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Egbert Jahn . Sabine Fischer Astrid Sahm (Hrsg.)

Die Zukunft

des Friedens

Band 2 Die Friedens- und Konflikt­ forschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen

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VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Den Frieden weiter denken Egbert Jahn/ Sabine Fischer/ Astrid Sahm

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Stiftung Friedensforschung.

Selbstverständnis Friedens- und Konfliktforschung als Projekt von Generationen Krieg und Frieden im Prisma der Generationen EgbertJahn Friedensforschung und Normativität: Positionen der jüngeren Gene­ rationen Sabine Fischer/ Astrid Sahm

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Begriffliche Abgrenzungen: Gewalt versus Frieden

1. Auflage Oktober 2005 Alle Rechte vorbehalten © VS verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH. Wiesbaden 2005

Lektorat: Frank Schindler /Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschÜtzt. Jede verwertung außerhalb der engen Grenzen des urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere tür vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und verarbeitung in elektronischen Systemen. ~

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Die Entgrenzung von Gewalt. Theoretische und empirische Per­ spektiven Thorsten Bonacker

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Gewalt, Frieden und Friedensforschung. Eine konstruktivistische Annäherung Christoph Weller

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Gender und Frieden. Plädoyer für einen Dialog über Differenzen Simone Wisotzki

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Mit Macht zum Frieden? Zum Gebrauch eines strittigen Konzepts JörgMeyer

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Inhalt

Diagnosen

Strategien

Das internationale System: Umbruch und Beharrung

Interventionismus - ein Instrument für den Frieden?

Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation. Die Trans­ formation globaler Sicherheitspolitik Bernnard Zangl

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Die Lehre vom gerechten Krieg - obsolet oder unverzichtbar? PeterMayer

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Säkularer oder fundamentalistischer Interventionismus. Gewaltanalyse als Gewaltkritik . Gertrud Brücher

Post- Westfalia trifft Prä-Westfalia. Die Gleichzeitigkeit dreier Welten Ulrich Schneckener

189

Die ordnungspolitische Herausforderung des Staatszerfalls Hans-Joachim Spanger

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Begrenzung von Krieg und Gewalt. Historische und systematische Überlegungen . Andreas Herberg-Rothe

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Zivile Konfliktbearbeitung als universales Konzept?

Militär, Rüstungsdynamik und Frieden. Die Dilemmata der neuen Weltordnung Harald Müller

Krisenprävention durch transnationale Zivilgesellschaft und inter­ nationale Organisationen . Sascha Werthes

Neue Kriege und Konflikte: Verlust der Steuerbarkeit? Si vis pacem, intellege bellum! Die Friedensforschung und das Wissen vom Krieg Christopher Daase

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Konflikttransfonnation durch lokale Friedenskräfte und -allianzen ........

Hannah Reich

Krieg als Geschäft? Nutzen und Kritik der ökonomischen Analyse Dietrich Jung

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Geschlecht und Gewaltminderung: Konfliktbearbeitung durch die Veränderung von Machtverhältnissen . Cilja Harders

Ethnizität als Falle? Der Mehrwert kultureller Perspektiven Peter Kreuzer

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Die Weitergabe der Friedens- und Konßiktforschung

Demokratischer Frieden - Theorem mit Zukunft? Regime-Hybride und innerstaatlicher demokratischer Frieden Heidrun Zinecker

313

Innerstaatliche Konflikte und die Wirkung von Demokratie Thorsten Gromes

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Die Bedeutung einer demokratischen Umgebung für die Fried­ fertigkeit von Staaten Margit Bussmann

Der Krieg in den Köpfen der Menschen. Pädagogisch-psychologisch Friedens- und Konfliktforschung . Christian Büttner Die Friedensforschung an den Hochschulen. Auf dem Weg zum etab­ lierten Studienfach? . TanjaBrühl

363 Autorenverzeichnis

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Thorslen Bonacker

WSRG (World Society Research Group) (2001): Introduction: World Society. In: Albert, Mathiasi Jacobson, Davidl Lapid, Yosef (Hg.): Identities, Borders, Orders. Rethinking International Relati­ ons. Minneapolis: 1-17 Zielinski, Michael (\995): Friedensursachen. Genese und konstituierende Bedingungen von Friedensge­ meinschaften arn Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und der Entwicklung ihrer Beziehun­ gen zu den USA, Frankreich und den Niederlanden. Baden-Baden Zürn, Michael (2000): Vom Nationalstaat lernen. Das zivilisatorische Hexagon in der Weltinnenpolitik. In: Menzel, Ulrich (Hg.): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen. Dieter Senghaas zum 60. Geburtstag. Frankfurt: 17-24

Gewalt, Frieden und Friedensforschung Eine konstruktivistische Annäherung Christoph Weller

Zur Zukunft des Friedens aus Sicht der Friedensforschung lässt sich wohl kaum sinnvoll schreiben, ohne über Friedens-Verständnisse oder -Begriffe nachzudenken und dabei an vorliegende Überlegungen anzuknüpfen. Friedens-Definitionen aber kommen nur selten ohne direkten Bezug zum Begriff "Gewalt" aus. Dies verdeut­ lichte auch jener viel zitierte und diskutierte Aufsatz von Johan Galtung (1971), dessen Titelgebung hier für die Entwicklung einer konstruktivistischen Perspektive in der Friedensforschung aufgegriffen wird. Galtungs Aufsatz hat nicht nur den Begriff der "strukturellen Gewalt" in die deutschsprachige Diskussion gebracht, son­ dern die gesamte Perspektive der Kritischen Friedensforschung geprägt. Die Art des friedenswissenschaftlichen Denkens, welches der erwähnte Aufsatz repräsentiert, 1 hat zugleich generationenübergreifende Spuren hinterlassen, die für die deutschspra­ chige Friedensforschung nachzuzeichnen ein lohnenswertes Unternehmen sein könnte. Die Aufmerksamkeit auf das friedenswissenschaftliche Denken selbst zu richten, danach zu fragen, welche begrifflichen, konzeptionellen und theoretischen Beobachtungsweisen verschiedene Generationen von FriedensforseherInnen in ihrer Arbeit verwendet haben - wie dies die OrganisatorInnen dieser Tagung (vgl. Fi­ scherl Sahrn und Jahn in diesem Band) auch schon unternommen haben - sind As­ pekte einer konstruktivistischen Perspektive, die in ihren verschiedenen Dimensio­ nen in diesem Beitrag vorgestellt werden soll. Galtungs Aufsatz, dessen Argumentation darauf zielte, die Aufgaben der Frie­ densforschung zu umreißen, konnte nicht darauf verzichten, zunächst etwas zum Friedensbegriff zu sagen und in diesem Zusammenhang intensiv auf "Gewalt" ein­ zugehen, entsprechend seiner Grundannahrne, "die Begriffe ,Frieden' und ,Gewalt' so miteinander zu verknüpfen, dass ,Frieden' als ,Abwesenheit von Gewalt' verstan­ den werden kann (Galtung 1975: 8)." Ganz ähnlich sah ich mich, von den Orga­ nisatorInnen dieses Publikationsprojekts mit der Aufgabe konfrontiert, etwas zum Friedensbegriff aus konstruktivistischer Perspektive zu schreiben, zwangsläufig in jene Gefilde getrieben, in denen sich nicht nur Johan Galtung am Ende der 1960er Jahre, sondern etwa auch Ernst-Otto Czempiel und Lothar Brock mit ihren Beiträgen für den Vorgänger-Band zur ,,zukunft des Friedens" (SahrnI Sapperl Weichsel 2002) bewegt hatten: Sie konnten zum Friedensbegriff nichts sagen, ohne auf den Gewalt­ Begriff zu rekurrieren, und der jeweilige Friedensbegriff sollte vornehmlich dazu dienen, den Gegenstand der Friedensforschung zu kennzeichnen, ihr zu jener Identi­ tät zu verhelfen, die sie unterscheidbar von anderen Wissenschaften macht und ihr Galtungs Aufsatz erschien zunächst 1969 im Journal of Peace Research, dann auf deutsch in dem von Dieter Senghaas 1971 herausgegebenen Suhrkamp-Band ,,Kritische Friedensforschung" (Senghaas 1971) und anschließend in der Galtungschen Aufsatzsarnmlung, die 1975 unter dem Ti­ tel "Strukturelle Gewalt" bei Rowohlt erschien. Zu aktuellen friedenstheoretischen Ansätzen und Debatten vgl. Calließ (2002); Cailießi Weller (2003) sowie WeHer (2004a).

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damit zugleich jene öffentliche Anerkennung sichert, die ihr Ressourcen - im wei­ testen Sinne - einbringt und sie damit überhaupt als Wissenschaft lebensfähig macht. Für Czempiel (2002: 85) etwa herrscht Friede dann, "wenn die in ihm [dern in­ ternationalen System; C. W.] ablaufenden Konflikte zwischen den Staaten kontinu­ ierlich und auf Dauer ohne die Anwendung organisierter militärischer Gewalt bear­ beitet werden." Entsprechend kann für ihn der Gegenstand der Friedensforschung ,,nur die Eliminierung des Krieges sein" (Czempiel 2002: 84). Zwar inhaltlich ab­ weichend, aber im selben Kontext von Gewalt, Frieden und Friedensforschung ar­ gumentlert Lothar Brock (2002b: 96). Er überschreibt den ersten Abschnitt seiner Diskussion über den Begriff des Friedens mit "Gewalt und Frieden. Begriffsbildung in der Friedensforschung" und beschäftigt sich bei der sozialen und prozeduralen Dimension des Friedens mit den Übergangsphänomenen zwischen Gewaltanwen­ dung und Krieg. Auf diese Weise integriert er in seinen Friedensbegriffmehr als die Abwesenheit von "Krieg", weist damit aber der Friedensforschung doch ein klar begrenztes Aufgabenfeld zu und plädiert entschieden gegen den ausufernden Gal­ tungschen Gewaltbegriff. Diese Position stützt auch Harald Müllers jüngster Beitrag mit weiteren Argumenten (Müller 2003), woraus bei ihm ein neuer Definitionsver­ such resultiert, der einzelne Elemente konstruktivistischer Herangehensweisen auf­ greift und doch die Unterscheidung zwischen Frieden und Unfrieden in der Hand der FriedensforscherInnen belässt. 2 Für die Erläuterung einer konstruktivistischen Perspektive will auch ich mich im Dreieck zwischen Frieden, Gewalt und Friedensforschung bewegen, zwar keine weiteren Vorschläge für Begriffsverständnisse machen, aber auf Dimensionen, In­ tentionen und Konsequenzen von Begriffsverständnissen eingehen. Disziplinen zeichnen sich nicht durch abscWießende Defmitionen von Begriffen aus, sondern durch den Diskurs über und die kontinuierliche Arbeit an Begriffen. Eine konstruk­ tivistische Friedensforschung hat keinen eigenen, von einer nicht-konstrukti­ vistischen Friedensforschung unterschiedenen Friedensbegriff (den diese auch nicht im Singular, sondern nur im Plural hat), sondern eine andere, zusätzliche Pers­ pektive, auch auf die Begriffsbildung: Sie fragt nach den Funktionen und blinden Flecken von Begriffsbildung, wendet sich also vor allem dem Prozess von Begriffs­ bildung, den Diskursen über Begriffe zu und kann damit auch sichtbar machen, was die Begriffsbildung selbst unsichtbar (werden) lässt.

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Dimensionen des Friedensbegriffs, oder: Beobachtungen der Begriffs­ bildung

Warum ist den FriedenswissenschaftlerInnen der Friedensbegriff ein so zentrales 3 Thema, dass immer wieder neu und kontrovers darüber nachgedacht und geschrie­ 2

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,,Frieden ist ein Zustand zwischen bestimmten sozialen und politischen Kollektiven, der gekenn­ zeichnet ist durch die Abwesenheit direkter, verletzender physischer Gewalt und in dem deren möglicher Gebrauch gegeneinander in den Diskursen der Kollektive keinen Platz hat (Müller 2003: 219f.)." Zur Kritik eines solchen substanziellen Friedensbegriffs vgl. Weller (2003a). Den Friedensbegriff zu thematisieren bedeutet nahezu immer - wie oben erwähnt und mit Galtung (1971) gewissennaBen angelegt - auch eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff. Insofern

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ben wird? Mindestens drei Gründe lassen sich unterscheiden, wenn ein differen­ zierter Antwortversuch unternommen werden soll (vgl. auch Daase 1996): •

Frieden gilt als politische Norm, deren Inhalt sich im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen verändert; der öffentliche, politische Diskurs über den Frieden ist der Ort, an welchem die Norm, ihre Geltung und Bedeutung debattiert, re­ produziert und zugleich auch verändert wird. FriedensforscherInnen leisten mehr oder weniger beachtete Beiträge zu diesem Diskurs und wirken darüber sowoW auf den politischen Streit um den Frieden als auch auf den Normwandel - mehr oder weniger intensiv - ein (vgl. Rrock 2002). Die Friedensforschung sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung als Wissen­ schaft und unterscheidet sich bzw. will sich von anderen Wissenschaften durch ihren Friedensbezug, letztlich ihren Forschungsgegenstand unterscheiden. Da­ mit ist sie gezwungen, Auskunft darüber zu geben, was sie unter ,,Frieden" ver­ steht, worin sie sich also von anderen wissenschaftlichen Unternehmungen ab­ heben will. Weil mit ,,Frieden" aber zumeist nicht das Reale, sondern das Ver­ lorene bzw. Erstrebte bezeichnet wird. gibt es eine erhebliche Ungewissheit über den von ihr gewählten Forschungsgegenstand, was Debatten darüber her­ vorbringt, was ihre wichtigen, prioritär zu bearbeitenden Fragestellungen sein soll(t)en.



Die konkreten wissenschaftlichen Gegenstandsanalysen, Einzelstudien, For­ schungsprojekte und Untersuchungen sind auf eine gegenüber dem politisch­ gesellschaftlichen wie gegenüber dem wissenschaftspolitischen Diskurs präzi­ sierte, abgegrenzte Begriillichkeit angewiesen, die operativ anwendbar ist und jeweils nur für die entsprechenden Einzelstudien ihre Funktionalität erweisen muss. Auch dies wird hier und da zum Anlass genommen, mehr oder weniger grundsätzlich über den Friedensbegriff nachzudenken.

Mit diesen Unterscheidungen sind zugleich drei verschiedene Dimensionen wissen­ schaftlicher Arbeit benannt: •

Wissenschaft findet immer im Kontext einer konkreten Gesellschaft und poli­ tischen Situation statt - sei es auch die Weltgesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts - und arbeitet bezogen auf die daraus erwachsenden Anforder­ ungen, Fragen und Problemstellungen (vgl. Brock 2002: 96-99). Sie ist Teil des politischen Diskurses, gerade wenn sie zu solch fundamentalen gesell­ schaftlichen Problemen wie Gewalt, Krieg und Frieden arbeitet. Aus diesem Grund handelt es sich bei ihren Begriffen immer auch um politische Begriffe. Wissenschaft bedarf der gesellschaftlichen Legitimation und einer daraus er­ wachsenden materiellen Unterstützung. Nur wenn die Ausdifferenzierung in spezifische Fächer, Teildisziplinen und Gegenstandsbereiche von Wissenschaft politisch-gesellschaftlich anerkannt wird, können sich die jeweiligen Zweige lassen sich die Diskussionen um Friedens- und Gewaltkonzeptionen kaum voneinander trennen. Vgl. dazu auch Brücher (2002; 2003).

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wissenschaftlicher Arbeit entwickeln. Bei dieser Dimension wissenschaftlicher Arbeit geht es gewissennaßen um die Selbstlegitirnation als wissenschaftliche Disziplin, die darüber geschieht, sich größere Kompetenzen für ein möglichst klar umrissenes Gegenstandsfeld wissenschaftlicher Arbeit zuzusprechen als anderen, verwandten Disziplinen oder Forschungsbereichen. •

Die (Sozial-)Wissenschaften betreiben ihre Arbeit vornehmlich im Modus der Sprache. Soll wissenschaftliche Kommunikation - und wo ist Wissenschaft et­ was anderes als eine spezifische Form von Kommunikation? - möglich sein, ist Verständigung über die verwendete Sprache erforderlich. Diese - wiederum sprachliche - Kommunikation über wissenschaftliche Sprache tritt in aller Re­ gel als Begriffsbildung, Definitionsversuch, Operationalisierung oder Ähn­ liches auf und beansprucht zunächst, für einen Text die gewählte Sprach- und Begriffsverwendung zu erläutern. Da jedoch wissenschaftliche Reputation - im weitesten Sinne - auch von begrifflichen Prägungen, begrifflich-konzeptio­ nellen Kartellen und ähnlichen sozialen Mechanismen abhängig ist, gehört die Besetzung und Prägung von Begriffen zu den wichtigen Strategien bei der Er­ ringung wissenschaftlichen Erfolgs. Sie zielt daher auch immer über den ein­ 4 zelnen Text hinaus auf den Gesamtdiskurs einer (Teil-)Disziplin.

Anband dieser Unterscheidungen könnte nun die Begriffsbildung in der Friedensfor­ schung daraufhin betrachtet werden, welche Begriffsbestimmungen sich auf welche Dimensionen wissenschaftlicher Arbeit richteten. Wollten Galtung, Czempiel, Brock und Müller sowie all die anderen mit ihren Texten über friedenswissenschaftliche Begriffiichkeiten auf den politischen Diskurs einwirken mithilfe der ihnen als (Frie­ dens-)Wissenschaftlern zukommenden besonderen gesellschaftlichen Aufinerk­ samkeit? Oder zielten sie vielmehr auf die Selbstlegitimation einer um ihre Aner­ kennung als wissenschaftliche Disziplin kämpfenden Friedensforschung? Oder sind die entsprechenden Texte so zu lesen, dass sie im Zusammenhang wissenschaftlicher Analysen die jeweils eigene Begriffsverwendung explizieren wollen - richteten sich die Texte also auf solche analytischen Ziele bzw. darauf, mithilfe von Begriffserläu­ terungen möglicherweise wissenschaftliche Debatten, Forschungsprogramme oder gar Schulen zu prägen? Würde man diese drei Fragestellungen bezüglich vielzitierter friedenswissen­ schaftlicher Texte ernsthaft verfolgen, ließe sich die Bedeutung der Ergebnisse mit mindestens den folgenden zwei Argumenten zugleich ernsthaft bezweifeln. Zum einen ist das Verständnis und die daraus resultierende Wirkung eines Textes nicht von den Intentionen der jeweiligen AutorInnen abhängig, sondern von der Rezeption und der dabei stattfmdenden Rekonstruktion der Bedeutung des Textes. Hatten die genannten oder andere AutorInnen beispielsweise allein die Zielsetzung verfolgt, nur die eigene Begriffsverwendung zu explizieren oder ausschließlich die Abgren­ zung und Selbstlegitimation der Friedensforschung voranzubringen, hätten sie ­ 4

Wem an dieser Stelle die Hypothese in den Sinn kommt, der Autor dieses Beitrags wolle durch sein Konzept einer konstruktivistischen Friedensforschung auch den eigenen wissenschaftlichen Erfolg befördern, liegt mit ihrerl seiner Rekonstruktion meiner Argumentation durchaus in der Nä­ he der hier thematisierten Zusammenhänge. Vor allem soll dieser Hinweis aber ein Beispiel für die selbstreflexive Dimension einer konstruktivistischen Herangehensweise sein.

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trotzdem - auch als Beiträge zum politischen Diskurs verstanden und verwendet werden können. Zum anderen ist zu bezweifeln, dass der bis heute prekäre Status der Friedensforschung als Wissenschaft sowie die - gewollt - politische Ausrichtung der (Kritischen) Friedensforschung die AutorInnen jemals vollständig davon befreit hätten, auch die politischen und wissenschaftspolitischen Implikationen von Texten zur Begriffsbestimmung mitzudenken. Indem die Friedensforschung in besonderer Weise sowohl einen politischen Anspruch verfolgt als auch ständig um ihre wissen­ schaftliche Anerkennung bangt, steht sie in besonderer Weise in Gefahr, mit ihren begrifflichen Beiträgen immer drei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu wollen ­ und die Trefferquote bleibt naturgemäß bescheiden. Indem eine konstruktivistische Herangehensweise diese - und andere - Beo­ bachtungsweisen bei der friedenswissenschaftlichen Begriffsbestimmung unterschei­ den kann, eröffuet sie auf der einen Seite die Möglichkeit, die begrifflichen Diffe­ renzen als unterschiedlichen Zielen und Funktionen dienende Begrifflichkeiten zu verstehen, und auf der anderen Seite, den Charakter der weiteren Arbeit an Begriffen zu verändern: Gefragt sind weder ein umfassender noch ein epochenübergreifender Friedensbegriff, sondern Beiträge zu den drei oben unterschiedenen oder auch noch weiteren Dimensionen friedenswissenschaftlicher Arbeit und Aufgaben. Überflüssig erscheinen dann alle Dar- und Feststellungen, welche die begriffliche Uneinigkeit oder die Unvereinbarkeit dieses mit jenem Friedensbegriff beklagen. Entbehrlich sind dann auch die erfolglosen Versuche, alle friedensrelevanten Erkenntnisse zu einem irgendwie einheitlichen Theoriegebäude zu verbinden (vgl. Vogt 1996) und die Frage nach dem Friedensbegriff einer Forschungsrichtung oder Herangehenswei­ se. Ein Forschungsansatz kann sich von anderen über eine spezifische Begrifflich­ keit abgrenzen, aber diese muss sich dann weder politisch noch wissenschaftsstrate­ gisch legitimieren, sondern allein forschungspraktisch. Dass wir in politischer Hin­ sicht uneinig darüber sind, was Frieden heißen soll, muss uns in einer pluralistischen Demokratie eher beruhigen als beunruhigen. Und dass je nach Forschungsinteressen, Karriereplanung, wissenschaftlicher Etabliertheit, Adressatenkreis der Forschungs­ ergebnisse etc. die Vorstellungen dessen, was Friedensforschung sein soll, variiert, wissen alle, die den Wandel der eigenen Auffassungen zu dieser Frage beobachten können. Sich auch für das Zustandekommen der eigenen Beobachtungsweisen zu interessieren, zeichnet in besonderem Maße eine konstruktivistische Perspektive aus.

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Kennzeichen der konstruktivistischen Perspektive, oder: Beobachtungen des Beobachtens

Die Erläuterung einer Perspektive, eines Ansatzes oder einer Herangehensweise besitzt ähnliche Merkmale wie die oben thematisierten analytischen wie wissen­ schaftspolitischen Begriffsbestimmungen: es geht nicht nur darum zu erläutern, wie die wissenschaftliche Arbeit vor sich geht, sondern auch darum, ein bestimmtes Forschungsfeld von anderen abzugrenzen und die Möglichkeit zu eröffuen, darüber noch weitere und andere Forschung anzuregen und zu prägen. Nun steht jedoch ­ und damit beginnt hier die Abgrenzung - die Erläuterung einer konstruktivistischen Perspektive vor dem strategischen Problem. dass sich in den vergangenen zehn Jah­ ren in der mit der Friedensforschung eng verwandten politologischen Teildisziplin

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Internationale Beziehungen ein ,,Konstruktivismus" als innovative, modeme und schnell anerkannte Forschungsrichtung etablieren konnte, an die anzuknüpfen folg­ lich auf breiter Front versucht wurde. Dies hat dazu geführt, dass inzwischen unter dem label "Konstruktivismus" sehr verschiedene Forschungsansätze auftreten, die gemessen an dem hier explizierten Verständnis einer konstruktivistischen Perspekti­ ve nur als "schrumpftheoretisch" - um einen Begriff von Dieter Senghaas aufzugrei­ fen - bezeichnet werden können. Dass Ideen, Werte, Normen oder Identitäten für politisches Handeln Relevanz besitzen können und daher punktuell auch in dessen Analyse einbezogen werden sollten, erscheint doch zu banal, als dass dafür ein neu­ es Paradigma etabliert und die vielschichtIgen und teilweise fundamentalen Debatten in den Internationalen Beziehungen geführt werden müssten (vgl. Adler 2002; May­ er 2003; Weller 2004c). Eine konstruktivistische Perspektive muss folglich mehr sein als ein angereicherter methodologischer Individualismus. Eine konstruktivistische Perspektive einzunehmen bedeutet, Aussagen über die Welt - im weitesten Sinne - im Zusammenhang ihrer Beobachtung zu betrachten und zu verstehen. Eine Vielzahl der Fragen und Probleme der aktuellen interna­ tionalen Politik hängt ja augenscheinlich damit zusammen, dass die Welt für die Mehrheit der AmerikanerInnen anders aussieht als beispielsweise für den Großteil der deutschen Bevölkerung. Dies ist in besonderer Weise seit dem 11. September 2001 der Fall, weil die damaligen transnationalen Terroranschläge und deren Inter­ pretation durch die US-Regierung und die US-Massenmedien die AmerikanerInnen in eine diffuse Bedrohungsvorstellung gestürzt haben, der sie vornehmlich in ana­ chronistischer Weise mit militärischer Machtentfaltung begegnen wollen. Scheinbar gegenstandsbezogen wird in Reaktion darauf dann in den Internationalen Beziehun­ gen debattiert, ob dafür nicht ähnlich anachronistische Erklärungsansätze sogenann­ ter ,,realistischer" Provenienz wieder angemessen sein könnten. Dass daran in den USA viel weniger, in Deutschland aber von den meisten einschlägigen ForscherIn­ neo gezweifelt wird, hat seine Ursache wohl vornehmlich in eben jener Differenz der Weltbetrachtungen, die auch das transatlantische politische Verhältnis augen­ blicklich prägen und belasten. Weder die internationalen noch die wissen­ schaftlichen - oder präziser: innerdisziplinären - Differenzen und Konflikte lassen sich angemessen verstehen, wenn die jeweils zugrundeliegenden Weltbilder und Beobachtungsweisen nicht in die Betrachtung mit einbezogen werden. Diese syste­ matische Einbeziehung der jeweils unterschiedlichen Perspektiven, die bezogen auf jede Beobachtung der Welt auch danach fragt, wie dabei beobachtet wurde, macht einen Kernbestand der konstruktivistischen Perspektive aus. Ähnliche Fragestellungen sind der Friedensforschung schon von ihren Anfän­ gen her vertraut. 5 Images (Boulding), perceptions (lervis) oder Feindbilder (Seng­ haas) sind Begriffe für Phänomene, mit denen die Aufmerksamkeit auf genau jene Vorstellungen von der Welt gelenkt werden sollte, die für Konfliktverschärfung, -eskalation oder die Unlösbarkeit (zwischen-)gesellschaftlicher Spannungen mitver­ antwortlich gemacht wurden. Doch diese Ansätze bleiben in aller Regel einem poli­ tischen Denken verhaftet, welches die unmittelbare Auseinandersetzung mit den VertreterInnen konkurrierender Weltbilder sucht. Image und Realität, perception and misperception, Feindbild und korrektes Bild der anderen Seite sind die Gegen5

Insofern verweist Guzzini (2002) völlig zu Recht auf solche Ansätze der Friedensforschung als Vorläufer für den Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen.

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sätze, in denen hier gedacht, geforscht und kritisiert wurde und wird. Damit aber unterscheiden sich diese Ansätze in einer erkenntnistheoretischen - und damit fun­ damentalen - Dimension von einer konstruktivistischen Perspektive. Denn während jene den analysierten Konstruktionen - seien es images, misperceptions oder Feind­ bilder - die jeweils eigene Wirklichkeit bzw. Realitätskonstruktion gegenüberstel­ len, unterscheidet der Reflexive Konstruktivismus 6 nicht zwischen richtigen und falschen Konstruktionen bzw. Vorstellungen von der Welt,? sondern allein zwischen Realität auf der einen und unterschiedlichen Weltkonstruktionen auf der anderen Seite. Wirklichkeiten sind Konstruktionen der Realität, die als solche unseren Wahr­ nehmungsmöglichkeiten verborgen bleibt. 8 Die Herangehensweise oder Perspektive eines Reflexiven Konstruktivismus bedeutet also, in die (friedens-)wissenschaftliche Arbeit miteinzubeziehen,



dass die Grundlage des beobachteten sozialen Handelns (z. B. Gewalt­ anwendung) nicht die Realität, sondern die individuelle oder kollektive Wirk­ lichkeit (z. B. der GewalttäterInnen) - also die Konstruktion der jeweils wahr­ genommenen Realität - ist;



dass diese Wirklichkeiten (z. B. die Identifikation einer Bedrohung etc.) offen­ sichtlich davon abhängen, wer die Welt wie beobachtet;



dass diese Beobachtungsweisen somit konstitutiver Bestandteil der Analyse sozialen Handelns sein müssen;



dass auch wissenschaftliche Analysen spezifische Beobachtungsweisen der Welt - und damit ebenso Gegenstand der Analyse - sind, das Beobachten also reflexiv werden muss;



dass auch die jeweils eigene Beobachtungsweise eine von vielen möglichen Konstruktionen hervorbringt, die mit der Perspektive des Reflexiven Konstruk­ tivismus daraufhin analysiert werden kann, warum sie so und nicht anders aus­ sieht. 9

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Um die hier vorgestellte konstruktivistische Perspektive auch begrifflich von der Bezeichnung "Konstruktivismus" abzusetzen, wird die Bezeichnung ,,Reflexiver Konstruktivismus" verwendet, deren Bedeutung in den nachfolgenden Erläuterungen expliziert wird. Dies bezieht sich nicht auf beliebige Erfmdungen und Phantasien über die Welt, aber auf alle viabien, also gangbaren Konstruktionen, die sich in der Kommunikation über die Welt finden. Innerhalb des Konstruktivismus wird vielfach folgende Unterscheidung zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" vorgeschlagen, auf die ich hier zurückgreife: "Wirklichkeit für alles das zu verwen· den, was durch menschliches Wirken als menschliches Wissen hervorgebracht worden ist, und Re­ alität für jene Realität, die ontologisch ist im Sinne der Philosophen, die als solche existieren soll, bevor ein Erlebender überhaupt in sie hineingekommen ist (Glasersfeld 1998c: 42; Hervorhebung C. W.)." "Die Funktion der Kognition ist adaptiv und dient der Organisation der Erfahrungswelt, nicht der Entdeckung der ontologischen Realität (Glasersfeld 1997: 48)." Welche Rolle beispielsweise - um hier nur ein Beispiel zu nennen - die Stellung in der Geschwisterfolge für die Art der wissen­ schaftlichen Beobachtungsweise spielt, verdeutlicht Sulloway (1997).

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Anhand dieser fünf Punkte unterscheidet sich der Reflexive Konstruktivismus von bescheideneren konstruktivistischen Ansätzen, die etwa alleine spezifische Wirk­ lichkeitskonstruktionen einzelner Akteure als ergänzende Variablen in ihre ansons­ ten ökonomistisch geprägten Erklärungsmodelle sozialen Handelns (Rational­ choice-Ansatz) einbeziehen wollen und dabei übersehen, dass die Annahme rationa­ ler Nutzenabwägung - sei es bezogen auf einen individuellen Kooperationspartner oder eine internationale Konfliktpartnerin - keine Naturkonstante, sondern eine soziale Wirklichkeitskonstruktion ist. Damit wird weder bestritten, dass diese Wirk­ lichkeitskonstruktion in vielen Fällen viabel,1O zur Vermeidung von Informa­ tionskosten ökonomisch rational oder als soziales Muster vertraut und individuell stabilisierend sein kann. Aber indem sie konstruktivistisch als eine unter vielen Wirklichkeitskonstruktionen aufgefasst wird, die sich nicht aus der Realität, sondern aus der zugrundeliegenden Beobachtungsweise ergibt, lässt sich die Annahme ratio­ naler Nutzenabwägung ohne Weiteres systematisch in Analysen des Reflexiven Konstruktivismus integrieren. Insofern übersieht der in den Internationalen Bezie­ hungen aufgebaute und ständig reproduzierte Gegensatz von "Rationalismus" und ,,Konstruktivismus" (vgl. etwa Risse 2003) das breite analytische Potential konstruk­ tivistischer Perspektiven. Eine konstruktivistische Perspektive einzunehmen, heißt also anzuerkennen, dass die Welt, in der wir leben, Konstruktion ist, Welt-Konstruktionen differieren und auch unsere jeweils eigenen Weltkonstruktionen aufgrund unserer Beob­ achtungsweisen zustandekommen. Diese Beobachtungsweisen als Determinanten der Weltkonstruktionen zu analysieren, ist das spezifische Kennzeichen eines Refle­ xiven Konstruktivismus. Gegenstand reflexiv-konstruktivistischer Analysen sind also Konstruktionen und die ihnen zugrundeliegenden Beobachtungsweisen (vgl. auch Weller 2002). Um jedoch an dieser Stelle keinen häufig kolportierten Missver­ ständnissen über konstruktivistische Herangehensweisen Vorschub zu leisten, sollen derer zwei hier noch explizit angesprochen werden. Wissenschaftstheoretische Realistinnen und Realisten werden hin und wieder in den Glauben versetzt, im Konstruktivismus würde mit der Anerkennung diffe­ rierender Wirklichkeitskonstruktionen jegliche Realität aufgelöst und alle Erkenntnis wäre fortan beliebig. Diese Sorge lässt sich zerstreuen, denn es gibt keine konstruk­ tivistische Position, die behaupten würde, Konstruktionen seien beliebig (auch der sogenannte "Radikale Konstruktivismus" behauptet dies nicht!).l1 Es geht im Kon­ struktivismus alleine darum, dass die Vorstellungen und Bilder der Welt, in der wir WlS bewegen - in materieller wie sozialer Hinsicht -, unterschiedlich sind, auch wenn es um ein- und dieselbe Realität geht, und dass es gerade in friedens­ wissenschaftlicher Hinsicht lohnenswert ist zu fragen, wie diese unterschiedlichen Vorstellungen und Bilder der einen Realität, also die Weltkonstruktionen unter­

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"Wenn eine Problemlösung, sei es ein Begriff, ein erklärendes Modell, eine Theorie, oder ganz allgemein eine Handlungs- oder Denkweise in einem Erfahrungsbereich funktioniert und erfolg­ reich ist, dann spricht der Konstruktivist von ,Viabilität'. Das könnte man etwa als ,Gangbarkeit' verdeutschen, denn das bedeutet keinerlei Exklusivität, sondern legt nahe, dass auch andere Wege möglich sind (Glasersfeld 1998b: 30)." Für eine knappe Einführung in den Radikalen Konstruktivismus vgl. Weiß (1995); Glasersfeld (l998a; 1998b); Jensen (1999); Pörksen (2000: 15-33).

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schiedlicher Akteure zustande kommen und welche sozialen Folgen diese Konstruk­ tionen haben. Der Begriff "Konstruktion" verleitet außerdem methodologische Individua­ listInnen, RationalistInnen oder HandlungstheoretikerInnen dazu, bei Konstruk­ tionen der Wirklichkeit - ähnlich wie bei der Konstruktion eines Hauses oder tech­ nischen Geräts - Ziele, Intentionen und Motive am Werke zu sehen, Wirklich­ keitskonstruktionen also ein absichtsvolles Handeln zu hinterlegen. Eine solche Betrachtungsweise verfehlt das innovative Potential des Konstruktivismus insofern, als die große Bedeutung der Wirklichkeitskonstruktionen weitgehend daraus resul­ tiert, dass sie nicht bewusst hervorgebracht werden und gerade keine Intention da­ hinter vermutet werden kann. Es geht nicht um die Frage nach Erkenntnisinteressen, sondern um die blinden Flecken des Beobachtens. Für welche Beobachtungsweise wir uns bei der Betrachtung der Welt ent­ scheiden, ist in aller Regel nicht Gegenstand unserer gedanklichen Arbeit, weil wir in unserem alltäglichen Umgang mit der Welt - berechtigterweise - davon ausge­ hen, die materielle wie soziale Wirklichkeit mit der uns vertrauten Beob­ achtungsweise ausreichend differenziert zu erfassen, um uns weitgehend sicher in dieser Welt bewegen zu können. Dass aber genau diese Alltagsunterstellung für eine friedenswissenschaftliche Herangehensweise, die um das Konflikt- und Gewalt­ potential differierender Wirklichkeits- und Weltkonstruktionen weiß, bezweifelt werden muss, ist offensichtlich. Und gerade der Reflexive Konstruktivismus eröffnet die Möglichkeit, mit einer einheitlichen Theorie - nämlich einer Theorie der Beob­ achtung - diese Aspekte in die wissenschaftliche Beobachtung der Friedenspro­ blematik zu integrieren. Solche friedenswissenschaftlichen Analysen in einer reflexiv-konstrukti­ vistischen Perspektive können sich auf die unterschiedlichsten Konstruktionen und Beobachtungsweisen richten, auf jene konkreter Konfliktparteien, dritter Parteien, von KonfliktvennittlerInnen, InterventionistInnen, GewalttäterInnen, Konfliktstrate­ gen, Gewaltopfern usw. Ausgangspunkt ist jeweils die Frage, wie die Welt (des Konflikts, aber auch seines Kontextes) für die Konfliktbeteiligten aussieht. Dies führt dann zum nächsten Schritt, danach zu fragen, wie die jeweiligen Konflikt­ beteiligten die Welt betrachten (müssen), um zu ihrer jeweils unterschiedlichen Weltsicht zu gelangen. In den damit analysierten Beobachtungsweisen mit ihren je spezifischen Aufmerksamkeiten, Unterscheidungen und Begrimichkeiten liegt ein erhebliches Potential für ein besseres Verständnis von Konfliktverläufen und deren Eskalationspotential. Wenn beispielsweise die Bilder des 11. September 2001 unsere Aufmerksamkeit auf das vorher als unvorstellbar geltende Zerstörungspotential von drei entführten Verkehrsflugzeugen gelenkt haben und dann - auch daraus folgend ­ von politischer Seite mit dem Begriff ,,Krieg" operiert wurde (Gerhard Schröder: "Dies ist eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt"), legte dies der gesellschaftlichen Beobachtung, die an diesem Tag weitgehend mit der Beobachtung der Fernsehberichterstattung identisch war, die gedankliche Unterscheidung von Krieg und Frieden - und nicht etwa jene von mehr oder weniger großer Gefährdung durch transnationalen Terrorismus - nahe. Indem die politische Führung sich für die Kriegs-Konstruktion entschied, die aus naheliegenden strukturellen Gründen in der sich anschließenden massenmedialen Konstruktion des Geschehens kontinuierlich reproduziert wurde (vgl. Weller 2004b), war der militärischen Reaktion und Kon­

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flikteskalation eine gesellschaftliche Legitimation verschaffi, die bei einer anderen Wirklichkeitskonstruktion der Ereignisse in New York und Washington mehr als fraglich gewesen wäre, wie jetzt auch die deutsche Debatte im Zusammenhang des Irak-Krieges gezeigt hat. Die reflexiv-konstruktivistische Perspektive richtet sich jedoch zugleich auch immer auf die eigenen (friedenswissenschaftlichen) Konstruktionen und Beob­ achtungsweisen, um zu reflektieren, inwiefern die eigene Aufmerksamkeitsstruktur, Begrifflichkeit und die verwendeten Unterscheidungen die Konstruktion des Kon­ flikts steuert und damit jeglichen Vorschlag zum Umgang mit dem jeweiligen Kon­ flikt präformiert. In ähnlicher Weise, wie dIes Im vorhergehenden Beispiel hier nur angedeutet werden konnte, präformieren friedenswissenschaftliche Beob­ achtungsweisen das grundlegende Verständnis und die Aufmerksamkeiten bzw. blinden Flecken einer ganzen Disziplin. Dies soll hier - wiederum beispielhaft - am Umgang mit dem Gewalt-Begriff in der deutschsprachigen Friedensforschung und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld kurz verdeutlicht werden.

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Die Unterscheidungen der Gewalt, oder: Beobachtungen der Gewalt­ Entstehung

Es war wohl auch eine Konsequenz der Auseinandersetzung um traditionelle oder kritische Friedensforschung, um die Relevanz des positiven oder negativen Friedens, dass der Debatte um den Gegensatz von personaler und struktureller Gewalt so viel unberechtigte Aufmerksamkeit zuteil wurde und sich die sowohl politisch wie analy­ tisch viel bedeutsamere Frage nach den Grenzen zwischen legitimer und illegitimer Gewalt in den Hintergrund gedrängt sah. Implizite Antworten auf diese Frage wur­ den zwar gegeben, denn wie anders könnten Friedenskonzepte entworfen werden, die sich über ihren Friedensbegriff aus einem negativen Bezug zu "Gewalt" konsti­ tuieren und gleichzeitig die Existenz von Staaten - und damit die Verfügung des Staatsapparates über Gewaltmittel und deren legitime Anwendung zur Aufrechter­ haltung staatlicher Herrschaft - einschließen (vgl. z. B. Dieter Senghaas' Zivili­ satorisches Hexagon, Senghaas 1995, aber auch Brock 2003). Häufig wird die Frage, welche Gewalt mit dem Frieden vereinbar ist und welche nicht, so "gelöst", dass staatliche Gewalt, wenn sie einigermaßen rechtsstaatlieh und demokratisch kontrol­ liert erscheint, grundsätzlich als legitime Gewalt aufgefasst wird bzw. Legitimität von Gewalt an ihre Legalität gekoppelt wird. Dabei wird nicht negiert, dass es in diesem Bereich Probleme und Gefährdungen gibt, dass es illegitime staatliche Ge­ waltausübung - sogar im Bereich legaler Gewalt - geben kann. Aber was genau die Kennzeichen jener Gewalt sind, die mit dem Frieden offenbar vereinbar ist, und wo die Gewalt anfängt, die es zur Erreichung des Friedens zu beseitigen gilt, wird nicht dargelegt. Diesen friedenstheoretisch wie friedenspolitisch hochsensiblen Grenzbe­ reich von Gewaltanwendung übersieht etwa auch Müller (2003), indem er einen objektivistischen Gewaltbegriff zugrundelegt12 und darüber jene kollektive Gewalt 12

"Physisch verletzende Gewallanwendung gegen Menschen ist intersUbjektiv beobachtbar" (Müller 2003: 223), könnte aber im Sinne von "potestas" (vgl. Brock 1996; 2003) dem gesellschaftlichen Frieden dienen, wenn sie sich beispielsweise gegen angebliche Terrorgruppen wendet. Das wäre bei Müllers Begrifflichkeit dann die Beendigung des Friedens zur Erringung des Friedens, was den

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unsichtbar macht, die aus Sicht der Gewaltakteure der Aufrechterhaltung des Frie­ dens dienen soll (potestas), deren gesellschaftliche Legitimation aber umstritten ist. Damit übergehen solche Friedenskonzepte - durch ihren ausschließlich negati­ ven Bezug auf Gewalt - nicht nur eine zentrale friedensethische Fragestellung, son­ dern sie erliegen auch einer Blickverengung, indem sie keinen analytischen Zugriff auf jene Gewalt gewinnen können, die in den Augen der Gewaltakteure legitim ist, aus der normativen Perspektive der Friedenskonzepte aber als illegitime, der Frie­ densentwicklung entgegenstehende Gewalt erscheint. 13 Verdeutlicht an einem Bei­ spiel: Bei der Bekämpfung einer Staatsgewalt, die Minderheiten unterdrückt, er­ scheint den um ihI Leben fürchtenden Verfolgten Gewalt ähnlich legitim, wie sie auch der Staatsapparat fiir sich in Anspruch nimmt, der aus seiner Sicht zur Auf­ rechterhaltung der Ordnung und Wiederherstellung des Friedens TerroristInnen verfolgt. Was den Gewaltakteuren, den Verfolgten wie dem Staatsapparat, als legi­ time Gewaltanwendung erscheint, muss aus friedenstheoretischer Perspektive diffe­ renziert betrachtet werden. Kann dabei der "Frieden" zur Legitimation von Gewalt dienen? Welche Kennzeichen müsste Gewalt besitzen, wenn sie dem Frieden dienen soll? Der Großteil ausgeübter Gewalt ist immer legitimierte Gewalt, wird sie aus der Perspektive der Gewaltakteure betrachtet. Und dabei ist der Frieden ein prominenter Bezugspunkt fiir die Legitimation der Gewaltakteure, am deutlichsten vorgeführt beim Gewaltrnonopol des Staates. Reformuliert man Friedenskonzepte auf dem Hintergrund der Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt und betrachtet dabei den Frieden als Prozess, zeichnet er sich dadurch aus, dass Konflikte ohne illegitime Gewalt ausgetragen werden - bei gleichzeitiger Existenz legitimer Ge­ walt. Die dabei zu treffende Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt kann sich aber offensichtlich nicht an der Beurteilung der beteiligten Ge­ walt-Akteure orientieren, denn diese beanspruchen in aller Regel fiir sich, eine über­ zeugende Gewaltlegitimation - auch wenn sie als illegal einzustufen wäre - zu be­ sitzen;14 es ist ja gerade in entscheidendem Maße die der jeweils eigenen Gewalt zugeschriebene Legitimation, welche die Eskalationsgefalrr von kollektiver Gewalt­ anwendung ermöglicht bzw. hervorbringt. Genau diese Gewalt gilt aber im Hinblick auf einen Friedensprozess als illegitime Gewalt - diese ethisch-politische Unter­ scheidung kann also nur von außen an den jeweiligen Modus des Konfliktaustrags herangetragen werden. Sie bedarf einer ethisch-politischen Fundierung bzw. Be­ gründung, die zugleich umstritten bleiben wird (s.o.). Frieden als Prozess hat immer mit der Ambivalenz von Gewalt zu tun (vgl. Brock 1996; 2003) und entsteht durch die Delegitimation jener, aus Sicht der Frie­ denskonzeption illegitimen Gewalt - was bedeutet: ein Teil der aus Akteurssicht

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Begriff unbrauchbar werden lässt. Abgesehen davon gehört zu jedem Diskurs zwischen den Ge­ waltapparaten eines Staates und den Gruppen, die die herrschende Ordnung grundlegend verändern wollen, die Drohung mit "direkter, verletzender physischer Gewalt" (Müller 2003: 2l9f.), wäre folglich auch jede Herrschaftsordnung nach Müllers Begrifflichkeit prinzipiell friedensunfähig, wenn "Frieden" voraussetzte, dass nicht nur die Gewallanwendung, sondern auch "deren möglicher Gebrauch gegeneinander in den Diskursen der Kollektive keinen Platz hat" (Müller 2003: 220). Für diesen Abschnitt greife ich auf Überlegungen zurück, die zuerst in Weller (2003a) entwickelt wurden. Von ähnlich unbezweifelter Überzeugung ist die Einschätzung der Opfer von Gewalt getragen, die in aller Regel von der Illegitimität der ihnen zugefügten Gewalt überzeugt sind.

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legitimen Gewalt wird innerhalb einer spezifischen Friedenskonzeption delegi­ timiert, während die Legitimation des anderen Teils der Gewalt durch die Friedens­ konzeption anerkannt und übernommen wird. Auch wenn explizit der Eindruck erweckt wird, Friedenstheorien zielten auf die grundsätzliche Delegitimation von Gewalt, ist ihnen zumeist auch die Gewaltlegitimation inhärent. Demnach ist Frie­ den in diesen Konzeptionen immer auch ein Prozess konstanter Legitimation von Gewalt und der Anerkennung dieser Legitimation - unter Hinweis auf den Frieden als Ziel. Jede Gesellschaft besitzt ihren Konsens über Formen von Gewalt, die eindeutig illegitim bzw. legitim sind. Die sexuelle Misshandlung und Tötung eines Kindes wird hierzulande eindeutig und übereinstimmend als "illegitim" bewertet, während die polizeiliche Gewalt gegen Geiselnehmer und Bankräuber als Beispiel für gesell­ schaftlich unumstritten legitimierte Gewalt gelten kann. 15 Solche eindeutig legitimen bzw. illegitimen Gewaltformen stellen kein ernsthaftes Problem für Friedenskon­ zeptionen dar. Dagegen ist jedoch jener Bereich von Gewalt theoretisch deutlich schwieriger zu bearbeiten, dessen Legitimation gesellschaftlich umstritten ist. Dies kann sich sowohl auf Gewalt beziehen, die von staatlichen Organen verübt wird, als auch auf Gewaltausübung durch gesellschaftliche Akteure. Gelingt es den jeweiligen Gewaltakteuren, fiir ihre Gewaltlegitimation gesellschaftliche Anerkennung zu fm­ den, wird diese Gesellschaft diesen Einsatz von Gewalt als Beitrag zu mehr Frieden einstufen. Gelingt es ihnen nicht, erlebt die Gesellschaft einen Verlust an Frieden und legitimiert in der Regel damit zugleich einen anderen, gegen die als illegitim eingestufte Gewalt gerichteten Gewalteinsatz (vgl. dazu auch Schmidt 2003 und Hirsch 2003). Gewalt produziert Legitimation für Gegen-Gewalt, oder friedenstheoretisch präzisiert: Die gesellschaftliche Bewertung bestimmter Gewaltformen als illegitim 16 verschafft der entsprechenden Gegengewalt gesellschaftliche Legitimation. Nun verwendet der gesellschaftliche Diskurs den Begriff "Gewalt" allerdings fast aus­ schließlich für die nicht-legitimierten Gewaltformen und trägt dadurch zweifellos dazu bei, die Ambivalenz der Gewalt unsichtbar zu machen. l ? Es scheint sogar so zu sein, dass die Bezeichung einer Handlung (oder Struktur) als "Gewalt" die gesell­ schaftliche Funktion besitzt, genau diese Handlung (oder Struktur) gesellschaftlich zu delegitimieren. Darin liegt bis heute die politische Attraktivität der Rede von "struktureller Gewalt" (zuerst bei Galtung 1969), die in der Lage ist, Verhältnisse zu kritisieren, ohne eine Grenze bestimmen zu müssen zwischen anerkennbaren und zu delegitimierenden Strukturen.

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Zur Legitimation des Bankraubs vgl. Brecht (1968: 94): "Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, wer­ den von den Großunternehmern verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" (Mac am Ende der Dreigroschenoper). Ganz ähnlich verfahren Friedenskonzepte: Zwar zielen sie vordergründig darauf, bestimmte For­ men von Gewalt zu delegitimieren und dafür gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen, aber alle explizit nicht-delegitimierten Formen erfahren daraus eine implizite Legitimation. Die in Friedenskonzepten angelegte Gewaltfreiheit des Friedens übernimmt letztlich dieses All­ tagsverständnis von Gewalt und stützt es damit zugleich, verhindert damit aber eine differenzierte­ re Gewaltanalyse.

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Durch ihre mangelnde Aufmerksamkeit fiir die Ambivalenz der Gewalt gelingt es Friedenskonzepten zwar, einen möglichst schönen, nämlich gewaltfreien Frieden zu entwerfen. Aber mit dem daraus folgenden, derart undifferenzierten Gewaltkonzept leidet zugleich ihre Fähigkeit, die Realität der Gewalt zu erfassen l8 und auf den Frieden hin zu beurteilen. Außerdem übersehen sie die u. a. auch friedens­ konstituierenden Funktionen des gesellschaftlichen Streits um die "Gewalt", in des­ sen Ralunen die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Gewalt ständig bekräftigt oder verändert wird. Mit der differenzierten - und reflexiven - Beobachtung des Gewalt-Diskurses als konstitutiver Grundlage gesellschaftlichen Friedens leistet die konstruktivistische Perspektive einen wichtigen Beitrag für die friedenstheoretische Arbeit. Dies soll im folgenden Abschnitt an drei Phasen des bundesdeutschen Ge­ waltdiskurses skizzenhaft verdeutlicht werden.

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Konstruktionen illegitimer "Gewalt", oder: Beobachtungen des gesell­ schaftlichen Streits um Gewalt

Mit der Kennzeichnung "Gewalt" wird ein soziales Handeln in der Regel von jenen belegt, die unter der Gewalt zu leiden haben, sich von ihr bedroht fühlen oder die ihr aus anderen Gründen etwas entgegensetzen wollen - etwa als Friedensfor­ scherInnen. Es sind nicht die TäterInnen, sondern die Opfer - oder die Opfer­ Perspektive einnehmende BeobachterInnen -, welche die Gewalt-Zuschreibung vor­ nehmen und sich damit zugleich in eine bestimmte gesellschaftliche Position brin­ gen. Daher rührt die negative Konnotation des alltagssprachlichen Gewalt-Begriffs, der dazu dienen soll, einem Verhalten Illegitimität zuzuweisen. Mit dieser Gewalt­ Zuschreibung richtet man sich möglicherweise auch an die TäterInnen, vor allem aber an die ,,zuschauerInnen", deren Zustimmung, Hilfe und Solidarität man sich erhofft. Gewalt geschieht also in einem Dreiecksverhältnis (vgl. Nedelmann 1997: 66), in dem der Täter oder die Täterin von der Legitimität seines/ihres Handelns ausgeht, während das Opfer durch die Gewaltzuschreibung die Illegitimität behaup­ tet - und dies beides geschieht unter mehr oder weniger öffentlicher, gesellschaftli­ cher Beobachtung, verbunden mit der Aufforderung an die "ZuschauerInnen", sich zur Frage der Legitimität des Handelns zu verhalten, also zu beurteilen, ob es sich um "Gewalt" gehandelt hat oder nicht. Dieses sehr abstrakte Modell könnte als Folie dienen, einen analytischen Zu­ gang zu Gewaltvorkommen zu gewinnen, der weder eine eigene normative Position zur Legitimitäts-Frage der analysierten Gewalt erfordert noch eine ahistorische De­ fmition von "Gewalt" zugrunde legen muss, denn im Zuge gesellschaftlicher Ent­ wicklung verändert die Gewalt ihr Gesicht. Indem jedoch genau die Gewalt­ Zuschreibung und ihre gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Zurückweisung im Mittel­ punkt der Analyse steht, wird auch dieser Wandel der Gewalt - immer bezogen auf einen konkreten gesellschaftlichen Kommunikationszusarnmenhang, sei es die Fa­ milie oder die Weltgesellschaft - erfasst. Die Perspektive auf den Kommunikationszusarnmenhang über Gewalt im oben beschriebenen Dreiecksverhältnis - Beobachtung, Zuschreibung, Delegitimation­ 18

VgL dagegen die breite sozialwissenschaftliche Gewaltforschung. jetzt bei Heitmeyeri Hagan (2002).

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eröffnet nicht nur Einsichten dariiber, wie Gewalt ,,hervorgebracht" wird - indem eine Gewalt-Zuschreibung vorgenommen wird, welche bei der gesellschaftlichen Beurteilung Zustimmung fmdet, wodurch die TäterInnen-Beurteilung (des Handelns als Nicht-Gewalt) delegitimiert wird -, sondern auch, wie Gewalt - fiir die Gesell­ schaft - zum Verschwinden gebracht werden kann: durch Verzicht auf Gewaltzu­ schreibungen oder andere Legitimation von "Gewalt"-Handlungen, so dass sie ge­ sellschaftlich nicht mehr als "Gewalt" gelten. Beide Prozesse, das Hervorbringen und das Verschwindenlassen von Gewalt, sind Elemente gesellschaftlicher Selbstbe­ schreibung (Luhmann 1997) und des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses bei der Bewertung von Gewalt. Einige skizzenhafte Beispiele mögen dies verdeutlichen.

apparat in der Opfer-Rolle dar, um der staatlichen Gegengewalt Legitimation zu verschaffen. Beide Seiten zielten mit ihren Gewalt-Zuschreibungen auf die Delegitimation des Handelns der jeweils anderen Seite. Dabei fand die Gewalt­ Zuschreibung des Staates die größere Zustimmung in der Gesellschaft, was ihm die Möglichkeit eröffnete, die eigene Gewalt - als (legitimierte) Gegen­ gewalt - auszubauen, rechtsstaatliche Instrumente einzuschränken und damit die demokratische Kontrolle der staatlichen Gewalt zu erschweren. Die ,,zu­ schauerInnen" waren mehrheitlich der Zuschreibung des Staates gefolgt und hatten damit seine Reaktionen auf die Gewalt als Gegen-Gewalt legitimiert. 3.

1.

Die Auseinandersetzung um die sogenannte Wiederbewaffnung der Bundes­ republik Deutschland war eine wichtige und bis heute prägende Gewalt­ Debatte dieser Gesellschaft. Der Korea-Krieg 1950-53 wurde von der Bundes­ regierung zum Anlass genommen, auf die militärische Bedrohung der BRD, insbesondere durch die Sowjetunion, hinzuweisen. Gegenüber der Politik der Sowjetunion erfolgte also eine Gewalt-Zuschreibung, fiir die sich die Bundes­ regierung quasi stellvertretend fiir den westdeutschen Staat in die Opfer-Rolle begab. Ziel dieser Gewalt-Zuschreibung war, der Sowjetunion die Legitimation ihrer Rüstung zu bestreiten und daraus zugleich die Legitimation fiir eigene mi­ litärische Aufrüstung - fiir Gegengewalt also - zu gewinnen. Diese Gewalt­ Zuschreibung erfolgte primär vor der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die hier die Zuschauer-Rolle einzunehmen und über die Delegitimation der sowje­ tischen Rüstung zu urteilen hatte. Teile dieser Gesellschaft reagierten darauf mit einer konkurrierenden Gewaltzuschreibung; auf dem Hintergrund ihrer Op­ fer-Erfahrung des gerade erst beendeten Krieges wollten sie das Handlungspo­ tenzial aller militärischen Gewaltapparate als "Gewalt" bezeichnet sehen und zielten damit primär auf die Delegitimation der Adenauerschen Wiederbewaff­ nungspläne. Gerade die große Umstrittenheit der dann getroffenen politischen Entscheidung der Bundesregierung erforderte die Fortschreibung der eigenen "Opfer-Rolle" (Gewalt-Zuschreibung fiir das Handeln der Sowjetunion) ver­ bunden mit dem Aufbau eines Feindbilds (vgl. Senghaas 1981; Weller 2000), weil sich nur darüber die Legitimation der eigenen Aufrüstung gegenüber der bundesdeutschen Gesellschaft aufrechterhalten ließ.

2.

Eine weitere prägende Gewaltdebatte erlebte die Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit terroristischer Gewalt. Das oben skizzierte Modell ließe sich natürlich auf jede einzelne Gewalttat, jeden einzel­ nen Schritt der damaligen Gewalt-Debatte anlegen, was jedoch im hier interes­ sierenden Zusammenhang nicht erforderlich ist. Verdeutlicht werden soll allein das Grundmuster, nach dem durch die Zuschreibung von Gewalt ein Gewalt­ Täter oder eine Gewalt-Täterin konstituiert wird und das zuschreibende "Op­ fer" die gesellschaftliche Delegitimation des TäterInnen-Handelns erreichen will. So zielte die terroristische Strategie darauf ab, den wahren Gewaltcharak­ ter des kapitalistischen Staates zu enthüllen (Gewalt-Zuschreibung), um ihn auf breiter Front zu delegitimieren und damit zugleich der eigenen Gewalt­ Strategie Legitimation zu verschaffen. Gleichzeitig stellte sich auch der Staats­

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Auch im Zuge der sicherheitspolitischen Debatte um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen in den I980er Jahren fanden in der Bundesre­ publik bedeutsame Gewalt-Debatten statt, von denen eine herausgegriffen wer­ den soll, die vor allem das Element der Gewalt-Zuschreibung verdeutlichen kann. Die Raketen-Gegnerlnnen hatten, um die Stationierung doch noch zu verhindern, vieifliltige "gewaltfreie Aktionen", insbesondere Sitzblockaden, durchgeführt, die der Staatsapparat nicht dulden wollte. Entsprechend griff er mit polizeilichen Aktionen ein und ließ die Blockaden abräumen. Zur Legiti­ mation seiner Zwangsmaßnahmen erklärte der Staatsapparat die Einschränkung der Bewegungsfreiheit fiir die Raketen zur Gewalt. Die BlockiererInnen hatten sich aber auch deshalb fiir "gewaltfreie" Aktionen entschieden, um dem Staats­ apparat so weit wie möglich die Option zu entziehen, aus einer Opfer-Rolle die Legitimation fiir Gegengewalt zu erlangen. 19 Vielmehr sollte das polizeiliche Eingreifen als gewaltsam erscheinen. Somit konkurrierten beide Seiten mit ih­ ren Gewalt-Zuschreibungen um die Zustimmung der Gesellschaft zur Delegi­ timation des Handeins der jeweils anderen Seite. Dies wird besonders daran deutlich, dass die Rechtfertigung des staatlichen Gewalt-Einsatzes gegen die "gewaltfreien" Blockaden darüber erfolgte, dass das Sitzen auf der Straße im juristischen Sinne zur "Gewalt" erklärt werden musste (§ 240 StGB). Die De­ legitimation des Handelns der RaketengegnerInnen sollte über eine Gewalt­ Zuschreibung erfolgen, um das eigene gewaltsame Eingreifen gegen die "ge­ waltfreien" Blockaden vor der Gesellschaft zu rechtfertigen. Der korrigierende Eingriff in die entsprechende Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsge­ richt 1987 lässt sich dann als juristischer Nachvollzug einer weitgehend erfolg­ losen Delegitimation der gewaltfreien Blockaden verstehen. Die staatliche Ge­ walt-Zuschreibung hatte nicht zu der beabsichtigten breiten Delegitimation der FriedensdemonstrantInnen geführt.

Diese drei skizzenhaften Beispiele fiir eine konstruktivistische Analyse der Gewalt im Dreiecksverhältnis zwischen Opfern, TäterInnen und der beurteilenden Gesell­ schaft (,,zuschauerInnen") sollten verdeutlichen, wie Gewalt in Gesellschaften her­

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Hier lässt sich möglicherweise ein gesellschaftlicher Lernprozess identifIzieren, denn die zwei ersten hier angefiihrten Beispiele von Gewalt-Debatten legten die Erfahrung nahe, dass sich zwar staatliche Gewalt in gewissem Maße delegitimieren lässt, aber nicht in solchem Maße, dass damit gegen den Staat gerichtete Gewalt gesellschaftliche Legitimation gewinnen könnte; die Gewalt­ Zuschreibungen des Staatsapparates hatten bis dahin noch immer den Streit um die "Opfer-Rolle" gewonnen. Dies änderte sich am Ende der I 980er Jahre partiell.

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vorgebracht wird und wie sich aufgrund des gesellschaftlichen Beurteilungs­ prozesses von Gewalt-Zuschreibungen der Bereich dessen, was als zu delegiti­ mierende Gewalt betrachtet wird, verändert. Diese wenigen Beispiele konnten zu­ gleich schon zeigen, wie sich durch die Analyse der Kornmunikationszusammen­ hänge über Gewalt bestimmte Muster gesellschaftlichen Gewaltumgangs andeuten, etwa die Gewalt-Zuschreibung zur Legitimation von Gegengewalt oder der Streit um die Opfer-Rolle, wenn es darum geht, umstrittene Formen von Gewalt zu delegi­ timieren. In der hier angewendeten konstruktivistischen Perspektive lässt sich sowohl der gesellschaftliche Wandel des politischen Gewalt-Begriffs als auch die grund­ sätzliche Entstehung von Gewalt im Sinne von Gewaltzuschreibungen beobachten. Damit wird eine differenzierte friedenstheoretische Gewaltanalyse ermöglicht, in­ dem mindestens drei Elemente der gesellschaftlichen Konstitution von Gewalt unter­ schieden werden, ohne dass eines für sich genommen schon für die "Gewalt" stehen könnte. Ausgangspunkt für diese konstruktivistische Gewaltanalyse ist die Gewalt­ Zuschreibung, die Kennzeichnung einer Handlung als Gewalt in einem gesellschaft­ lichen KommurtikationS"zusammenhang. Nur wenn die ,,zuschauerInnen", die den gesellschaftlichen Kornmunikationszusarnmenhang bilden, in ihrer Gewalt­ Beurteilung der fraglichen Handlung mehrheitlich der Zuschreibung folgen, handelt es sich um eine Gewalt-Handlung, die als solche damit gesellschaftlich delegitimiert wird (Delegitimation der "Gewalt"-Handlung). Damit aber steht nicht mehr die Frage im Vordergrund, was friedenstheoretisch alles als "Gewalt" bezeichnet wer­ den soll oder was die eigentliche Gewalt ist, sondern die gesellschaftliche Interakti­ on, in der Gewaltzuschreibungen und die Delegitimation von Gewalt stattfinden. Es ist der gleiche Ort, an dem jede Friedensordnung breite Anerkennung erfahren muss, wenn sie auf Dauer einen gewaltarmen Umgang mit Konflikten etablieren will. Insofern ist der gesellschaftliche Umgang mit Gewaltzuschreibungen ein zentrales Element von Friedenstheorien, das sich nicht auf die formale Existenz eines Ge­ waltmonopols und dessen Legitimationsproduktion reduzieren lässt. Ohne eine kon­ struktivistische Perspektive auf die "Gewalt" und damit auf die Hindernisse für den Frieden lässt sich kein Verständnis für die normativen Ursachen und Bedingungen des Friedens entwickeln.

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Zurück zum Ausgangspunkt, oder: Beobachtungen friedenswissenschaft­ licher Beobachtungsweisen

Mit dieser beispielhaften Anwendung einer konstruktivistischen Perspektive auf die Gewaltproblematik sollte verdeutlicht werden, welche erweiterten friedenswissen­ schaftlichen Einsichten sich mithilfe dieser Herangehensweise gewinnen lassen und wie die Unterscheidung nach verschiedenen Dimensionen wissenschaftlicher Arbeit einige Verschränkungen friedenswissenschaftlicher Begriffsbildung aufschließen kann. So verweist die konstruktivistische Perspektive auf Gewalt zurück auf die am Beginn stehende Unterscheidung von politischer, disziplinärer (wissenschafts­ politischer) und analytischer Begriffsbestimmung. Gerade im friedenswissenschaft­ lichen Kontext findet sich beim Gewalt-Begriff diese Vermischung der drei Dimen­ sionen wissenschaftlicher Arbeit, die aus konstruktivistischer Perspektive sichtbar

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gemacht werden konnten. Dies legt nahe, den gesamten friedenswissenschaftlichen Begriffsapparat daraufhin zu durchforsten, welche blinden Flecken er in der frie­ denswissenschaftlichen Beobachtungsweise produziert. Wenn etwa Czempiels Frie­ densbegriff - um hier abschließend nur noch ein Beispiel herauszugreifen - die friedenswissenschaftliche Aufmerksamkeit auf den Konfliktaustrag zwischen Staa­ ten richtet und den Frieden dort im Verzicht auf "die Anwendung organisierter mili­ tärischer Gewalt" (Czempiel 2002: 85) erkennen will, entstehen mindestens die zwei folgenden blinden Flecken: Transnationale Gewalt, die zwar grenzüberschreitend, aber nicht ausschließlich zwischen Staaten und ihren militärischen Gewaltorganisationen ausgeüht wird (vgJ. Weller 2003b), bleibt als Friedensgeflihrdung unbeachtet, obwohl sie heute einen wesentlichen Teil der organisierten Gewalt im internationalen Konfliktgeschehen ausmacht und für bedeutende aktuelle Bedrohungsvorstellungen verantwortlich ist. Die transnationalen Terroranschläge vom 11. September 2001 und der daraufhin geführte Krieg gegen die Taliban-Herrschaft in Afghanistan sind Beispiele hierfür. Zum Zweiten verhindert Czempiels Friedensdefmition, den möglichen Beitrag orga­ nisierter militärischer Gewalt zwischen Staaten als Mittel der Wiederherstellung etwa inner- oder zwischenstaatlichen Friedens systematisch zu erforschen. Bei aller völkerrechtlichen Fragwürdigkeit scheint es doch lohnenswert, die organisierte mili­ tärische Gewaltanwendung internationaler Allianzen wie etwa jener gegen den Irak 1991 oder gegen Rest-Jugoslawien 1999 u. a. auf ihren potenziellen Beitrag zu dem internationalen Frieden, der nach Czempiels Defmition im Mittelpunkt des Inte­ resses stehen sollte, abzuschätzen. Wenn ,,Frieden" aber jegliche Anwendung orga­ nisierter militärischer Gewalt ausschließt, führt eine solche Begriffsdefinition zur Ausblendung solcher Fragestellungen, die politisch von hoher Relevanz wären bzw. sind. Czempiels Friedensbegriff scheint mir wissenschaftspolitisch von hoher Rele­ vanz zu sein, indem er den Gegenstandsbereich der politologischen Teildisziplin Internationale Beziehungen als zentrales Feld der Friedensforschung ausweist. Da­ mit kann er diese Vorstellung von Frieden als normativen Orientierungspunkt in die Analysen internationaler Politik einführen. Er gewinnt damit einen nicht unbeträcht­ lichen Teil der ForscherInnen im Bereich der Internationalen Beziehungen für Fra­ gestellungen der Friedensforschung. Aber die Aufmerksamkeit für Friedensbe­ dingungen reduziert sich damit auf das Feld staatlicher Außenpolitik und zwischen­ staatlicher Beziehungen und produziert blinde Flecken, die oben beispielhaft ange­ deutet wurden. Die politische Bedeutung von Czempiels Friedensdefinition scheint mir dagegen eher ambivalent zu sein. Wenn zwar einerseits von Bevölkerungsmehr­ heiten in Europa die zwischenstaatliche Gewaltanwendung gegen den Irak abgelehnt wird, andererseits aber ständig neue Fälle militärischer Intervention zur "Befrie­ dung" innerstaatlicher oder transnationaler Gewaltkonflikte debattiert und auch durchgeführt werden, kann sich die Partei der KriegsgegnerInnen zwar gestärkt fühlen. Die politisch Verantwortlichen werden sich aber auf ein solches Begriffsver­ ständnis nicht einlassen wollen, eine solche Friedensforschung als weltfremd oder gar naiv wahrnehmen und ihr kaum Beachtung bei der Abwägung ihrer politischen Entscheidungen schenken. Wenn der Friedens-Begriff im politischen Diskurs nun aber - ganz entgegen der referierten wissenschaftlichen Defmitionen - vermehrt als Legitimations­

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ressource zur Anwendung von Gewalt - im Sinne eines verlorenen und darum wie­ derherzustellenden Friedens - verwendet wird, ist es auch eine Aufgabe der Frie­ densforschung, diese Begriffsverwendung zu analysieren, etwa unter der Fragestel­ lung, in welchem Maße und durch welche Mechanismen sie legitimatorische Kraft für die Gewaltanwendung produziert - auch oder gerade wenn man dies politisch ablehnt. Dafür aber ist die Unterscheidung und der Wechsel der Perspektiven von der Welt-Beobachtung zur Diskurs-Beobachtung erforderlich, der mit einer kon­ struktivistischen Herangehensweise ermöglicht wird (vgl. Weller 2003c). Auf einer politischen Ebene kann die eben referierte Begriffsverwendung kritisiert werden, aber dies bringt weder ein Verständnis fur das zugrundeliegende politische Legiti­ mationsmuster noch rur die eigene Rolle im politischen Streit um Begriffe und Zu­ schreibungen hervor. Ohne die Reflexion der eingenommenen Perspektive und de­ ren bewussten Wechsel im Hinblick auf unterschiedliche Beobachtungsobjekte ver­ sch.enkt die Friedensforschung das innovative theoretische Potenzial konstruktivisti­ sch.er Herangehensweisen. Die im einleitenden Abschnitt dieses Beitrags vorgenommene Unterscheidung von drei Dimensionen friedenswissenschaftlicher Arbeit (politisch, disziplinär, ana­ lytisch) geschah auf der Grundlage eines Reflexiven Konstruktivismus, der von Beobachtungen ausgehend die ihnen zugrundeliegenden Beobachtungsweisen zu identifizieren sucht. Der Mehrdimensionalität friedenswissenschaftlicher Begriff­ licbkeiten liegen mindestens die drei genannten Dimensionen zugrunde, die nicht nur im Hinblick auf die Identität der Friedensforschung unterschieden werden soll­ ten, sondern bei jeder weiteren begrifflichen Arbeit, insbesondere wenn die politi­ sche Dimension im Vordergrund steht. Es ist auch eine Aufgabe der Friedensfor­ schung, den politischen Diskurs über Krieg und Frieden mitzugestalten; die Beo­ bachtungen der gesellschaftlichen Gewaltdiskurse haben verdeutlicht, wie wichtig und bedeutsam der Wandel normativer Begriffe für die politische Gestaltung der Gesellschaft ist. Aber solche politischen Beiträge sollten weder den Anspruch erhe­ ben und noch weniger so gelesen werden, als ob sie zugleich wichtige Beiträge zur disziplinären Abgrenzung der Friedensforschung oder gar zu ihrer theoretisch­ analytischen Fundierung leisten könnten. Insofern sei hier abschließend betont, dass die vorgestellte reflexiv-konstruk­ tivistische Perspektive weder einen unmittelbaren Beitrag zur politischen Friedens­ diskussion leisten noch der Friedensforschung zu einer verbesserten Identitäts­ bildung verhelfen kann. Sie überwindet vielmehr mithilfe ihrer Theorie der Beob­ achtung die disziplinären Grenzen und bietet damit ein theoretisch stabiles interdis­ ziplinäres Integrationspotential - welches möglicherweise zu einem späteren Zeit­ punkt durchaus einen Beitrag zur Identitätsbildung einer theorieorientierten, interdis­ ziplinären Friedenswissenschaft leisten könnte. Vor allem aber bietet der Reflexive Konstruktivismus über sein Selbstbeobachtungspotenzial die Möglichkeit, diffuse Begriffs- und Konzeptdebatten aufzuschließen, die Eigenanteile des wissenschaft­ lichen Beobachtens an den friedenswissenschaftlichen Erkenntnissen zu reflektieren bzw. reflektierbar zu machen und zudem das empirische Feld differierender Wirk­ lichkeitskonstruktionen systematisch analysieren zu können: über die Beobachtung von Beobachtungsweisen. Diese reflexiv-konstruktivistische Perspektive kann sich nicht über einen angeblich besseren Zugriff auf die Realität rechtfertigen, stattdessen aber neben ihrem erweiterten Analysespektrum auch ihr erhöhtes Selbstreflexions-

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potenzial in die Waagschale werfen und sich vielleicht gerade damit als moderne Wissenschaft im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs behaupten.

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