Ist sanfter Paternalismus ethisch vertretbar?

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Ist sanfter Paternalismus e­ thisch vertretbar?

Ist sanfter Paternalismus ­ethisch  vertretbar? Eine differenzierende Betrachtung aus Sicht der Freiheit Mira Fischer und Sebastian Lotz* Zusammenfassung Sanfter Paternalismus verspricht, mittels verhaltensökonomischer Nudges, den Menschen zu besseren Entscheidungen zu verhelfen, ohne dabei ihre Freiheit einzuschränken. Dieser Artikel adressiert die ethische Vertretbarkeit von Nudges. Die Kritik an verhaltensökonomisch fundierter Politik beruht im Wesentlichen auf utilitaristischen oder kantianistischen Annahmen. Mit dem Ziel, die normative Debatte zu systematisieren und fruchtbarer zu machen, erarbeiten wir eine Typisierung von Nudges, die sich an deren Wirkmechanismen orientiert. Entscheidende Aspekte in der ethischen Bewertung sind die Konzepte Wohlergehen und Freiheit, die als fundamentale Werte unserer Gesellschaft oft im Zielkonflikt stehen, sowie die Balance zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.

Abstract: Is Soft Paternalism Ethically Legitimate? The promise of soft paternalism is to use behavioural economics to nudge people towards better decisions without compromising their freedom. The research presented here addresses the ethical legitimacy of nudges. Thus far, the criticism is rooted mainly in utilitarian or Kantian ethics. Aiming to systematize the normative debate in order to make it more productive, we suggest a typology of nudges according to the psychological mechanisms they use. Crucial in the evaluation of nudges is the trade-off between welfare and freedom, two of the core values of our society that are often pitted against each other, as well as the balance between the individual and society.

Das Ziel dieses Beitrags ist es, diese Argumente anhand eines Schemas, das die diskutierten Maßnahmen nach möglichen Wirkmechanismen klassifiziert, zu ordnen und so politischen Entscheidungsträgern und anderen Interessierten einen Analyserahmen zu bieten, um im Einzelfall über die Legitimität von Nudges entscheiden zu können. Zwei Beobachtungen bilden dabei die Motivation. Die eine Beobachtung ist, dass Nudges von verschiedenen Autoren entweder Unterstützung oder Ablehnung finden und eine differenzierende Betrachtung mitunter zu kurz kommt. Hierauf gründet sich die Überlegung, dass der Begriff Nudge, welcher für eine große Sammlung unterschiedlicher Politikvorschläge gebraucht wird, konzeptionell wenig gehaltvoll ist und dass zumindest wenige verschiedene Typen von Nudges in einem normativen Diskurs einer separaten Prüfung unterzogen werden sollten – mit möglicherweise unterschiedlichem Ausgang. Die zweite Beobachtung ist, dass in den Debatten um die Wünschbarkeit einzelner Maßnahmen teilweise der Standpunkt, von welchem aus die Bewertung vorgenommen wird, nicht explizit wird. Das Menschenbild, insbesondere die Annahmen über das Zustandekommen von individuellen Entscheidungen, und schließlich die Zuschreibung von relativem Wert zu verschiedenen (teilweise konfligierenden) Freiheits- und Schutzrechten, werden mitunter als Konsens vorausgesetzt. Es wird häufig übersehen, dass „Freiheit“, ebenso wie „Wohlergehen“ keine rein deskriptiven Begriffe sind, die einfach einen Zustand in der Welt beschreiben, sondern normative Begriffe und entsprechend kontrovers. Die Ambiguität und das Ringen um die Interpretation dieser Begriffe trägt unseres Erachtens einiges zu Unübersichtlichkeit und Missverständnissen in der Debatte um Nudges bei. Fest steht, dass Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger verstanden haben, dass sie mittels Nudges (Entscheidungsarchitektur) Verhalten ändern können. Nun stellt sich die Frage, ob sie dies auch tun sollten. In diesem Artikel sollen daher Kriterien expliziert werden, die bei der ethischen Bewertung von Nudges wichtig sind. Wohlergehen und Freiheit, die als fundamentale Werte unserer Gesellschaft oft im Zielkonflikt stehen, sowie der Balance zwischen dem Individuum und der Gesellschaft kommen dabei eine zentrale Rolle zu. Außerdem wird dafür argumentiert, dass zur ethischen Bewertung von Nudges eine Unterscheidung verschiedener Nudge-Typen hilfreich ist. Wir hoffen, dadurch den ethischen Diskurs um Nudges übersichtlicher und frucht­ barer zu machen.

1. Einleitung Die Verhaltensökonomik ist das neue Paradigma in der Verbraucherschutz-, Gesundheits- und Sozialpolitik und hat dadurch auch großen Einfluss auf die Gesetzgebung (Amir et al. 2005; Camerer et al. 2003). Diesen verdankt sie einer Reihe experimentell gewonnener Erkenntnissen über die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens (Benartzi / Thaler 2013; Camerer 2003; Fehr / Gächter 2002; Tversky / Kahneman 1981; Smith 1965). Kern­ ergebnisse der Verhaltensforschung haben geholfen, Phänomene wie Steuerbetrug oder -ehrlichkeit (z. B. Shu et al. 2012) oder Bereitschaft zum Umweltschutz (z. B. Bolderdijk et al. 2012) besser zu verstehen und wirksamere Institutionen zu gestalten. Die britische Regierung etwa unterhält das sog. „Behavioral Insights Team“, auch bekannt als „nudge unit“, welches sich für eine Reihe von Maßnahmen verantwortlich zeichnet, die die Bürger zu vernünftigerem Verhalten anstoßen sollen. Der prominenteste Berater des Behavioral Insights Teams ist Richard Thaler, einer der beiden Autoren des Buches Nudge – Improving Deci­ sions about Health, Wealth, and Happiness (2008). Dessen KoAutor, Cass Sunstein, hat von 2009 bis 2012 die Obama-Regierung beraten und wurde von den großen Medien als „Obama’s superego“1 oder „an intellectual mentor to President Obama“2 bezeichnet. In Fachkreisen wird eine rege Debatte um verhaltens­ ökonomisch fundierte Politik geführt, jedoch scheint die Skepsis in Deutschland stärker ausgeprägt zu sein als in Großbritannien oder den USA, wo Nudges bereits breite Anwendung finden. In dieser Debatte werden eine Reihe von Argumenten für und wider den „sanften Paternalismus“ von Thaler und Sunstein (2008) diskutiert.

2. Die normative Dimension von Nudge Thaler und Sunstein definieren Nudges als Elemente einer Entscheidungsarchitektur, welche menschliche Entscheidungen auf vorhersehbare Weise ändern, ohne dass einzelne Handlungsoptionen verboten oder die ökonomischen Anreize einzelner Handlungsoptionen signifikant verändert werden. Derartige Interventionen müssen darüber hinaus einfach und günstig zu umgehen sein, um als Nudge (dt.: leichtes Anstupsen) zu zählen (Thaler / Sunstein 2008). Nudge verspricht, Menschen gezielt dazu zu bringen, vernünftigere Entscheidungen zu treffen, ohne dabei ihre Freiheit einzuschränken. Es wird deshalb auch mit den Begriffen „sanfter Paternalismus“ oder „libertärer Paternalismus“ gleichgesetzt. Während Nudges in der internationalen Öffentlichkeit breit diskutiert werden (Selinger / Whyte 2011) und sich einige Politiker * Wir danken Teilnehmern des 11th TIBER Symposium on Psychology and Economics, der ESA European Conference und des Forschungskolloquiums Unternehmensethik und Personalökonomik, Universität zu Köln, für Kommentare zu einer früheren Version des Artikels und einem anonymen Gutachter für wertvolle Hinweise. Lotz bedankt sich für finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Forschergruppe „Design and Behavior: Economic Engineering of Firms and Markets“ (FOR 1371) und des Forschungsstipendiums (LO 1826 / 1). 1  http: /  / features.blogs.fortune.cnn.com / 2013 / 02 / 22 / cass-sunsteinsimpler / . 2  http: /  / articles.washingtonpost.com / 2012-08-03 / news / 35492512 _1_top-obama-adviser-president-obama-white-house. Sozialer Fortschritt 3 / 2014



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eine Nudge-Politik auf die Fahne geschrieben haben, werden normative Probleme in Verbindung mit verhaltensökonomisch motivierter Politik noch wenig systematisch diskutiert. Der fachübergreifende normative Diskurs über die Legitimität von paternalistischer Korrektur oder realpolitischer Ausnutzung von begrenzt rationalem Verhalten ist recht neu (Bovens 2009; Hausmann / Welsh 2010; Frerichs 2011; Axtell-Thompson 2012; Blumenthal-Barby / Burroughs 2012; Selinger / Whyte 2012; Schnellenbach 2012; Fischer / Lotz 2013). Probleme autonomer Entscheidungen des Menschen in der Rolle des Wählers (Schumpeter 1942), Patienten (Cohen 2013) und Konsumenten (Schwan 2009) werden jedoch innerhalb verschiedener Spezialgebiete seit Langem diskutiert. Neu ist jedoch das starke Interesse und mitunter die gezielte Nutzung der Erkenntnisse über die Beschränkungen der Rationalität durch die Politik, welche diesem Thema eine neue Brisanz geben. Insbesondere Held et al. (2013) bereichern hierbei die Debatte im deutschsprachigen Raum (siehe auch Beiträge von Kirchgässner, Güth / Kliemt, Ott und Witt / Schubert in diesem Band).

2.1 Die zwei Haupteinwände gegen Nudges: Kosten und Manipulation In der neu entstandenen Debatte treffen Experten aus verschiedenen Fachgebieten aufeinander, die die ethische Problematik um Nudges aus teilweise sehr unterschiedlichen Blickwinkeln sehen. Beispielsweise sieht der Ökonom Schnellenbach (2012) Nudges unter anderem deshalb als problematisch an, weil psychologische Schranken nichts anderes seien als andere Arten von Kosten. Verbote und leichte Nudges seien zwar unterschiedlich in der Höhe und der Art der Kosten, führten aber gleichermaßen zu dem staatlich gewünschten Verhalten. Daher würden Nudges anderen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik wie beispielsweise Steuern ähneln, welche in das Nutzenkalkül des Individuums eingreifen und somit Entscheidungen verzerren. Die Philosophen Hausman und Welsh (2010) argumentieren hingegen, dass Nudges aus anderen Gründen nicht harmlos seien. Zwar teilen sie die Meinung von Thaler und Sunstein (2008), dass Nudges, beispielsweise über das Setzen von Default-Regeln, nicht die Handlungsfreiheit einschränken und nicht den individuellen Nutzen reduzieren, sie argumentieren aber, dass die Autonomie der Menschen, also das freie Abwägen von Gründen, aus denen ihre Präferenzen resultieren, eingeschränkt sei. Problematisch sei vor allem, dass Entscheidungen nicht mehr durch eigene Einschätzungen, sondern vielmehr durch die Taktik der „Entscheidungsarchitekten“ zustande kommen. Das Ausmaß der Kontrolle über eigene mentale Prozesse würde also reduziert, was zu Präferenzen führe, die in einem gewissen Sinne nicht ihre eigenen seien. Hier wird das Problem also nicht wie bei Schnellenbach (2012) in der Einschränkung von Handlungsfreiheit, welche zu einer Nutzenreduktion führt, gesehen, sondern in der Einschränkung von Willensfreiheit. Die Kritik an Nudges kann man anhand dieser Beispiele grob in zwei Gruppen einteilen. Erstens wurden Nudges dafür kritisiert, dass sie versuchen, den langfristigen Nutzen von Menschen auf Kosten ihres kurzfristigen Nutzens zu erhöhen, indem sie diese dazu bewegen, sich so zu verhalten, wie es ihnen (angeblich) auf lange Sicht nutzt oder aber ein Gutes fördert, welches die Politik befürwortet, aber nicht die (gegenwärtige) Person. Zweitens wurden Nudges dafür kritisiert, dass sie die Präferenzen der Menschen manipulieren und deren Autonomie verletzen. Da die Würde eines Menschen darauf beruhe, dass er freie Entscheidungen treffen kann, verletzen sie dessen Würde. Der erste Einwand richtet sich gegen die Ziele, die mit Nudges verfolgt werden. Es wird angenommen, dass der Mensch immer auf eine Art handelt, die bei gegebenen Präferenzen und gegebenem Diskontfaktor seinen Nutzen maximiert. Wird er mithilfe eines Nudges dazu bewegt, anders zu handeln, eine andere Wahl zu treffen, reduziere dies notwendigerweise seinen Nutzen. Dieser Einwand speist sich aus dem Utilitarismus. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Wirkmechanismen von Nudges. Er behauptet, dass NudSozialer Fortschritt 3 / 2014

ges die persönliche Integrität einer Person verletzen. Es wird angenommen, dass der Mensch durch selbstständige Einsicht Präferenzen ausbilden kann, welche dann handlungsleitend werden. Dies konstituiert die Autonomie eines Menschen, welche es zu schützen gilt. Er ist damit auf Prinzipien der kantianischen Ethik zurückzuführen.

2.2 Implizite Annahmen über das Menschenbild: Freiheit, Absichtlichkeit und Nutzenmaximierung Sowohl die Kritik, dass Nudges die Wahlfreiheit von Menschen beschneiden, indem sie die nicht-monetären Kosten von Alternativen verändern, als auch die Kritik, dass sie die Abwägung von Gründen, welche zur Ausbildung von Präferenzen führt, manipulieren und somit die Autonomie der Menschen verletzen, beruhen auf der Annahme, dass der Mensch, bevor er angestupst wird, handlungs- und willensfrei ist und dass staatliches Handeln beides beschneidet. Die beiden Kritikpunkte beruhen damit auf einem Verständnis von Freiheit als der Abwesenheit von Einflussnahme. Die Freiheit wird negativ, als ein Abwehrmechanismus, begriffen.3 Wie der Politikwissenschaftler und ehemalige Berater von Bill Clinton und Roman Herzog Benjamin Barber (2011) schreibt, basiert die Bedeutung davon frei zu sein auf den Theorien, die wir über unsere Welt und vom Menschen haben und was wir von und für diese Welt und die Menschen in ihr wollen. Unser Verständnis von Freiheit beruhe auch darauf, ob wir Menschen „als ‚soziale Wesen‘, welche in Beziehungen eingebettet sind, oder als ‚natürliche Einzelgänger‘, welche einsam geboren wurden, begreifen. Freiheit kann als etwas gesehen werden, welches gegen soziale oder politische Beziehungen aufrechterhalten wird, oder als etwas, welches erst durch sie erreicht wird.“ Eine Debatte um die Legitimität von Nudges ist daher immer auch eine Debatte um das Menschenbild, welches Vorstellungen über individuelle Freiheit, Entscheidungsprozesse, Präferenzen umfasst. Wenn man wie die neoklassische Ökonomik annimmt, dass die Nutzenfunktion eines Menschen für jeden Zustand in der Welt definiert ist und alle möglichen Zustände in einer Präferenzordnung stehen, dann muss man Nudges als eine Manipulation der Kosten verschiedener Wahloptionen sehen. Lässt man jedoch zu, dass die Nutzenfunktion Lücken hat, d. h. dass es Dinge gibt, über die wir (noch) keine Präferenzen haben, weil wir nicht wissen, dass sie existieren, weil wir sie uns nicht vorstellen können oder weil sie uns nicht wichtig genug sind, als dass wir unsere beschränkten mentalen Kapazitäten auf sie verwenden wollten, kann ein Nudge Verhalten ändern, ohne den Nutzen einer Person zu verringern. Er würde sich damit grundlegend von einer Steuer und einem Verbot unterscheiden. Die letzteren verursachen beide, falls sie bei einer Person greifen, eine Nutzenreduktion. Trotzdem gibt es viele Situationen, in denen wir Steuern und Verbote als gerechtfertigt ansehen. Was also führt dazu, dass Nudges so kontrovers diskutiert werden? Es scheinen Überlegungen zu sein, die sich nicht allein auf den Mill’schen Utilitarismus gründen und darauf beruhen, wie die Präferenzen von Menschen zu Stande kommen oder zu Stande kommen sollten. Beides sind jedoch Fragen, auf die die neoklassische Ökonomik keine Antworten hat, da sie Präferenzen als gegeben annimmt. In der ökonomischen Literatur zur Endogenität und insbesondere zur Adaption von Präferenzen finden diese Fragen jedoch seit Längerem Beachtung (vgl. von Weizsäcker, 2002). Die Geschichte, die man über die mentalen Prozesse erzählt, die aufgrund eines Nudges zu Präferenzen und Entscheidungen führen, ist entscheidend dafür, ob man einzelne von Thaler und Sunstein propagierte Interventionen für ethisch zulässig hält oder nicht. Eine rein behavioristische Beschreibung der Verhaltensänderung durch Nudges deckt die psychologischen Wirkmechanis3  Dieses Verständnis von Freiheit wurde u. a. von Sen (1989) und Nussbaum (2000) kritisiert, welche die Bedeutung von „capabilities“ betonen, die Menschen dazu befähigen, theoretische Möglichkeiten auch tatsächlich zu nutzen, siehe auch Nussbaum und Sen (1993).

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men nicht adäquat auf (siehe auch Crusius et al. 2012, für eine Diskussion um die Bedeutung von Informationsverarbeitungsprozessen bei ökonomischen Verhalten). Insbesondere erlaubt sie keinen Schluss darüber, ob die angestupste Person eine Präferenz über zwei Alternativen hat und der Nudge das Kalkül ändert, ob sie keine hat, ob sie indifferent ist oder ob der Nudge sie dazu veranlasst, sich unbewusst anders zu verhalten. Rein externalistisch ist dem ethischen Status von Nudges also nicht beizukommen. Sowohl die Kritik aus utilitaristischer Sicht, dass Nudges die Wahlfreiheit von Menschen einschränken und somit ihren Nutzen reduzieren, als auch die Kritik aus kantianischer Sicht, dass Nudges in die Abwägung von Gründen eingreifen und somit deren Autonomie behindern, beruhen auf der Annahme, dass das durch Nudges veränderte Verhalten intentionales Verhalten ist, also Handlungen darstellt. Der Philosoph und ehemaliger Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (2005) beschreibt in seinem Buch „Über menschliche Freiheit“, dass unser Verhalten, insofern es Handlungscharakter habe, von Intentionalität begleitet sein müsse und das diese Intentionalität wiederum durch Gründe, welche „angemessen“ abgewogen wurden, geleitet sein muss, damit die Handlung als rational gelten kann. Der Umstand, dass Menschen nicht für die Zukunft sparen oder dass sie Dinge tun welche negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit in der Zukunft haben, weist nicht an sich auf das Walten von Irrationalität hin. Menschen können absichtlich so handeln und nichts bereuen, wenn sie mit den Konsequenzen konfrontiert werden. Vielleicht haben diese Menschen eine starke Präferenz für gegenwärtigen Konsum gegenüber zukünftigem Konsum, vielleicht sind sie damit einverstanden, ein bescheidenes Leben zu führen, wenn sie alt sind, solange es ihnen erlaubt, das Leben heute zu genießen. Wir können also nicht alleine durch die Beobachtung einer Handlung darauf schließen, dass sie irrational ist, weil ein Mensch scheinbar im Widerspruch zu seinen Zielen und Werten handele. Ziele und Werte sind nicht von außen beobachtbar. Eine Beschreibung der Verhaltensänderung durch einen Nudge kann zwar die Wirksamkeit von Nudges aufdecken, aber nicht den psychologischen Mechanismus. Jedoch erst eine Annahme über den mentalen Prozess ermöglicht eine normative Einordnung der Maßnahmen. Dies illustrieren wir im Folgenden anhand von Beispielen aus Thaler und Sunstein (2008).

2.3  Beispiele aus dem Nudge-Buch Eines der berühmtesten Beispiele von auf Nudge basierender Wirtschaftspolitik ist die Anwendung sogenannter „Default-Regeln“ in der Altersvorsorge (Beshears et al. 2009). Nicht nur Entscheidungen haben üblicherweise Konsequenzen, sondern NichtEntscheidungen ebenso. Wenn man sich nicht für eine private Rentenversicherung entscheidet, entscheidet man sich automatisch gegen eine solche, selbst wenn man sich mit dem Thema nie beschäftigt hat. Auf Nudge basierende Wirtschaftspolitik versucht nun unter anderem, die „Default-Option“ möglichst so zu gestalten, dass auch Nicht-Handeln zu „optimalen“ Ergebnissen führt. Optimal bedeutet in diesem Falle in Übereinstimmung mit dem langfristigen Nutzen der betroffenen Person oder dem Regierungsziel, Altersarmut zu vermeiden.4 Beispielsweise könnte durch Setzen von Default-Regeln eine Nicht-Entscheidung für eine private Altersvorsorge automatisch dazu führen, dass 5 % des Lohnes in einen Altersvorsorge-Fond eingezahlt wird. Der „Default“ wäre somit eine Teilnahme an der Altersversorgung. Entscheidet man sich nicht aktiv gegen eine private Altersvorsorge, nimmt man automatisch an dem Programm teil. Es zeigte sich wiederholt, dass die Wahl derartiger „Default-Optionen“ die Teilnahme-Wahrscheinlichkeit erhöhen (Beshears et al. 2009; Bernartzi / Thaler 2013). Auch in anderen Domänen – beispielsweise bei der Bereitschaft zur Organspende – zeigte sich die Effektivität solcher Default-Optionen (Johnson / Goldstein 2003). Im Rahmen der Gesundheitspolitik werden Nudges mittels Informationskampagnen, welche auf teilweise drastische Weise vor Konsequenzen aus Risikoverhalten warnen angewendet. Denkt man im Kontext des Rauchens etwa an Plakate, die Fotos von

Raucherlungen zeigen, wird den Menschen die Konsequenz des Rauchens bewusst gemacht. Im Gegensatz zu einer Tabaksteuer oder einem Rauchverbot wird das Rauchen weniger attraktiv gemacht, ohne dass die ökonomischen Anreize verändert werden. Die Kampagnen beeinflussen lediglich die Salienz der Konsequenzen des Rauchens und verleiten so zu eingeschränktem Konsum. Eine weitere auf Nudge basierende Idee ist die Positionierung von Essen in Kantinen zur Bekämpfung von Fettleibigkeit. Es konnte gezeigt werden, dass Menschen bedingt durch die Anordnung einzelner Speisen an Buffets ihr Verhalten ändern (Rozin et al. 2011). Für signifikant geringere Kalorienaufnahme reichte es aus, dass die hochkalorischen Lebensmittel marginal schlechter zugänglich platziert wurden – beispielsweise in der zweiten Reihe des Buffets. Ebenso konnte die Kalorieneinnahme durch die Nutzung des Bestecks beeinflusst werden. War die „Produktivität“ eines Bestecks etwas geringer, verkleinerte sich die Portionsgröße auf dem Teller und somit die Kalorienaufnahme. Ein anderes beliebtes Beispiel stammt aus dem Bereich der Verkehrspolitik. Der Lake Shore Drive in Chicago war durch eine gefährliche Kurve, die ein hohes Unfallrisiko beherbergte, berüchtigt. Als Nudge-Maßnahme wurden Linien auf die Straße gemalt, deren Abstand stets enger wurde und dadurch bei Fahrern durch eine optische Täuschung den Eindruck entstehen ließ, dass sie schneller wurden. Dies führte unbewusst zu etwas geringerer Geschwindigkeit, wodurch die Zahl der Unfälle um 36 % reduziert werden konnte (Balz 2010).

3. E  ine Typisierung von Nudges nach psychologischen Wirkmechanismen Unsere Gruppierung von Maßnahmen in unterschiedliche Nudge-Typen beruht zunächst darauf, ob in Bezug auf das zu verändernde Verhalten ein Erwartungsnutzen für eine Person angenommen werden kann oder nicht. Manche Nudges lassen sich dadurch erklären, dass für die Nutzenfunktion eine nicht-monetäre Komponente angenommen wird, die sich aus psychologischen und sozialen Kosten ergibt. Andere lassen sich dadurch erklären, dass die Nutzenfunktion für bestimmte Dinge nicht wohl definiert ist, oder aber bei automatischem Verhalten (Bargh / Chartrand 1999) kein Nutzenkalkül vorausgesetzt werden kann. Wir nehmen an, dass eine Person eine Handlung A einer Handlung B vorzieht (A  B), wenn der zu erwartende Nutzen aus A größer ist, als der zu erwartende Nutzen aus B (UA > UB). Der Erwartungsnutzen einer Handlung ergibt sich im einfachsten Fall, unter Annahme der Additivität von Nutzen, aus der Summe der gewichteten Nutzen möglicher Handlungsfolgen, wobei das jeweilige Gewicht die Wahrscheinlichkeit ist, mit der eine Folge aufgrund einer Handlung eintritt. Der Nutzen aus einer Handlung A, für die einfacherweise zwei wahrscheinliche Folgen angenommen werden, kann also schematisch als U A = π A1 ( u A1 M + u A1 N ) + π A 2 ( u A 2 M + u A 2 N ) dargestellt werden, wobei π A1 die Wahrscheinlichkeit ist, dass Folge 1 eintritt, während u A1 M der monetäre und u A1 N der nicht-monetäre Nutzen aus Folge 1 ist. Analog funktioniert dies für Folge 2 aus Handlung A und für den Nutzen aus Handlung B, UB. Nudges können dieses Nutzenkalkül beeinflussen, ohne den monetären Nutzen zu verändern, sodass eine andere Handlung vorgezogen wird als ohne Nudge. Ihnen stehen dabei mehrere Möglichkeiten offen. Als Typ 1 (Bequemlichkeits-Nudges) bezeichnen wir solche Nudges, welche den erwarteten Nutzen beeinflussen, indem sie den nicht-monetären (psychologischen oder sozialen) Nutzen von Handlungsfolgen verändern. Genau genommen sind die Unterschiede zwischen Nudges vom Typ 1 und traditionellen ökonomischen Anreizen, dass der Nudge nicht den 4  Über dieses Ziel lässt sich selbstverständlich streiten, dies ist hier jedoch zunächst irrelevant. Ziel des Beispiels ist eine Illustration der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die mittels „Nudging“ durchgeführt wurden oder denkbar wären. Sozialer Fortschritt 3 / 2014



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monetären, sondern den nicht-monetären Nutzen von Wahloptionen manipuliert und dass der nicht-monetäre Nutzen nur „marginal“ verändert wird. Voreinstellungen auf technischen Geräten, Kommunikation sozialer Normen und Aktivierung sozialer Normen durch Framing fallen in diese Kategorie. Alle anderen Arten von Nudges funktionieren prinzipiell anders als ökonomische Anreize. Als Typ 2 (Wahrscheinlichkeits-Nudges) bezeichnen wir Nudges, welche den erwarteten Nutzen beeinflussen, indem sie die subjektive Wahrscheinlichkeit, mit der gewisse Handlungsfolgen eintreten, verändern. Nudges von diesem Typ funktionieren, indem sie die Menschen an ein Worst-Case- oder Best-Case-Szenario erinnern und ihnen so zu Salienz verhelfen oder indem sie Feedback geben, mit dem die direkten Folgen einer Handlung sichtbar gemacht werden. Eine weitere Möglichkeit sind Informationskampagnen, bei denen Menschen über Folgen und die Wahrscheinlichkeit diese zu erleiden aufgeklärt werden, sodass die subjektiven Wahrscheinlichkeiten näher an die objektiven Wahrscheinlichkeiten herangebracht werden. Mit diesen zwei Typen sind jedoch noch nicht alle Maßnahmen erfasst, die Thaler und Sunstein als Nudges bezeichnen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit der Kantinen-Geschichte, in der die Änderung der Reihenfolge, in der Speisen präsentiert werden, dazu führt, dass die Gäste sich gesünder ernähren? Es ist plausibel anzunehmen, dass viele Menschen, wenn sie Mittags zur Kantine gehen, eine Präferenz haben etwas zu essen, aber keine detaillierte Präferenz darüber ausgebildet haben, was genau sie essen wollen. Es ist möglich, dass es für sie schlicht wichtigere Dinge gibt, über die sie nachdenken müssen. Vielleicht kennen sie auch die Optionen, sind aber indifferent. Wohl die wenigsten entscheiden in diesem Fall mittels Münzwurf. In beiden Fällen sehen sie etwas und wissen in diesem Moment, dass sie es wollen. Würden sie es nicht sehen, oder etwas anderes früher sehen, würden sie es nicht präferieren. Man kann sich viele Beispiele ausdenken, in denen dies menschliches Verhalten adäquat beschreibt. Wir bezeichnen deshalb als Typ 3 (Indifferenz-Nudges) solche Nudges, welche Lücken in der Nutzenfunktion oder Indifferenz zwischen Alternativen ausnutzen, um Menschen dazu zu bewegen, bestimmte und vorhersehbare Ad-hoc-Präferenzen auszubilden. Darüber hinaus beschreiben Thaler und Sunstein, wie Menschen manchmal Dinge unbewusst tun, deren Folgen sie nicht beabsichtigen. Sie sprechen hier davon, dass Nudges Automatismen korrigieren können und erwähnen etwa die zuvor beschriebenen Streifen am Straßenrand, die dazu führen, dass Autofahrer weniger häufig ihre Geschwindigkeit unterschätzen und dadurch Unfälle riskieren. Nudges vom Typ 4 (Automatismus-Nudges) sind also solche, welche die Abwesenheit von Intentionalität ausnutzen, um unbeabsichtigtes Verhalten zu lenken. Damit ist den Typen 2 und 4 gemein, dass sie beide versuchen, nicht-beabsichtige Konsequenzen zu vermeiden. Der Unterschied zwischen den beiden Typen ist, dass beim zweiten Typ die Informationsverarbeitung bewusst ist und in ein Nutzenkalkül eingeht, während beim vierten Typ die Informationsverarbeitung unbewusst geschieht und sich ohne den Umweg über den abwägenden Verstand direkt auf das Verhalten auswirkt.

4. D  ie ethische Bewertung von Nudges: Handlungsfreiheit und Autonomie als relevante Kriterien Nudges vom Typ 1 (Bequemlichkeits-Nudges), die den nichtmonäteren (psychologischen oder sozialen) Nutzen bestimmter Wahloptionen verringern, um Menschen in Richtung der anderen Optionen zu stupsen, stellen sie in der Gegenwart schlechter zugunsten eines zukünftigen Nutzens. Die gegenwärtige Schlechterstellung kann dabei aus utilitaristischer Sicht mit einer zukünftigen Besserstellung begründet werden. Theoretisch jedoch handeln die Menschen gegeben ihren individuellen Diskontfaktor rational und ein Nudge zugunsten von zukünftigem Nutzen würde sie schlechter stellen (vgl. Schnellenbach 2012). Für einen solchen Nudge ließe sich aus utilitaristscher Sicht nur argumentieSozialer Fortschritt 3 / 2014

ren, wenn hyperbolische Nutzendiskontierung als verbreitetes Problem angenommen wird, welche in den Verhaltenswissenschaften intensiv untersuchte Probleme wie Selbstkontrollprobleme (Willensschwäche) und späteres Bedauern von früheren Versäumnissen zur Folge hat. Aus Sicht der kantianischen Ethik ist ein Nudge des ersten Typs, insofern er als „verhaltensökonomischer Anreiz“ verstanden wird, auf den ein rationaler Akteur bewusst reagieren kann, nicht problematisch. Es stellt sich hier jedoch die Frage, inwiefern etwa die Aktivierung sozialer Normen ein bewusster Prozess ist oder inwiefern er unbewusst bleibt. Wenig problematisch, zumindest in der Theorie, scheinen Nudges vom Typ 2 (Wahrscheinlichkeits-Nudges) zu sein, welche den erwarteten Nutzen von Menschen verändern, indem sie die subjektive Wahrscheinlichkeit manipulieren, mit der eine Handlung gewisse Folgen hat. Aus der Sicht des Utilitarismus ist hier zu bemerken, dass ein Mensch nur dann seinen Nutzen gegeben seine Präferenzen maximiert, wenn seine subjektiven Wahrscheinlichkeiten des Eintritts bestimmter Folgen den tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten, mit der die Folgen eintreten, entsprechen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass Menschen bestimmte Risiken systematisch unterschätzen und dass hier ein Nudge, der bestimmte Szenarien ins Bewusstsein rückt, die Wohlfahrt und Handlungsfreiheit von Individuen steigern kann. Wie der Politikwissenschaftler Robert Goodin in einem Artikel über „Die Ethik des Rauchens“ schreibt, überschätzen Menschen das Risiko auf eine spektakuläre Weise, etwa durch einen Autounfall zu sterben, während sie das Risiko auf eher banale Arten zu sterben, die mit dem Rauchen assoziiert sind, stark unterschätzen. In solchen Situationen, in welchen falsche Überzeugungen mit solch desaströsen Folgen auf „wohlbekannte Formen kognitiver Defekte“ zurückgeführt werden können, seien wir besonders geneigt, zu intervenieren (Goodin 1989). Aus Sicht der Autonomie ist zu prüfen, inwiefern Nudges vom zweiten Typ in die Ausbildung von Präferenzen eingreifen. Festzustellen ist, dass Nudges des zweiten Typs durch Veränderung der Einschätzung von kausalen Zusammenhängen die Werte der Menschen unangetastet lassen und lediglich die instrumentellen Präferenzen verändern. Von einer instrumentellen Präferenz X spricht man, wenn ich eine Sache X nur deshalb will, weil ich mit ihre eine Sache Y erreichen möchte. Komme ich nun durch einen Nudge zu der Überzeugung, dass Z viel wahrscheinlicher zu Y führt als X, will ich nun lieber Z tun, anstatt X. Nichts anderes bewirken Nudges dieses Typs. Sie sind damit in der Theorie harmlos. In der Praxis ließe sich jedoch auch utilitaristischer Sicht einwenden, dass ein Nudge, der eine Person besser stellt, eine andere Person schlechter stellen kann, weil diese vor dem Nudge möglicherweise über eine realistischere Einschätzung der Risiken verfügte, und erst durch den Nudge die Wahrscheinlichkeit falsch einschätzt (vgl. Schnellenbach 2012). Nudges richten sich nämlich stets nach dem „durchschnittlichen“ Verhalten, folgen also dem „Gießkannenprinzip“. Es ist direkt ersichtlich, dass Nudges vom Typ 3 (IndifferenzNudges), welche Lücken in der Nutzenfunktion oder Indifferenz zwischen Alternativen ausnutzen, aus utilitaristischer Sicht schwer kritisierbar sind. Wenn man jemanden, der gerade noch nichts präferierte, eine Option schmackhaft macht, dann hat man damit nicht seinen Nutzen reduziert. Eine individuelle Wohlfahrtsbewertung einer Maßnahme setzt voraus, dass es eine Vergleichsgröße gibt, aber ohne Ex-Ante- oder stabile Präferenzen gibt es diese nicht (Bykvist 2010). Es ließe sich jedoch argumentieren, dass Präferenzen, die aufgrund eines Nudges zustande kommen, „manipulierte“ Präferenzen sind. Das Sprechen von „manipulierten“ Präferenzen ergibt jedoch nur einen Sinn, wenn diese mit „ursprünglichen“ oder „echten“ Präferenzen kontrastiert werden. Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Sinne manche Präferenzen von Menschen, welche ihr ganzes Leben als Mitglied einer Gesellschaft, unter dem Einfluss anderer Menschen verbracht haben, über „ursprüngliche“ oder „echte“ Präferenzen verfügen. Bereits Schumpeter (1942) hat auf dieses Problem hingewiesen. Aus utilitaristischer Sicht greift in der Praxis jedoch derselbe Einwand wie oben. Beispielsweise würde es einer untergewichtigen Person vielleicht nicht schaden, ab und an eine hochkalorische Nachspeise zu genießen. Durch die „günsti-

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ge“ Platzierung des Salates würde diese vielleicht zu langfristig zu persönlich schädlichem Verhalten verleitet, lediglich weil Übergewicht im Durchschnitt der Bevölkerung ein Problem darstellt und Nudges diesen Durchschnitt adressieren. In dem Fall, dass mit einem Verhalten nichts beabsichtigt wird, beruht dieses auch auf keinem Nutzenkalkül und keinen Präferenzen. Dann kann die etwaige Erhöhung des langfristigen Nutzens einer Person durch die Verhaltensänderung die ein Nudge vom Typ 4 (Automatismus-Nudge) hervorruft, nicht auf Kosten ihres kurzfristigen Nutzens gehen. Ebenso unbegründet scheint bei der Abwesenheit von Intentionalität der Vorwurf, dass Nudges die Autonomie eines Menschen, d. h. die Abwägung von Gründen, aus welcher die Präferenzen hervorgehen, verletzen. Wenn jemand beispielsweise unabsichtlich neben ein Urinal pinkelt, aber nach Anbringung eines Aufklebers in Form einer Fliege unbewusst besser zielt (ein Beispiel aus Thaler / Sunstein 2008), ist nicht ersichtlich, wie dies in die Autonomie oder den Nutzen eines Menschen eingreift, da dieser Mensch in diesem Fall von seiner Fähigkeit Gründe abzuwägen und sich von diesen leiten zu lassen, keinen Gebrauch gemacht hat. Dies bedeutet natürlich nicht, dass er die Fähigkeit rational zu handeln nicht besitzen würde, er benutzt sie bloß in diesem Fall möglicherweise nicht. Die Veränderung unbewussten, „automatischen“ Verhaltens (Bargh / Chartrand 1999) ist also sowohl aus Sicht der Handlungsfreiheit, als auch aus Sicht der Autonomie harmlos, da nichts eingeschränkt werden kann, was nicht genutzt wird. Hieraus würde eine ethische Unbedenklichkeit von Nudges vom vierten Typ folgen, wenn Handlungsfreiheit zur Nutzenmaximierung und Autonomie als einzig ethisch relevante Kriterien zugrunde gelegt würden. Wir möchten anmerken, dass es sich bei den vorgeschlagenen vier Kategorien von Nudges um Idealtypen handelt. In der Realität wirken sicherlich bei vielen Maßnahmen mehrere der beschriebenen Mechanismen zusammen. Die Zuordnung der genannten Beispiele aus dem Nudge-Buch zu den Typen ist aufgrund der Unbeobachtbarkeit von mentalen Prozessen leicht anfechtbar und dient vor allem der Illustration. Trotzdem erhoffen wir uns, mit dieser Schematik einen wertvollen Beitrag zur Debatte um Nudges und ihre ethische Bewertung zu leisten, da die Relevanz der unterschiedlichen psychologischen Wirkmechanismen für die ethische Einordnung erstmals zur Diskussion gestellt wird.

5. Zusammenfassung und Ausblick Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Debatte um die ethische Legitimation von Nudges als Politikinstrument zu bereichern. Hierfür wurden zunächst zwei Vorbehalte (eher utiliaristisch vs. eher kantianisch) gegenüber Nudges erläutert. Anhand von Beispielen wurde eine Fallunterscheidung entwickelt. Der Beitrag argumentiert, dass Nudges sich hinsichtlich des psychologischen Wirkmechanismus unterscheiden und dass dementsprechend verschiedene Typen einer eigenen ethischen Bewertung unterzogen werden sollten. Neben dem Wohlergehen werden dabei die Handlungsfreiheit und Willensfreiheit (Autonomie) von Individuen als relevante Kriterien herangezogen. Eine Öffnung zu psychologischen Prozessen bedingt dabei eine Debatte um das Menschenbild. Ein grundsätzliches Problem, das nicht nur Nudges, sondern jedes staatliche Handeln betrifft, ist, dass der Staat einen impliziten Konsens bei seinen Bestrebungen voraussetzen muss. Aus dieser Perspektive werden Nudges aber besonders häufig kritisiert, da sie auch versuchen, in das Verhalten von Individuen einzugreifen, welches vor allem Auswirkungen auf dieses selbst und weniger auf die Gesellschaft als Ganzes haben. Ein solcher Konsens kann am ehesten in Bezug auf ein primäres Gut angenommen werden. Rawls (1971) definiert ein primäres Gut als etwas, dass jeder anstrebt, egal was er ansonsten anstrebt. Gesundheit beispielsweise ist, wie Robert Goodin (1989) schreibt, ein solches Gut. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für Wohlergehen und Freiheit. Es ist wohl niemand lieber krank als gesund und Ge-

sundheit ist auch die Voraussetzung dafür, dass jemand in der Zukunft noch da ist, um sich seine idiosynkratischen Wünsche zu erfüllen. Daher ist Gesundheit als Ziel von Nudges eher zu rechtfertigen als viele andere Dinge. Eine ähnlich Abwägung stellte der Utilitarist Mill (1789 / 1975) in „On Liberty“ zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Nutzen an, als er sagte, dass es nicht zulässig sei, sich in die Sklaverei zu verkaufen, weil so ein einmaliger Akt dazu führe, dass ein Individuum in der Zukunft keine Freiheit mehr habe. Dworkin (1972, zitiert aus Sneddon 2001) nutzt dies um einen minimalen Paternalismus zu rechtfertigen, wenn er dazu eingesetzt wird die Freiheit einer Person zu bewahren. Zu der Frage, ob es zulässig ist, Nudges einzusetzen, die vor allem die Menschen vor sich selbst schützen sollen, wie etwa in Fragen der Gesundheit, kann man auch anmerken, dass viele politische Maßnahmen, auch solche, die direkten Zwang ausüben, beispielsweise die Anschnallpflicht oder die Helmpflicht, kaum damit gerechtfertigt werden können, dass sie vor allem Schaden für andere abwenden sollen. Wenn Freiheit also nicht rein negativ verstanden werden soll, gibt es Fälle, in denen Nudges die Freiheit vergrößern, indem sie die Fähigkeit der Menschen zur Freiheit sichern (z. B. wenn sie einen davor bewahren, einen Versicherungsvertrag / Kreditvertrag / Telefonvertrag zu unterschreiben, den man nicht versteht und der einen in der Zukunft lange binden würde). Ebenso wenig wie unsere Handlungsfreiheit voraussetzungslos ist, ist unsere Autonomie voraussetzungslos. Autonomie ist etwas, was durch die Umwelt eingeschränkt sein kann. Nachdem im Marketing über viele Jahre die Erkenntnisse der Psychologie und der Verhaltensökonomie genutzt wurden, um die Menschen zu nudgen zum Konsum – mit negativen gesundheitlichen (Flegal et al. 2010; Robert Koch Institut 2013; WHO 2011) und finanziellen Folgen – müssen wir heute darüber diskutieren, ob und in wie fern die gleichen Methoden durch den Staat angewendet werden sollten, um die daraus entstandenen negativen Folgen für Individuen und die Gesellschaft wieder einzugrenzen. Im Vergleich zum Marketing muss staatliches Handeln anspruchsvolleren ethischen Regeln genügen. Während Unternehmen den Menschen als irrationalen Kunden sehen und ihre Handlung danach ausrichten können, muss der Staat den Menschen als rationalen und mündigen Bürger behandeln, sonst würde er die demokratische Legitimation verlieren. Dieser staatliche Zielkonflikt zwischen Ermöglichung von Selbstgestaltung und Vermeidung von Schaden zeigt sich häufig in Debatten um den Verbraucherschutz, wenn dieses Menschenbild und effektive Schutzmaßnahmen schwer miteinander zu vereinbaren sind. Insgesamt sollte jedoch darüber nachgedacht werden, ob in vielen Fällen ein Ziel nicht auch durch Aufklärung und Ordnungspolitik erreicht werden kann, welche an die Vernunft der Bürger appellieren, anstatt deren Unvernunft auszunutzen, und wirtschaftliche Anreize setzen, um das Verhalten von Unternehmen zu steuern. Nudge-Politik insgesamt wurde dafür kritisiert, dass sie an Symptomen, etwa dem Gesundheits- oder Risikoverhalten, herumdoktert, anstatt deren wirtschaftliche und soziale Ursachen zu adressieren (Frerichs 2011). Beispielsweise ist aus der Entwicklungspsychologie bekannt, dass riskantes Verhalten von sozial benachteiligten Jugendlichen als Adaption an ein belastetes, perspektivloses Umfeld verstanden werden kann. Dieses Verhalten ist nicht unbedingt individuell dysfunktional oder irrational, sondern kann das Ansehen eines Individuums innerhalb der Peergroup erhöhen (Nell 2002; Ellis et al. 2012), auch wenn es unter Umständen gesamtgesellschaftlich problematisch ist. Wie Immanuel Kant (1785 / 2007) sagte, achtet man die Würde eines Menschen dann, wenn man ihn als rationalen, moralischen Akteur behandelt, der nach Regeln und Pflichten handelt, die er sich selbst gegeben hat. Jedoch sind wir alle nicht immer rationale Akteure, sodass wir manchmal einen Nudge brauchen können. Wichtig ist hierbei stets, dass dieser innerhalb der einem Individuum eigenen Theorie des Guten arbeitet (Goodin 1989), dass also das Individuum als normative Instanz geachtet wird. Alles was Nudges beeinflussen sollte, sind die instrumentellen PräfeSozialer Fortschritt 3 / 2014



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renzen von Menschen, nicht ihre Werte. Dazu ist ein vorsichtiger Umgang mit Nudges notwendig, der sich streng an das Transparenzgebot demokratischer Politik hält, damit die Ziele, die mit Nudges wirksam verfolgt werden können, tatsächlich einen gesellschaftlichen Konsens darstellen und Nudges nicht als technokratische Abkürzung eingesetzt werden. Jede wirksame politische Maßnahme kann zu schädlichen Zwecken eingesetzt werden, unsere Intuition sagt uns jedoch, dass Nudges hier besonders stark gefährdet sind, da sie ein sehr wirksames und durch ihre subtile Wirkungsweise schwieriger zu kontrollierendes Politikwerkzeug sind.

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Abschied von ­der  Lebensstandardsicherung Altersvorsorgeplanung im Spannungsfeld zwischen Unsicherheit und langfristiger Zielsetzung Felix Wilke* Zusammenfassung Bei der Frage, ob das gesellschaftspolitisch wichtige Ziel der Lebensstandardsicherung mittels privater Vorsorge erreicht werden kann, wurde bisher der Entscheidungsprozess der Individuen kaum berücksichtigt. Der Aufsatz verfolgt die These, dass aufgrund des langen Zeithorizonts Vorsorgeentscheidungen unter Ungewissheit getroffen werden und sich nicht rational planen lassen. Empirisch werden die Überlegungen mittels Mixed-Method-Design untersucht. Quantitativ wird anhand der SAVE Studie (2009) gezeigt, dass in Vorsorgeentscheidungen das Handlungsziel systematisch aus den Augen gerät. Aus 18 problemzentrierten Interviews werden sodann alternative Orientierungsmuster aufgezeigt: Der Erhalt von Handlungsspielräumen und institutionelle Vorgaben prägen den Entscheidungsprozess. Dies hat zur Folge, dass sich Individuen vom Leitbild Lebensstandardsicherung lösen.

Abstract: Saying Goodbye to Income Maintenance in Old-age. Struggling between Uncertainty and Long-term Commitments when Planning for Retirement The question of whether the goal of maintaining the standard of living during retirement can be achieved by means of private provision has already been the focus of some research papers. However, the decision-making process of individuals has hardly been considered. The main thesis of this paper is that, due to the long time span, pension decisions are made in a state of uncertainty and thus cannot be planned rationally. This idea is exam-

ined empirically via mixed-method-design. Taking the German SAVE study (2009) into account, it becomes clear that people do not act in a goal-oriented manner when deciding about retirement provision. An analysis of 18 problem-centred interviews reveals alternative patterns of orientation: the need for flexibility and institutional nudges influence the decision-making process. This results in individuals breaking away from the basic principle of maintaining the standard of living.

1. Einleitung Seit der richtungsweisenden Rentenreform von 1957 hat das Ziel der Lebensstandardsicherung eine herausragende sozialpolitische Bedeutung (Hardach 2006). Deshalb verwundert es kaum, dass an diesem Ziel auch nach den Riester-Reformen explizit festgehalten wird (BMAS 2012). Jedoch wurden schon häufiger Zweifel daran geäußert, ob die Absenkung der gesetzlichen Rente durch zusätzliche private Vorsorge kompensiert werden kann. Dabei zeigen sich im Wesentlichen drei Kritiklinien. Zum Ersten werden die politischen Annahmen und die daraus folgenden institutionellen Vorgaben privaten Vorsorgesparens als in vielerlei Hinsicht unrealistisch zurückgewiesen (Sozialbeirat 2012; Riedmüller / Willert 2005). Im Rahmen dieser Diskussion wurde deutlich, dass die Rückführung des Niveaus der gesetzlichen Rente kaum durch private Ersparnisse im Rahmen der Riester-Rente im Umfang von 4 % des Bruttovorjahreseinkommens erreicht werden kann.1 Tatsächlich haben den Rentenreformen 2001 nachgelagerte Reformen die Rechnungsgrundlagen der Bundesregierung obsolet gemacht, sodass mittlerweile klar ist, dass die staatlichen Sparvorgaben nicht reichen werden, um lebensstandardsichernde Renten zu erreichen. Das heißt aber auch, dass die Vorgaben der Bundesregierung keine hinreichende Orientierungsfunktion zur adäquaten Vorsorge mehr haben. Zum Zweiten haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass trotz einer dynamischen Entwicklung der Riester-Rente breite Bevölkerungsteile nicht hinreichend privat vorsorgen (im Überblick: Blank 2011). Zum Dritten scheinen erhebliche Probleme bei der Etablierung eines verbraucherfreundlichen Vorsorgemarktes zu bestehen – sodass es kaum möglich ist, unter der Vielzahl von Vorsorgeangeboten passende Produkte auszuwählen. Neben hohen Kosten bei Verträgen (Hagen / Kleinlein 2011) können Verbraucher Angebote kaum vergleichen, womit Vorsorge einigen Studien zufolge einem Glücksspiel gleicht (Oehler 2009, S. 4). Diese Diskussionen sind weit in die Öffentlichkeit vorgedrungen und manifestieren sich in dem diffusen Gefühl, dass die vorhandene Absicherung ‚nicht reichen wird‘ (Pfeiffer et al. 2007, S. 8). In diesem Beitrag soll die Diskussion um die Vereinbarkeit von privater Vorsorge und lebensstandardsichernden Renten systematisch erweitert werden. Das Grundargument dabei lautet, dass unter privater Altersvorsorge das Vorsorgeziel ungeachtet finanzieller Spielräume und Marktunvollkommenheiten systematisch aus dem Blick gerät. Der Beitrag macht in einem ersten Schritt deutlich, dass Lebensstandardsicherung eine breit geteilte Zielschablone für die Alterssicherung darstellt. Anschließend wird theoretisch unter Rückgriff auf das Konzept von Ungewissheit und empirisch mithilfe eines Mixed-Method-Designs gezeigt, dass beim privaten Vorsorgesparen das Vorsorgeziel systematisch aus den Augen gerät.

*  Ich möchte mich herzlich für die hilfreichen Anmerkungen und Änderungsvorschläge bei meinem Kollegen Markus Märker sowie einem / r anonymen Gutachter / in bedanken. 1 Dazu zählen neben mittlerweile unrealistischen Annahmen der Kapitalmarktverzinsung, der Lebenserwartung und der Annahme einer zusätzlichen Anlage von Steuerersparnissen in Form einer Privatrente (Sozialbeirat 2012) vor allem Diskussionen über die Absicherung von Geringverdienern und Personen mit Lücken im Erwerbsverlauf (Riedmüller / Willert 2005) sowie die diskontinuierliche Bedienung von Vorsorgeverträgen (Wels / Rieckhoff 2012). Sozialer Fortschritt 3 / 2014