilfe zur Pflege) ein. Durch die Einführung der Pflegeversicherung hat sich der Anteil der Selbstzahler in den Heimeinrichtungen erhöht. Allerdings ist der überwiegende Anteil der Heimbewohner weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen. 2.2.7.7 Hilfe zur Weiterführung des Haushalts Diese Hilfeart kommt zur Anwendung, wenn keiner der Haushaltsangehörigen den Haushalt führen kann bzw. der Hilfesuchende alleinstehend und die Hilfe zur Weiterführung des Haushalts geboten ist. Von dieser Hilfeart partizipieren insbesondere zwei Fallgruppen: ·

Haushalte mit Kindern und

·

alte Menschen und Menschen mit Behinderungen, die zwar nicht pflegebedürftig sind, die jedoch ohne hauswirtschaftliche Hilfestellungen nicht in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben können.

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2.2.7.8 Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten Begünstige von dieser Hilfeart sind insbesondere ·

Nichtsesshafte,

·

Gefährdete und

·

junge Volljährige, denen Leistungen nach dem SGB VIII aufgrund ihres Alters nicht gewährt werden können.

Unter Nichtsesshaften versteht man wohnungslose Menschen, deren Situation darüber hinaus von besonderen Schwierigkeiten geprägt sein muss. Diese besonderen Schwierigkeiten müssen einer baldigen Wiedereingliederung in die Gesellschaft entgegenstehen. Häufig ist dieser Personenkreis psychisch und/oder abhängigkeitserkrankt. Das Leben auf der Straße führt zu vorzeitiger Alterung und vielfältigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Angeboten werden Heimeinrichtungen mit dem Ziel der Sozialen, Beruflichen und Medizinischen Rehabilitation sowie niedrigschwellige Einrichtungen für Menschen, die zur Annahme einer qualifizierten Hilfe nicht bereit sind, jedoch eines Mindestmaßes an Fürsorge (Übernachtungsstätten, Suppenküchen etc.) bedürfen. Auch Nichtsesshafte besitzen einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Gefährdete im Sinne des Gesetzes sind insbesondere Haftentlassene sowie weibliche und männliche Prostituierte. Insbesondere kurzzeitig Inhaftierte verlieren durch die Verbüßung der Strafhaft in der Regel ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz. Ferner zerbrechen sehr häufig familiäre Beziehungen. Aufgabe der Hilfe ist es, diesem Personenkreis Hilfestellung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu geben. Prostituierte verstehen sich in der Regel nicht als Hilfsbedürftige, wenn sie über ausreichendes Einkommen verfügen. Aufgabe der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten ist es, den Ausstieg aus dem Prostituiertenmilieu zu ermöglichen und Hilfestellung bei einer beruflichen Eingliederung zu geben. Angeboten werden Betreute Wohngemeinschaften und Formen der Hilfe zur Arbeit in enger Zusammenarbeit mit Beschäftigungsgesellschaften, wenn dies gewünscht wird. Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sind an im Gesetz definierte Voraussetzungen geknüpft. Die für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII vorgesehenen Leistungen kommen in der Praxis nur selten zur Anwendung. Hier greift die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, da sich die Lebenstüchtigkeit eines jungen Menschen nicht am Lebensalter festmachen lässt. Stationäre und ambulante Hilfen

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werden gewöhnlich in Einrichtungen der Jugendhilfe gewährt, jedoch aus Mitteln der Sozialhilfe finanziert. 2.2.7.9 Altenhilfe Aufgabe der Altenhilfe ist es, Hilfe in besonderen altersbedingten Schwierigkeiten sicherzustellen. Diese Schwierigkeiten können sowohl persönlicher Art als auch durch Umweltbedingungen (fehlender Aufzug, zu große Wohnung, kein behindertengerechtes Badezimmer, zu schmale Türen für die Benutzung eines Rollstuhls) gegeben sein. Sie sollen durch diese Hilfe nicht nur überwunden, sondern nach Möglichkeit auch verhütet werden. Ist eine Verhütung oder Überwindung nicht möglich, soll wenigstens eine Milderung angestrebt werden. Ziel der Hilfe ist die Erhaltung der Möglichkeit, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Die Hilfen im Einzelnen: ·

Hilfe bei der Beschaffung und zur Erhaltung einer Wohnung, die den Bedürfnissen des alten Menschen entspricht

·

Hilfe in allen Fragen der Aufnahme in eine Einrichtung, die der Betreuung alter Menschen dient, insbesondere bei der Beschaffung eines geeigneten Heimplatzes

·

Hilfe in allen Fragen der Inanspruchnahme altersgerechter Dienste

·

Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung, der Bildung oder den kulturellen Bedürfnissen alter Menschen dienen

·

Hilfe, die alten Menschen die Verbindung mit nahe stehenden Personen ermöglicht

·

Hilfe zu einer Betätigung, wenn sie vom alten Menschen gewünscht wird.

Altenhilfe soll ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen gewährt werden, soweit im Einzelfall persönliche Hilfe erforderlich ist. 2.2.8 Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Sie soll erwerbsfähige Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können. Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist als durchgängiges Prinzip zu verfolgen.

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Elemente der Sozialen Rehabilitation werden im Zusammenhang mit der Beseitigung von Vermittlungshemmnissen angesprochen. Dazu gehören insbesondere ·

die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder die häusliche Pflege von Angehörigen,

·

die Schuldnerberatung,

·

die psychosoziale Beratung und

·

die Suchtberatung.

2.2.9 Kinder- und Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) Das SGB VIII entfaltet das Programm der Jugendhilfe aus der Sicht des jungen Menschen im Kontext der vorrangigen elterlichen Erziehungsverantwortung sowie des darauf bezogenen staatlichen Wächteramts. Leistungen der Jugendhilfe sind: ·

Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinderund Jugendschutzes

·

Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie

·

Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege

·

Wohnformen für Mütter/Väter und Mütter

·

Hilfe zur Erziehung und ergänzende Leistungen

·

Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und ergänzende Leistungen

·

Hilfe für junge Volljährige und Nachbetreuung

3. Einrichtungen der Sozialen Rehabilitation 3.1 Begriff der Einrichtung Einrichtungen im sozialwissenschaftlichen Sinne sind Räume, Wohnungen, Gebäude oder Betriebe, in denen regelmäßig eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird. Im allgemeinen Rechtssinn ist eine Einrichtung jede auf Dauer angelegte Kombination von sächlichen und personellen Mitteln zu einem besonderen Zweck unter der Verantwortung

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einer natürlichen oder juristischen Person. Zu diesem Einrichtungsbegriff gehören alle stationären, teilstationären und ambulanten Einrichtungen sowie sonstige soziale Dienste. Entsprechend den verschiedenartigen Bedarfsituationen gibt es eine Vielzahl auf die unterschiedlichen Bedürfnisse abgestellte Einrichtungen. Für die Soziale Rehabilitation werden genutzt: ·

Säuglings-, Kinder- und Jugendheime

·

Heilpädagogische, schulische und sozialtherapeutische Einrichtungen

·

Berufliche Ausbildungs- und Beschäftigungsstätten

·

Übergangswohnheime, Wohnheime (z.B. Altenwohnheime, Behindertenwohnheime, Jugendwohnheime)

·

Kurheime

·

Altenpensionen

·

Alten- und Pflegeheime

·

Tagesstätten und Werkstätten für behinderte Menschen

·

Sozialstationen, Hauspflegedienste

·

Mahlzeitendienste

·

Sonstige soziale Dienste

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Seite 219

Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrecht (SGB X)

Gliederung: 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 7. 7.1

Allgemeine Lehren Die Verwaltung als Teil der Staatsgewalt Gewaltenteilungslehre Ausgestaltung der Gewaltenteilungslehre in der Bundesrepublik Deutschland und in den 16 Bundesländern Begriff der öffentlichen Verwaltung Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung Verhältnis von Rechtsprechung und Verwaltung Quellen des Verwaltungsrechts Das allgemeine materielle Verwaltungsrecht Träger von Rechten und Pflichten des Verwaltungsrechts Arten von Rechten und Pflichten Folgenbeseitigungsanspruch Verwaltungsverfahren Grundsatz Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Grundsatz von Treu und Glauben Untersuchungsgrundsatz Der Verwaltungsakt Allgemeine Lehren Arten der Verwaltungsakte Anhörung, Akteneinsicht, Form des Verwaltungsaktes und Nebenbestimmungen Verbindlichkeit und Widerruf von Verwaltungsakten Fehlerhafte Verwaltungsakte Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit Heilung fehlerhafte Verwaltungsakte Die Aufhebung von Verwaltungsakten Rücknahme von rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakten Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten Aufhebung eines Verwaltungsaktes bei Änderung der Verhältnisse Folgen der Aufhebung von Verwaltungsakten Öffentlich-rechtlicher Vertrag Sozialgerichtsbarkeit/Verwaltungsgerichtsbarkeit Organisation

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7.2 7.3 7.4

Seite 220

Prozessbeteiligte, Bevollmächtigte und Beiladung Verfahrensgrundsätze Gerichtliches Verfahren

1. Allgemeine Lehren 1.1 Die Verwaltung als Teil der Staatsgewalt Der Begriff „Verwaltung" ist schwer fassbar, weil zu ihm Tätigkeiten verschiedenster Art gehören, die sich gegenständlich kaum zusammenfassend bestimmen lassen. In den westlichen Staatsformen stellt die Gewaltenteilungslehre ein entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung der Verwaltung von den übrigen Ausstrahlungen der Staatsgewalt dar. Verwaltung ist danach der Teil der Staatsgewalt, der nicht Gesetzgebung oder Rechtsprechung ist. 1.2 Gewaltenteilungslehre Sie unterscheidet zwischen ·

der gesetzgebenden Gewalt (Volksvertretung), die Recht setzt,

·

die vollziehende Gewalt (Regierung), die die von der gesetzgebenden Gewalt erlassenen Gesetzte ausführt und die allgemeinen Geschäfte führt und

·

der richterliche Gewalt, die Streitigkeiten schlichtet bzw. Gesetze auslegt.

Durch die organisatorische Trennung der einzelnen Gewalten soll erreicht werden, dass die eine Gewalt die andere hemmt, um dadurch einen Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern und die Freiheit des einzelnen vor unzulässigen Eingriffen der Staatsgewalt sicherzustellen. Die gesetzgebende Gewalt hat gegenüber der ausführenden und der richterlichen Gewalt einen gewissen Vorrang, der allerdings auch Beschränkungen unterliegt. Zum Beispiel kann das Verfassungsgericht Gesetze als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklären. Sie werden dadurch nichtig. 1.3 Ausgestaltung der Gewaltenteilungslehre in der Bundesrepublik Deutschland und in den 16 Bundesländern Die Trennung der Gewalten ist entsprechend der Gewaltenteilungslehre durchgeführt. Die Gesetzgebung steht im Bund dem Bundestag und in den Ländern den Landtagen zu. Die Rechtsprechung ist unabhängigen Gerichten übertragen.

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Das Übergewicht der Volksvertretung kommt im Bund darin zum Ausdruck, dass der Bundestag dem Bundeskanzler das Misstrauen dadurch aussprechen kann, in dem er einen Nachfolger wählt und dass er Bundespräsidentenanklage erheben kann. Die Verwaltung ist Verwaltungsbehörden verschiedenster Art übertragen. 1.4 Begriff der öffentlichen Verwaltung Die öffentliche Verwaltung umfasst den Bereich hoheitlicher Tätigkeit, der nicht Gesetzgebung oder Rechtsprechung ist. Die öffentliche Verwaltung (hierzu zählen auch die Sozialversicherungsträger) ist das nach einer bestimmten Ordnung sich vollziehende planmäßige Handeln eines öffentlichen Verbandes. Die Ordnung, nach der sich das Handeln vollzieht, nennt man Verwaltungsrecht. Es ist Teil des öffentlichen Rechts. Das Handeln tritt zutage in Verwaltungsmaßnahmen und zwar ·

in vielfältigen Verrichtungen tatsächlicher Art (z.B. Durchführen von Besichtigungen, erteilen von Auskünften, Verhandlungen mit Vertretern wirtschaftlicher Unternehmungen),

·

in den „Verwaltungsakten", d. h. in Willensäußerungen, die sich als Ausführung der öffentlichen Gewalt darstellen und auf die Erzielung eines bestimmten rechtlichen Erfolges im Einzelfall gerichtet sind (z.B. Erteilung einer Baugenehmigung, Bewilligung von Sozialleistungen, Zulassung eines Kraftfahrzeuges) und

·

in der Herausgabe allgemeiner und grundsätzlicher Richtlinien und Vorschriften, in denen mit Wirkung für die Verwaltungsbehörden und ggf. nach außen (z.B. Unfallverhütungsvorschriften) bestimmt wird, in welcher Weise die gesetzlichen Vorschriften in die Wirklichkeit zu überführen sind.

Nach dem Inhalt der Verwaltung unterscheidet man ·

die Regierung, d.h. die leitende Tätigkeit der obersten Staatsorgane, wie sie in der Ernennung von Ministern, der Auflösung des Parlaments, der Einbringung von Gesetzesvorlagen, der Bestimmung der Richtlinien der Regierungspolitik, dem Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Weisungen an nachgeordnete Behörden in Erscheinung tritt und

·

die Vollziehung, d.h. der Ausführung von Gesetzen und sonstigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften.

Nach den Trägern der Verwaltung wird gegliedert in ·

Staatsverwaltung (Verwaltung durch staatseigene Behörden, wie z.B. Ministerien, Regierungspräsidien und Finanzämter),

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·

Selbstverwaltung im kommunalen Bereich (Gemeinden, Kreise, Kommunalverbände) und

·

Eigenverwaltung der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (z.B. Sozialversicherungsträger, Industrie- und Handelskammern, Kassenärztliche Vereinigungen), die insbesondere auf wirtschaftlichem, sozialem, berufsständischem und kulturellem Gebiet Aufgaben wahrnehmen.

Entsprechend der Mittel der Verwaltung unterscheidet man ·

Hoheitsverwaltung, bei der der Staat den Bürgern in Ausübung öffentlicher Gewalt entgegentritt. Je nach den Beziehungen, die zwischen dem Staat und den Bürgern bestehen, spricht man von Eingriffsverwaltung (Erfüllung von Aufgaben mit Befehl und Zwang - z.B. Erhebung von Steuern, Bußgeldern) und von Leistungsverwaltung, bei der es sich vorzugsweise um betreuende Tätigkeiten handelt und

·

fiskalischer Verwaltung, bei der der Staat in Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben dem einzelnen nicht als übergeordnete Macht, sondern gleichgeordnet und gleichberechtigt, d.h. auf dem Gebiet des Zivilrechts, gegenübertritt (z.B. Vermietung und Verkauf gemeindeeigener Immobilien, Erwerb von Kraftfahrzeugen oder EDVAusstattungen).

1.5 Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung Die Verwaltung hat den Vorrang der gesetzgebenden Gewalt zu beachten. Eine Verwaltungsmaßnahme darf folglich Gesetz und Recht nicht widersprechen. Andererseits darf eine Verfügung der Behörde in Form eines belastenden Verwaltungsakts nur ergehen, wenn hierfür eine Grundlage in einem Gesetz oder in einer sonstigen Vorschrift besteht. Letztere muss auf eine gesetzliche Ermächtigung zurückzuführen sein. Unabhängig hiervon kann der Verwaltung in gewissen Grenzen ein gesetzesfreies Handeln aus eigener Kompetenz zustehen. Hierzu zählt die Zurverfügungstellung von Zuschüssen an Träger der Freien Wohlfahrtspflege (Projekt- und institutionelle Förderung), wenn der Gesetzgeber im Haushaltsplan Mittel ohne ausdrückliche Benennung von Adressaten zur Verfügung stellt. Die Verteilung dieser Mittel liegt dann im Ermessen der Verwaltung. Auch kann das Parlament Ministern in Gesetzen das Recht einräumen, Detailregelungen in Form von Rechtsverordnungen selbstständig zu erlassen. Rechtsverordnungen sind Gesetze im materiellen Sinne. 1.6 Verhältnis von Rechtsprechung und Verwaltung Rechtsprechung und Verwaltung sind einander gleichgeordnet. Im Verhältnis zwischen ihnen gilt daher der Grundsatz gegenseitiger Unabhängigkeit. Daraus folgt, dass

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·

es zwischen Gerichten und Verwaltung keine Weisungsbefugnisse gibt,

·

keine der Gewalten sich im Bereich der anderen Gewalt betätigen und

·

eine Entscheidung der anderen Gewalt aufheben oder verändern darf.

Das gilt natürlich nicht bei Sozial- und Verwaltungsstreitsachen. Hier ist es Aufgabe der Rechtsprechung, ggf. korrigierend einzugreifen und Verwaltungsentscheidungen aufzuheben oder abzuändern. Zwischen Rechtspflege und Verwaltung gibt es Überschneidungen. Beispielsweise erlässt die Verwaltung Bußgeldbescheide. Andererseits sind ordentliche Gerichte befugt, im Rechtsmittelverfahren über die Strafbescheide und Bußgeldfestsetzungen der Verwaltungsbehörden zu entscheiden. 1.7 Quellen des Verwaltungsrechts Das Verwaltungsrecht setzt sich aus Rechts- und Verwaltungsvorschriften zusammen. Hinzu kommen die Verwaltungsvereinbarungen. Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts ergeben sich aus ·

dem Völkerrecht (die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nach Artikel 25 Grundgesetz Bestandteil des Bundesrechts und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland),

·

Vorschriften der Europäischen Union,

·

Gesetzen des Bundes und der Länder,

·

Rechtsverordnungen,

·

Satzungen (Satzungsrecht ist das von Selbst- und Eigenverwaltungskörperschaften aufgrund der ihnen gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirkung für ihren Bereich im eigenen Namen gesetzte Recht - z.B. Bebauungsplan der Gemeinde, Beitragssatzung der gesetzlichen Unfallversicherung),

·

Gewohnheitsrecht und

·

Recht setzende Vereinbarungen (z.B. Verträge zwischen Gemeinden über öffentliche Einrichtungen).

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2. Das allgemeine materielle Verwaltungsrecht 2.1 Träger von Rechten und Pflichten des Verwaltungsrechts Die Rechtsfähigkeit natürlicher Personen im Rahmen des Verwaltungsrechts orientiert sich an den Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Letzteres gilt auch für die Geschäftsfähigkeit, d.h. der Wahrnehmung von Rechten und Pflichten, soweit nicht das Verwaltungsrecht besondere Vorschriften enthält (z.B. sind Personen gemäß § 36 SGB I mit Vollendung des 15. Lebensjahres handlungsfähig. In der Sozialhilfe (mit Ausnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) bedarf es keines förmlichen Antrags; die Hilfe setzt ein, wenn dem Träger der Sozialhilfe die Notlage bekannt ist). Öffentliche Rechte und Pflichten sind grundsätzlich für alle gleich (Artikel 3 GG). Unterschiede können sich aus der Staatsangehörigkeit (z.B. fehlendes Wahlrecht) ergeben. Juristische Personen sind die von der Rechtsordnung als rechtsfähig anerkannten Personenvereinigungen und Vermögensmassen. Zu unterscheiden ist zwischen juristischen Personen des Privatrechts (z.B. eingetragener Verein, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Aktiengesellschaft) und öffentlichen Rechts (z.B. Gebietskörperschaften, öffentlichrechtliche Stiftungen, Sozialversicherungsträger). Für juristische Personen und minderjährige natürliche Personen werden grundsätzlich Vertreter tätig. Ist ein Vertreter nicht vorhanden, hat bei natürlichen Personen das Familiengericht auf Ersuchen der Behörde einen geeigneten Vertreter für am Verfahren Beteiligte zu bestellen, wenn ·

die Person unbekannt ist,

·

der Aufenthalt unbekannt oder der Beteiligte an der Besorgung seiner Angelegenheiten verhindert ist,

·

der Beteiligte ohne Aufenthalt im Geltungsbereich des Grundgesetzes ist und er der Aufforderung der Behörde, einen Vertreter zu bestellen, innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht nachkommt und

·

der Beteiligte infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht in der Lage ist, in dem Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden.

Ausgeschlossen vom Verwaltungsverfahren sind Personen bzw. Vertreter bei Interessenkollisionen (vgl. § 16 SGB X) oder im Falle der Besorgnis der Befangenheit (§ 17 SGB X).

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2.2 Arten von Rechten und Pflichten Unter öffentlichen Rechten versteht man Ansprüche, die der einzelne gegen den Träger der öffentlichen Gewalt innerhalb eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses erheben kann. Man unterscheidet ·

Ansprüche auf Leistungen, wie z.B. Erlass eines Hoheitsakts (Baugenehmigung, Sozialleistung etc.),

·

Anspruch auf Duldung eines bestimmten Verhaltens, wie z.B. Benutzung einer öffentlichen Einrichtung,

·

Ansprüche aus Verletzung der persönlichen Freiheitssphäre, wie z.B. bei zwangsweiser Unterbringung eines TBC-Kranken und

·

Ansprüche auf politische Mitwirkung, wie z.B. das in Artikel 28 grundgesetzlich geschützte Recht der Gemeinden auf Selbstverwaltung und das Recht des Staatsbürgers auf Betätigung des aktiven und passiven Wahlrechts.

Öffentliche Pflichten sind vielgestaltig. Hierzu zählt beispielsweise die Straßenreinigungspflicht des Bürgers, die Verpflichtung der Behörde auf Zulassung eines Kraftfahrzeugs, Beachtung der Verkehrsvorschriften durch die Verkehrsteilnehmer, Entrichtung von Steuern, Abgaben und Zöllen durch Pflichtige, Abbruch eines baufälligen Hauses, Auskunftspflicht im Sozialrecht. Gegenstand der öffentlichen Pflichten können ein Tun (z.B. Zahlung von Steuern), ein Dulden (z.B. zwangsweise Unterbringung bei ansteckenden Krankheiten) oder ein Unterlassen (z.B. Beginn von Bauarbeiten ohne behördliche Genehmigung) sein. 2.3 Folgenbeseitigungsanspruch Hat sich eine Behörde ein Verwaltungsunrecht zuschulden kommen lassen, so kann der Betroffene die Beseitigung der sich daraus ergebenden Rechtsbeeinträchtigungen verlangen. Dazu gehört zunächst die Aufhebung des beschwerenden Verwaltungsakts selbst. Darüber hinaus hat der Betroffene einen Anspruch darauf, dass die Folgen des Unrechts behoben werden, wenn der Verwaltungsakt bereits vollzogen worden ist (z.B. die Baubehörde genehmigt rechtswidrig einen stark störenden Industriebetrieb in einem reinen Wohngebiet, ein Ausländer wird zu Unrecht abgeschoben).

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3. Verwaltungsverfahren 3.1 Grundsatz Das Handeln von Behörden muss, wenn es rechtmäßig sein soll, bestimmten Grundsätzen entsprechen. Richtschnur ist die strikte Beachtung von Recht und Gesetz. Dazu gehört insbesondere, dass die Verwaltungsmaßnahmen dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Grundsatz von Treu und Glauben entsprechen. Das gilt sowohl für die Eingriffs- als auch für die Leistungsverwaltung. Unter Verwaltungsverfahren versteht man die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, der Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens gerichtet ist. Es schließt den Erlass des Verwaltungsaktes oder den Abschluss eines öffentlichrechtlichen Vertrages ein (§ 8 SGB X). Das Verwaltungsverfahren ist an bestimmte Formen nicht gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Es ist einfach und zweckmäßig durchzuführen (§ 9 SGB X). 3.2 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Die Verwaltung hat sich an Recht und Gesetz zu orientieren. Beispielsweise sind Regelsatzleistungen der Sozialhilfe Pflichtleistungen der Höhe nach. Dem Sozialamt ist es verwehrt, Kürzungen vorzunehmen, wenn diese nicht ausdrücklich gestattet sind. Andererseits ist es dem Sozialamt auch verwehrt Leistungen im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, die nicht zum notwendigen Lebensunterhalt zählen und für die es im SGB XII keine Rechtsgrundlage gibt. 3.3 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Maßnahme und Ergebnis müssen in einem „vernünftigen" Verhältnis zueinander stehen. Beispielsweise darf das Sozialamt den Hilfeempfänger nicht zwingen, eine billigere Wohnung anzumieten, wenn die Miete der tatsächlich innegehaltenen Unterkunft nur geringfügig über der behördeninternen Obergrenze liegt und der Umzug mit erheblichem Aufwand verbunden wäre.

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3.4 Grundsatz von Treu und Glauben Der in §§ 157, 242 BGB umschriebene Grundsatz von Treu und Glauben gilt als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz auch in der Verwaltung und zwar im materiellen Recht als auch im Prozessrecht (z.B. die Sachbearbeiterin der Gemeinsamen Einrichtung gem. § 44 b SGB II (früher Arge) trifft mit der allein erziehenden Hilfeempfängerin die Absprache, dass, solange die Kinder ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, nur eine Teilzeittätigkeit in Frage kommt. Die Sachbearbeiterin wechselt. Die neue Kraft verlangt eine vollschichtige Tätigkeit und verweist die Klientin auf vorhandene Kinderbetreuungsmöglichkeiten). Die Klientin hat sich auf eine bestimmte Situation im Vertrauen auf mit der Behörde getroffene Absprachen eingestellt. Ohne Änderung der Verhältnisse ist eine abweichende Entscheidung nicht rechtmäßig. 3.5 Untersuchungsgrundsatz Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. An das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden (§ 20 Abs. 1 SGB X). Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Die Behörde darf die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält. 4. Der Verwaltungsakt 4.1 Allgemeine Lehren Die Lehre vom Verwaltungsakt verdankt ihre Entstehung vornehmlich der Rechtswissenschaft, die auf diese Weise eine sichere Grundlage für die rechtliche Beurteilung von Einzelhandlungen der Verwaltung schaffen wollte. Mit Hilfe dieser Lehre wurde die Aufstellung fester Grundsätze ermöglicht, auf Grund derer eine Wertung der Tätigkeit der Verwaltung möglich ist. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben den Begriff des Verwaltungsakts näher bestimmt und haben die Anforderungen herausgearbeitet, die an das Zustandekommen, die Form und die Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt zu stellen sind. Das Verfahrensrecht einschließlich der Lehre vom Verwaltungsakt wurde schriftlich fixiert: ·

Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes vom 25.05.1976

·

Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Hessen vom 01.12.1976

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·

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Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X) vom 18.08.1980

Unter einem Verwaltungsakt versteht man eine hoheitliche Handlung, die von einer Verwaltungsbehörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalles mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung nach außen vorgenommen wird. Vom Verwaltungsakt zu unterscheiden sind: ·

Handlungen Privater auf dem Gebiet der Verwaltung (Gegensatz: Handlungen einer Verwaltungsbehörde), mögen sie auch rechtlich von Bedeutung oder mit Rechtswirkungen verbunden sein (z.B. Antrag auf Pflegeerlaubnis)

·

Rechtsgeschäftliche Handlungen der Verwaltungsbehörden (Gegensatz: Hoheitliche Handlungen); z.B. Einstellung von Arbeitern und Angestellten, Renovierung eines Schulgebäudes

·

Tatsächliche Verrichtungen der Verwaltungsbehörden, mit denen keine unmittelbaren Rechtswirkungen nach außen verbunden sind (Gegensatz: Verrichtungen mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung), z.B. innerdienstliche Äußerungen, Einbestellung von Klientel

·

Innere Verwaltungshandlungen, die nur den inneren Dienstbetrieb regeln (Gegensatz: Nach außen gerichtete Verwaltungshandlungen), z.B. Erlass von Verwaltungsvorschriften in der Sozialhilfe, die sich nur an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialamtes richten

·

Behördliche Auskünfte und Erklärungen, die zunächst nur der Klärung dienen sollen, ob die Voraussetzungen für den Erlass eines Verwaltungsakts gegeben sind

·

Die Verordnung und die autonome Satzung, die allgemeine Regeln enthalten (Gegensatz: Regelung eines Einzelfalles); sie sind Rechtsetzung nicht Verwaltung, jedoch über den angefochtenen Verwaltungsakt gerichtlich überprüfbar

·

Die Verwaltungsvereinbarung, d.h. die Vereinbarung über die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Rechts innerhalb der Verwaltung (Gegensatz: Die einseitige hoheitliche Handlung)

·

Sozial- und verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die nicht Verwaltung sondern Rechtsprechung sind

·

Politische Staats- und Regierungsakte, soweit es sich bei ihnen um leitende und nicht bloß vollziehende Funktionen handelt (z.B. Richtlinienkompetenz des/r Bundeskanzlers/in)

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4.2 Arten der Verwaltungsakte Nach dem Inhalt der Verwaltungsakte unterscheidet man: ·

Die Verfügung oder rechtsgestaltender oder konstitutiver Verwaltungsakt (z.B. Bewilligung von Sozialhilfe, Jugendhilfe, Lohnersatzleistungen aus der gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherung)

·

Die Entscheidung als rechtsfeststellender oder deklaratorischer Verwaltungsakt (z.B. die Einbürgerung eines Nichtdeutschen)

·

Die Beurkundung und die Beglaubigung als amtliche Bestätigung über unstreitige Tatsachen oder Rechtsverhältnisse (z.B. Beurkundung einer Geburt oder eines Sterbefalls)

·

Die Erklärungsentgegennahme (z.B. Kirchenaustrittserklärung mit der Folge des Ausscheidens aus der Kirche)

Nach der Art des Zustandekommens der Verwaltungsakte unterscheidet man: ·

Einseitige Verwaltungsakte (z.B. Polizeiverfügung, Steuerbescheid) und

·

Mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte (z.B. kann einem Hilfesuchenden keine Sozialhilfe „aufgezwungen" werden).

Nach dem Ergebnis für den Betroffenen differenziert man zwischen ·

verpflichtenden und belastenden Verwaltungsakten, die neue Pflichten begründen oder bestehende näher bestimmen (z.B. Steuerbescheid, Bußgeldbescheid) und

·

berechtigende und begünstigende Verwaltungsakte, die Rechte verleihen oder Begünstigungen einräumen (z.B. Sozial- und Jugendhilfebescheide).

Nach dem Ermessensspielraum der Behörde unterscheidet man: ·

„freie" Verwaltungsakte, wenn ihre Vornahme und ihr Inhalt im „freien" Ermessen der Verwaltungsbehörde stehen (z.B. Übernahme von Beiträgen für eine Lebensversicherung im Rahmen der Sozialhilfe)

·

Gebundene Verwaltungsakte, wenn die Behörde beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Art verpflichtet ist, den Verwaltungsakt zu erlassen, weil die Entscheidung in diesem Fall ausschließlich Rechtsanwendung darstellt (z.B. Pflichtleistungen im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt)

·

Gemischte Verwaltungsakte, wenn durch sie der Tatbestand in einer Weise geregelt wird, die sich teilweise als Rechtsanwendung, teilweise als Ermessensaus-

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übung (z.B. Beurteilungsspielraum bei Pflichtleistungen dem Grunde nach in der Sozialhilfe) kennzeichnet Die Unterscheidungen sind bedeutsam für die Frage, in welchem Umfang ein Verwaltungsakt von den Gerichten überprüft werden kann. Die gebundenen Verwaltungsakte unterliegen der sozial- und verwaltungsgerichtlichen Prüfung in vollem Umfang, die „freien" dagegen nur unter dem Gesichtspunkt der Ermessensüberschreitung und des Ermessensfehlgebrauchs (z.B. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG). 4.3 Anhörung, Akteneinsicht, Form des Verwaltungsakts und Nebenbestimmungen Vor dem Erlass eines belastenden Verwaltungsakts ist der Betroffene grundsätzlich zu hören und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben (Anspruch auf rechtliches Gehör). Unterlassene Anhörungen machen den Verwaltungsakt fehlerhaft, soweit nicht auf eine Anhörung verzichtet werden kann (s. § 24 SGB X). Die Behörde hat den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Das gilt bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens nicht für Entwürfe zu Entscheidungen sowie die Arbeiten zu ihrer unmittelbaren Vorbereitung. Verwaltungsakte können, soweit nicht im Einzelfall etwas anderes bestimmt ist, in jeder geeigneten Form erlassen werden. Sie müssen jedoch inhaltlich so bestimmt sein, dass der Betroffene über seine Rechte und Pflichten unzweideutig Aufschluss erhält. Unklarheiten des Verwaltungsaktes gehen zu Lasten der verfügenden Behörde: ·

Gewöhnlich ist die schriftliche Form mit Unterschrift der zuständigen Fachkraft (nicht bei EDV-Ausdrucken) notwendig (z.B. Steuerbescheid, Sozialhilfebescheid)

·

Häufig kommen aber auch mündliche Verwaltungsakte oder solche durch konkludente, d.h. schlüssige Handlung, vor (z.B. ein Sozialhilfeempfänger erhält die monatliche Geldleistung nicht über Datenverarbeitung, sondern bar ausgezahlt)

·

Ausnahmsweise in besonderer, gesetzlich vorgeschriebener Form (z.B. muss eine Beamtenernennungsurkunde einen bestimmten Wortlaut enthalten und dem zu Ernennenden persönlich übergeben werden)

Verwaltungsakte sind an die Personen, an die sie gerichtet sind, bekannt zu machen. Die Bekanntgabe ist von besonderer Bedeutung, weil der Verwaltungsakt erst mir ihr wirksam wird; ferner beginnt mit ihr regelmäßig die Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels. Schriftliche Verwaltungsakte werden durch Übergabe an den Empfänger oder durch öffentliche Bekanntgabe des Inhalts (Öffentliche Zustellung bei unbekanntem Aufenthalt oder verweigerter Annahme) bekannt gegeben. Zum Nachweis des Zugangs erfolgt die Zustellung von belastenden Verwaltungsakten in der Regel durch Zustellungsurkunde. Schriftlose Verwaltungsakte werden mündlich oder durch entsprechende Handlungen bekannt gegeben.

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Die fehlende Begründung eines schriftlichen Verwaltungsakts macht diesen grundsätzlich fehlerhaft. In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs. 1 SGB X). Auch ist eine Rechtsmittelbelehrung in den Verfahrensgesetzen des Bundes und der Länder vorgeschrieben. Bei unterlassener Rechtsmittelbelehrung fängt die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen an. Nach Ablauf eines Jahres ist jedoch die Einlegung eines Rechtsbehelfs ausgeschlossen (§ 66 Abs. 2 SGG, § 58 Abs. 2 VwGO). Als einzelne Nebenbestimmungen kommen in Frage: ·

Die Bedingung (bei ihr wird die Wirksamkeit des Verwaltungsakts vom Eintritt oder Nichteintritt eines unbestimmten künftigen Ereignisses abhängig gemacht)

·

Die Befristung (bei ihr ist für die Wirkung des Verwaltungsakts ein Anfangs- oder Endtermin bestimmt)

·

Der Widerrufsvorbehalt

·

Die Auflage

Beispiel: Die Bewilligung einer Erstausstattungsbeihilfe erfolgt unter der Auflage, dass die Kaufbelege bei der nächsten Vorsprache vorzulegen sind. 4.4 Verbindlichkeit und Widerruf von Verwaltungsakten Die Rechtswirksamkeit eines Verwaltungsakts tritt mit seinem Erlass bzw. seiner Zustellung ein. Verwaltungsakte auf dem Gebiet der Sozialversicherung und der Staatsbürgerversorgung dauern fort, solange sie nicht aufgehoben werden. Das gilt nicht für Verwaltungsakte auf dem Gebiet der Fürsorge (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II, Jugendhilfe). Fürsorge ist Notfallhilfe und begründet keine versorgungsähnlichen Ansprüche. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass Fürsorgebescheide immer nur für den Bedarfszeitraum (in der Regel einen Monat) gelten, soweit ein längerer Zeitraum nicht ausdrücklich benannt wird (z.B. Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung). Eine Rechts- bzw. Bestandskraft kommt nur bei Verfügungen und Entscheidungen in Frage, nicht jedoch bei Urkunden, die nur als Beweismittel von Bedeutung sind. Verwaltungsakte können von der Behörde, die sie erlassen hat, auch nach Eintritt der formellen Rechts- bzw. Bestandskraft grundsätzlich widerrufen bzw. aufgehoben werden. Das gilt insbesondere für belastende Entscheidungen, da die Aufhebung für die Beteiligten zunächst nur vorteilhaft ist.

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Bei begünstigenden Verwaltungsakten ist die Widerrufsmöglichkeit eingeschränkt bzw. ausgeschlossen. Hat der Beteiligte kein Recht erworben sondern enthält der Verwaltungsakt nur eine Gestattung (z.B. Baugenehmigung), ist der Widerruf aus höherem Allgemeininteresse zulässig. Die Behörde ist dann schadenersatzpflichtig. Begünstigende Verwaltungsakte können hingegen aufgehoben werden, wenn sie unter dem Vorbehalt des Widerrufs stehen und sich die Rechts- oder Sachlage geändert hat (Einzelheiten: s. Aufhebung von Verwaltungsakten). 4.5 Fehlerhafte Verwaltungsakte Die Fehlerhaftigkeit kann sich ergeben aus einem formellen (beispielsweise wurde der Bescheid von einer unzuständigen Behörde erlassen oder er wurde nicht zugestellt) oder einem inhaltlichen, d.h. materiellen Grund. Hierzu gehören Verwaltungsakte, die nicht rechtmäßig oder zweckmäßig sind. Folge können bei schweren Fehlern die Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit oder bei weniger gravierenden Mängeln die Vernichtbarkeit, d.h. die Anfechtbarkeit im weiteren Sinne sein. Beispiele für eine Fehlerhaftigkeit aus formellen Gründen: ·

Ein Einkommensteuerbescheid wird von einem unzuständigen Finanzamt erlassen.

Beispiel für eine Nichtigkeit aus formellen Gründen: ·

Eine Gemeinde verpflichtet den Eigentümer eines Grundstücks, das in einer anderen Gemeinde liegt, zum Anschluss an ihre Kanalisation

Bei Formmängeln ist grundsätzlich die Anfechtbarkeit gegeben (z.B. wird ein Verwaltungsakt nicht mit einer nachvollziehbaren Begründung versehen). Lediglich in Ausnahmefällen und zwar dann, wenn bestimmte Formvorschriften zwingend vorgeschrieben sind, ist ein Verwaltungsakt nichtig (z.B. wird einem Beamten nicht die Ernennungsurkunde behändigt). Aus materiellen Gründen ist ein Verwaltungsakt nichtig, wenn seine Durchführung tatsächlich unmöglich ist oder gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstößt. Beispielsweise verweigert die Gemeinsame Einrichtung nach § 44 b SGB II einer Antragstellerin die Leistung mit dem Argument, sie könne ihren Lebensunterhalt weiterhin mit Diebstählen bestreiten. Bei Verstößen gegen geltendes Recht ist ein Verwaltungsakt prinzipiell nur anfechtbar. Ein Verwaltungsakt ist ferner nichtig, wenn er durch Gewalt, Drohung oder Erpressung zustande gekommen ist. Im Geltungsbereich des SGB X regelt § 40 die Nichtigkeit von Verwaltungsakten.

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4.6 Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit Die Aufhebung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes erfolgt durch Anfechtung oder durch Zurücknahme durch die erlassende Behörde. Der Betroffene bzw. Belastete kann den Verwaltungsakt durch Einlegung eines förmlichen oder formlosen Rechtsmittels oder durch Erhebung der Anfechtungsklage anfechten. Der Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts umfasst in der Regel auch den Anspruch auf Beseitigung seiner unmittelbaren tatsächlichen Folgen (Folgenbeseitigungsanspruch). Die Anfechtungsfrist bestimmt sich nach den Fristen, die für das betreffende Rechtsmittel oder die Erhebung der Anfechtungsklage gelten. Die Anfechtung hat regelmäßig rückwirkende Kraft. Die Rücknahme besteht in der Aufhebung des Verwaltungsakts durch die erlassende Stelle, einer übergeordneten Behörde oder im gerichtlichen Verfahren. Die Rücknahme ist grundsätzlich auch dann möglich, wenn ein Recht eingeräumt wurde, da die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte den Grundsätzen rechtstaatlicher Verwaltung entspricht. Eine Rücknahme kann ausgeschlossen sein, wenn sich der Begünstigte in seiner Lebensführung oder mit Vermögensverfügungen auf die durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt geschaffene Lage eingerichtet hat. Eine Rücknahmefrist besteht nicht. Die Zurücknahme hat im Allgemeinen keine rückwirkende Kraft. 4.7 Heilung fehlerhafter Verwaltungsakte Fehlerhafte Verwaltungsakte können unter gewissen Voraussetzungen geheilt werden. Ein bloß anfechtbarer Verwaltungsakt ist mit Ablauf der Rechtsmittelfrist geheilt. Ein nichtiger oder anfechtbarer Verwaltungsakt kann außerdem geheilt werden durch Umdeutung sowie Nachschieben von Rechtsgründen, Rechtsquellen und Tatsachen. Die Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, die Folgen von Verfahrens- und Formfehlern und die Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsakts werden im Einzelnen in §§ 41-43 SGB X geregelt. 5. Die Aufhebung von Verwaltungsakten 5.1 Rücknahme von rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakten Wurde im Einzelfall bei Erlass eines Verwaltungsakts Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist und wurden deshalb Sozial-

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leistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben, sind auch bestandskräftige, d.h. nicht mehr anfechtbare Verwaltungsakte für die Vergangenheit zurückzunehmen. Rückwirkend sind Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren zu erbringen. 5.2 Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten Grundsätzlich dürfen rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte für die Vergangenheit nicht zurückgenommen werden (Vertrauensschutz). Das gilt nicht, wenn ·

der Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt wurde,

·

der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder

·

er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.

Die Rücknahme muss innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen. 5.3 Aufhebung eines Verwaltungsakts bei Änderung der Verhältnisse Treten nach Erlass eines Verwaltungsakts wesentliche Änderungen ein, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Einzelheiten regelt § 48 SGB X. 5.4 Folgen der Aufhebung von Verwaltungsakten Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Das gilt auch für Leistungen, die ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. Der Erstattungsanspruch verjährt in vier Jahren, nachdem er durch Verwaltungsakt geltend gemacht wurde. 6. Öffentlich-rechtlicher Vertrag Ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts kann durch Vertrag begründet, geändert oder aufgehoben werden (öffentlich-rechtlicher Vertrag), soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen.

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Öffentlich-rechtliche Verträge sind insbesondere im Pflegesatzrecht verbreitet. Neuerdings auch im SGB II (Eingliederungsvereinbarungen). 7. Sozialgerichtsbarkeit/Verwaltungsgerichtsbarkeit 7.1 Organisation Die Sozialgerichtsbarkeit ist ein selbstständiger Zweig der staatlichen Gerichtsbarkeit und steht gleichrangig neben der Zivilgerichtsbarkeit und den sonstigen Zweigen der Gerichtsbarkeit. Die Sozialgerichtsbarkeit ist in drei Stufen gegliedert: ·

Gerichte der ersten Instanz sind die Sozialgerichte

·

Gerichte der zweiten Instanz sind die Landessozialgerichte

·

Revisionsgericht ist das Bundessozialgericht

Dienstaufsichtsbehörde ist für jedes Gericht sein Präsident. Übergeordnete Dienstaufsichtsbehörden für die Sozialgerichte sind die Präsidenten der Landessozialgerichte. Für die Landessozialgerichte Mitglieder der jeweiligen Landesregierung. Als Dienstaufsichtsbehörde des Bundessozialgerichts fungiert der zuständige Bundesminister. Die Mitglieder der Sozialgerichte setzten sich aus berufsmäßigen Richtern und Laienrichtern zusammen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist vergleichbar gegliedert. 7.2 Prozessbeteiligte, Bevollmächtigte und Beiladung Prozessbeteiligte sind die Hauptbeteiligten (Kläger und Beklagter), ggf. der Beigeladene. Beteiligungsfähig sind alle natürlichen und juristischen Personen, im Einzelfall nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Behörden, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Hiervon zu unterscheiden ist die Prozessfähigkeit. Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit zur Vornahme von Prozesshandlungen. Für einen Prozessunfähigen handelt der gesetzliche Vertreter, Vorstand oder besonders Beauftragte. Juristische Personen, nichtrechtsfähige Vereinigungen und Behörden sind ihrer Natur nach stets prozessunfähig und müssen sich vertreten lassen. Durch das Institut der Beiladung sollen Dritte, die nicht zu den Beteiligten eines Rechtsstreits gehören, deren rechtliche Interessen aber durch die Entscheidung berührt werden, am Verfahren beteiligt werden. Sie sollen dadurch Gelegenheit erhalten, ihre Interessen

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vor Gericht zu vertreten. Weiterhin soll dadurch erreicht werden, dass sich die Rechtskraft des gegen die Hauptbeteiligten ergehenden Urteils auch auf sie erstreckt. Die Beiladung steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. In gewissen Fällen, nämlich dann, wenn die Entscheidung auch den anderen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, ist das Gericht verpflichtet, die anderen beizuladen. Im Sozialgerichtsprozess kann sich jeder Beteiligte grundsätzlich selbst vertreten. Einen Anwaltszwang gibt es nur vor dem Bundessozialgericht. In der VwGO ist eine Vertretung durch Anwälte vor den Oberverwaltungsgerichten/Verwaltungsgerichtshöfen und vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgeschrieben. 7.3 Verfahrensgrundsätze 7.3.1 Amtsbetrieb Während die Einleitung des Verfahrens (Klageerhebung) im Belieben der Beteiligten liegt, wird das einmal eingeleitete Verfahren durch das Gericht von Amts wegen weiterbetrieben. Alle Zustellungen, Ladungen und Terminbestimmungen erfolgen von Amts wegen. Der /die Vorsitzende kann schon vor der mündlichen Verhandlung alle Anordnungen treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Der/die Vorsitzende hat weiter darauf hinzuwirken, dass Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt und alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhaltes wesentliche Erklärungen abgegeben werden. 7.3.2 Untersuchungsgrundsatz (Offizialmaxime) In der Sozialgerichtsbarkeit herrscht der Untersuchungsgrundsatz. Er besagt, dass die Sozialgerichte den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen haben, ohne dabei an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Das Gericht hat deshalb gegebenenfalls selbstständige Ermittlungen anzustellen und auch Beweise zu erheben, die von den Beteiligten nicht beantragt sind. Der Kläger kann die Klage zurücknehmen oder ändern, die Beteiligten können sich vergleichen, auf Rechtsmittel verzichten oder eingelegte Rechtsmittel zurücknehmen und dadurch das Verfahren zum Abschluss bringen.

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7.3.3 Mündlichkeit und Öffentlichkeit Abgesehen von Ausnahmen (z.B. Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder Gerichtsbescheid) herrscht der Grundsatz der mündlichen Verhandlung und der Öffentlichkeit des Verfahrens. Von Letzterem sind Ausnahmen möglich. 7.3.4 Rechtliches Gehör Jeder Beteiligte hat Anspruch auf rechtliches Gehör, d.h. sie erhalten in der Verhandlung das Wort und sind von allen Beweisterminen zu benachrichtigen. Ferner darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. 7.3.5 Prozesskostenhilfe Einem nicht über entsprechendes Einkommen verfügenden Beteiligten kann durch Beschluss des Gerichts Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Die Vorschriften der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, Behinderte oder deren Sonderrechtsnachfolger gerichtskostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Die Behörden lassen sich regelhaft nicht anwaltlich vertreten, so dass auch im Falle des Unterliegens dem – erfolglosen – Kläger keine Anwaltskosten der Gegenseite entstehen. 7.3.6 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Sie wird auf Antrag gewährt, wenn jemand ohne sein Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Fortfall des Hindernisses unter Glaubhaftmachung der den Antrag begründenden Tatsachen zu stellen. Die versäumte Rechtshandlung ist innerhalb der Frist nachzuholen (z.B. Verhinderung der Rechtsmitteleinlegung infolge eines Urlaubsaufenthalts).

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7.4 Gerichtliches Verfahren 7.4.1 Vorverfahren Die Sozialgerichte können grundsätzlich erst dann mit der Klage angerufen werden, wenn der Sachverhalt in einem Vorverfahren nochmals überprüft worden ist. Dadurch soll die Zahl der Klagen eingeschränkt werden. Zudem kann die Behörde im Vorverfahren den von ihr erlassenen und vom Kläger angefochtenen Verwaltungsakt nochmals auf seine Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit überprüfen und ihn ggf. abändern oder aufheben, wenn er sich als anfechtbar oder nichtig herausstellt. Der Einlegung eines Widerspruchs bedarf es ausnahmsweise nicht, wenn sich die Klage gegen den Verwaltungsakt einer obersten Bundes- oder Landesbehörde richtet. Durch die Zustellung des Widerspruchsbescheids wird die Klagefrist in Lauf gesetzt und bei der Anfechtungsklage der Streitgegenstand bestimmt. Der Widerspruch hat ebenso wie die Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. 7.4.2 Klage Die Klage muss schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden. Sie muss die Person des Klägers und des Beklagten sowie den Streitgegenstand erkennen lassen. Die Klage soll einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen angegeben bzw. Unterlagen beigefügt werden. Die Klagefrist beträgt einen Monat und beginnt mit der Zustellung des Widerspruchsbescheids. Die Klagefrist beginnt nur zu laufen, wenn eine Rechtsmittelbelehrung erfolgt ist. Ist eine solche unterblieben, so ist die Klage grundsätzlich jedoch nur innerhalb eines Jahres seit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts zulässig. Hat ein Widerspruchsverfahren nicht stattgefunden oder ist es infolge verzögerlichen Verhaltens der Behörde nicht in angemessener Frist zum Abschluss gebracht worden, kann grundsätzlich erst sechs Monate seit Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes Klage erhoben werden. Zur Klage ist grundsätzlich nur der befugt, der in seinen Rechten verletzt ist, d.h. gegen den ein belastender Verwaltungsakt gerichtet ist oder in dessen Rechte mittelbar eingegriffen wird. § 63 SGB IX sieht für Angelegenheiten des Behindertenrechts auch ein Klagerecht der Verbände vor (Popularklage). Bei den Klagearten wird unterschieden zwischen:

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Anfechtungsklage: Sie ist die klassische Form der Klage und richtet sich gegen einen Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Abänderung verlangt wird. Verpflichtungsklage: Mit ihr wird nicht die Aufhebung, sondern die Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsaktes begehrt. Feststellungsklage: Mit ihr wird die Feststellung des Bestehens oder des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt. Antrag auf Normenkontrolle: Sie hat die Nachprüfung der Rechtsgültigkeit einer bestimmten Norm zum Gegenstand (z.B. Bebauungsplan einer Gemeinde). 7.4.3 Verfahren bis zum Urteil 7.4.3.1 Rechtshängigkeit Durch die Erhebung der Klage wird die Sache rechtshängig. Die Rechtshängigkeit tritt ein mit Eingang der Klageschrift bei Gericht oder dem Abschluss der Niederschrift der Klage durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle. Sie hat die Wirkung, dass eine neue Klage in gleicher Sache während der Rechtshängigkeit unzulässig ist. 7.4.3.2 Klageänderung Hierunter versteht man die Änderung des Streitgegenstands. Die Klageänderung ist zulässig, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. 7.4.3.3 Klagerücknahme Hierunter versteht man die Erklärung des Klägers, dass er den Rechtsstreit nicht fortführen werde. Die Klagerücknahme ist bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils zulässig. Die Klagerücknahme wird durch Erklärung gegenüber dem Gericht vorgenommen. Wird die Klage zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluss ein.

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7.4.3.4 Vergleich Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch kann durch Prozessvergleich oder durch außergerichtlichen Vergleich erledigt werden. Der Prozessvergleich kann nur zur Niederschrift des Gerichts oder des beauftragten oder ersuchten Richters abgeschlossen werden. Ein außergerichtlicher Vergleich kann beliebig geschlossen werden. Er hat jedoch nicht die Wirkungen des Prozessvergleichs. Es muss vielmehr die Zurücknahme der Klage oder des Rechtsmittels oder die übereinstimmende Erklärung der Beteiligten hinzukommen, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist. 7.4.3.5 Mündliche Verhandlung Zur mündlichen Verhandlung sind die Beteiligten zu laden. Sie sind zum Erscheinen nicht verpflichtet. Das Gericht kann jedoch das persönliche Erscheinen anordnen. Die mündliche Verhandlung wird vom Vorsitzenden des Gerichts eröffnet und geleitet. Die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung werden in einer Niederschrift aufgenommen. 7.4.3.6 Beweiserhebung Durch sie will sich das Gericht die Gewissheit darüber verschaffen, dass ein bestimmter Tatbestand gegeben ist. Es gibt genauso wie im Zivilprozess drei Beweisarten: ·

Der Strengbeweis soll dem Gericht die volle Überzeugung über das Vorliegen bestimmter Tatsachen verschaffen. Beweismittel sind Augenscheinnahme, Vernehmung von Zeugen, Sachverständige und Heranziehung von Urkunden.

·

Die Glaubhaftmachung genügt, wenn das Gericht nur zur Überzeugung zu gelangen braucht, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsachen gegeben ist.

·

Der Freibeweis findet in Fällen Anwendung, in denen zwar die volle Überzeugung des Gerichts herbeigeführt werden muss, das Gericht aber nicht an das vorgeschriebene Beweisverfahren und die zulässigen Beweismittel gebunden ist. Ein hierhin gehörendes Beweismittel ist die amtliche Auskunft.

7.4.4 Entscheidungen des Gerichts Entscheidungen des Gerichts ergehen als Urteil, Beschluss oder Einstweilige Verfügung/Anordnung.

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7.4.4.1 Urteil Das Gericht entscheidet über den Rechtsstreit durch Urteil, wenn der Streitfall reif zur Entscheidung ist. Man unterscheidet zwischen Prozessurteilen, die nur prozessuale Fragen entscheiden, ohne auf das streitige Rechtsverhältnis selbst einzugehen und Sachurteile, die in der Sache selbst eine Entscheidung treffen. Dem Inhalt nach wird zwischen ·

Gestaltungsurteilen (sie gestalten ein Rechtsverhältnis),

·

Leistungsurteilen (sie verpflichten die Behörde zum Erlass eines beantragten Verwaltungsaktes oder zu einer sonstigen Handlung) und

·

Feststellungsurteilen (sie sprechen aus, dass ein Rechtsverhältnis besteht oder nicht besteht oder dass der beanstandete Verwaltungsakt nichtig ist)

unterschieden. Nach ihrer formalen Bedeutung für das Verfahren unterscheidet man zwischen Endurteilen, die das Verfahren für die Instanz beenden und Teilurteilen, wenn sie das Verfahren nur für einen von mehreren streitigen Ansprüchen beenden sowie Zwischenurteilen, die nur einen Teil des Streitstoffs erledigen, um das weitere Verfahren zu entlasten. 7.4.5 Form und Inhalt der Urteile Das Urteil ist schriftlich abzufassen und vom/von der Vorsitzenden zu unterschreiben. Regelmäßige Bestandteile des Urteils sind ·

die Überschrift (sie lautet dahin, dass das Urteil „Im Namen des Volkes" ergeht),

·

das Rubrum, d.h. die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten,

·

die Bezeichnung des Gerichts und seiner Mitglieder, die an der Entscheidung mitgewirkt haben,

·

der Tenor (Urteilsformel), d.h. die Entscheidung über den Klageantrag und die Prozesskosten, ggf. auch über die vorläufige Vollstreckbarkeit,

·

der Tatbestand, d.h. die Darstellung des Sach- und Streitgegenstandes,

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·

die Entscheidungsgründe, in denen dargelegt ist, aus welchen Gründen das Gericht zu seiner Entscheidung gelangt ist und

·

die Rechtsbehelfsbelehrung.

Entsprechend der Gewaltenteilungslehre haben die Sozialgerichte nur nachzuprüfen, ob eine Rechtsverletzung vorliegt. Die Beurteilung der Betätigung des Ermessens bzw. Beurteilungsspielraums gehört nur dann in ihre Zuständigkeit, wenn die Verwaltungsbehörde ihr Ermessen bzw. ihren Beurteilungsspielraum missbraucht oder die gesetzten Grenzen überschritten hat. Die Sozialgerichte dürfen einen angefochtenen Verwaltungsakt nur beseitigen, nicht aber die begehrte Amtshandlung selbst vornehmen. Ausnahmsweise kann die Leistung von Geld oder anderen vertretbaren Sachen auferlegt werden. Im Falle der Anfechtungsklage erkennt das Gericht auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts und eines etwaigen Widerspruchsbescheids. Im Falle der Verpflichtungsklage spricht das Gericht die Verpflichtung gegenüber der Behörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen. 7.4.6 Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung Die Frage, auf welchen Sachverhalt es für die Entscheidung des Gerichts ankommt, bestimmt sich maßgeblich nach dem Klageantrag. Bei der Anfechtungsklage kommt es auf den Sachverhalt und die Rechtslage an, die bei Erlass des Verwaltungsakts bestanden haben. War der Verwaltungsakt nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass bestanden haben, rechtmäßig, so wird er nicht dadurch rechtswidrig, dass sich der Sachverhalt oder die Rechtslage seit seinem Erlass geändert haben. Bei der Verpflichtungsklage kommt es auf den Sachverhalt und die Rechtslage an, die bei Schluss der mündlichen Verhandlung besteht. Bei der Feststellungsklage kommt es darauf an, für welchen Zeitraum die Feststellung begehrt wird. 7.4.7 Rechtskraft der Urteile Es gibt eine formelle und eine materielle Rechtskraft der Urteile der Sozialgerichte. Urteile sind formell rechtskräftig, wenn sie mit Rechtsmitteln nicht mehr angreifbar sind, z.B. mit Ablauf der Berufungsfrist oder Erschöpfung des Rechtswegs. Die materielle Rechtskraft bindet die Beteiligten (Kläger, Beklagter etc.) und ihre Rechtsnachfolger an das Urteil mit der Wirkung, dass die durch dieses Urteil erledigte Streitsache von diesen Beteiligten nicht zum Gegenstand eines neuen Verfahrens gemacht werden kann.

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Die Bindung bezieht sich jedoch nur auf den Streitgegenstand zur Zeit des Urteilerlasses. Ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse, unter denen das Urteil ergangen ist, so ist das Urteil nicht mehr bindend. 7.4.8 Beschlüsse Beschlüsse enthalten regelmäßig nur Anordnungen innerhalb des Verfahrens. Beschlüsse, die auf Grund mündlicher Verhandlung ergehen, sind zu verkünden. Andere Beschlüsse sind den Beteiligten formlos mitzuteilen. Beschlüsse müssen grundsätzlich nur dann begründet werden, wenn sie durch ein Rechtsmittel angefochten werden können. Beschlüsse über die Prozesskostenhilfe, die Anordnung der Aussetzung der Vollziehung und der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung sind stets zu begründen. 7.4.9 Einstweilige Anordnung (§ 86 b Abs. 2 SGG) Die einstweilige Anordnung entspricht der einstweiligen Verfügung nach der Zivilprozessordnung und ist zur Sicherstellung eines wirksamen, vorläufigen Rechtsschutzes notwendig. Einstweilige Anordnungen kann das Gericht in Bezug auf den Streitgegenstand oder zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen (z.B. Gewährung von Sozialleistungen). Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs kann ggf. durch einen entsprechenden Antrag wieder hergestellt werden. Eine einstweilige Anordnung kann ergehen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte oder zur Regelung eines vorläufigen Zustands, um wesentliche Nachteile abzuwenden (z.B. Finanzierung des gegenwärtigen Lebensunterhalts) oder drohende Gewalt zu verhindern. 7.4.10 Rechtsmittel Rechtsmittel im Sozialgerichtsprozess sind die Berufung, die Revision, die Beschwerde und die Nichtzulassungsbeschwerde sowie - in begründeten Ausnahmefällen - die Wiederaufnahme des Verfahrens. Durch die Einlegung des Rechtsmittels wird der Eintritt der Rechtskraft gehemmt. Mit der Einlegung des Rechtsmittels geht die Zuständigkeit an die nächsthöhere Instanz über. Berufung und Beschwerde führen zur Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, während die Revision nur eine Nachprüfung in rechtlicher Hinsicht bewirkt.

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Die Berufung ist gegeben gegen Endurteile des Sozialgerichts. Sie geht an das Landessozialgericht. Die Berufung wird vom Sozialgericht nur in bestimmten Fällen (z.B. besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten der Sache) zugelassen. Gegen die Nichtzulassung ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig. Die Berufung ist form- und fristgebunden. Sie führt zu einer neuen Prüfung des Streitfalls. Die Berufung kann durch einen mit Gründen versehenen Beschluss verworfen werden, wenn sie offenbar unzulässig ist (z.B. Fristversäumnis). Anderenfalls entscheidet das Berufungsgericht auf Grund mündlicher Verhandlung durch Urteil. Das angefochtene Urteil darf nur insoweit geändert werden, als eine Änderung beantragt ist. Es darf also nicht zum Nachteil des Berufungsklägers verschlechtert werden. Gegen das Urteil des Landessozialgerichts steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht zu, wenn das Landessozialgericht - oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundessozialgericht - sie zugelassen hat. Die Revision ist nur zuzulassen, wenn ·

die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

·

das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Divergenz) oder

·

ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden. Die Revision ist frist- und formgebunden. Die Revision kann nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung von Bundesrecht beruhe. An die tatsächlichen Feststellungen ist das Revisionsgericht gebunden. Eine unzulässige, d.h. nicht statthafte oder nicht form- oder fristgerechte Revision wird durch Beschluss verworfen. Eine unbegründete Revision durch Urteil zurückgewiesen. Bei begründeter Revision kann das Bundessozialgericht entweder in der Sache selbst entscheiden oder die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen. Die Beschwerde ist nur gegen solche Entscheidungen des Sozialgerichts zulässig, die nicht Urteile oder Vorbescheide sind. Gegen Beschlüsse des Sozialgerichts über die Aussetzung der Vollziehung und über einstweilige Anordnungen sowie gegen Beschlüsse im Verfahren der Prozesskostenhilfe steht den Beteiligten die Beschwerde nur zu, wenn sie vom Landessozialgericht zugelassen worden ist. Die Beschwerde ist frist- und formgebunden. Die Beschwerdefrist beträgt zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung. Die Beschwerde ist beim Gericht einzulegen, von dem oder von dessen Vorsitzende/n die angefochtene Entscheidung erlassen ist.

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Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Über die Beschwerde entscheidet das Landessozialgericht durch Beschluss. Das Gericht hat, ebenso wie bei der Berufung, die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen, wobei ein neues Vorbringen zu berücksichtigen ist.

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