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Meike Watzlawik Sind Zwillinge wirklich anders? Geschwister in der Pubertät Dieses Buch basiert auf der Habilitationsschrift "Was GESCHWISTERsein SCH...
Author: Ferdinand Hoch
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Meike Watzlawik Sind Zwillinge wirklich anders? Geschwister in der Pubertät Dieses Buch basiert auf der Habilitationsschrift "Was GESCHWISTERsein SCHAFFT Die Bedeutung von Geschwistern in der Adolszenz unter besonderer Berücksichtigung der Zwillingssituation" (Watzlawik, TU Braunschweig, Vortrag und Kolloquium: 27.05.2008). Umschlaggestaltung: ” www.schlichtundbuendig.de ” Tectum Verlag Marburg, 2008 ISBN 978-3-8288-5411-6 (Dieser Titel ist als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-9607-9 im Tectum Verlag erschienen.)

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Inhalt „Lernen heißt, …“

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1.

Einleitung

10

2.

Was genau ist denn Familie?

15

2.1 Familie als System 2.2 Familie als System im System 2.3 Geteilte und nicht-geteilte Umwelten 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4.

Geschwister im Wandel der Zeit

22

Die Geschwisterbeziehung: Die ersten Jahre Geschwisterbeziehungen in der Kindheit Geschwisterbeziehungen im Jugendalter Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter Verschiedene Geschwister – Verschiedene Entwicklungsverläufe

27 29 38 39 43

Zwillinge

47

4.1 Verschiedene Zwillingsarten 4.2 Zwillinge in der Forschung: Die Anfänge 4.3 Zwillinge in der Forschung: Mehr als nur Erbe und Umwelt 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 6.1 6.2 6.3 6.4

17 18 20

49 54 55

Das Braunschweiger Geschwisterprojekt

68

Wer wurde wann untersucht? Der häusliche Kontext Die Interviewer Die Interviewstruktur

68 78 79 79

Wer bin ich und wer sind wir?

81

Die Identitätsentwicklung: Wer bin ich? Soll man Zwillinge trennen, um ihre Identität zu fördern? Die Entwicklung der Paaridentität: Wer sind wir? Wie sich das „Wir“ verändert, wenn das „Ich“ stärker wird

82 91 97 112

7

7.

Geschwisterliche Nähe

139

7.1 Methodisches Vorgehen 7.2 Ergebnisse 7.3 Diskussion

141 141 144

8.

Geschwisterliche Kooperation 8.1 Methodisches Vorgehen 8.2 Ergebnisse 8.3 Diskussion

9.

Kindermund Was Kinder über ihr Geschwister denken 9.1 Positive und negative Seiten des Geschwisterdaseins 9.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus Sicht der Geschwister 9.3 Subjektive Bedeutung des Geschwisterseins

146 147 154 156

159 161 167 174

10.

Fazit

178

11.

Ausblick

181

Literaturverzeichnis

184

Anhang A B C D

8

Zygositätsfragebogen Positive und negative Seiten des Geschwisterdaseins Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus Sicht der Geschwister Subjektive Bedeutung des Geschwisterseins

196 198 205 210

Glossar

216

Danksagung

220

„Lernen heißt, den eigenen Weg finden.“ … schrieb der spanische Maler Francisco de Goya am Ende seines Lebens. Er hielt nichts von der akademischen Ausbildung zum Maler, indem die Antike nachgeahmt wird. Die Pubertät ist im Leben eines Menschen die Zeit, in der die Suche nach dem eigenen Weg zum Thema wird. Jugendliche entdecken die verschiedenen Facetten ihres Selbsts, indem sie sich von ihren nächsten Angehörigen, ihren Eltern und Geschwistern abgrenzen und mit Gleichaltrigen außerhalb der Familie neue Beziehungen eingehen. Die Pubertät ist eine Zeit des Übergangs, die am Ende der Kindheit beginnt und manchmal ein Leben lang andauert, wenn Erwachsene nicht erwachsen sein können oder wollen. Meike Watzlawik hat in einer groß angelegten Studie in 107 Familien untersucht, wie die Übergänge von der Kindheit zum Jugendalter aussehen, wenn sie in unterschiedlichen Geschwisterkonstellationen stattfinden. Die Muster wiederholen sich, wenn die familiären Bande lockerer werden und die Attraktivität von Freunden wächst. Es gibt allerdings auch Unterschiede zwischen den Geschwisterkonstellationen, insbesondere zu Zwillingen, die genetisch identisch sind. Mit dieser Studie hat Meike Watzlawik ihren Weg gefunden, Entwicklungspsychologie als Wissenschaft zu betreiben. Zuvor hat sie Jahre lang in Beratungsstellen und auch im Internet Jugendliche bei ihren Konflikten unterstützt. Ich kenne keine wissenschaftliche Studie, in der die Bedeutung von Geschwisterkonstellationen für die Entwicklung der Identität so detailliert und differenziert untersucht wird, wie bei Meike Watzlawik. Ich kenne keine wissenschaftliche Studie, in der quantitatives und qualitatives Vorgehen so harmonisch miteinander auskommen wie hier. So entsteht das Bild einer Entwicklungspsychologie, die methodisch auf sicherem Fundament steht und offen ist für den Austausch mit anderen Gebieten innerhalb und außerhalb der Psychologie. Das Buch von Meike Watzlawik, das aus einer Habilitation entstanden ist, stimmt optimistisch – nicht nur in Bezug auf die Entwicklungspsychologie als Wissenschaft, sondern auch in Bezug auf jede nachwachsende Generation, die am Ende der Kindheit beginnt, eigene Wege zu suchen, und der es gelingt, andere Wege als die alten, ausgetretenen Pfade zum Erwachsenwerden zu entdecken.

Braunschweig, im Februar 2008

Prof. Dr. Werner Deutsch

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1. Einleitung „Ich lächle, weil Du meine Schwester bist. Und ich lache, weil Du nichts dagegen tun kannst.“ Diese Zeilen stammen von einer Karte, die ich vor ein paar Jahren von meiner Schwester zum Geburtstag bekam. Sie grinste, als sie mir die Karte gab. Ich konterte mit den Worten: „Ebenso!“, da der Spruch in umgekehrter Richtung nicht weniger zutreffend erschien. Geschwister kann man sich tatsächlich nicht aussuchen, auch wenn man es manchmal gern täte. Auch wir haben uns das manchmal sicherlich gewünscht, was die mitschwingende ironische Schadenfreude des obigen Satzes – mittlerweile humorvoll – verdeutlicht. Über die nicht so humorvollen Zeiten könnte meine Mutter sicherlich Ausführlicheres erzählen... Erlebnisse mit und von Geschwistern, angenehme wie unangenehme, wissen viele Menschen zu berichten. Zum einen basieren sie auf eigenen Erfahrungen, zum anderen auf denen der Kinder, Freunde und Bekannten. Außerdem informieren die Medien wie Fernsehen, Zeitungen sowie Zeitschriften über Tratsch und Klatsch von Michael und Ralf Schumacher, den Kessler-Zwillingen, Paris und Nicky Hilton oder Jaroslaw und Lech Kaczynski – allesamt auf ihre Art berühmte Brüder und Schwestern. In der Literatur sind Geschwister ebenfalls seit jeher präsent, Kain und Abel oder Romulus und Remus seien hier nur als zwei der berühmtesten Beispiele genannt. Erstaunlicherweise hat die Wissenschaft sehr spät begonnen, sich mit Geschwistern auseinanderzusetzen (Bank & Kahn, 1975): Erst in den 70er und 80er Jahren wurde die Geschwisterforschung zur eigenen Disziplin innerhalb der Familienforschung (Toman, 1976; Lamb & Sutton-Smith, 1982; Kasten, 2001; Seiffge-Krenke, 2004), obwohl sich vorher schon große Namen wie Galton (Jahrhundertwende 19./20. Jhd., zitiert nach Brody, 2004) oder Adler (1926) mit Geschwistern befasst hatten. Zum einen ist dies sicherlich durch historische Entwicklungen zu erklären (vgl. Kapitel 3). Zum anderen existiert die Geschwisterbeziehung, verstanden als familiäres Subsystem (Cicirelli, 1995; Schmidt-Denter, 1996; Furman & Buhrmester, 1985), in einem komplexen Netzwerk von Einflussgrößen (Persönlichkeiten, Verwandtschaftsgrade, geteilte und nicht geteilte Umwelten etc.; vgl. Kapitel 2), in dem es zu den unterschiedlichsten Wechselwirkungen kommen kann. Das wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich gleicht daher, durch das Herausgreifen einzelner Themenbereiche und Einflussmuster, einer „detektivischen Arbeit“ (Dunn & Plomin, 1996, S. 184), die sicherlich viele erst einmal zurückschrecken lässt. 10

Bank und Kahn sprachen der Interaktion mit dem Geschwister, trotz weniger wissenschaftlicher Belege, bereits 1975 große Bedeutung zu. Sie sagten “in larger families siblings have a primary socialization function for each other, that the learning of fair play, self-control, sharing, being able to listen as well as talk, were all important functions played by the sibling system.”1 (S. 314) Auch spätere Untersuchungen zeigten, dass sich die Kinder, die in einer Familie aufwachsen, gegenseitig auf die unterschiedlichste Art und Weise beeinflussen (vgl. Kapitel 3). Nichtsdestotrotz bleibt laut Dunn und Plomin (1996) jedoch festzuhalten, dass wir bisher noch nicht viel über die Art und das Ausmaß des Einflusses wissen, den die gegenseitige Wahrnehmung von Geschwistern und deren Interaktion auf den Entwicklungsprozess haben. Dies gilt vor allem für die turbulente Zeit des Jugendalters (Hofer, Wild & Noack, 2002; Cicirelli, 1995). Um dieses Manko zu beheben, plädieren Dunn und Plomin (1996) vor allem für eine längsschnittlich angelegte Forschung im natürlichen Umfeld der Kinder, um möglichst nah an dem Erleben der Geschwister zu bleiben und um dieses möglichst unverfälscht und nicht zu stark vereinfacht abbilden zu können. Das in dieser Arbeit beschriebene Projekt (vgl. Kapitel 5) leistet genau hierzu seinen Beitrag! Da man, wie oben beschrieben, nicht alle Einflussgrößen parallel berücksichtigen kann, untersucht das Braunschweiger Geschwisterprojekt Geschwisterkonstellationen mit besonderen Charakteristika. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Zwillinge2 (vgl. Kapitel 4), also Geschwister, die meist nur mit wenigen Minuten Abstand zur Welt kommen, und Geschwister, die maximal zwei Jahre Altersunterschied aufweisen3. Bei der Sichtung der Literatur wurde deutlich, dass zumindest die Zwillingsforschung in Braunschweig eine gewisse Tradition aufweist: 1934 wurde Helmut von Brackens Artikel „Mutual intimacy in twins“, der auf einer Untersuchung von „pairs of twins of the same sex attending primary schools in 1

2

3

„in größeren Familien haben Geschwister eine wesentliche Sozialisationsfunktion für einander; das Erlernen von Fairplay, Selbstkontrolle, Teilen, Zuhören sowie der Fähigkeit, sich mitteilen zu können, sind alles wichtige Funktionen, die die Geschwisterbeziehung erfüllt.“ [Übersetzung der Autorin] Dass nicht per se von den Zwillingen gesprochen werden kann, sondern auch hier zwischen verschiedenen Gruppen unterschieden werden muss, wird im Weiteren noch erläutert (vgl. Kapitel 4). Weder im theoretischen Teil noch in den Einzelkapiteln wird auf die Situation von Einzelkindern Bezug genommen, da Geschwister in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. Für Befunde zu Einzelkindern, die in vielerlei Hinsicht auch eine attraktive Vergleichsgruppe darstellen, sei an dieser Stelle auf die Literatur von z.B. Kasten (1995, 2007) oder auf Arbeiten, die innerhalb des Projekts entstanden sind (OhlendorfZeroch, 2006), hingewiesen.

11

Brunswick (Germany) in the second half of the scholastic year 1931/32”4 (von Bracken, 1934, S. 293) beruht, im Journal of Personality veröffentlicht. Ein Artikel der sich – für diese Zeit ungewöhnlich – außerhalb der Erbe-UmweltForschung ansiedeln lässt und Aussagen über die Entwicklungsbesonderheiten von Zwillingen erlaubt. Flau im Magen wird dem Leser dieses Artikels allerdings, wenn er erfährt, dass Ottmar von Verschuer, Mitglied der NSDAP und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (1942-1948), an der Bestimmung der Eiigkeit der teilnehmenden Zwillinge beteiligt gewesen ist. Von Verschuer selbst, aber vor allem sein Assistent Josef Mengele waren durch ihre unmenschlichen Versuche an Zwillingen bekannt geworden – ein Grund dafür, dass die Zwillingsforschung in Deutschland im Anschluss an die Nazi Diktatur zuerst eine Art Tabu darstellte (vgl. Matalon Lagnado & Cohn Dekel, 1994). Mittlerweile ist die Zwillingsforschung auch in Deutschland wieder etabliert und fokussiert vor allem die Fragestellung, zu welchen Anteilen menschliche Eigenschaften und Merkmale durch die genetische Anlage und die Umwelt bestimmt werden (vgl. Kapitel 4). In der vorliegenden Studie werden eineiige Zwillinge nicht vorrangig als genetisch gleiche Individuen betrachtet, sondern als Menschen, die sich mit ganz besonderen Entwicklungsbedingungen konfrontiert sehen. Sie werden deshalb als eine von fünf Geschwisterkonstellationen genauer betrachtet, um zu überprüfen, ob bei ihnen während der Adoleszenz spezifische Entwicklungsverläufe zu beobachten sind. Gleiches gilt für zweieiige gleich- und gegengeschlechtliche Zwillingspaare sowie für gegen- und gleichgeschlechtliche Geschwisterpaare. Als familiäres Subsystem sind Geschwister ein Bestandteil der Familie, die im Folgenden als erstes definiert und beschrieben werden soll, um ihre multiplen Einflüsse auf die Geschwisterbeziehung zu verdeutlichen (Kapitel 2). Anschließend wird die Geschwisterbeziehung selbst und ihre Bedeutung über die Lebensspanne näher beleuchtet (Kapitel 3). Aktuelle Ergebnisse zu bekannten Entwicklungsbesonderheiten bei Zwillingen werden in Kapitel 4 dargestellt, bevor das Braunschweiger Geschwisterprojekt, an dem Zwillinge und andere Geschwister im Alter von 10 bis 15 Jahren teilgenommen haben, in Kapitel 5 vorgestellt wird. Die darauf folgenden Kapitel sind den Befunden des Projekts gewidmet: Als zentraler Punkt der vorliegenden Studie wird zuerst die Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Geschwisterkonstellation untersucht (Kapitel 6). Die Identitätsentwicklung selbst ist eine 4

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„gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren, die 1931/1932 die Grundschule in Braunschweig (Deutschland) besuchen und sich in der zweiten Schuljahreshälfte befinden“ [Übersetzung der Autorin]

der wichtigsten Aufgaben des Jugendalters – egal, ob man Geschwister hat oder nicht. Da Geschwister aber besondere Sozialisationsagenten sind, ist anzunehmen, dass sie sich auch während dieser Entwicklungsphase gegenseitig beeinflussen. Insbesondere bei Zwillingen wird oft davon ausgegangen, dass sie – achtet man nicht verstärkt auf eine Individualisierung – nur schwer eigene Identitäten ausbilden können. Auf zwei Ebenen wird diesem Mythos nachgegangen: Auf der Ebene der individuellen Identität (Kapitel 6.1) und auf der Ebene der Paaridentität (Kapitel 6.3). Ob die individuelle Identität von Zwillingen tatsächlich dadurch gefördert wird, dass man sie in Kindergarten und Schule trennt, wird in Kapitel 6.2 überprüft. Wechselwirkungen zwischen der individuellen und der Paaridentität stehen in Kapitel 6.4 im Mittelpunkt. Hierbei wird vor allem dargestellt, wie sich die emotionale Beziehung der Geschwister zueinander in Abhängigkeit von der individuellen Identitätsentwicklung während der Adoleszenz verändert. In Kapitel 7 wird noch einmal vertiefend gezeigt, dass emotionale Nähe nicht immer mit geschwisterlicher Nähe gleichzusetzen ist. Je nach der verwendeten Nähe Definition bieten sich unterschiedliche methodische Zugänge an, von denen – neben der Erfassung der emotionalen Beziehung – hier noch ein weiterer näher vorgestellt werden soll. Da in unserem Projekt das Interview die Methode der Wahl ist, beruhen die meisten Ergebnisse des Projektes auf Selbstauskünften der befragten Kinder. Anders gestaltet sich dies in Kapitel 8, in dem die geschwisterliche Kooperation im Mittelpunkt steht. Spiegelt sich das, was die Kinder übereinander sagen, auch in ihrem Verhalten wider? Oder versuchen sie, nach außen ein Bild darzustellen, das sich bei der Beobachtung des Geschwisterpaares doch ganz anders darstellt? Um die geschwisterliche Kooperation zu erfassen, wurden Videos der Kinder, die diese in einer von uns angeleiteten Spielsituation zeigen, analysiert. Zentral ist hier wiederum die Frage, ob sich Zwillinge in Bezug auf den Umgang miteinander von anderen Geschwistern unterscheiden. In Kapitel 9 werden über die Identitätsentwicklung und Kooperation hinausgehende, qualitative Aspekte der Geschwisterbeziehung aus Sicht der Kinder und Jugendlichen vorgestellt, die es erlauben, ein genaueres Bild der Geschwisterbeziehung in dieser Entwicklungsphase zu zeichnen. Zu den qualitativen Aspekten zählen positive und negative Facetten des Geschwisterdaseins (Kapitel 9.1), Unterschiede und Gemeinsamkeiten (Kapitel 9.2) und die allgemeine subjektive Bedeutung, die das Geschwistersein für Kinder und Jugendliche hat (Kapitel 9.3). Die Ergebnisse werden jeweils in den einzelnen Kapiteln diskutiert, so dass in den letzten beiden Kapitel ein Fazit zu den Befunden insgesamt gezogen werden (Kapitel 10) und ein Ausblick für folgende Studien gegeben werden kann (Kapitel 11).

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Das Buch richtet sich zum einen an interessierte Wissenschaftler, für die das methodische Vorgehen und die Ergebnisse detailliert dargestellt werden, um eine Beurteilung zu ermöglichen und ggf. Anknüpfungspunkte zu geben. Zum anderen sind aber auch Nicht-Wissenschaftler (Eltern, Lehrer, Erziehende etc.), die sich für Geschwister bzw. speziell für Zwillinge interessieren, angesprochen. Für diese Leserschaft sind manche der wissenschaftlichen Ausführungen trotz des Glossars, auf das an dieser Stelle verwiesen sei, möglicherweise etwas ermüdend. Es wird deshalb empfohlen, sich ggf. auf die Einführungen der Kapitel (6 bis 9) und die entsprechenden Diskussionen zu konzentrieren.

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2. Was genau ist denn Familie? Die Beantwortung dieser einfach anmutenden Frage entpuppt sich als gar nicht so einfach wie gedacht. Zwar kennt jeder den Klassiker „Vater-Mutter-Kind“, doch fallen einem auch gleichermaßen Beispiele ein, die nicht in dieses Schema passen wollen. Freunde aus dem Bekanntenkreis lassen sich scheiden, allein erziehende Mütter kommen mit neuem Partner zum Kaffeetrinken und nebenan erziehen zwei zusammenlebende Männer Zwillinge, deren Mutter eine Freundin der beiden ist. Zusätzlich entstehen „Lebensgemeinschaften“ der kuriosesten Art, wenn sich Trennungen und neue Beziehungen aneinander reihen. Der Spiegel beschreibt dies anschaulich in seiner Februarausgabe (Thimm, 2006). Das Beispiel stellt Thierry und Véronique vor, die zusammen mehrere Kinder haben. Die Eltern beschließen jedoch, sich zu trennen, und „Vater Thierry heiratet [...] Hélène, die zwei Kinder hat. Véronique lernt Etienne kennen, der zwei Töchter hat. Die beiden neuen Paare bekommen beide je ein gemeinsames Kind. Sie trennen sich. Thierry trifft auf Cécile, die ein Kind hat, und Véronique heiratet Gérard, einen Vater zweier Kinder. Aus diesen Partnerschaften gehen je zwei Kinder hervor. Auch Hélène und Etienne finden beide wieder einen Partner mit Kind.“ (Thimm, 2006, S. 152)

Die Kinder von Thierry und Véronique haben nun bereits sechs Halbgeschwister, sieben (bzw. neun5) Stiefgeschwister, zwei (bzw. drei) Stiefmütter und zwei (bzw. drei) Stiefväter. Das hier beschriebene Fallbeispiel zeigt – trotz seiner Verworrenheit – Möglichkeiten, wie Personen, die z.T. keine genetische Verwandtschaft aufweisen, zusammen kommen, um in einer Gemeinschaft zu leben, die für sie Familie bedeutet. Berücksichtigt man dies, so scheint Familie mehr zu sein als die lebenslange Verbundenheit zweier gegengeschlechtlicher Menschen und der daraus hervorgehenden Kinder [und Enkelkinder und ...]. Was genau ist dann aber Familie? Hofer gibt auf diese Frage eine Antwort, die dem oben beschriebenen Fallbeispiel z.T. gerecht wird. Für ihn ist Familie „eine Gruppe von Menschen, die durch nahe und dauerhafte Beziehungen miteinander verbunden sind, die sich auf eine nachfolgende Generation hin orientiert und die einen erzieherischen und sozialisatorischen Kontext für die Ent5

Hélène und Etienne sind bereits Stiefeltern der Kinder, die anschließend neue Beziehungen eingehen. Zählt man die Kinder der neuen Partner der Stiefeltern ebenfalls als Stiefgeschwister, ergibt sich die Zahl neun.

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wicklung der Mitglieder bereit stellt“ (Hofer, Wild & Noack, 2002, S. 6). Diese Definition kann jedoch auch laut Hofer, Wild und Noack (2002) nur eine Grundlage für weitere Diskussionen bieten, da sie in einigen Aspekten als problematisch zu betrachten ist. So gibt es z.B. Eltern und Kinder, die sich nicht nahe stehen, dafür aber Lehrer und Schüler, deren Beziehung somit die oben genannten Kriterien erfüllt, aber dennoch nicht als familiär zu betrachten ist. Auch ist zu definieren, was unter dem Begriff „dauerhaft“ zu verstehen ist, und ob das „miteinander verbunden“ tatsächlich auf reziproke (wechselseitige) Beziehungen aller Mitglieder bezogen sein muss: Kann ein Kind geschiedener Eltern, das nahe Beziehungen zu sowohl Vater als auch Mutter aufweist, von Familie sprechen, wenn sich seine Eltern untereinander gar nicht mehr nahe stehen? Ist Familie, wenn man den Näheaspekt mit aufnimmt, nicht etwas sehr Subjektives und damit Individuelles? Die Frage kann wohl mit „ja“ beantwortet werden, wenn man an die vielen möglichen Antworten denkt, die man auf die Frage: „Wer gehört zu Deiner Familie?“ bekommen kann. Da gehören nämlich ggf. neue Partner der Eltern, Stief- und Halbgeschwister genauso dazu, wie Großeltern, Tanten, Onkel und Haustiere. Aufgrund dieser Tatsache bitten manche Psychotherapeuten heute ihre Patienten bei der Anamnese, ihre Familie in Netzwerken aufzuzeichnen, damit die einzelnen Beziehungen verdeutlicht werden können. Auch Kindergärten arbeiten bei der Fallbesprechung mit dem Familienbrett, um Nähe und Distanzverhältnisse zu einzelnen Mitgliedern der entsprechenden Familie anschaulich darstellen und besprechen zu können – und um nicht den Überblick zu verlieren (Ludewig & Wilken, 2000). Familie ist also etwas, dass durch die Kriterien Nähe, zeitliche Dauer, eine bestimmte Intention oder das subjektive Erleben definiert werden kann. Eine weitere Möglichkeit ist hierbei jedoch noch außer Acht gelassen worden: die genetische Verwandtschaft, die u.a. bei der Erstellung von Familienstammbäumen oder bei der Untersuchung von erblichen Merkmalen zentral ist. Wird die genetische Verwandtschaft als Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie herangezogen, so besteht die Kernfamilie aus zwei gegengeschlechtlichen Menschen, meist Erwachsenen, die gemeinsame Kinder haben. Die Kinder „erben“ den aus 23 Paaren bestehenden menschlichen Chromosomensatz von ihren Eltern, wobei der Zufall bestimmt, welches der beiden Chromosomen eines Chromosomenpaares das Kind von der Mutter oder dem Vater erhält. Nach der Befruchtung entstehen Keimzellen durch eine besondere Art der Zellteilung, bei der sich die Erbanlagen der Mutter und des Vaters vermischen. Bei 46 Chromosomen sind dabei 2116 unterschiedliche Kombinationen möglich, so dass bei mehreren Kindern zwar Ähnlichkeiten aber keine Überein-

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stimmung des Genpools vorliegen. Dies ist lediglich bei eineiigen Zwillingen der Fall (Nationales Genomforschungsnetz, n.d., vgl. Abschnitt 4.1.1). Bezogen auf die genetische Verwandtschaft und somit die genetisch determinierte Familie sind bestimmte Besonderheiten festzustellen: So ist die genetische Verwandtschaft nicht frei wählbar. Menschen haben hingegen ein gewisses Mitspracherecht, wenn es darum geht, wie nah sie einer Person sein möchten (siehe Definition von Hofer et al., 2002). Kinder können entscheiden, ob sie ein Stiefgeschwister, mit dem sie nicht genetisch verwandt sind, akzeptieren oder nicht, sie können aber nicht die genetische Verwandtschaft zu weiteren Kindern ihrer biologischen Eltern kündigen. Auch bleiben die biologischen Eltern die biologischen Eltern, egal ob die Kinder zu diesen Kontakt haben oder nicht. Für die Identität eines Menschen ist zumindest das Wissen über seine genetische Abstammung ein wichtiger Faktor. Auf die Frage: „Wer sind meine Eltern?“ können die meisten ohne Zögern eine Antwort geben und die, die es nicht können, mussten sich zumindest mit der Tatsache, keine Antwort zu haben, auseinandersetzen. Möglichkeiten der Auseinandersetzung sind hier, sich auf die Suche nach der fehlenden Antwort zu machen, wie es z.B. manche Adoptivkinder tun, oder die „Wissenslücke“ als unwichtig zu betrachten, da anderen Bezugspersonen, die nach der Geburt die Elternrolle inne hatten, eine viel größere persönliche Bedeutung beigemessen wird.

2.1. Familie als System Betrachtet man Familie als Einheit, die durch genetische Verwandtschaft ausgezeichnet sein kann, aber nicht muss, so beinhaltet sie verschiedene Elemente (Subsysteme): Eltern-Kind-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen, Mutter-Vater-Beziehungen etc. Die einzelnen Mitglieder einer Familie stehen demnach in Wechselwirkung zueinander. Einige Studien belegen, dass die Geschwisterbeziehung konfliktreicher verläuft, wenn die Elternbeziehung von Unzufriedenheit und Konflikten geprägt ist (vgl. Dunn et al., 1999). Andere Forscher (Bank & Kahn, 1990) vermuten, dass es zu einer Annäherung der Geschwister bei Konflikten der Eltern kommen kann, um den damit einhergehenden Stress zu kompensieren. In jedem Fall wird aber die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Parteien an diesem Beispiel deutlich. Innerhalb der verschiedenen Familienbeziehungen eignen sich ihre einzelnen Mitglieder verschiedene Verhaltensweisen oder -muster an, um das Bestehen der Familie als solche zu sichern. Diese Verhaltensmuster müssen immer wieder neu verhandelt werden, da sich die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglie-

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