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Jonas Falting „Alte“ und „Neue“ Soziale Marktwirtschaft in der BRD. Kontinuitäten und Brüche in den sozio-politischen Bedingungen und der parteipolit...
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Jonas Falting „Alte“ und „Neue“ Soziale Marktwirtschaft in der BRD. Kontinuitäten und Brüche in den sozio-politischen Bedingungen und der parteipolitischen Verankerung Umschlagabbildung: © www.shutterstock.com¦BMCL ” Tectum Verlag Marburg, 2012 ISBN 978-3-8288-5544-1 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-2900-8 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt 1

Einleitung .........................................................................7

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'Alte' Soziale Marktwirtschaft....................................11

2.1

Die polit-ökonomische Situation nach 1945.............................12 a. Stunde Null oder Restauration?.............................................14 b. Die polit-ökonomische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ...............................................21 c. Das Entscheidungsjahr 1947 ...................................................26 d. Währungs- und Wirtschaftsreform 1948..............................27 e. Marshallplan .............................................................................30 f. Die Korea-Krise .........................................................................32

2.2

Akteure der alten Sozialen Marktwirtschaft............................34 a. Christlich Demokratische Union (CDU)...............................34 Ahlener Programm ..................................................................36 Düsseldorfer Leitsätze.............................................................39 Hamburger Programm............................................................41 b. Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) .................42 Godesberger Programm..........................................................43 c. Freie Demokratische Partei (FDP) .........................................47 Deutsches Programm und Liberaler Aufruf........................48 Berliner Programm...................................................................51 d. Die WAAGE - Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.V....................................................53

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Neue Soziale Marktwirtschaft....................................57

3.1

Die polit-ökonomische Situation nach 1989/90 ......................59 a. Nachwendesituation/Ostdeutschland .................................62 b. Renationalisierung ...................................................................67 c. Remilitarisierung ......................................................................76

3.2

Akteure der neuen Sozialen Marktwirtschaft..........................80 a. Christlich-Demokratische Union (CDU) ..............................80 Grundsatzprogramm von 1994..............................................81 Erfurter Leitsätze – Aufbruch '99...........................................85 Diskussionspapier 'Neue Soziale Marktwirtschaft' von 2001 .....................................................................................87 b. Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) .................94 Berliner Programm von 1989 und die erweiterte Fassung von Leipzig 1998 .....................94 Wiesbadener Programm .........................................................97 d. Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ................98

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Resümee........................................................................105 Kontinuitäten und Brüche ....................................................106 Kritik und gesellschaftliche Perspektiven..........................113

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Bibliographie ...............................................................119 Quellentexte ............................................................................119 Darstellende Literatur ...........................................................122 Filme.........................................................................................129 Nachschlagewerke .................................................................130

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Einleitung

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde maßgeblich von der Sozialen Marktwirtschaft geprägt. Allgemein wird angenommen, dass es auf der Grundlage dieses Ordnungskonzeptes gelungen sei, das kriegszerstörte Land nach 1945 wieder binnen weniger Jahre aufzubauen und dass auch das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre auf dieses Konzept zurückgehe. Somit ist die Soziale Marktwirtschaft eng mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland verknüpft und mittlerweile zu einem fest verankerten Bestandteil deutscher Wirtschaftspolitik geworden. Als 1990 die beiden deutschen Staaten wiedervereinigt wurden und der Kapitalismus ansetzte den gesamten Globus zu erobern, kamen Forderungen nach einer Erneuerung des deutschen Erfolgsmodells Soziale Marktwirtschaft auf: Es müsse auf eine entfesselte Globalisierung, die Transformation der Industrie- zur Wissensgesellschaft und nicht zuletzt auf das zunehmende Alter der in Deutschland lebenden Menschen reagiert werden. Bisher sicher geglaubte Besitzstände müssten in Frage gestellt und neue Risiken mutig angegangen werden. Der Staat habe zu viele Aufgaben an sich genommen und sei dadurch mit der neuen Situation überfordert. Daher müsse dem freien Markt wieder mehr Geltung verschafft werden. Es könne nicht mehr darum gehen, 'Wohlstand für alle' (Ludwig Erhard) zu schaffen, sondern vielmehr um 'Chancen für alle' (Randolf Rodenstock). Aus der 'alten' Sozialen Marktwirtschaft müsse die 'neue' Soziale Marktwirtschaft werden. Die vorliegende Arbeit verfolgt nun das Ziel, Kontinuitäten und Brüche zwischen den beiden Gesellschaftskonzepten aufzuzeigen. Bereits in der Wortschöpfung 'Neue Soziale Marktwirtschaft' drückt sich ein Kontinuitätsanspruch aus, der auch im gemeinsamen Bezug auf die Person Ludwig Erhard deutlich wird. Gefragt wird dabei nach den polit- ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen sowohl die 'alte' Soziale Marktwirtschaft der Jahre 1945 bis etwa 1960 als auch die 'neue' Soziale Marktwirtschaft aus den 1990ern entstanden sind. Dabei gerät eine zweite Frage in den Blick, nämlich welche politischen Akteure sich die Idee einer Marktwirtschaft mit sozialem Anspruch zu Eigen gemacht haben und dadurch zu Trägern dieser Idee wurden. Auf das enger gefasste politische System bezogen, sind hier die Parteien von Interesse; etwas weiter gefasst sind auch Lobby- und Interessengruppen im so genannten vorpolitischen Raum relevant. Eine tiefschürfende Analyse der (ökono-

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mischen) theoretischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft wird hierbei nicht angestrebt. Anknüpfend an die eingangs zitierte Erkenntnis von Rudolf Rocker wird vielmehr davon ausgegangen, dass es sich bei den Konzepten der Sozialen Marktwirtschaft im Kern um polit-strategische Begriffe zur Durchsetzung partikularer Interessen handelt. Dies bezieht sich auf eine These von Ralf Ptak, der schreibt, dass „die Soziale Marktwirtschaft als ein evolutionär angelegtes politisches Strategiekonzept verstanden werden“1 könne. Ihm zufolge sei es ein 'Mythos', dass das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft für den Wiederaufstieg Deutschlands in den 1950ern maßgeblich gewesen sei.2 Er verortet die Soziale Marktwirtschaft vielmehr im Umfeld des deutschen Neoliberalismus der ausgehenden 1920er Jahre, dem so genannten 'Ordoliberalismus'.3 Allerdings wird eine an dieser Stelle naheliegende Problematik nicht näher ausgeführt und bewusst ausgespart: die an einigen (wenigen) Stellen sichtbar werdende Nähe zum Nationalsozialismus. Denn die Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft setzt nicht 1933 aus; vielmehr sind nach Ansicht des Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser in der Wirtschaftspolitik bzw. der Krisenbewältigung der Jahre 1933 bis 1936 Grundzüge der späteren Sozialen Marktwirtschaft erkennbar.4 Die Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert, wobei der inhaltliche Schwerpunkt zum Ersten auf der 'alten' Sozialen Marktwirtschaft von 1945 bis etwa 1960 liegt. Der zweite Teil handelt von der 'neuen' Sozialen Marktwirtschaft ab etwa 1990 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Beide Teile wiederum sind untergliedert in je zwei Kapitel, in denen zum einen die polit-ökonomischen Ausgangsbedingungen und zum anderen die Verankerung der jeweiligen sozialen Marktwirtschaft in den programmatischen Texten der Parteien herausgearbeitet werden. Ergänzt wird die jeweilige Analyse der Programme durch die Vorstellung von relevanten Lobbyorganisationen, die im so genannten 'vorpolitischen Raum' wirkten bzw. immer noch wirken. Abgeschlossen wird die Arbeit von einem Resümee, in welchem in einem ersten Schritt die Kontinuitäten und Brüche zwischen der 'alten' und der 'neuen' Sozialen Marktwirtschaft herausgestellt werden. In einem zweiten, letzten Schritt 1

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Ptak, Ralf 2004: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland. Opladen: Leske + Budrich. S. 205. Vgl. Ptak, Ralf 2002: Mythos Soziale Marktwirtschaft. In: Ossietzky 7/2002. http:// www.sopos.org/aufsaetze/3cc9a4fe2b1de/l.phtml [26.08.2010]. Vgl. ebd. Abelshauser 2004: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. S. 59.

wird mit Verweis auf das Wissenschaftsverständnis der 'Marburger Schule' bzw. der 'Abendroth-Schule' aus der Kritik an der (Sozialen) Marktwirtschaft heraus eine gesellschaftliche Perspektive für eine soziale und freie Gesellschaft entwickelt. Im Kern geht es in der Arbeit um zwei ökonomische Konzepte, die zueinander in Bezug gesetzt werden. Die ökonomische Theorie nimmt in den Ausführungen einen eher kleinen Teil ein, und zwar zum einen deshalb, weil die Arbeit bewusst auf eine politikwissenschaftliche Perspektive setzt. Zum anderen wird die Ökonomie nicht losgelöst von den sie umgebenden politischen Entwicklungen gesehen. Vielmehr liegt der Arbeit die Annahme zugrunde, dass die gesellschaftliche Geschichte sich aus dem Zusammenspiel von sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren heraus entfaltet und entwickelt. Daraus erklärt sich, dass im Kapitel über die polit-ökonomischen Ausgangsbedingungen nach 1945 zunächst die These einer 'Stunde Null', d.h. eines historischen Bruchs und Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert wird. Anschließend wird der Frage nachgegangen, worauf der schnelle Wiederaufstieg Deutschlands zurückgeführt werden kann. Werner Abelshauser zufolge nahm dieser bereits im Jahr 1947, ein Jahr vor der Wirtschafts- und Währungsreform, seinen Anfang. Da dies der weitverbreiteten Annahme widerspricht, dass sich das Wirtschaftswunder auf diese Reform sowie auf die US-Hilfe im Rahmen des Marshall-Plans gründe, wird seiner These in einem eigenen Unterkapitel nachgegangen. Die weitere ökonomische Entwicklung wurde laut Werner Abelshauser wesentlich von drei Entwicklungen geprägt: der besagten Wirtschafts- und Währungsreform, dem European Recovery Fund (Marshallplan) und der Koreakrise. Daher werden diese drei Ereignisse jeweils in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Im Kapitel zu den polit-ökonomischen Ausgangsbedingungen nach 1989 wird besonders auf drei Themen eingegangen: auf die Situation in Deutschland und Ostdeutschland, im Speziellen nach der so genannten 'Wende'. Diskutiert wird dabei auch, inwiefern es sich tatsächlich um eine Wiedervereinigung gehandelt hat oder nicht doch vielmehr um einen Beitritt der DDR zur BRD zugunsten westdeutscher Interessen. Darüber hinaus wird der Prozess der Neu-Artikulation eines positiven deutschen Nationalbewusstseins und parallel dazu die Rückkehr des Krieges in die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nachgezeichnet. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Verbindung eines positiven Bezugs zur Nation mit der grundsätzlichen Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt für die ökonomischen Ausgangsbedingungen relevant ist. Sowohl der Prozess der Reartikulation des Nationalen als auch

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die Remilitarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik werden daher in jeweils einem Kapitel ausführlich erarbeitet und dargestellt. Als Grundlage wurde, wenn möglich, auf Quellenmaterial zurückgegriffen. So wird die Verankerung der ('alten' und 'neuen') Sozialen Marktwirtschaft im politischen System hauptsächlich anhand der programmatischen Texte der jeweiligen Parteien nachvollzogen. Auch an anderer Stelle wurden teilweise Quellen herangezogen; u.a. werden im Kapitel über die Reartikulation Aussagen von der Internetseite des Films 'Deutschland – ein Sommermärchen' von Sönke Wortmann zitiert.5 Im Abschnitt über die Remilitarisierung werden Auszüge aus dem 'Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr'6 von 2006 dokumentiert, die die Grundthese der Rückkehr des Krieges in die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik belegen. Darüber hinaus wird auf zahlreiche darstellende Bücher und Artikel verwiesen, wobei hier insbesondere das Standardwerk 'Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945' von Werner Abelshauser zu nennen ist. Zur besseren Übersicht ist die Bibliographie in Quellentexte, darstellende Literatur, Filme und Nachschlagewerke unterteilt. Die bei der Bearbeitung aufgetretenen Schwierigkeiten gingen oftmals auf die Problematik des Themas selbst zurück. So ist bereits in der Forschung umstritten, was unter dem Terminus 'Soziale Marktwirtschaft' zu fassen ist. Überdies ist der Bereich Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte allgemein ein kontroverses und sensibles Thema, zumal in Verbindung mit einer möglichen Kontinuität zum Nationalsozialismus. Eine wesentliche Schwierigkeit lag ferner darin, die für die Arbeit relevanten historischen Geschehnisse einzugrenzen und darzustellen. An dieser Stelle hebt sich die Arbeit von anderen ab, da hier der Schwerpunkt weniger auf die reinen ökonomischen Daten und Entwicklungen gelegt wird, sondern ein weiter Fokus gewählt wird, der besonders auf den politischen Kontext abhebt.

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Internetseite des Films 'Deutschland – ein Sommermärchen' von Sönke Wortmann (Regie) http://www.deutschlandeinsommermaerchen.kinowelt.de/sommermaerchen.html [14.07.2010]. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) [Oktober] 2006: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr.

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'Alte' Soziale Marktwirtschaft

Dieses Kapitel handelt von den historischen Bedingungen, unter denen die 'alte' soziale Marktwirtschaft nach 1945 in Westdeutschland bzw. der späteren Bundesrepublik durchgesetzt wurde. Der Eingrenzung in der Einleitung folgend, wird hier vor allem der Zeitraum von 1945 bis etwa 1960 behandelt, also die Phase, in der das Ordnungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt wurde. Die darauf folgenden Phasen, einschließlich der von Müller-Armack selbst ausgerufenen so genannten 'Zweiten Phase', die eine stärkere Betonung ökologischer Fragen beinhaltete,7 sind nicht Gegenstand des Kapitels. Behandelt der erste Teil, wie bereits in der Einleitung angekündigt, die politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen nach 1945, so werden im zweiten Abschnitt die Bezüge der verschiedenen Parteiprogramme zur 'alten' sozialen Marktwirtschaft herausgearbeitet. Damit wird zum einen deutlich, auf welche (politischen) Herausforderungen reagiert werden musste und zum anderen, auf welche Akteure im politischen Raum sich die soziale Marktwirtschaft stützen konnte. Da es sich, Ptaks Argumentation folgend, bei der Sozialen Marktwirtschaft letztlich um ein instrumentelles Konzept zur Durchsetzung der Marktwirtschaft gehandelt hat,8 werden an dieser Stelle lediglich die Kernprinzipien dieser Ordnungsidee vorgestellt: im Kern handelt es sich um ein marktwirtschaftliches System, in dem der Staat die Rahmenbedingungen festsetzt, um ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich zu gewährleisten. Hierbei greift er allerdings nicht direkt in den Wertschöpfungsprozess ein, sondern betreibt vielmehr eine Umverteilungspolitik. Das heißt, er korrigiert das Marktergebnis, indem er mit marktkonformen Mitteln interveniert. Marktkonform bedeutet, dass der Staat nicht gegen die Marktprinzipien handelt, sondern vielmehr die Marktprozesse in die politisch gewünschte Richtung beeinflusst. Ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft ist die Idee der Sozialpartnerschaft und der Tarifautonomie. Das heißt, dass die gegenläufigen Interessen der sozialen Klassen über die jeweiligen Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberverband) in Tarifverhandlungen unter Ausschluss des Staates austariert werden. Dabei geht es nicht um einen 7

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Vgl. Nicoll, Norbert 2008: „Die ökonomische Rationalität in die Öffentlichkeit tragen“. Zur Arbeit und Wirkungsweise der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Marburg: Tectum Verlag. S. 71ff. Vgl. Ptak 2002: Mythos Soziale Marktwirtschaft und Ptak 2004: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft [siehe Einleitung].

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Kampf der sozialen Klassen gegeneinander, sondern vielmehr um eine Zusammenarbeit zum Wohle beider Klassen bzw. der Allgemeinheit.9 Im Lexikon der Wirtschaft wird die soziale Marktwirtschaft folgendermaßen umrissen: „Die soziale Marktwirtschaft baut auf Elementen der freien Marktwirtschaft auf, ist in der tatsächlichen Ausgestaltung jedoch durch die wirtschaftstheoretischen Vorstellungen des Neoliberalismus […] und des Ordoliberalismus […] geprägt.“10

Somit handelt es sich also um eine soziale Ordnung, die sich zwischen einer 'freien Marktwirtschaft' und einer sozialistischen Gesellschaftsform verorten lässt. Anders ausgedrückt: es beschreibt eine Gesellschaftsformation, in der unter Beibehaltung der Dominanz privatwirtschaftlicher Mehrwertproduktion ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich gewährt wird, ohne dabei die sich aus der ökonomischen Struktur ergebenden sozialen und politischen Herrschaftsmomente aufzulösen. Dadurch ergibt sich die Sicherung der sozialen und politischen Ruhe (Frieden), ohne den eine ökonomische Stabilität nicht gewährleistet wäre und die Dominanz der Kapitalinteressen gefährdet würde. Dennoch beinhaltet die Idee durchaus demokratische Elemente, da es auch darum geht, gesellschaftliche Zustimmung zu erhalten, was einerseits am Stellenwert der betrieblichen Mitbestimmung und andererseits nicht zuletzt an der Wortwahl der 'sozialen Marktwirtschaft' deutlich wird.

2.1

Die polit-ökonomische Situation nach 1945

Am 8. Mai 1945 wurde die totalitäre, nationalsozialistische Terrorherrschaft durch militärische Gewalt von west-alliierten und sowjetischen Truppen gebrochen. Für den Historiker Eric Hobsbawm ging damit eine Epoche der Menschheit, das 'Zeitalter der Katastrophen', zu Ende, das 1914 begonnen hatte und durch zwei Weltkriege, zahlreiche Revolutionen und schließlich vom weltweiten Aufstieg des sowjetisch geprägten Kommunismus geprägt war.11 Die Situation der deutschen Nachkriegsgesellschaft war "gekennzeichnet durch Flucht, Vertreibung und die Suche nach den nächsten Angehörigen, durch Arbeitslosigkeit und wirt9

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Vgl. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG (Hrsg.) 2004: Das Lexikon der Wirtschaft. Grundlegendes Wissen von A bis Z. Bonn: BpB. Artikel „soziale Marktwirtschaft“ S. 45f. und Schmid, Josef et al. 2006: Wirtschaftspolitik für Politologen. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh. S. 159ff. Brockhaus: Lexikon der Wirtschaft. Artikel „soziale Marktwirtschaft“, S. 45. Vgl. Hobsbawm, Eric 1995: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München, Wien: Carl Hanser Verlag. S. 21.

schaftliche Not, durch Erschütterung der sozialen Strukturen und der moralischen Werte."12 Der Lauf der Geschichte schien gebrochen zu sein: das nach menschlichem Ermessen nicht fassbare Ausmaß des Holocaust bzw. der Shoah13 und der Zerstörungskrieg im Osten schienen Deutschland endgültig moralisch zu diskreditieren.14 Daraus folgte eine enorme Unsicherheit über die Zukunft, die von Konrad H. Jarausch in knappen Fragen umrissen wird: "Würden die verhassten Deutschen überhaupt überleben können oder würden die geknechteten Nachbarn blutige Rache für die ihnen angetanen Untaten üben? Wie würden die Besatzungsmächte mit den Besiegten umgehen - würden sie das Reich zerschlagen und hohe Reparationen verlangen oder ihnen ein Existenzminimum für ein Weiterleben zubilligen? Würden die Alliierten den früheren Feinden jemals die Herstellung einer geläuterten inneren Ordnung und die Rückkehr als handelndes Subjekt in die internationale Politik erlauben?"15

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Recker, Marie-Luise 2002: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. München: C.H. Beck. S. 14. Eine gute Übersicht und Einführung bietet Benz, Wolfgang 2008: Der Holocaust. 7. Aufl. München: C.H. Beck. Anmerkung: Bis mindestens Anfang der 1990er Jahre lässt sich selbst in Texten, die für den Schulunterricht gedacht sind, die Behauptung finden, die deutsche Bevölkerung habe von der Shoah nichts gewusst, so u.a. in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung von 1991: "Das Bekanntwerden der KZ-Gräuel und der Judenvernichtung traf die meisten Menschen unvorbereitet, weil die Geheimhaltung dieser Verbrechen durch das NS-Regime weitgehend funktioniert hatte. Der Großteil der Bevölkerung wußte 'nur' von den Peinigungen der Juden, ihrer öffentlichen Verfolgung und von der Existenz der Konzentrations-Stamm- und -Außenlager, da zumindest letztere nicht selten in der Nähe von Wohngebieten errichtet worden waren." (Kistler, Helmut 1991: Das Leben geht weiter. In: Bundeszentrale für politische Bildung 1991 (Hrsg.): Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. Informationen zur politischen Bildung 224. Bonn: BpB. S. 14). Eine Widerlegung dieser Behauptung findet sich bei Tiedemann, Markus 2000: "In Auschwitz wurde niemand vergast". 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt. München: Goldmann Verlag. S. 159; übrigens auch von den Landeszentralen für politische Bildung vertrieben. Vgl. Jarausch, Konrad H. 2004: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945– 1995. München: DVA. S. 13f.

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a. Stunde Null oder Restauration? In der Einordnung der tiefgreifenden historischen Zäsur stehen sich zwei gegensätzliche Positionen gegenüber: zum einen die These einer 'Stunde Null' bzw. eines 'Neubeginns' (Jürgen Kocka),16 zum anderen die Konstatierung restaurativer Tendenzen in der BRD, die an die historische Entwicklung anknüpft, die letztlich zum 'Zivilisationsbruch' (Konrad H. Jarausch)17 der Shoah und des Vernichtungskrieges im Osten geführt habe. Eine Auflösung zu Gunsten der einen oder der anderen These – Restauration oder Neubeginn – wurde bisher nicht erreicht. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass mit den jeweiligen Annahmen auch unterschiedliche Bewertungen des gegenwärtigen politischen und sozioökonomischen Systems der BRD einhergehen. Wird der Bruch mit der Vergangenheit hervorgehoben, verbunden mit der Annahme eines geglückten Neuanfangs, so bedeutet dies zugleich eine Aufwertung des in der Nachkriegszeit etablierten Gesellschaftssystems. Nicht von ungefähr finden sich daher Äußerungen in dieser Richtung bei Vertretern des politischen Systems, so beim Bundespräsidenten a.D. Richard von Weizsäcker. Er setzt den Bruch jedoch nicht 1945, sondern vielmehr 1949 mit der Gründung der BRD und der DDR an. Denn das Jahr 1945 sei kein vollständiger Bruch, sondern vielmehr 'nahe Null' gewesen: "Zunächst ging es [...] um die Suche nach einem Weiterleben. Konkrete politische Schritte wurden fällig. Die Entscheidungen lagen in den Händen der Siegermächte. Zwischen ihnen herrschten schärfste Gegensätze. Ihr Kampf um Macht und Einfluss in Europa hinderte sie vor allem auch an einer Einigung über das künftige deutsche Schicksal. So nahm die Teilung Europas, Deutschlands und der Hauptstadt Berlin ihren schwer bedrückenden Anfang. Niemand hatte es wirklich vorausgesehen. Anstelle des Deutschen Reichs nun zwei Republiken, das war der nie geahnte Einschnitt in seiner Geschichte, wahrlich nahe Null!"18

Die beiden anderen historischen Zäsuren werden von ihm 1969 mit der Konstituierung der sozial-liberalen Koalition im Bundestag und der

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Vgl. Kocka, Jürgen 1979: 1945. Neubeginn oder Restauration. In: Stern, Carola; Winkler, Heinrich A. (Hrsg.): Wendepunkte deutscher Geschichte. 1848-1945. Frankfurt a.M.: Fischer. S. 142. Jarausch 2004: Die Umkehr. S. 12ff. Weizsäcker, Richard von 2003: Drei Mal Stunde Null? 1949 – 1969 – 1989. Deutschlands europäische Zukunft. Berlin: Berliner Taschenbuchverlag. S. 27.

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