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Hrsg. Betti Fichtl

Jeder Tag ist ein Geschenk

Edition Wendepunkt

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1. Auflage Dez. 2005 © Texte bei AutorInnen © Bilder bei KünstlerInnen Gesamtherstellung und Druck Edition Wendepunkt - adcance Publikationen Hebbelstraße 6, 92637 Weiden Tel.: 0961-45783 - www.ew-buch.de ISBN 3-935841-37-X

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Die rote Marlboro Eine scharlachrote Schachtel Marlboro liegt auf dem Tisch. Daneben ein BiC-Feuerzeug. Sie wissen schon, das sind solche Feuerzeuge, die garantiert dreitausend Mal zünden und werden dann weggeworfen. Elegante, gepflegte und langfingrige Hände greifen nach der Schachtel. Und das BiC zündet ein kurzlebiges Feuer. Aber irgendwann, zwischen diesen Zündungen entflammt ein Liebesfeuer. Unerwartet verzaubert, wild und ansteckend wie Malaria. Wenn Illusionen sterben, erscheint aus der Asche die Liebe. Warum sollte eine Liebe heimlich sein, um zu brennen? Eine Frau sitzt still nebenan und beobachtet das Spiel mit dem Feuer. Die Hände des Mannes bewegen sich wie ein leichter Sommerwind, sie gestikulieren etwas Springlebendiges, was die Frau nicht deuten kann. Sein Mund öffnet sich und schließt wieder. Sie hört kein Wort. Aber sie spürt die Magie des Augenblicks, sie spürt die heilende Wärme von diesen Händen und sie schmeckt diesen plappernden Mund. Alles scheint nah und doch ist eine Brücke dazwischen. Wie ein Lichtstrahl das Wasser durchdringt, so leuchtet das Juwel der Liebe durch den Schleier ihres Körpers. Unvermittelt berühren sich die vier Hände, wobei zwei davon Eheringe tragen. Eine himmlische Energie strömt durch die Luft. Ein sinnlicher Duft erfüllt den kleinen Raum, alles vibriert nach einer Sehnsucht. Melodie der Leidenschaft erklingt zum ersten Mal. Morgen dann zum zweiten, übermorgen zum dritten. Das Wochenende dazwischen. Ein kleiner Tod. Die trügerische Stille. Immer noch bewegen sich die Hände, der Mund und der Wind. Montag ist da. Eine Brücke ist dazwischen. Eine rote Schachtel Marlboro liegt stumm auf dem Tisch. Die Schachtel wechselt die Farbe, von leuchtendrot in feurigrot. Die Hände greifen nicht

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nach dem BiC und der Mund plappert nicht. Magnetartig verflechten sichvier Hände ineinander, abenteuerlich, kannibalisch und wie auf einer Entdeckungsreise. Und immer dann, wenn Mann und Frau sich in der Intimität ihrer Selbst, in ihrer Intensität, in ihrer Vulgarität begegnen, „machen“ sie bedingungslos Liebe. Und immer wieder, durch ihr bloßes und einfaches Zusammensein, wird das ewige Feuer der Liebe neu entfacht. Mal geschah es zart, wie eine Frühlingsblume, mal rauh und gewaltig. Die Lippen treffen sich und es tut weh. Mann und Frau erleiden Schmerzen vor Leidenschaft, die bereits eingeschlummert wurde. Und beide sind verblüfft. Sie schauen sich in die Augen und lachen wie zwei sonnenhafte Kinder. Wie in einem Tango bewegen sich beide aufeinander, lassen los und verketten sich wieder. Küssen sich, stöhnen, spielen und lachen. Ein Märchen kann beginnen. So lernen sie sich lieben. So lernen sie sich streiten und schlagen. Und das Zittern ist ständig dabei, ein Feuer flackert und läßt nicht atmen. Zwei Menschen, zurückgeworfen in ihre Jugend, spielen mit dem Feuer und das Feuer spielt mit ihnen. Schmerzhaft sind die Verbrennungen, doch wem kümmern sie. Ein Tag vergeht. Sieben Tage vergehen. Sieben Wochen sind um. Unruhe meldet sich. Alarm schlägt. Es qualmt gewaltig. Doch die Leidenschaft wächst, wie ein Berg steht sie da und breitet ihre unermüdlichen Flügel aus. Diese Leidenschaft will eine Art Schutz geben, mit der Parole – was kann mir passieren, wenn ich so wild meine Gefühle spüren kann. Sieben Monaten später. Eine rote Schachtel Marlboro liegt auf dem Tisch. BiC hat den Geist aufgegeben, zündet nicht mehr. Die Hände sind ruhig, der Mund stumm. Beide waren von Liebe hingerissen, andere bemerkten es, sie kamen ins Gerede und er empfand zum ersten Mal Bitterkeit. Er unterläßt es, sie zu treffen, aber sein Herz bricht und er verfällt allmählich in Melancholie.

Die rote Marlboro

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Sie pflegt ihre Liebe im Stillen, sodaß niemand weiß, dass sie zwischen dem Wasser ihrer Tränen und dem Feuer ihrer Liebe lebte. Die Angst hat gesiegt. Die Angst vor Verbrennungen. Verstand hat gesiegt, nicht die Leidenschaft. Eine Brücke war dazwischen. Auf ihr stand geschrieben: Entscheide dich! Mann und Frau hassen diese Brücke. Sie ist eine Nervensäge und warnt ständig vor Verlust. Welchem Verlust? Das zu verlieren, was vor dem Feuer gebaut wurde. Das zu verlieren, was ein Leben ausmacht. Das Vertrauen, die Zusammengehörigkeit, der Respekt, die Liebe im Ganzen. Aber diese „alte“ Liebe hat kein Funken Leidenschaft mehr in sich. Doch, und ob! Sie hat einen Dauerwert. Und eine Leidenschaft? Sie entzündet sich fanatischschnell und noch schneller erlöscht sie. Eine rote Schachtel Marlboro liegt nicht mehr auf dem Tisch. Auf dem Tisch liegen nur noch Routine und Gewohnheit und in seiner Schublade schlafen Träume, Sehnsüchte und das Verbotene. Brücken gibt es überall. BiC kann man für einen Euro kaufen. Irgendwo und irgendwann treffen sich ein Mann und eine Frau, zwei Feuerspieler. Vielleicht liegt eine scharlachrote Schachtel Marlboro dazwischen. Vielleicht auch ein BiC. Und beide können Märchen erzählen, und es wird immer ein kurzes Märchen sein, ein Windhauch, ein einziger Augenblick in Strömung der Zeit.

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Schmerz und Wut Klein, süß und schön war das kleine Mädchen. Wie eine wohlduftende Rosenknospe stand sie vor dem Altar in der prachtvollen Kirche, im einfachen Kommunionkleid aus dem schneeweißen, dünnen Chiffon von fleißigen Nonnen genäht. Alle Mädchen trugen an diesem Tag die gleichen Kleider, nur ihre Lebensgeschichten haben sich voneinander unterscheiden. Sonnenhafte Kindheit, Gottes Segen und der Duft des Weihrauchs füllten die kirchliche Atmosphäre. Ernste Menschen saßen auf den Holzbänken und ihre Gesichtskonturen waren mit Ruhe überzogen, fest ineinander gefaltete Hände auf dem Schoß ruhend und unversiegbare Gedanken, die gleichzeitig und fließbandmäßig in fremden Köpfen kreisten, tausende von verschiedenen Bildern bewegten sich in fremden Augen. Aber diese Ruhe, dieses Stillsitzen dauerte zu kurz, trügerisch zeichnete sich das Leben der Mütter, der Väter, der Kinder. Bis zum ihren neunten Lebensjahr wußte das kleine Mädchen, namens Nina, nicht, wie grausam, gefühllos, voller Undankbarkeiten und Lügen die Welt da draußen sich zeigte, ohne Schamgefühl, ohne Skrupel, ohne Liebe, im Mangel an Träumen und Hoffnung, ohne Aussicht auf Besserung, als ob der Teufel eben das Kommando übernommen hätte, und die Richtung der folgenden Geschehnisse festgesetzt hätte. „Mein Vater liebt mich über alles“, dachte das ahnungslose, kleine und unberührte Kind. „Er streichelt oft mein Haar, mein Gesicht, küßt meine Augen, meine Stirn, meine kleinen Finger. Und jeden Tag bekomme ich ein neues Spielzeug und mein Vater erfindet jeden Tag ein neues, aufregendes Spiel. Und alles ist feenhaft schön, die Liebe hat keine

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Grenzen, kennt weder Rast noch Pausen.“ Ja, dieser Vater liebte seine Tochter, die kleine, zarte Prinzessin und ihren angenehm duftenden Körper. Diese Liebe, diese Zuneigung war schattig, verdorben, vulgär und tief verletzend. Diese Liebe erzeugte Schmerz, Schreie, Tränen, Ohnmacht und Schrecklähmung. Niemand sah diese Tantalusqualen, niemand hörte diese stillen Aufschreie in der finsteren Nacht, die hoch in den Himmel zu hören waren. Nur die Augen dieses kleinen Mädchens wurden immer trüber, Nacht für Nacht, Tag für Tag verloren sie ihren Glanz, ihre Unschuld und jede Lebhaftigkeit. In ihnen reflektierte sich das Weltbild, in dem sie vollkommen verloren war, verurteilt dazu, sich nicht wehren zu dürfen. Es war Sonntag. Ein aufgewühlter Tag, der traurige Wahrheit und dringende Veränderungen mit sich bringen sollte. Aus der Ferne hörte man Lärm von heulenden Sirenen des Notarztwagens. Bedrohliche Sekunden, die sich in einer offensiven Wildheit voneinander entfernen. Eine Arzttasche, eilende Schritte. Ein Zimmer, ein Bett, ein Laken, weißrot schimmernd, eine scharfe Rasierklinge daneben und zwei leblos hängende Unterarme. Spuren der Verzweiflung. Ein blaßwangiges Mädchengesicht, halb geschlossene Augenlider. Wie aus einem Tunnel widerhallten die Takte eines Klagelides. Erst ist Nina dreizehn. „Ich kann nicht mehr, ich bin so todmüde, ich will diese anarchistische Liebe nicht mehr.“ Das war eine einzige Strophe dieses unvernehmbaren Klagelides. Wo ist Ninas Mutter geblieben? Diese „ahnungslose“ Rabenmutter, die doch über die ganze Situation Bescheid wissen mußte. Wo versteckte sie sich vor der Wahrheit? Warum hat sie nie etwas dagegen unternommen? Drei Jahre lang wurde Nina vom eigenen Vater körperlich und sexuell mißbraucht; regelmäßig, still, spielend und sooft brutal, schnell, blutig und

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zum Wahnsinnigwerden. Ein Vater, ein Vierzigjähriger, ein chronischer Alkoholteufel, der alle seine Gehirnzellen zur Zerstörung freigegeben hatte. Bewußt und freiwillig. Ist die Liebe ein Weg oder ein Resultat? Was ist ein INZEST? Wie sieht eine kleine Seele nach einem solchen Akt aus? Wie tief müssen die Verletzungen sein, wann werden sie ausheilen, wenn sie es schaffen als auskuriert zu gelten, und nur noch in blaßer Erinnerung zu existieren? Das Leben ist sogar immer noch da, wenn wir den ganzen Planeten in die Luft jagen. Aber was für ein Leben? Es bleibt eine mühsam tragende Gegenwart, eine furchtsame und düstere Zukunft. Ein kleines Mädchen steht da alleine, voller Schamgefühle und Minderwertigkeitskomplexe, traumatisiert und halb daseinsfähig. In der Bibel ist die Inzestgeschichte als eine recht „abenteuerliche“ Situation offenbart worden. Die Geschichte über Lots Töchter. Beide Töchter hatten Angst, daß ihr weibliches Geschlecht vom Aussterben bedroht wäre, und sie werkten einen Plan aus. Mit Wein machten sie den eigenen, vertrauten Vater betrunken und vergingen sich beide einer nach der anderen an ihn. In seiner Trunkenheit merkte Lot nichts davon, und am nächsten Tag konnte er sich kaum an etwas erinnern. Beide Töchter wurden schwanger, beide bekamen einen Sohn. Der eine hieß Moab („von meinem Vater“) und der andere Ben-Ammi („Sohn meines Vaters“). Was hat Nina mit Lots Töchtern zu tun? In Ninas Geschichte ist alles anders. Und doch bleibt ein INZEST ein INZEST. Verurteilt von Gott, von der Bibel, verabscheut von jeder Moral und Ethik, ohne festen Platz in unserem Lebensbereich und doch ist er da. Sichtbar und unsichtbar, mit tausend Masken, mit tausend Konsequenzen. Und ständig lauert er: in eigenem Familienhaus, in der Nachbarschaft, allerorts, mächtig und doch zu oft unbemerkbar. Ein wahrer Meister der Tarnung ist er geworden. „Wer beobachtet mich, wer will noch bewußt meine

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Taten sich ansehen?“, eine rhetorisch gestellte und doch zugleich eine nie gestellte Frage, denn die Antworten bringen Wahrheit mit sich, die nicht angenommen werden will, nicht erkannt werden möchte. Nach ein paar Tagen wurde Gina aus dem Krankenhaus entlassen. Ihre aufgeschnittenen Pulsadern verheilten nur äußerlich. Nur zwei Narben sind als ein Mahnmal und ein Warnungszeichen, auf ihren Unterarmen geblieben. Und noch größere Narben lagen auf ihrer Seele. Ihr Blick war stets zu Boden ausgerichtet. Vater und Mutter wurden nur noch zwei schwarz-weiße Silhouetten, zwei Figuren ohne Verstand, zwei Fleischkörper ohne Seele und Empfindungen, zwei Kreaturen, die sich Menschen nennen, die sich noch Eltern nennen dürfen. Mit welchem Recht? Oder sind sie auch zum Sklaven des eigenen Lebensgefühls geworden? Drei Jahre danach hörte Nina auf, in die Schule zu gehen. Da fand sie auch keinen Lehrmeister der Tugend und Moral. Vater trank weiter, jeden Tag ein wenig mehr. Ihre, mit der Zeit hysterisch gewordene Mutter, führte ihren alltäglichen Kampf mit Ginas drei jüngeren Geschwistern. Sie kämpfte und ließ los. Nein, sie ließ öfter los, als sie zu einem autoritärem Erziehungskampf bereit wäre. Allmählich vernachlässigte die Mutter stufenweise alles und jeden. Um welchen Preis, mit welchem Ergebnis? Während Nina im Krankenhaus war, wurde zu Hause die ganze Küche mit einem Beil zertrümmert. Hannes war wieder Mal brutal betrunken. Zwei Schichten nacheinander mußte er arbeiten, um eine neue Küche und das restliche demolierte Mobiliar wieder zu beschaffen. Das war eine, sich immerfort wiederholende Situation in dem Elternhaus von Nina. Gestank der Trunkenheit war stets in der Luft, eine geschlagene und sich nicht wehrende Frau und Mutter bewegte sich leise und ohne

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jede Widerrede, immer wieder und ohne Grund geschlagene Kinder lebten in diesem laut gewordenen Haus, in dem jeder auf seine Art in einer Ecke, sich stimmlos beklagte. Angst und Schrecken wohnten in diesem Haus. Neue Möbel zu beschaffen, war kein Problem für Hannes, aber die Schmerzen, die er im Alkoholrausch seiner Familie zugefügt hatte, konnten so leicht nicht ausgeglichen werden, nur noch neue Schmerzen würden sicherlich dazu hinkommen. Eine Höllentür öffnete sich. Jeden Tag um einen Spalt breiter. Nina veränderte sich. Ihr Gesicht war nicht mehr mit einer Rosenknospe zu vergleichen. Ihre Nächte, in welche sie flüchtete, wurden zu einem Albtraum. Sie gab sich langsam und sicher auf, sie war sich egal geworden. Sie dache, daß jedermann sieht, wie es um sie steht und was ihr angetan worden war. Ohne ein Ziel vor Augen zu haben, lief sie durch die geheimnisvolle Stadt verschmutzt und ausgehungert und nahm jede fremde Einladung an. Bald machte sie Bekanntschaft mit dem gefährlichen Alkohol und mit Menschen, von denen jeder etwas zu verbergen hatte. Eine niedergedrückte Musik begleitete sie dabei. Sie wurde zu einem Straßenkind, und ließ sie nur noch selten zu Hause blicken. Ihre zwei Brüder sind ein wenig älter geworden, haben schon Pickel und einen kleinen Flaumbart auf dem Gesicht und bewegen sich gemeinsam den verbotenen Wegen zu. Ohne Liebe, Fürsorge und Aufsicht entwickeln sie sich zu Drahtziehern einer langfingrigen Clique und begehen jeden Tag aufs Neue, eine andere Straftat, in der Versuchung ihre Courage und Männlichkeit vorzuweisen. Kurze Zeit danach wurde eine nah

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gelegene Verbesserungsanstalt ihr Zuhause. Und wieder versagten eine Mutter, eine Schule und eine verantwortungslose Gesellschaft. Und es gibt keine Ausreden. Basta! Nina ertrug das Ganze nicht mehr lange. Sie wurde zwar nicht mehr geschlagen und nicht mehr berührt, aber die Angst um ihre kleinere Schwester würgte sie ständig und allerorts. Was passiert mit dem „Schneewittchen“, wenn es schon nicht passiert worden war? Wie konnte Nina ihre Schwester bloß ausforschen? Denn dann mußte sie selbst Einiges enthüllen, etwas melden, eigene Geschichte beichten, welche sie am liebsten in eine Schublade einschließen wollte. Nina traute sich nicht. Eines Nachts kam sie nicht mehr daheim. Auch die darauffolgende Nacht nicht. Wie ein Wind zog sie sich zurück und hatte Sehnsucht nach dem Abstand. Nina wollte sich einfach nicht mehr erinnern, an gar nichts mehr erinnern, als ob sie nie klein gewesen war, unbefleckt und mit einem Engelsgesicht, lachend und schwebend, in ein weißes oder rosafarbenes Kleidchen bekleidet. Später hörte man, Nina hat im Ausland einen jungen Mann geheiratet. Die Ehe stand nicht unter einem gesegneten Zeichen. Zuerst verweigerte sie sich ein Jahr lang, wurde später doch schwanger und bekam im siebten Monat einen kleinen, kaum lebensfähigen Jungen. Turbulenzen, Problemen und Streit wechselten sich aus. Ihr Mann war ein fauler Nichtsnutzer, konnte und wollte nicht für ihre kleine Familie sorgen. Alles ging den Berg runter. Oh, du Ausweg, wo bist du? Wo soll ich den hin? Schweren Herzens nahm sie ihren Sohn auf den Arm, das kleine, wehrlose Bündel und klopfte eines Tages an die Tür des Hauses, wo sie nie mehr zurückkehren wollte. Als wollte sie ihre Mutter einkerkern, überlies sie ihr stillschweigend das Kind. Bezaubernd war das kleine Baby, hatte schwarze, dichte Haare und besaß eine wilde Lust zum Leben. Nina sprach nicht. Voller Aufmerksamkeit

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schaute sie ihre kleine Schwester in die Augen. Brillant und fröhlich blickten diese braunen Augen zurück. „Oh, lieber Gott, ich danke dir“, dachte Nina und fühlte sich überglücklich. Es ist nichts passiert. Sie ist noch ein ganzes Kind, ein unbeschwertes, verspieltes Mädchen ohne dunkle Augenringe. Der Blick der Schwester war direkt, hell und nicht verheimlichend. Die Kleine hatte nichts zu verbergen, mußte sich keinesfalls vor etwas schämen oder sich beugen. Schmerz, Tränen und Wut haben sie nicht begleitet. Sie ist verschont worden. Nina küßte ihre kleine Schwester, drückte sie fest an sich und sagte leise und flüsternd: „Paß auf dich auf, Kleine! Lebe wohl!“ Die Tür fiel erneut ins Schloß. Es war, als stünde Nina auf einer Kreuzung, auf dem kein Wegweiser befindlich war. Links, rechts, zurück oder geradeaus. Ist doch egal wohin, dachte sie, alle Wege kreuzen sich früher oder später wieder. Eine junge Frau ist Nina, eine Mutter ist sie geworden. Spürt sie eigentlich eine Liebe in sich? Bei der Geburt ihres Sohnes ist sie fast gestorben, hat sich nie richtig erholt und ist schwächer als sie es je zuvor war. Langsam und sicher geriet sie in die Fänger der Gesellschaft. Wechselte nach Lust und Laune ihre vorübergehenden Arbeitgeber und sammelte strebsam ihre Erfahrungen. Auf einmal spürte sie das schnell spielendes Leben in sich. Die Straße und ihre „ausgewählte“ Gesellschaft beeinflußten ihren Charakter. Jeden Tag lernte sie neue Tricks, und ihre kleinen Finger waren flink und wendig geworden und paßten nicht mehr zu einem naiven Mädchen, das sie früher mal war. Langsam wurde sie zu einer Diebin, zu Betrügerin und zu Fälscherin, zu einem eiskalten Engel, der bereit war, über Leichen zu gehen, um seine Ziele zu verwirklichen. Liebe, Anstand und Verantwortung waren nur leere Worte, die sie mit zynischem Lachen ignorierte. Mit ihren Spielchen wurde sie auch für kurzen Augenblick wohlhabend. Dank ihren flinken Fingern, fand Nina einen Job.

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Es war nicht irgendein Job. Ihre Arbeitsbühne befand sich in einem Casino, in einer Spielhalle, wo die Farbe des Geldes zum Vorschein kommt. Nina trug die schönsten und teuersten Kleider, kaufte sich viel Schmuck und überschüttete ihren Sohn mit leblosem Luxus. Alles wie im gedankenlosen Vorbeigehen. Päckchen wurden abgeladen, der Sohn bekam einen dicken Kuß und Tschüß. Armer Junge, der seine Mutter kaum kannte. Seine Grandma war in Wirklichkeit seine richtige Ma. Und erstaunlicherweise kümmerte sich die Großmutter um ihn, als wollte sie einiges wieder gutmachen. Nina ist eine Geschäftsfrau geworden, sogar eine Geschäftsführerin, hat jetzt keine Zeit und ist andauernd in Eile. Ihr Blick ist dennoch noch nicht aufgerichtet, ihr Kopf ist halb nach unten gesenkt. Geistesarm ist sie nicht, doch weiß sie, daß das, was sie macht nicht einwandfrei ist, aber sie meint, für sie bietet sich keine andere Alternative. Ein wenig reifer ist sie geworden, die ersten Fältchen klebten auf ihrer Stirn und um ihren Mund. Einige Zeit verging. Obwohl Nina edel gekleidet war, mit Gold geziert, waren ihre Gebärden, die Gesten eines Straßenmädchens, die ihre Handbewegungen in Gaststätten und Schenken übte. Ihre Augen glänzten wieder, sie brillierten gierig und gefährlich, wirkten kleiner als sie waren und ihre dünnen Lippen pressten sich auf eine gefahrdrohende Art zusammen. Der ganzen Welt will sie etwas präsentieren, und wo früher sie neidig war, sollen nun andere auf sie neidig werden. Und dennoch war sie immer noch naiv und vertrauensselig und glaubte von nun an nur an die Autorität des Geldes. Das Geld bedeutet Macht und erlaubt gewisse Freiheiten. Plötzlich und unerwartet kam sie nach Hause, voller Zielsetzungen und Veränderungen für die ganze Familie. Da sie längst keine Skrupel mehr

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besaß, kam sie auf ihren geächteten Vater zu und gab ihm etwas in die Hand. Es war klein, länglich, aus blauem Papier. Ein Flugticket. Für eine Zwanzigtausendmeilen-Reise, welches er, ohne mit den Wimpern zu zucken, angenommen hatte. Nina setzte vielerlei in Bewegung. Stolz war sie auf sich, und das Geld hatte etwas Magisches an sich. Die große Wohnung der Eltern wurde in einem Tag leergeräumt und die Wände wurden mit zarten Pastellfarben gestrichen. Möbelpacker steigen nun die Treppen herauf, bis zur dritten Etage. Alles glänzt in neuer Frische, alles duftet nach Geld und Wohlstand. Übereifrig wurde alles auf den richtigen Platz eingerückt. Schränke, Tische, Stühle, Regalen, Vitrinen, alles aus edlem Holz, stabil, kostspielig und langlebig. Die Wohnung bekam ein neues Bild, eine neue Visitenkarte, ein neues Flair. Nina schaute sich um, zeigte eine leidenschaftliche und zufriedene Miene. Regelrecht lachte sie innerlich, fühlte eine Göttin in sich, einen Zauberer, der für jeden Wunsch zugänglich war. Das reichte aber nicht. Das Geld juckte weiter. Es muß ausgegeben werden. Karibik ruft, den Duft des Meeres spürt sie schon in ihrer kleinen, schön und gerade geformten Nase. Palmen biegen sich in warmen Wind, wie zu einer Begrüßung bereit. Und Nina möchte willkommen gegrüßt werden. Punkt. Noch ein Mal ins Reisebüro. Nicht ein Ticket soll sie bestellen, nicht zwei, nicht drei, nicht vier … gleich mehrere. Ninas Bruder, die inzwischen aus Anstalt für schwererziehbare Kinder zurückgekehrt sind, wollen ebenfalls etwas von der weiten, unbekannten Welt sehen. Spendabel ist Nina. Eine gutmütige, kleinwüchsige Fee steht in voller Größe da. Auf sie kann man greifen, bei ihr ist man in Sicherheit, natürlich, so lange die Magie der grünen Scheine anhalten würde. Ist es

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nicht zur Regel geworden, daß alles, was schön ist, nur für kurze Zeit angenehm klingelt. Jeder Traum endet mit Morgendämmerung. Drei Wochen waren um. Der Vater war auf einem Kontinent, der Rest der Familie auf einem anderen. Und die Rückreise führte über Ozeane, begleitet von verschiedensten Winden und verschiedensten Melodien und von den tollsten Eindrücken wieder nach Europa zurück. Schön ist das Leben. Gnädig ist Gott im Himmel. Paradoxerweise mischt sich der Herr des Himmels in nichts mehr ein. Läßt uns genießen und schweigt. Still ist es geworden. Zu still. Zwei bis drei Jahre vergingen. An der Haustür ertönt ein nervöses Klingeln, lang andauerndes, ohrenbetäubendes Klingeln. Bim-Bam-Bum! Eine ganze Truppe von der Kriminalpolizei trampelt in die Wohnung auf dem dritten Stock. Keiner durfte sich bewegen. Hausdurchsuchung. Wie ein Echo breitet sich Ninas Name fort. Die „gute Fee“ wohnt gar nicht mehr hier. Wer weiß, wo sie wohnt? Nina war ungefähr ein Meter und fünfzig groß, hatte schöne, schwarze und wie ein Kristall glänzende Haare. Auch mit fünfundzwanzig waren ihre Hände und ihre Finger winzig klein, wie bei einem Kind. Zu hoch schien die Decke des Raumes, wo sie sich befand. Wie ein Tier im Käfig, aufgedreht und angsterfüllt, bewegte sie sich stolpernd hin und her. Glanz aus ihren Augen schwindet dahin, kleine dünne Falten auf ihrem Gesicht bekommen eine seltsame Tiefe. Allein ist sie. Ihre Träume haben sich wie ein herbstlicher Nebel aufgeklärt. Weinen kann sie nicht und flüchten kann sie jetzt auch nicht mehr. Die Lippen bewegen sich nicht, zu einer Strichlinie werden sie modelliert. Ihre Augen strahlen die Kälte aus. Wo ist Nina? Was ist mit dem kleinen Mädchen passiert? Das Haus hatte viele Fenster, geschmückt mit dunkelroten Ziegelsteinen

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und von allen Seiten mit den grauen Betonmauern ringsum geschützt. Ein in die Länge gezogener Hof, ohne Vorgarten und ohne Blumen rundete das ganze Bild dieses traurigen und leider notwendigen Quartiers. „Gefängnis“ heißt das Haus. In dem Haus ist alles wunderbar organisiert, da läuft alles nach Plan, da herrschen Strenge und Ordnung. In diesem Haus kommt man sich wie eine kleine Maus vor, so klein, daß man nie kleiner werden könnte. Interessant für das Haus sind ihre Bewohner. Jeder, der hier zwingend und auf Zeit ein Zuhause findet, bringt mit sich nur das, was er anhat und jeder bringt eine große Entschuldigung mit. Alles andere ist das Schweigen. Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Betrug, und vieles mehr füllte Ninas Anklageakte. Ein dunkelblauer Kittel versteckte ihre mädchenhafte Figur, ihre kleinen Fingerchen trugen keine Goldringe mehr, das Haar glänzte nicht und fiel schwer auf ihre schmale Schulter. Von einer Nacht in die andere plagte sie eine dämonische Schlaflosigkeit. Mit wem könnte sie sich später über ihre Gefühle und Erlebnisse im Gefängnis unterhalten? Es fiel ihr schwer zu denken. Sie wollte gar nicht mehr denken, gar nichts begreifen, nur still abwarten. Ein paar Monate später öffnete sich das große Tor und Gina ging mit langsamen Schritten heraus, atmete kellertief ein und wagte nicht, sich umzudrehen. Jede Woche mußte sie sich bei der Polizei melden. Woche um Woche wurden ihre Träume blasser. Ist Nina traurig? Nein, sie ist von ihren Leben enttäuscht, sie ist verbittert. Alle ihre möglichen Chancen sind verflogen. Das ist aber nicht wahr! Sie klaute sich selbst ihre Träume und ihre Aussichten, sie klaute sich ihre eigene Zeit und Kraft. Nun steht sie da, traut ihren eigenen Schatten nicht mehr, die Schritte sind schwer und ihr Atem mit tiefem Stöhnen vermischt. Nun ist sie vorbestraft und trägt einen Schuldenberg auf ihrem Rücken.

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Sehr lange Zeit wird Nina brauchen, um ihren Leben in Ordnung zu bringen. Sie wird Kriege führen müssen, mit sich selbst und mit der restlichen Welt. Kann sie es aus eigener Kraft schaffen? Allein ist sie in diesen Stunden, allein muß sie ihrem Leben eine Richtung geben. Allein war sie auch nach der ersten Kommunion. Allein war sie in den Nächten, wo sie ihres Vaters schweren und nach Alkohol übelriechenden Atem über sich erdulden mußte. Gibt es in der Hölle einen Ausgang? Kann Nina noch einmal die Fähigkeit aufspüren, fröhlich zu sein, stauen zu dürfen und einen neuen Weg wählen, auf dem nichts zu bereuen wäre. Mann kann den Weg nicht ändern, aber die Richtung schon. Und später irgendwann kann man wieder lernen, wie man lacht, wie man träumt, wie man liebt und wie das Leben sich wunderbar spüren läßt. Der Wille muß Kommando übernehmen, alles andere ist schon längst vorhanden und alles hat einen Sinn und eine Bedeutung. Jede Erfahrung ist eine Lektion, aus der wir lernen sollen, sonst hat sie überhaupt keinen Wert in sich. Ist Ninas Geschichte alltäglich? Nein, sie wird zu einer Alltäglichen gemacht. So eine Geschichte entwickelt sich kontinuierlich hinter vielen Fenstern und Türen, geheimnisvoll, vernichtend, unbewacht, traurig und war. Eine Geschichte, die Schmerz und Wut verbreitete, von Schmerz und Wut handelt. Viele dieser Geschichten ähneln sich, aber jede ist einzigartig, jede schmerzhafter als die anderen. Ohne Schmerz und Wut wäre das Leben lebenswerter. Zehn Jahre später. Nina heiratete zum zweiten Mal und bekam eine wunderschöne Tochter.

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Katarina Niksic

Jede Nacht bevor sie einschläft, kommt ihre Geschichte und ihre Angst zu ihr zurück. Sie wird aber für ihre Tochter da sein, sie wird auf sie Acht geben und sie mit ihrer ganzen Liebe beschützen. Das Leben schreibt jeden Tag eine Geschichte, sie hat ein Anfang und ein Ende, aber so eine herzbrechende und klagende Geschichte ist jedes Mal schon mit ihrem Anfang, eine Geschichte zuviel.

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Katarina Niksic, Titel: Faszination

Ursula Brüggemann

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Fragwürdig In welchen Krieg treibt dich die Macht? Wo hält sie dich in Fängen? Ist es dein Krieg - Soldat? Du stürmst Paläste Prunk und Pracht zerstörst und wirst zerstört und sei es in dir selbst. Ein Sieg in Schutt und Asche ist kein Sieg. Du hast die Wüste nicht, doch sie hat dich, wenn schwere Sandstürme dir Augen und Mund verschließen. Nur allzu oft gewinnt der Tod das Pokerspiel gegen die Unversehrtheit. Ölfelder brennen. Hinter den schwarzen Rauchwolken kreisen beim Klang des Sonnenuntergangs in einer Gebärde regloser Helle friedfertige Gedanken.

Gedichte

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Terror In die Tiraden von Krieg - Gewalt - Bedrohung blättert friedlich der Herbst doch die Augen verschleiern sich im Unbegreiflichen und Herzen schlagen den harten Takt der Vergeltung. Die große Sonne hängt blass am leeren Ast. Sie rötet sich wird rot wie Blut und Blut durchpulst das Leben. Leidvoll der Toten gedenken - aber der Hoffnung Raum geben.

Ursula Brüggemann

Seite 46

In dieser Minute Die Nacht hat ihr Netz über mich gespannt. Es ist verwunschen still zur Stunde, doch laut sind die Gedanken. Das hat der Tag gemacht, denn was er brachte, lässt sich nicht übermalen zu Schönmalerei. In dieser Minute fließen irgendwo rote Lavamassen vernichtend den Dörfern zu, anderswo wüten Seuchen, Gewalt und Tode massenhaft. Im Großstadtfesnter das alte Bäume hatte, dehnt sich zur Spätsommerzeit die unendliche Weite des Blechs. Ich ziehe das Netz der Nacht über mir zusammen und male, male Tröstendes hinter der Blindheit der Lider.

Gedichte

Seite 47

Hochwasser Gleich welches Land das Schicksal trifft ich möchte hilfreich durch die dunklen Fluten stapfen, Sandsäcke in den Schlund der Wellen werfen, um Einhalt zu gebieten. Von Häusern ragen nur die Dächer und kalte Zungen lechzen nach Zerstörung, als treibe Mordlust sie zu dieser Tat. Eine Allee zeigt noch die Kronen alter Bäume. Halten die Stämme den Wassermassen stand? Vielleicht bin ich ja dort einmal gegangen damals... als sich die Zeit in Rosenrot verschwendete.

Margot Weinand

Seite 59

Einst und Jetzt Wecker schellte um 6 Uhr oft bin ich vorher aufgewacht. Reckte mich im Bett rieb aus den Augen den Sand. Unter der Dusche trafen die Gedanken Vergangenheit und Zukunft. Ein Stehkaffee Autoschlüssel schnell ins Büro. Gähnte muss das sein? Auch der schönste Beruf nutzt sich ab. Bin eine von den 4 Millionen. Kann ausschlafen, lange frühstücken. Wie schön wars als der Wecker noch gebraucht.

Margot Weinand

Seite 60

Einsam in der Menge Kennst du das Gefühl einsam in der Menge. Fliehe aus der Menge um wieder bei dir glücklich zu sein. Kennst du dieses Gefühl?

Frieden Sehne mich nach Frieden im herzen mit der Familie mit Nachbarn mit Freunden. Im Ansatz ist er zu finden wird er sich jemals zeigen.

Grau Grau atmet das Meer. Durchbrochene Eisschollen. Kraft der Wellen zeugt Leben. Eis sucht die Stille.

Gedichte

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Knospen An kahlem Geäst schwangere Knospen lassen sich nicht aufhalten. Ihre Kraft schenkt leuchtende Blüten. Tulpen in vielen Farben gelbe Osterglocken. Auch ohne Kalender es ist Frühling.

Jahresringe Jahresringe und mein Herz will sie nicht zählen manchmal erinnere ich mich Festgehaltenes in Ringen.

Willi Corsten

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Wendepunkt „Mal sehen, wie viel Material wir jetzt zusammenhaben“, sagte Monika und legte einen Stapel Papiere auf den Tisch. Sie ordnete ihr widerspenstiges Haar, sah mich mit schelmisch blitzenden Augen an und fragte: „Na, in welch fragwürdigen Häusern hast du diesmal nach Liebe gesucht?“ Ich betrachtete nachdenklich ihr Gesicht und antwortete tadelnd: „Nur in der Stadtbibliothek, mein Engel und zu Hause im Lexikon. War eine Menge Arbeit, aber ich denke, wir haben nun genug Stoff für das dritte Kapitel beisammen.“ Wir hatten uns auf einer Lesung kennen gelernt und waren nun dabei, gemeinsam das Buch „Die vielfältigen Arten der Liebe“ zu schreiben. Aus der engen Zusammenarbeit entwickelte sich eine herzliche Freundschaft, die aber fast schon ein wenig zu vertraulich wurde. Ich musste vorsichtig sein, denn ich war ja gebunden. „Das ist nur platonische Liebe“, meinte Monika. „Wir sind doch jetzt schon Experten auf diesem Gebiet und behalten gewiss die Kontrolle über unsere Gefühle.“ Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. Das konnte nicht gut gehen, denn für mich gab es entweder tiefe Freundschaft oder sinnliche Liebe, doch bei allem, was dazwischen lag, würden irgendwann die Dämme brechen. Guter Wille allein reichte da nicht. Aber Monika blieb bei ihrer Überzeugung – und schien damit Recht zu haben. Wir trafen uns oft, besuchten Ausstellungen und Konzerte, fuhren hinaus aufs Land und leisteten uns einmal sogar die Fahrt mit einem

Wendepunkt

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Heißluftballon, schwebten gleichsam über den Wolken. Doch dann kam das Wochenende, an dem sich manches änderte. Monika wollte eine Freundin besuchen, die an die Nordsee gezogen war und dort ein Gästehaus führte. Weil ihr Ticket für zwei Personen gültig war, sollte ich sie auf dieser Reise begleiten. Die Abteile waren voll, doch mit viel Glück fanden wir einen Sitzplatz. Einen einzigen nur, aber Monika setzte sich halb auf meinen Schoß und sagte: „Das genügt für den Augenblick. Besser schlecht gesessen, als gut gestanden. Oder bin ich dir zu schwer?“ Nein, fünfzig Kilogramm waren mir wirklich nicht zu schwer. Und wer so charmant darum bittet, hat sich den Platz redlich verdient. Zudem ist Nähe schön, wenn man sich sympathisch findet. Am frühen Nachmittag trafen wir an der Nordsee ein, stiegen aus dem Zug und wanderten hinunter zum Strand. Schade nur, dass Monika am Montag wieder arbeiten musste, denn hier sollte man ein paar Wochen Urlaub machen und in aller Ruhe unser Buch zu Ende schreiben. Doch das war ein Traum, der sich wohl nicht erfüllen würde. „Wir müssen ins Dorf“, drängte ich, „ich brauche ein Zimmer für die Nacht. Deine Freundin schrieb doch, dass in ihrem Haus nur noch ein Bett frei ist.“ „Du könntest ja auch hier am Strand schlafen“, lachte Monika. „Ich hole dich dann morgen früh wieder ab. Versprochen ist versprochen.“ Spontan wollte ich ihr zu einem Bad im Meer verhelfen, verwarf den Gedanken jedoch wieder, weil sie das Ticket für die Rückfahrt in der Tasche trug.

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Willi Corsten

Die Quartierfrage löste sich später von selbst, denn Monikas Freundin erklärte: „Bei uns ist zusätzlich ein Doppelzimmer frei geworden. Das könnt ihr haben.“ Monika zögerte einen Augenblick, senkte den Blick, schüttelte dann verwirrt den Kopf und sagte: „Nein, wir sind zwar gute Freunde, aber kein Paar.“ Die Gastgeberin war mit der Erklärung zufrieden, ich aber erkannte, dass Monika plötzlich zweifelte, ob sie die Spielregeln der platonischen Liebe weiterhin einhalten könnte. Ihre Zögern war deutlicher als tausend Worte. Die vorher so feste Überzeugung stürzte wohl wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Wir übernachteten in getrennten Zimmern. Ich weiß nicht, ob Monika vom Ende ihrer Illusion geträumt hat, habe auch nie danach gefragt, weil ich ihren Stolz nicht verletzen wollte. Am nächsten Morgen fuhren wir mit der Fähre zur Insel Baltrum, eine kleine, zauberhafte Insel, gerade richtig für einen Tagesausflug. Wir sonnten uns im weißen Sand, machten einen Spaziergang am Meer und löffelten eine Portion Eis mit Sahne. Es war noch einmal schön, fast zu schön, um wahr zu sein. Sonntags um halb Zehn brachten uns die Gastgeber zum Bahnhof. Ihr Schäferhund lief nebenher und winselte vor Freude, Freude, die ich gern mit ihm geteilt hätte. Doch ich machte mir Sorgen wegen der Freundschaft. Etwas hatte sich daran verändert, Kleinigkeiten nur, aber Nuancen, die entscheidend waren. Warum nur hatte Monika mir keine Gelegenheit gegeben, mich als verlässlichen Freund zu zeigen? Wir hätten die Feuerprobe bestanden, platonische Liebe wäre möglich gewesen,

Wendepunkt

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davon war ich nun überzeugt. Ein Satz fiel mir ein, den eine kluge Frau einmal gesagt hatte: ‘Eine Frau ist eine Dame, wenn sie es dem Mann leicht macht, ein Herr zu sein‘. Wir aber hatten diese Chance vertan. Auf der Rückfahrt mit dem Zug wählte Monika einen Fensterplatz. Sie lächelte mir zu. Aber irgendwie war es nicht mehr das offene Lächeln, das ich an ihr immer so geschätzt hatte. Kurz vor Mitternacht kamen wir in Monikas Heimatort an. Für sie war die Fahrt zu Ende. Ich hatte noch einige Kilometer Autofahrt vor mir - doch die Einsamkeit der ruhigen Landstraße brauchte ich jetzt, als Balsam für die wunde Seele. Es war unsere letzte gemeinsame Reise. Und das Ende einer Illusion.

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Markus Schmittmann + Dana Salkovic

wegbegleiter vereiste reisegeister verführt von der aufbruchsstille wegbereitend verzaubert entlang deines hauches abenteuerklang verschmelzt der fluchtpunkt zum ziele inmitten verwaister bewegungsstarre verbleibe ich in deinen liebesschranken verharre in süßlich-gespeisten gedanken immer unterwegs zu dir

Morphogramm - Wegbegleiter

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Sirene Dem Meer entsprungen die Sirene entflammt gewaltig aus den Gezeiten ihr Lächeln eitel und stark ermahnt die StadtMeerGestalten entsendet all ihre Gefährten zum Tal trotzig und lautlos ihr Widerhall doch inmitten hoffnungsfunkend.

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„Set“

Markus Schmittmann + Dana Salkovic

AbendDämmerMorgen dazwischenTag Hindurch des Abenddämmers legt sich nieder dieser Tag an die Baumkrone schmiegt sich das Sonnenglimmen entlang des Spurenpfades dazwischen der Tag.

Inmitten des Morgendämmers erhebt sich wieder ein Tag durch die Wolken erblinzelt der Felsenwald der stillen Stunden der Nacht entgangen.

„Rise“

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Großstadtbegegnungen Im Gewühl der Zeit vernetzen sich Gesichter der Vielfalt in den farbgetränkten Gassen fließen Elemente ineinander sorglos vereint im Schein des Lichtes gewichtig-verschmelzende Momente ein bilderreicher Zauber der das hoffnungsgeladene Morgen zum Schatten des ewigen Gestern dichtet im Blitzgewitter der Begegnungen entscheidet das Miteinander im Jetzt und im Hier über das verbleibende Überlebenselixier.

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Markus Schmittmann + Dana Salkovic

Dickicht

Kathedrale am Fluss