Neil Tessler

Interview mit Divya Chhabra - Winter 2002

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Dieses Interview von Neil Tessler mit Divya Chhabra erschien als Erstpublikation in 'Simillimum' (Bd. 15, No. 4, Winter 2002), der Zeitschrift der Homeopathic Academy of Naturopathic Physicians (www.healthy.net/library/journals/simillimum), herausgegeben von Neil Tessler. Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung. Übersetzung: Dr.med.vet. Shiela Mukerjee-Guzik Divya Chhabra äußert sich in diesem Interview u.a. zu den Themen: Art ihrer Fallaufnahme, Verwendung von ungeprüften Mitteln, Signaturenlehre, Gruppenprüfungen und die Bedeutung von Symptomen bei Gruppenmitgliedern, die keine Arznei genommen haben, Miasmen, Träume..... Sie legt Wert darauf nicht dort aufzuhören, wo Hahnemann aufhörte, sondern immer weiterzugehen, wie auch er immer weiterging. Innovationen in der Homöopathie würden oft aus Angst vor Veränderung abgelehnt, eine Innovation zu kritisieren oder fallen zu lassen, ohne sie probiert zu haben, sei von Schaden für die Homöopathie. Divya Chhabra (Ehefrau Rajan Sankaran's) tritt dafür ein, den einzelnen Homöopathen ihren individuellen Zugang zuzugestehen und Respekt füreinander zu haben. In der homöopathischen Arbeit gehe es nicht um eine "mathematische Übereinstimmung der Worte", sondern um eine Übereinstimmung des tieferen Zustandes. "Es gibt Tieferes als Symptome". Kommentar von Neil Tessler: Das Interview mit Divya ist eine überzeugte Stellungnahme der innovativen Gemeinschaft, es kann als Manifest moderner Praxis angesehen werden. Neil Tessler

Interview mit Divya Chhabra Ihr eindringlicher Blick zeugt von einem lebendigen und suchenden Intellekt, und es kann kaum Zweifel daran herrschen, dass die Bombayer Homöopathin Divya Chhabra trotz ihrer relativen Jugend (Mitte Dreißig) eine Meisterin und auf dem Höhepunkt der modernen Praxis ist. Während ihr Ehemann, Rajan Sankaran, trotz seiner Popularität und enormen Beiträge für den Berufsstand manchmal ein Zündholz für Kontroverse und Kritik gewesen ist, ist Divya Chhabra unaufdringlich als eine/r der großen LehrerInnen und FührerInnen der Homöopathie in der heutigen Welt hervorgegangen. Trotz ihrer engen Verbindung gibt es bestimmte Unterschiede in ihrer Methodik, die für ihre (Divya Chhabras, A. d. Ü.) Individualität sprechen und dazu führen, dass sie ihrer eigenen Erfahrung folgt – ein wiederkehrendes Thema während unserer Diskussion. Für diejenigen, die mit Rajans Arbeit vertraut sind, ist am bemerkenswertesten, dass sie in ihrer Analyse nicht grundsätzlich die Miasmen verwendet, und dass sie ihre eigenen einzigartigen Konzepte hinsichtlich Fallerhebung und Analyse entwickelt hat. Das folgende Interview fand während Dr. Chhabras kürzlich in Vancouver abgehaltenem Seminar statt. NT: Wie wurde Ihr Interesse an der Homöopathie geweckt? Divya: Nun, ich bin mit Homöopathie aufgewachsen. Ich habe vielleicht einmal in meinem Leben allopathische Medizin eingenommen. Da ich immer wusste, dass ich Ärztin werden wollte, schien die Homöopathie eine natürliche Schlussfolgerung dessen zu sein, abgesehen davon, dass ich mich überaus für Psychologie interessierte und die Homöopathie zu dem Zeitpunkt kein Hochschulkurs war. Deshalb war es meine Absicht, Medizin und Psychiatrie zu studieren, zurückzukehren und Homöopathie zu studieren; aber zu meinem Glück

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funktionierte das nicht, daher begann ich einfach mit Homöopathie, und zu diesem Zeitpunkt war sie wieder ein Hochschulkurs. NT: Es gibt bestimmt eine Verbindung zwischen der klassischen Psychoanalyse und Aspekten Ihrer Anamnesetechnik. Divya: Es ist interessant, dass es nahe beieinander liegt, denn ich habe wirklich kein einziges Buch über Psychologie oder Psychiatrie im eigentlichen Sinn gelesen. Deshalb sehe ich als das Wundervolle daran, dass, wenn etwas wahr ist, es letztendlich universell wird. Es ist so wie die freie Assoziation, die sehr freudianisch ist, und als ich sie das erste Mal anwandte, hatte ich keine Ahnung, dass sie als „freie Assoziation“ bezeichnet wurde. Es gab eine Patientin, die Psychologiestudentin war, und als ich es ihr erklärte, sagte sie: „ Oh, Sie möchten, dass ich frei assoziiere.“ NT: Wie kamen Sie dahin? Divya: Es war ein bahnbrechender Augenblick. Sie wissen, dass etwas in einigen Ihrer Fälle fehlt, und dass dies der Grund ist, warum sie nicht ansprechen. Deshalb fragen Sie sich selber, auf welchem Wege Sie da herankommen können. In einem meiner Fälle ging ich umher und wusste, dass ich etwas herausbekam, aber dass es auch etwas gab, was ich nicht herausbekam. Sie erzählte von einem Traum, von dem sie als Einziges sagen konnte, dass es darin Steine in einem Zimmer gab. Ich fragte sie, in welcher Situation ihres Lebens sie dasselbe Gefühl wie in dem Traum hatte, und sie sagte: „Jetzt!“ Da wusste ich, dass ich dies nicht ignorieren konnte, aber ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. „Wie ist Ihr Gefühl, wie ist das Szenario, beschreiben Sie es genau?“ „Da ist nur ein Zimmer und Steine.“ „Sind sie auf Ihnen?“ Nichts. In diesem Moment, von dem ich glaube, dass er ein Höhepunkt der Arbeit mit dem Unterbewusstsein war, fühlte ich, dass es ein Werkzeug geben musste. Schließlich sagte ich: „Gut, vergessen Sie all das, worüber wir gerade gesprochen haben, sagen Sie einfach das Erste, was Ihnen in den Sinn kommt, wenn ich etwas zu Ihnen sage.,“ Ich sagte: „Steine.“ Sie antwortete: „Berge.“ Von „Berge“ kam sie auf Dasitzen, Wolken anschauen, Vögel beobachten, von dort auf ihren Lieblingsvogel, Enten, was zu ihrem ganzen Fall passte, da sie Wasser liebte, es liebte, sich immer und immer wieder zu waschen, da sie sich „schmutzig“ fühlte. Dies öffnete es. NT: Es hat viel Kontroverse gegeben, die suggeriert, dass Innovation und Evolution in der Homöopathie etwas anderes geworden sind als in Hahnemanns Absicht lag. Dass der wissenschaftliche Aspekt, der auf den Arzneimittelprüfungen beruht, durch den Gebrauch ungeprüfter Substanzen verändert worden ist. Sie haben über Arzneimittel wie Cobaltum nitricum gesprochen. Was sind Ihre Gedanken zum Gebrauch ungeprüfter Mittel? Divya: Ich denke, dass Prüfungen die Grundlage der Homöopathie sind, und dass wir dies an keinem Punkt vergessen werden und sollten. Die beständige Anstrengung sollte von allen Quellen dahin gehen, die Arzneimittel auf die bestmögliche und vollständige Weise zu prüfen. Jedoch ist die Realität, dass selbst, wenn wir alle in diesem Augenblick daran arbeiten, Arzneimittel zu prüfen, es immer noch nicht genug ist. Die Art und Weise, wie sich die Welt verändert hat und verändert, erfordert so oft den Gebrauch von Mitteln, von denen Sie wissen – da Sie Ihre Materia medica, Ihr Repertorium kennen, Bücher gelesen haben und genug Vertrauen in das Wissen von Ihrer eigenen Fähigkeit haben zu erkennen, was existiert –, dass es Patienten gibt, die kommen und jenseits davon sind (A.d.Ü. deren Symptomatik in Materia medica und Repertorien nicht ausreichend repräsentiert ist). Also was machen Sie? Lehnen Sie sich zurück und sagen, ich werde kein Mittel geben, bevor es geprüft ist, oder sollten Sie andere Methoden nutzen, Werkzeuge, die Sie anhand gut geprüfter Mittel verstanden haben? Da gibt es also ein gut geprüftes Mittel, Sie haben es verschrieben und sind sich bewusst, dass

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Sie dasselbe Mittel auch anhand dieser anderen Werkzeuge hätten verschreiben können. Deshalb könnten Sie, wenn Sie in eine Situation kommen, wo sie einen Patienten haben und merken, dass das Arzneimittel vielleicht nicht gut geprüft ist, in diesem Fall jene Werkzeuge benutzen. Wenn es also zwanzig Fälle gut geprüfter Arzneimittel gibt, aber ich mir zu dieser Zeit darüber im Klaren bin, dass ich die Prüfung, aber ebenso die Methoden „A“ und „B“ nehmen und dies in allen zwanzig Fällen machen könnte, und dass das Mittel in den meisten Fällen dasselbe wie durch die Prüfungen angenommen wäre, so könnte ich anhand deduktiver Logik in einem 21. Fall, wo keine Prüfung existiert, diese Methoden „A“ und „B“ anwenden, und mir zu 99 % sicher sein, dass ich denselben Punkt erreichen würde wie mit der Prüfung. Das bedeutet nicht, dass wir die Prüfung nicht durchführen sollten. Wir müssen die Prüfung machen. In der Vergangenheit ist es mein Ziel gewesen, dass ich, wenn ich ein ungeprüftes Mittel gebraucht hatte, dieses sofort geprüft habe. Ich habe immer eine Korrelation gefunden, wenn Sie Ihre Methoden mit Wissen und Geschick gebraucht haben. Also ist die Grundlage Ihre Materia medica und Ihr Wissen. Erst sollten Sie sicher sein, diese zu kennen. Sobald Sie das erklommen haben und sicher sind, sollten Sie, wenn das nicht genug ist, bereit sein, anzuhalten und davonzufliegen. Dann fliegen Sie davon und wissen, dass Ihre Füße auf dem Boden sind und Sie nicht fliegen, weil Sie die Grundlagen nicht kenne. Es ist nicht so, als würde ich einfach den zehnten Stock eines Gebäudes bauen wollen. Ich habe neun Stockwerke gebaut. Nun kann ich diese Freiheit dazu nehmen, den Sprung zu wagen und dabei zu wissen, dass ich über den Punkt des Wissens, was bereits in der Materia medica existiert, hinausgegangen bin. Wenn ich meine Materia medica und mein Repertorium nicht kenne, aber andere Techniken anwende, ohne zu versuchen, die geprüften Mittel herauszufinden, nur weil ich zu faul dazu bin, dann ist das ein Ausweg, den ich nicht befürworten kann. Was den Gedanken betrifft, das wir uns von den Hahnemanniern entfernt haben, denke ich, dass wir uns vielleicht in die Richtung von Hahnemanns Ansatz bewegen, da er der Erste war, der fortwährend seine Ideen veränderte, wenn er sie als unangemessen ansah, um mit einer Situation umzugehen. Die Tatsache, dass er in einer Lebenszeit sechs Auflagen desselben Buches schrieb, bedeutete, dass er beständig das Bedürfnis verspürte, es zu perfektionieren. Er war ein Mann, von dem ich glaube, dass er fünfzig weitere Bücher zu demselben Thema geschrieben hätte, weil ich glaube, dass er kontinuierlich perfektionierte. Dann glaube ich, dass wir eine Reihe von Jahren versäumt haben, das zu tun, wir hörten einfach dort auf, wo er aufgehört hatte. Nun denke ich, dass das jeder realisiert und anfängt, in seine Richtung zu gehen, daher habe ich das Gefühl, dass wir nun seinen Traum wahrhaft erfüllen. Alles, was wir sagen, muss immer mit dem, was er sagt, korrelieren, und tut dies auch. Ich finde es erstaunlich, was ich sagen darf, nachdem ich es zwanzig Jahre studiert habe, dass, wenn Sie heute zurück zum Organon gehen, er es dort niedergeschrieben hat. Deshalb denke ich, dass wir das erfüllen, was er im Geist und in Worten gesagt hat. NT: Ein verwandtes Thema ist die heftige Kontroverse, die wir manchmal sehen, über die Signaturenlehre. Hahnemann hat die Wissenschaft der Homöopathie in ausdrücklichen Gegensatz zur Signaturenlehre gestellt. Durch das Studium der Materia medica wird ganz deutlich, dass in verschiedenen Aspekten eines Mittels Wechselbeziehungen gefunden werden und diese interessante Punkte sind, die uns dabei helfen, das Mittel umfassender einzuschätzen. Was haben Sie zum Studium der natürlichen Quelle eines Mittels zu sagen? Divya: Ich glaube wieder, dass die Interpretation der Signaturenlehre das Problem ist. Ich denke, dass Hahnemann zu dem Zeitpunkt, als er ein strenger Verfechter war, die Situation so nehmen musste, wie sie zu dieser Zeit war. Er kämpfte gegen ein bestehendes System und erschuf ein aufrührerisches System, das fundamental in Gegensatz zu dem zu stehen schien, was zu der Zeit anerkannt wurde. Daher musste er die wissenschaftliche Natur des Systems

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betonen und die Leute davor warnen, eigenmächtige Sachen zu machen. Wenn die Signaturenlehre willkürlich gebraucht wird, wenn die Blume gelb ist und ich sie daher für „X“ benutze, oder weil sie wie eine Herzform aussieht und Sie sie deshalb gebrauchen, dann ist das willkürlich und eine Beleidigung gegenüber dem ganzen Gebiet der Signaturenlehre. Die Signaturenlehre in ihrer Tiefe bedeutet, dass es diese tiefste Verbindung zwischen der Substanz und der Prüfung gibt. Wenn Sie das nun verstehen und die Signaturenlehre mit diesem Verständnis gebrauchen, dann vergrößern Sie die eigentliche Prüfung ebenso wie Sie Ihrem Wissen etwas hinzufügen. Ich gebe ein Beispiel. Ich führte eine Prüfung von Lac felinum durch. Ich gebe dieses Beispiel, weil ich die Verfechter vollkommen verstehe, die sagen, dass die Signaturenlehre falsch ist, weil ich ein Mensch bin, der konvertiert ist. Ich war einer der größten Zweifler an allem, was mit irgendetwas jenseits des geschriebenen Wortes zu tun hatte. Ich lehnte alles Abstrakte ab. Es musste in Schwarz und Weiß gezeigt werden, oder es musste in den Büchern oder in dem Material sein, damit ich es akzeptierte, bis ich die Prüfung von Lac felinum machte. Die Prüfung von Lac felinum wurde entsprechend der Hahnemannischen Methode durchgeführt, alle Protokolle wurden verfolgt, und es war eine wundervolle Prüfung. Als wir am Ende der Prüfung zusammen saßen und die ganze Thematik zusammenfassten, erschien ein Wort sehr deutlich als ein Schlüsselmerkmal, und das war das Wort „Prostituierte“. Zum Schluss brachte mein Assistent einige Bücher über das Leben von Katzen. Während sie diskutierten, blätterte ich in den Seiten, denn es beschrieb einen Biologen, der drei Monate damit verbrachte, die ganze soziale Interaktion einer Gruppe von Katzen zu beobachten, die in keiner Weise merkten, dass sie beobachtet wurden. So wurde jeder Aspekt ihres Verhaltens fotografiert, dokumentiert und in Beziehung gesetzt. Er schrieb auch etwas zur Evolutionsgeschichte der Katze. Meine Augen fielen auf diesen Punkt, und ich dachte, dass ich mir irgendetwas einbildete, denn das, was dieser Biologe schrieb, hatte mit Homöopathie nichts zu tun. Was er geschrieben hatte, war, dass die Katze aus der Ägyptischen Wildkatze hervorging. Die Ägyptische Wildkatze war viel größer, riesig, wild, unabhängig, frei. In den Gegenden, in denen sie lebten, wurde das Futter knapp. Ihr einziger Weg zu überleben war, sich der menschlichen Behausung zu nähern, wo es Futter geben würde. Aber wenn sie so kamen, wie sie waren, würden sie getötet werden, da sie Wildkatzen waren. Deshalb mussten sie in einer Weise kommen, die für die menschliche Bevölkerung annehmbar wäre. So wurden sie über Jahre kleiner und verloren ihre Wildheit. Er schrieb, dass dies die einzigen Tiere sind, die sich selbst domestiziert haben. Der Hund, das Schaf, Geflügel, Pferd wurden vom Menschen zu ihrem Gebrauch domestiziert, aber die Katze domestizierte sich selbst für ihr eigenes Überleben. Dann schrieb er, dass sie sich in einem gewissen Sinne selbst prostituiert hat. Als ich das las, traf es mich mit einem solchen Schock, dass es hier etwas ganz Unabhängiges gab, ohne irgendetwas von der Signaturenlehre zu denken, das dasselbe Thema der „Prostituierten“ angab. Hier war jemand, der ganz nah das gesamte Verhalten von Katzen beobachtete und versuchte, ihr Leben und ihren Konflikt zu verstehen, und der genau denselben Konflikt wahrnahm, der in der Prüfung zum Ausdruck kam, was jede Verhaltensweise in der Prüfung und jede Verhaltensweise der Katze so klar werden ließ. Warum sind Katzen so unabhängig, ganz anders als Hunde? Warum bestehen sie auf ihrer Unabhängigkeit? Das ist eine Erfahrung, die ich selbst machte. Als wir einmal in ein Haus zogen, war eine Katze zurückgelassen worden. (Katzen gehören nicht wirklich zu ihrem Besitzer, sondern zu dem Haus, dass sie sich ausgesucht haben. Deshalb können Sie das Haus verlassen und gehen, aber die Katze wird immer dorthin zurückkehren, denn die Katze kam nicht Ihretwegen,

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sondern wegen des Futters.) Da war also diese Katze, die zu jemandem anders gehörte und immer zu dem Haus zurückkam, als wir einzogen, und wir pflegten diese Katze zu füttern. Als ich eines Tages die Milch abstellte, biss die Katze meinen Nagel ab. Danach hielt ich mich jahrelang vollkommen von Katzen fern, bis nach der Prüfung, denn sofort, als ich den Satz las, verstand ich den Grund, warum sie in die Hand, die sie fütterte, beißen würden, denn das war ihr innerer Konflikt; ich habe mich selbst prostituiert, um zu überleben. Deshalb ist das Futter, das ich gebe, das eigentliche Symbol ihres Konfliktes. In diesem Augenblick der Einsicht verstand ich auch, was die Signaturenlehre ist, die innere Geschichte einer jeden Substanz. Daher ist all das, was ich während der Prüfung, in der Chemie, in verschiedenen Themen suche, diese innere Geschichte, und dafür ist die Signaturenlehre ein Symbol, aber wenn sie locker gebraucht wird, verliert sie ihre Betonung und Bedeutung. NT: Gestern erwähnten Sie eine Geschichte mit Misha Norland, Jeremy Sherr und anderen, in der jede Person die Beobachtung eingestand, dass in Prüfungen sogar diejenigen, die kein Mittel einnehmen oder denen Placebo verabreicht wird, deutliche Prüfungssymptome entwickeln. In einem Editorial habe ich mich negativ dazu geäußert, und es gibt sicher auch andere, die geschrieben haben, dass dies eine sehr gefährliche Sache ist, besonders wenn Symptome von diesen Individuen in die Materia medica des Arzneimittels oder sogar in das Repertorium aufgenommen werden. Könnten Sie das kommentieren? Divya: Ich glaube, dass dies ein zweischneidiges Schwert ist. Es ist außerordentlich mächtig, außerordentlich gefährlich. Wenn wir es verstehen und richtig gebrauchen, ist es ungeheuer hilfreich. So wie ich es persönlich gebrauche, habe ich das immer und immer wieder erfahren; da ist eine Gruppe, und besonders wenn sich die Gruppe trifft, dann erleben auch die Menschen, welche die Dosis nicht eingenommen haben, die Energie der Prüfung, und diese drückt sich in den Symptomen aus. Wenn wir uns bewusst bleiben, dass sie Menschen sind und geführt oder in die Irre geführt werden können, ist der beste Weg, um sich dessen sicher zu sein, dass Sie diesen Gruppen sagen, überhaupt keine direkten Gespräche über die Prüfung zu führen, und Sie mit jedem einzeln sprechen. Wenn Sie herausfinden, dass die Symptome der Person, die von der Prüfung erzählt, ohne das Mittel genommen zu haben, exakt mit den Symptomen derjenigen übereinstimmen, die von der Prüfung erzählen, nachdem sie das Mittel genommen haben, ohne das es irgendeine Interaktion gab, bestätigt das für Sie, dass das, was sie erzählen, ihre innere Erfahrung ist. Ich habe immer und immer wieder gesehen, dass es eine Tatsache ist, dass Leute die Prüfung fühlen und erfahren, aber um sicher zu stellen, dass wir nicht in den Bereich des Nichtfaktischen geraten, wo eine Person durch das bloße Zuhören in die Irre geführt und davon eingenommen werden kann, trennen Sie es einfach ab, erlauben Sie ihnen nicht, miteinander zu reden, nehmen Sie ihre Symptome getrennt auf, und bestätigen Sie, ob es aus der Prüfung stammt oder nicht. Das ist der beste Weg. Aber ihre Symptome nicht aufzunehmen, wäre ein schwerer Fehler, denn einige der kraftvollsten Symptome, oder die am besten ausgedrückten solcher Symptome stammen von solchen Personen. Daher glaube ich, wenn wir bzw. die Person, welche die Prüfung durchführt, sehr vorsichtig und analytisch beobachten, ist es in Ordnung, es (das Symptom, A. d. Ü.) einzuschließen. Aber schließen wir es nicht einfach ein, weil wir es glauben. In Frage stellen, aber gleichzeitig anerkennen, dass dieses Energiefeld existiert und diesen Zustand erschafft, und wenn es diesen Zustand erschafft, möchte ich gern, dass es repräsentiert wird, da es existiert. Ich kann Ihnen ein weiteres Beispiel zu demselben Energiezustand aus der Erfahrung geben, denn Energie ist nichts, worüber man diskutieren könnte. Wie ich Ihnen erzählt habe, als stärkster Zweifler glaubte ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts, wenn manche Leute sagten, machen Sie einfach dies oder jenes mit unbestimmten Angaben. Ich bin der strengste

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Verfechter gegen so etwas. Es war während der Prüfung von Lac felinum, und am letzten Tag, als sie beendet war, waren wir alle neun Stunden lang in einem Raum. Dieser Raum war das Schlafzimmer meines Bruders. Als ich aus dem Zimmer ging, wollte ich den Wortlaut der Prüfung aufschreiben, und ich merkte, dass ich es nicht konnte, ich war blockiert. So ging ich, ohne darüber nachzudenken, in das Zimmer zurück, begann zu schreiben, und ich konnte schreiben. Ich dachte: „Was ist das?“ So ging ich wieder hinaus, und wieder konnte ich nicht schreiben, deshalb sagte ich: „Was passiert hier?“ Einfach durch einen Impuls, und ich weiß, dass das wahr ist, denn es lag kein Gedanke darin, ich war im Augenblick der Erfahrung, und ich sagte: „Was ist das?“ Ich dachte, in Ordnung, und hielt die Fenster und Türen dieses Zimmers geschlossen. Mein Bruder kam zwei Stunden später. Er ist Steuerberater. Er war völlig erschöpft. Ich sagte: „ Ich brauche es, dass du heute Nacht in diesem Zimmer schläfst, ohne die Fenster zu öffnen.“ Er sagte: „Was für ein Unsinn“, aber er stimmte zu und schlief dort, ohne die Fenster zu öffnen. Auf jeden Fall bekam ich um fünf Uhr morgens einen Anruf von ihm. Ich war verheiratet, deshalb lebte ich in meinem eigenen Haus. Er sagte: „Erzähl´ mir, was es mit dieser ganzen Sache auf sich hat.“ Ich fragte: „Was ist das Problem?“ Er sagte: „Erst erzählst Du mir, was hier passiert.“ Ich fragte ihn, ob er irgendeinen Traum gehabt hätte. Er sagte: „Ich werde dir den Traum nicht erzählen, bevor ich weiß, was passiert.“ Dann musste ich ihm ein bisschen erzählen, „Es geht um eine Prüfung.“ Zuerst sagte er, dass er mir den Traum nicht erzählen würde. Er ist mein jüngster Bruder und das in indischen Verhältnissen (A.d.Ü.: d.h., dass er seiner älteren Schwester so etwas eigentlich nie erzählen würde). Schließlich sagte er, dass er einen Traum von einer Gruppe Prostituierter gehabt hätte, und dass er mit ihnen in einer Bar gewesen wäre. „Ich habe niemals einen Traum wie diesen gehabt. Woher kam er?“ fragte er. Er hatte nichts mit der Prüfung und auch nichts mit Homöopathie zu tun und keine Ahnung, was ich machte. Es war ausschließlich die Energie des Zimmers, in dem wir neun Stunden gesessen hatten. Daher ist dies eine Erfahrung. Demzufolge kann ich nicht anders als die Macht dieser Energie zu akzeptieren, aber ich würde sagen, gebrauchen Sie sie mit Vorsicht. NT: Also gibt es den wissenschaftlichen Aspekt und den energetischen oder Quantenaspekt. Divya: Absolut. Zu verneinen, dass er existiert, wäre das zu tun, was Einstein tat. Er öffnete die Tür zur Quantenphysik und verbrachte dann den Rest seines Lebens damit zu sagen, dass sie nicht existiert. Das ist nur Stagnation, aber kein Wachstum. NT: Ich merke, dass Sie gewöhnlich Miasmen ignorieren, die jetzt ein solch zentraler Aspekt in Rajans Ansatz sind. Divya: Sie versuchen, in ein Hornissennest zu stechen. Nun, ich möchte das wirklich beantworten. Die Grundlage der Arbeit, die wir tun, die vielleicht alle von uns einschließt, ist die Idee, zu dem Wahnzustand zu gelangen, welcher der Zustand hinter den Symptomen des Gemüts und des Körpers ist. An diesem Punkt arbeiten wir ganz individuell in unserer Praxis. Wenn wir auf Punkt „A“ stehen und zu Punkt „B“ kommen müssen, kann das Ziel dasselbe sein, aber es könnte unterschiedliche Wege geben, um denselben Punkt zu erreichen. Wenn Leute arbeiten, ist es individuell möglich, dass sie verschiedene Strecken entdecken, und dann arbeitet jeder an seiner unterschiedlichen Strecke, um sie zu perfektionieren, und ich glaube, dass es das ist, was mit Rajan und mir geschieht. Ich bin seine Studentin gewesen und bin es noch in großem Ausmaß. Mein ganzes Verständnis, meine Grundlage ist auf dem aufgebaut, was ich von ihm gelernt habe. Meine ganze Entwicklung, meine Überzeugung von der Homöopathie stammt von dem, was ich von ihm gelernt habe. Dann kommt ein Punkt, wo Sie nicht mehr nur ein Student sind, sondern ein

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individueller selbständiger Praktiker, und Sie entwickeln sich durch eigene Erfahrungen und Misserfolge, Sie finden Ihre eigene Methode, die Sie verfolgen und verfeinern. Er fand eine andere Methode, um sie zu verfeinern und weiter daran zu arbeiten. Nun sehen wir beide eigenständig die Methode des anderen. Wir respektieren und schätzen die Methode des anderen. Aber wir haben uns entschieden, das zu tun, was wir tun, denn das ist der einzige Weg, um eine besondere Sache zu perfektionieren. Es macht Spaß, wenn ich das Miasma in einem Fall klar erkennen kann. Mein individueller Zugang ist, dass ich, wenn das Miasma klar für mich heraus kommt, es als Symptom nehme. Ich suche nicht nach dem Miasma, aber wenn es heraus kommt, ist es ein wichtiges Symptom des Falles für mich. So passiert es sehr oft, dass ich eine klare Vorstellung von dem Miasma habe und denke: „Oh, das ist das Miasma in diesem Fall, soweit bin ich mir sicher.“ Jedoch arbeite ich auf meine Weise und komme zu dem Wahnzustand und dem Arzneimittel. Dann greife ich zum Telefonhörer und sage: „In dieser Familie, welches Mittel glaubst du, ist dieses Miasma?“ und sehr oft passt es zusammen, es ist synchron. Das bestätigt nur, dass beide Wege richtig sind. Sie sind verschieden, aber sie erreichen dasselbe Ziel. So wie ich es zu den Studenten halb im Spaß, halb ernst sage, ist einer der Nachteile, ein Lehrer zu sein, der, dass wenn man eine bestimmte Methode lehrt, sie besser perfektioniert und anwendet. Daher muss man seine Methode anwenden. Vielleicht schränkt sie ein. Als Student der Homöopathie oder als ein anderer Homöopath, der zuhört, und versucht, sie aufzunehmen, wird man durch diese Methode nicht eingeschränkt. Sie können jeden Ansatz aufgreifen und in seiner Tiefe und Perfektion verstehen und auswählen, wann Sie ihn anwenden möchten. Ich denke, dass es Fälle geben könnte, die am besten durch den miasmatischen Ansatz bearbeitet werden könnten, vielleicht gibt es einige Fälle, die am besten durch meine Methode und möglicherweise wieder andere, die am besten durch Jans (Jan Scholten) Ansatz bearbeitet werden könnten. Wenn Sie das verstehen und sehen und differenzieren, dann werden Sie bessere Verschreiber sein als wir. Also ist das mein Ansatz, ich ignoriere den anderen nicht, es ist nicht etwas, was ich instinktiv mache, sondern etwas, wofür ich mich entschieden habe, weil ich diesen beenden will. Vielleicht kommt das Miasmenthema einfach, wenn ich voranschreite, und trifft es, und dann werde ich mich ihm ganz zuwenden. Im Moment erscheint es mir nicht als die Methode, die ich im Augenblick ausüben will. Ich weiß nicht, was es hinzuzufügen gibt. Ich bin sicher, dass es mehr gibt. Dann möchte ich wissen, vielleicht ist das auch ein Teil meiner Natur, dass ich die Sache kennen lernen möchte, wenn sie als Erfahrung eintritt, denn dann weiß ich, dass sie nicht aus einem intellektuellen Gedanken rührt, sondern von dem stammt, was wahr ist. Deshalb hätte ich es lieber, wenn es mir auf diese Weise passiert, als es als intellektuelle Sache zu nehmen und „A“ plus „B“ zusammenzufügen. NT: Es scheint, als ob für Sie der „Zustand“ selbst das Ziel ist und vielleicht andere intellektuelle Strukturen dem im Weg stehen. Divya: Ja. Vielleicht ist es der Unterschied in der Arbeit, der Unterschied von Persönlichkeiten, da ist immer der kleine individuelle Teil im Homöopathen ebenso wie in unseren Patienten, und genauso wie wir die Unterschiede zwischen unseren Patienten feiern, so denke ich, dass es in Ordnung ist, diesen Unterschied zwischen Homöopathen zu feiern, so lange wir ihn mit Diskretion gebrauchen und den Ansatz des anderen respektieren. NT: Einer der wiederkehrenden Gesprächspunkte, die ich während Ihrer Seminare höre, ist das Thema sehr langer Fallaufnahmen von drei oder mehr Stunden. Eine der Fragen, die aufgeworfen werden, betreffen die finanzielle Tragbarkeit einer solchen Methode. Divya: Ich werde diese Frage zweifach beantworten. Erstens, wenn es die Notwendigkeit der Stunde erfordert, den Fall in kurzer Zeit zu behandeln, arbeite ich damit, denn es gibt Zeiten,

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bei einem akuten Geschehen, in denen ich dieselbe Methode in zwanzig Minuten angewendet habe. Der Vorteil, sie in ihrer Tiefe verwendet zu haben, liegt darin, dass ich in diesen zwanzig Minuten weiß, ob ich das Ende erreicht habe oder nicht. So perfektioniere ich möglicherweise die Methode, die ich den Leuten vielleicht geben könnte, aber auf der anderen Seite genieße ich persönlich noch den Freiraum zu wissen, alles abgedeckt und keine Abkürzungen benutzt zu haben. Ich kann eine Methode von Abkürzungen perfektionieren, worüber ich auch froh bin, es zu tun, aber ich würde es immer noch vorziehen, diese eine zu verwenden. Was die finanzielle Tragbarkeit betrifft, wenn ich lange Zeit mit den Klienten verbringe: wenn Sie einen guten Erstbesuch hatten, können Sie sich mit Follow-ups sehr viel mehr Zeit lassen, und Sie müssen die Person auch nicht für einen Folgeanamnesetermin bestellen und noch mehr Zeit aufwenden. Diese extra einundeinhalb Stunden, die Sie jetzt aufbringen, ersparen Ihnen vielleicht fünf oder sechs Stunden in den nächsten sechs Monaten. Deshalb denke ich, dass es sich finanziell immer noch ausgleicht. Wenn Sie Ihren finanziellen Standpunkt von der heutigen Situation aus betrachten, ja, dann mag es die Anzahl der Fälle beschränken, die Sie sehen können, aber wenn Sie ihn basierend auf den Follow-ups betrachten, können Sie ein kürzeres Follow-up machen, wenn Sie diesen Punkt erreichen. Wenn Sie diesen Punkt nicht erreicht haben, dann versuchen Sie es bei jedem Follow-up, und daher sind ihre Follow-ups länger, weil Sie sich immer noch abmühen. NT: Was ist damit, diesen ersten Fall über mehrere Sitzungen hinweg anzugehen, oder würde das die Kontinuität unterbrechen? Divya: Nein, das tut es nicht. Es dauert nur fünfzehn Minuten, um den Patienten zu diesem Punkt zurückzubringen. Erzählen Sie mir, was seit dem letzten Mal passiert ist, einige Träume, einige wichtige Ereignisse, und der Patient kommt sehr schnell zu diesem Punkt zurück. NT: Glauben Sie, dass Sie aufgrund von Erfahrung in der Lage sind, schon frühzeitig während des Interviews zu erkennen, wo der Patient steht? Divya: Mit der Erfahrung, die ich jetzt habe, komme ich sehr oft schon in den ersten fünfzehn oder zwanzig Minuten auf das Mittel, aber ich erlaube nicht, dass ich davon voreingenommen werde, ich genieße es immer noch abzuwarten, um zu sehen, ob sich vielleicht noch etwas ändern könnte. NT: Die Muster in der menschlichen Natur sind so, dass es scheint, dass Sie durch das Zusammensitzen mit einer Person nach der anderen (recht schnell A.d.Ü.) an den Punkt kommen, wo Sie sehen können, worum es bei diesem Patienten geht. Divya: Sie können, es ist nur so, dass ich glaube, dass es zu Beginn der Praxis gefährlich ist. Ebenso denke ich, ist es interessant, dass Sie zu Beginn der Praxis von Natur aus sicherlich mehr Zeit haben, also warum diese nicht produktiv nutzen. Wenn Sie an den Punkt kommen, wo Sie mehr Patienten haben, können Sie die Erfahrung nutzen, die Sie in dieser Extrazeit gewonnen haben, um die schnelleren Methoden herauszufinden. NT: Können Sie eine Synopse dazu anbieten, was Sie hinsichtlich der Potenz verstanden haben. Divya: Es ist dieselbe grundlegende Idee, wie wir sie bereits kennen, dass die Potenz höher sein muss, wenn die Intensität des Zustandes zunimmt. Das Einzige ist, dass, so einfach sich dieser Satz anhört, die Intensität des Zustandes, wie er vom Patienten ausgedrückt wird, sich tatsächlich von der Art, wie er sich anhört, unterscheidet. Wir haben so viele Patienten in der Verneinung, welche die Intensität des Zustandes nicht auf

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direktem Wege ausdrücken, sondern durch die Verneinung. Daher ist das Problem, dass wir die Intensität des Zustandes, wie sie der Patient ausdrückt, verstehen müssen. Die andere Sache ist die exakte Eichung dessen, was wir unter einer großen Intensität verstehen? Was meinen wir, wenn wir sagen: „Wenn die Intensität groß genug ist“. Daher gibt es in diesem Wissen, ob eine Potenz hoch genug ist, eine Grauzone. So wie ich sagte, glaube ich an die Grundlage der Prüfungen. Wenn Sie es nicht kennen, prüfen Sie es. Also prüften wir die Potenz. Ich wählte zwei gut bekannte Arzneimittel, um die Variable des Mittels selbst zu eliminieren, und wir wählten Calcium carbonicum und Natrium muriaticum in zwei verschiedenen Fällen und in zwei getrennten Gruppen. Jede Gruppe erhielt eine 30, 200, 1 M oder 10 M nach der Doppelblindmethode. Ich wusste, dass es Calcium carbonicum war, obwohl ich nicht wusste, welche Gruppe welche Potenz bekam. Das ganze Material wurde an mich zurückgegeben. Ich versuchte, die gemeinsamen Themen herauszufinden und zu erkennen, was welche Potenz war. Zu meiner Überraschung war das, was ich aufgelistet hatte, exakt das Gegenteil von dem, was ich wahrgenommen hatte. Die Leute, von denen ich gedacht hatte, dass sie eine 30 bekommen hätten, waren eine 10 M oder 1 M, und die Leute, bei denen ich eine 1 M angenommen hatte, waren tatsächlich eine 30. Daher fragte ich: „Was geht hier vor, was passiert hier?“ Die fundamentale Logik, die dahinter liegt, dass die Intensität eines Zustandes eine höhere Potenz erfordert, wenn sie stärker ist, kann nicht falsch sein. Das ist zu logisch, das ist die Basis, also was passiert hier? So untersuchte ich ein bisschen mehr, untersuchte die Prüfer und bemerkte, dass wir bei der Bedeutung der Intensität des Zustandes sehr oft annehmen, dass es eine große Intensität bedeutet, wenn der Patient seinen Zustand direkt ausdrückt, und eine 1 M geben. Wenn ein Patient seinen Zustand nicht direkt ausdrückt, würde das bedeuten, dass sein Zustand nicht so intensiv ist, und wir würden ihm eine 30 geben. Ich stellte fest, dass dies nicht stimmt. Angenommen, ich habe Angst vor Hunden, die nicht schlimm ist, die 30 ist, so kann ich vielleicht damit umgehen und Sie Ihnen gegenüber ausdrücken und sagen: „Ich habe Angst vor Hunden. Sie ist nur ein wenig da, aber sie ist da.“ Dann habe ich eine 200, ich kann immer noch damit umgehen, aber sie ist stärker. Deshalb kommt eine gewisse Verneinung hinzu, ich drücke sie nicht in ihrer Gesamtheit aus, sondern werde nur sagen: „Ich mag sie irgendwie nicht, ich habe ein bisschen Angst vor ihnen, zwar nicht so sehr, aber ich fürchte mich ein bisschen.“ Wenn die Furcht so groß ist, dass ich nicht zu einer Straße mit einem Hund gehen kann, aber fünfunddreißig Jahre alt bin, kann ich nicht jedes Mal schreien, wenn ich einen Hund sehe. Ich werde als geisteskrank angesehen, und ich bin Calcium carbonicum. Ich mache mir Sorgen darüber, was die Leute sagen werden, also was soll ich machen? Ich meide einfach jede Straße, die einen Hund hat. So bekomme ich nie Angst vor Hunden. Ich rede nicht darüber, weil ich nie in diese Situation komme. Ein 200 würde dorthin gehen, weil ihre Furcht so ist, dass sie damit umgehen kann, aber eine 1 M würde diese Situation vermeiden. Daher ist es dort, wo eine Verneinung vorliegt, eine 1 M Potenz. Wenn die Symptome direkt ausgesprochen werden wie in der Prüfung, ist es eine 30, da die Prüfungen alle in der 30 sind. Wenn der Patient Ihnen direkt erzählt: „Ich habe Angst vor Verletzungen, Schmerz, Hunden, Leiden,“ würde man sagen: „Wow! Was für ein intensiver Calcium carbonicum Zustand, gib ihm eine 10 M.“ Tatsächlich ist es eine 30. Wenn er es verneint, kommt es viel später als verstecktes Gefühl heraus. Was müssen Sie verstecken? Sie müssen ein intensives Gefühl in Ihnen verstecken. Wenn das Gefühl nicht so intensiv ist, müssen Sie es nicht verstecken. Deshalb war die ganze Interpretation verschieden von diesem Verständnis von Intensität. Die Art, dass Leute es verneinen, wird eine 1 M. Bei einer 10 M sagen sie nicht, dass sie Hunde fürchten, sondern: „Ich hasse Hunde. Hunde übertragen Infektionen. Sie sind Wesen, die gehasst und verachtet werden müssen.“ So geht es, aber das innere Gefühl ist immer noch

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Furcht. Die Intensität ist so groß, dass Sie vielleicht überall Hunde sehen, und Sie würden möglicherweise SCHREIEN, aber das können Sie nicht machen, außer Sie sind geistesgestört oder ein Kind. Wenn Sie ein Kind sind, bekommen Sie vielleicht das Gefühl, sehr, sehr erschreckt zu sein, aber ein geistig gesunder Erwachsener kann nicht jedes Mal aufspringen, wenn er einen Hund sieht. Es ist ein wenig absurd, nicht wahr? Deshalb muss er einen anderen Bewältigungsmechanismus anwenden, und hier werden wir oft in die Irre geführt. Deshalb müssen wir die Bewältigungsmechanismen jeder Potenz verstehen, und diese zeigen Ihnen die Intensität. Je mehr Sie kompensieren müssen, desto stärker muss das Gefühl sein. NT: Das nächste Thema sind Kinder. Divya: Meine Kinder? NT: Wie alt sind sie? Divya: Vier und sechseinhalb. NT: Wie arbeiten Sie mit Kindern, die sehr klein sind? Divya: Es gibt zwei Aspekte. Eins (ein Kind, A. d. Ü.) ist ein Patient, der redet, und eins einer, der nicht redet. Bei dem Patienten, der spricht, rede ich einfach mit ihnen, da sie in ihrem Zustand leben. Deshalb würde ich sie z. B. bitten zu malen, was immer ihnen einfällt, und ich würde einfach meine Fragen dazu stellen. Ich würde einfach frei assoziieren. Oder ich würde einfach anfangen, mit ihnen zu reden, und mit dem, was sie sagen, frei assoziieren. Sagen wir, im Alter von zwei, zweieinhalb. Wenn sie Wörter aussprechen können, können sie es Ihnen erzählen. Also sprechen Sie mit der Mutter oder den Eltern und bekommen den Ausdruck, denn die Eltern werden ihnen oft die Ausdrucksweisen des Kindes erläutern. Dann sprechen Sie mit dem Kind, um an das zugrundeliegende Gefühl zu kommen. Ich würde ebenso mit der Mutter oder den Eltern sprechen und sie zuerst nach der Schwangerschaftsvorgeschichte der Mutter fragen und schauen, ob dieselben Wörter in den Ausdrucksweisen des Kindes und der Mutter vorkommen, in Gewohnheiten, speziellen Verhaltensweisen. Wenn das immer und immer wieder vorkommt, würde ich nach dem Gefühl der Mutter fragen. Ich würde auch fragen, wem das Kind ähnlich ist. Fragen, warum sie glauben, dass es der Mutter oder dem Vater ähnlicher ist. Wenn dabei bestimmte Wörter oder Gefühle ausgedrückt werden, würde ich weiter nach der Geschichte der Mutter oder des Vaters fragen und die beiden in Verbindung zueinander setzen. Wenn das Kind noch nicht spricht, erfragen Sie die Ausdrucksweisen von den Eltern und die Schwangerschaftsvorgeschichte, und gewöhnlich gibt es in diesem Alter einen Zusammenhang mit der Schwangerschaftsvorgeschichte der Mutter, dem Naturell der Mutter oder des Vaters. Bis zu eineinhalb sind sie vielleicht noch nicht so unterschiedlich, sondern mehr die Ausdehnung eines der Elternteile oder des Schwangerschaftszustandes. Aber auch dann bin ich vorsichtig und sehe, ob solch ein Zusammenhang besteht, denn nicht jedes Kind drückt diesen Zustand aus. Es gibt Fälle, die nichts mit der Mutter oder dem Vater oder dem Schwangerschaftszustand zu tun haben. Deshalb bin ich so vorsichtig zu sehen, dass diese Sache existiert und danach zu suchen, aber sehr häufig besteht dieser Zusammenhang. Ich finde Kinderfälle sehr einfach, da sie in diesem Wahnzustand leben und kein Problem damit haben, darüber zu reden, deshalb ist es keine Schwierigkeit, ihn herauszufinden. NT: Ich bin neugierig, was Ihre homöopathische Ausbildung in Indien betrifft, und wie Sie die homöopathische Ausbildung vielleicht jetzt nach jahrelanger Erfahrung sehen. Divya: In Indien haben wir einen Hochschulkurs, der dem bestehenden allopathischen Kurs entspricht. Wir haben die Grundlagenfächer Anatomie, Physiologie, forensische Medizin, Pathologie, Chirurgie, Gynäkologie, alles, aber vom ersten Tag an beginnt die

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Arzneimittellehre. Das Repertorium fängt im zweiten Jahr an. Die klinische Ausbildung, in der Sie Ihre Lehrer bei der Fallbearbeitung beobachten, beginnt im zweiten Jahr. Daher denke ich, dass die Grundlage des Wissens, die wir erhalten, außerordentlich vernünftig und besonders gut darauf ausgerichtet ist, uns zuerst zu guten Ärzten und dann zu guten Homöopathen auszubilden. Ich glaube, das ist wichtig, denn wir müssen die Krankheit in den Begriffen der allopathischen (modernen) Medizin, der Pathologie und Prognose verstehen, wir müssen verstehen, was geschieht. Wir müssen auch jede alternative Hilfe kennen, die damit einhergehen kann, nicht arzneiliche, sondern andere. Dadurch sind wir fähig, das, was unsere Mittel zu diesem Zeitpunkt bewirken, zu bewerten. Ich glaube, das zu wissen gibt Ihnen ein Selbstvertrauen, mit jeder Notfallsituation umzugehen. Deshalb denke ich, dass die Grundlage daher stammt. Wir haben die Arzneimittellehren, die Repertorien, wie Boger, Nash und Kent, gelesen, und wir mussten sie kennen. Wir mussten wissen, wo jede Rubrik war, und wir wurden darüber geprüft. Wir bekamen eine Rubrik, und wir hatten ein paar Minuten, um herauszufinden, wo sie im Repertorium stand. Der Gedanke war also, dass wir das Wissen darüber haben sollten, was wo ist. Wenn Sie wissen, dass es existiert, wissen Sie, wann Sie danach suchen wollen. Die Idee war, dass wir nicht alle Mittel wissen mussten, die darin standen, aber wir mussten wissen, dass solch eine Rubrik existierte, und hier war der Punkt, wo sie zu finden war. Deshalb war diese Art der Ausbildung ungemein grundlegend, um diese solide Basis aufzubauen, und wenn jemand weitergehen will, sind Seminare mit dieser soliden Basis wundervoll, denn ich denke, dass dies die Wachstumsebene ist. Ich glaube nicht, dass ich auf dem College in der Homöopathie gewachsen bin, ich denke, das kam danach, aber die Grundlage stammte daher. Ein Gebäude, das ohne Fundamente gebaut wird, ist schwach. Ich habe das Gefühl, dass ein Manko oder einer der Punkte, in denen Homöopathen im Westen oder in Europa dieses Selbstvertrauen vielleicht fehlt, in dem Mangel an diesem Wissen liegt. Wenn sie sich davor fürchten, in unbekanntes Gebiet vorzudringen, liegt es daran, dass sie nicht genug von dem Bekannten in irgendeinem Fall wissen. Deshalb ist die Idee von Bekanntem und Unbekanntem verschwommen. Deshalb ist die Furcht, dort einzudringen, viel größer. Ich denke daher, dass es in dem Wissen oder in der Ausbildung irgendwie einbezogen werden muss, wo eine solide Grundlage ist oder das Wissen über die Grundlagen darüber, was existiert und wo danach zu suchen ist. Dann haben Sie das Selbstvertrauen, vorwärts zu gehen. NT: Können wir das Thema Träume besprechen? Dieses kann ein Punkt für Verwirrung und Kontroverse sein. Wie werden Träume am besten eingeschätzt und gebraucht? Divya: Die Träume drücken den Zustand des Unterbewusstseins aus, den der Patient verdrängt hat. Er konnte damit nicht umgehen, und deshalb muss er tief und intensiv sein. Dann versucht das Unterbewusstsein dem Menschen zu helfen, indem es ihn (den Zustand, A. d. Ü.) heraus bringt. Es gibt also zwei oder drei Arten von Träumen. Das Erste sind Träume, die mit alltäglichen Ereignissen zusammenhängen, aber normalerweise werden diese verdreht. Der Patient verändert sie in seinem Traumzustand irgendwie. Diese Veränderung ist sehr wichtig, da sie den Zustand ausdrückt. Deshalb würde ich herausfinden, worin der Unterschied zwischen dem, was tatsächlich passierte, und dem, was der Patient im Traum sah, bestand. Es gibt diesen feinen Unterschied zwischen dem, was im Traum geschah, und dem, was normalerweise existiert. Dann möchten wir etwas zu ihrem Gefühl in dem Traum und dem Gefühl in einem sehr weit gefassten Sinn wissen. Beispielsweise mag der Patient sagen: „Ich habe in dem Traum überhaupt nichts gefühlt.“ Dann würden Sie fragen: „Wenn eine solche Situation, die Ihnen

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im Traum widerfahren ist, in der Realität passiert wäre, was würden Sie fühlen?“ Dann nehmen Sie das Gefühl in seiner großen Tiefe. Dann nehmen Sie jeden Aspekt des Traums, jede Person in dem Traum. Z. B. sagt der Patient: „Ich sah eine Person, die in meinem Leben in der zehnten Klasse war.“ „Dann erzählen Sie mir von dieser Person, was war das Hervorstechendste, an das Sie sich bei dieser Person erinnern können?“ Welche Bedeutung hat diese Person im Leben des Patienten? Dann wird der Patient vielleicht die Eigenschaft dieser Person aufzeigen, welche die Symptome oder den Zustand dieses Falles sehr deutlich verbindet. Also kann jeder einzelne Bestandteil des Traums wichtig sein. Jemand mag sagen: „In meinem Traum fuhren sie mit einem Heißluftballon.“ „Mit wem fuhren Sie in dem Ballon?“ „Warum fuhren Sie mit dem Heißluftballon?“ „Wie war die Erfahrung, damit zu fahren?“ „Wie hängt das mit Ihrem Leben zusammen?“ In Träumen haben Zeit und Raum keine Bedeutung. Wenn wir das erkennen, verstehen wir, dass das, was im Unterbewusstsein in einzelnen Fragmenten vorliegt, im Traum zu einem Ereignis zusammengefasst wird. Deshalb müssen Sie, um die verschiedenen Aspekte des Unterbewusstseins zu verstehen, den Traum ebenso zerlegen. Sie betrachten also den Traum in seiner Gesamtheit, denn das Unterbewusstsein fügt ihn wunderbar auf eine ebenfalls signifikante Weise zusammen. Dann zerlegen Sie ihn in seine Einzelbestandteile und untersuchen jeden einzelnen Bestandteil auf seine Bedeutung. Dann gibt es die Träume, die Symbole haben. In diesem Fall würde ich hinsichtlich der Symbole abstrahieren, denn die Symbole sind Symbole des Unterbewusstseins. Ich würde frei mit ihnen assoziieren, um diese Welt zu öffnen und zu dem Wahnzustand zu gelangen. Daher bringen diese Patienten gewöhnlich in ihrem bewussten Leben Symptome zum Ausdruck, die von dem Zustand stammen, der in dem Traum liegt. Also analysieren Sie den Traum auf diese Weise in seiner Gesamtheit, um diese Tür zu öffnen. NT: Der erste Punkt, worauf Rajan immer Wert legt, ist: „Ignoriere niemals einen Taum, und interpretiere niemals einen Traum.“ Divya: Absolut, denn jeder Traum, die Bedeutung jedes Traums ist, was sie ist und für den Einzelnen bedeutet, und Sie können niemals annehmen, das zu wissen, denn keine zwei Träume sind gleich, und die Bedeutung von ähnlichen Träumen in verschiedenen Individuen würde niemals gleich sein. NT: Also geht der Gebrauch des Repertoriums, die wortgetreue Suche nach dem Traum, ziemlich an dem Punkt vorbei, den Sie herausgestellt haben. Es geht überhaupt nicht um wörtliche Übereinstimmung. Divya: Sie werden zwangsläufig fehlschlagen, und das trifft auf jedes Symptom zu. Sie bekommen ein schönes Symptom mit einer schönen Modalität, und das Mittel wirkt nicht. Warum? Wenn es nicht mit dem Zustand übereinstimmt, haben Sie nicht die richtige Rubrik gewählt. NT: Also welche Rolle spielt die Repertorisation jetzt für Sie? Wenn Sie keine Rubriken nehmen, die den Zustand repräsentieren, dann repertorisieren Sie nur Ausdrucksweisen. Divya: Richtig. Sie nehmen die mathematische Totalität und nicht die tatsächliche Totalität. Deshalb können Sie falsch liegen. Auf dem homöopathischen College wurde uns beigebracht, dass der Fall aus drei Teilen besteht: der Fallanalyse, der Bewertung des Falles und schließlich der Übertragung auf die Rubriken. Ich mache das, aber mit einem kleinen Unterschied. In der Fallanalyse liegt das Verständnis von „Dies ist der innere Zustand, dies sind die Wörter des inneren Zustandes“. Die Bewertung ist dann einfach, denn Sie legen das Hauptgewicht zuerst auf die Symptome des inneren Zustandes, des inneren Kreises, dann auf

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den nächsten Kreis, dann auf das Äußere. Sobald Sie das tun, wissen Sie, dass die wichtigsten die wenigen ersten, die des inneren Kreises, sein werden. Das ist also die Bewertung. Schließlich ist der letzte Schritt die Übertragung auf die Rubriken. Wenn Sie es auf diese Weise machen, gibt es keine Verwirrung. Deshalb empfehle ich, auf irgendeine Weise zu diesem Zustand zu gelangen, und ich benutze die Kreismethode, um sicherzugehen, dass ich weiß, wenn ich Rubriken auswähle, warum ich sie auswähle. Ich wähle Rubriken, weil sie die Rubriken des Zustandes und nicht bloß der Ausdrucksform sind. NT: Gestern sagten Sie, dass sich die Ausdrucksform ausdehnt. Divya: Der Zustand wird sich nicht verändern. NT: Nun, wie kamen Sie in Ihrer Entwicklung als Homöopathin zu dem Punkt, an dem Sie den mehr mathematischen Ansatz beiseite ließen und begannen, tiefer einzutauchen? Divya: Wie ich erwähnte, machte die Homöopathie für mich einen großen Sprung, als ich begann, mit Rajan Sankaran zu arbeiten. Ich war eine Studentin, und der Zeitpunkt, an dem er begann, mich als Studentin auf eine individuelle Weise zu unterrichten, war eine Zeit, in der ich einen Punkt der Ernüchterung erreicht hatte. Ich sah, wie Symptome auf eine mathematische Weise benutzt wurden, womit ich kein Problem hatte, außer dass es nicht funktionierte. Deshalb war ich mir im Klaren darüber, dass wir das hohe Ideal bei keinem Patienten erreichen. Die Leute erfuhren eine gewisse Erleichterung, aber nichts bewegte sich. Wo wir davon reden, dass eine Person das höhere Ziel der Existenz erreicht, geschieht es einfach nicht. Also warum geschieht es nicht? Das bedeutet, dass die Homöopathie nicht wahr ist! An diesem Punkt begann Rajan, am College zu unterrichten. Ich schätze, er muss gedacht haben, diese hat genug Grips oder Geist, dass er anbot, mich ein bisschen in der Klinik zu unterrichten. Das war die Zeit, in der ich sah, dass es etwas Tieferes als Symptome gibt. Dann war da natürlich meine eigene Erfahrung, meine eigene Praxis. Einmal sah ich eine Frau, die seit zehn Jahren stark blutende Hämorrhoiden hatte, sie hatte schöne Symptome. Sie hatte aus Liebe geheiratet (in Indien bezieht sich dies auf eine nicht-arrangierte Ehe, Hrsg.), aber sie hatte eine komplette Abneigung gegen Sex. Dann hatte sie Verlangen nach Kartoffeln. Sie hatte ein herabdrängendes Gefühl. Es war also wunderbar, ich gab Sepia, und es wirkte hervorragend. Eine Gabe, und zehn Jahre Leiden verschwanden. Dann hatte ich eine andere Frau mit denselben Symptomen und etwas anderer Pathologie, und ich gab Sepia, und nichts passierte. Natürlich begann ich zu fragen, was geschieht hier? Warum wirkt es in „x“ und nicht in „y“? Da muss es einen Punkt geben, den ich verfehlt habe. Sie haben eine Gruppe von Symptomen, es wirkt in „a“ und nicht in „b“. Offensichtlich wählen Sie die falsche Gruppe von Symptomen, aber wie wissen Sie, dass sie falsch ist? Plötzlich stellt sich heraus, dass Sie eine oberflächliche Gruppe benutzen, dass es etwas Tieferes gibt, und dann entwickelt sich die ganze Sache daraus. NT: Werden Sie in der nächsten Zeit ein Buch schreiben? Divya: Ja, das werde ich, und ich schätze, dass ich dann aufhören kann zu reden oder vielleicht zu anderen Dingen übergehen kann. NT: Nun, was ist Ihre Vision oder Ihr Verständnis vom Herzen der Homöopathie? Divya: Für mich liegt das Herz der Homöopathie in der Tatsache, dass wir als menschliche Wesen alle individuell sind und zu einer kollektiven Gruppe gehören; dass die Menschheit nach einem gewissen Grad an Perfektion strebt. Wir werden jedoch eingeschränkt, zurückgehalten, begrenzt, und sind aufgrund bestimmter Probleme nicht in der Lage dazu, was wir in der homöopathischen Sprache als unseren „Zustand“ bezeichnen. Unser Zustand,

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der uns nicht erlaubt, wie Hahnemann es darstellt, die wahre Ausdrucksform unseres Daseins zu erreichen. Unsere Unfähigkeit, das zu tun, uns frei auszudrücken, zu bewegen, zu wachsen, ist das, was wir als unsere „Krankheit“ ausdrücken. Ich fühle auch ... ich möchte nicht bombastisch klingen ... aber ich glaube, dass die Unordnung, die wir wahrnehmen, wenn wir das, was wir um uns herum sehen, als Unordnung bezeichnen wollen, und wenn wir von der Situation in unserem Leben, in unseren Ländern, unserer Welt sprechen, den individuellen und kollektiven Zuständen entspringt, die wir alle haben. Deshalb denke ich, dass das Herz der Homöopathie darin liegt, jedes Individuum von seinem begrenzenden Zustand zu befreien, so dass es in persönlichem Wachstum voranschreiten und wirklich den ganzen Zweck seines Daseins sowie kollektiv in der Menschheit erreichen kann; wir können diesen Punkt oder diese Entwicklungsstufe erreichen, die unser natürliches Ergebnis sein sollte. Wenn wir das machen, würden die Probleme, Konflikte, die destruktiven Themen, die wir in unserer Welt finden, ebenfalls verschwinden, denn wir erschaffen sie, und wenn wir uns in einem Zustand der Gesundheit und Freiheit befinden, werden sie zwangsläufig verschwinden. Deshalb glaube ich, dass das Herz der Homöopathie darin besteht, jedes Individuum zu einem gesunden, glücklichen Individuum und die Welt zu einem besseren Platz zum Leben zu machen. NT: Sie sagten gestern, dass bei Hahnemann Sulphur, Lycopodium, Calcium carbonicum so viele Individuen heilten, wohingegen sie in unserer Zeit keine so große Spanne abdecken. Divya: Nein, jetzt sind es mehr Uranium, Plutonium! NT: Der innere Zustand des Individuums reflektiert den gestörten Zustand der Menschheit als Ganzes. Divya: Absolut. Wissen Sie, dies trifft ebenso auf Epidemien zu. Wenn Sie eine epidemische Krankheit haben, bei der jeder betroffen ist, verbindet sich der Zustand der Epidemie mit der Situation, die außen vor sich geht, und ist kraftvoll genug, um jedes Individuum zu beeinflussen. Wenn Sie das Arzneimittel als den Genius verstehen, ist es mit dem verbunden, was dieser Gruppe widerfährt. Was außen passiert, ist ein Spiegelbild dessen, was innen geschieht, und was innen passiert, ist ein Spiegelbild dessen, was außen geschieht. NT: Haben Sie irgendetwas zu dem allgemeinen Thema Innovation gegen Fundamentalismus zu sagen, das heutzutage zu einer führenden Diskussion in der Homöopathie geworden ist? Divya: Ja, wir sollten über dieses Thema von Erneuerern gegen Klassizisten und die ganze Kritik und die Probleme, die dabei auftreten, sprechen. Ich denke, dass die fundamentale Wurzel dahinter auf der einen Seite die Angst vor Veränderung ist, die wir kollektiv als menschliche Wesen haben. Wir fürchten das Unbekannte, primär weil wir uns nicht sicher sind, dass wir individuell mit dem Unbekannten fertig werden. Darum werden seit undenklichen Zeiten Menschen, die etwas Neues vorschlagen, anfangs immer kritisiert, bevor die Leute den Mut haben, vorzutreten und sich ihnen anzuschließen. Wenn wir jedoch nicht erneuern und wachsen, werden wir stagnieren. Das entspricht nicht der Notwendigkeit dieser Stunde. Wenn die Homöopathie ihren rechtmäßigen Platz als Medizin der Zukunft einnehmen soll, was sie sollte und wird, müssen wir uns bewegen, wir können nicht still stehen, wir müssen wachsen und den Punkt erreichen, an dem wir zuversichtlich sagen können, ich kann Sie heilen. Um das zu tun, müssen wir erneuern, müssen wir wachsen. Die Leute, die heute erneuern, sind verantwortungsvolle Menschen, deren Lebensziel ist, ihre Patienten zu heilen. In diesem Kampf, in dem Kampf gegen ihre Misserfolge, kommen sie mit neuen Ideen heraus. Viele von ihnen werden kritisiert, und es wird ihnen gesagt, dass sie zwanzig Jahre warten sollen, sich dessen sicher sein sollen, was sie sagen, zwanzig Jahre Erfahrung haben und es dann sagen sollen. Es ist jedoch eine aufregende Sache, diese

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Erfahrung zu teilen, welche die eigene Praxis verändert hat, so dass andere daraus Nutzen ziehen können. Es besteht auch die Erwartung, dass die Zuhörerschaft aus reifen Individuen besteht, einer professionellen Zuhörerschaft, und nicht aus Kindergartenkindern, die sehr gut in der Lage sind, selbst zu denken, zu prüfen, auszuprobieren, und, wenn sie es nicht für gut befinden, fallen zu lassen. Aber etwas fallen zu lassen oder zu kritisieren, ohne es zu verwenden, und die Absicht des Erneuerers zu kritisieren, ohne das Motiv und das Bedürfnis zu teilen wertzuschätzen, kann der Homöopathie großen Schaden zufügen. Ich habe viel von Leuten gelernt, die heutzutage Erneuerungen einführen. Sie haben uns viel gegeben. Das bedeutet nicht, dass sie immer recht haben, aber kein Erneuerer sagt, ich habe immer recht. Also erneuern Sie, wachsen Sie, und was nicht wahr ist, können Sie und andere Leute ausprobieren, nutzen und aussondern. Das ist die Idee von Wachstum und gemeinsamem Wachsen.