Inhaltsverzeichnis. 1 Einleitung vii

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung vii 2 Didaktische Bestandsaufnahmen 1 2.1 Unterschiede in der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...
Author: Carin Maurer
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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung

vii

2 Didaktische Bestandsaufnahmen 1 2.1 Unterschiede in der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2.1.1 Belege f¨ ur die unterschiedliche Analyse der gesprochenen Sprache bei Schriftkundigen und Schriftanf¨angern . . . . . . . . . . . . . . . 2 2.1.2 Die zentralen Aufgaben f¨ ur die Bef¨ahigung zum Lesen- und Schreibenlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1.3 Zur Kritik der gegenw¨artigen Didaktik: die M¨ar von der Lauttreue als eine 1:1-Pr¨ asentation von Laut und Buchstabe mit Ausnahmen“ 4 ” 2.2 Die Lautschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2.1 Lautschrift vs. unserer gewohnten Schrift . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2.2 Lautbezogene Markierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.2.3 Markierungen der Prosodie (silbische Gliederung, Akzentuierung . . 12 ¨ 2.2.4 Ubung zum Erlernen der Lautschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.3 Lesen und Schreiben von Schriftkundigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3.1 Dekodierung des Geschriebenen beim Lesen als Anwendung des erworbenen Schriftwissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3.2 Beschreibung des Zeichensystems der Schrift f¨ ur das Lesen von W¨ortern im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3.3 Weitere Belege f¨ ur das Schriftwissen Schriftkundiger f¨ ur das Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3.4 Linguistischer Diskurs: Zum Begriff der Prosodie . . . . . . . . . . . 40 2.3.5 Kodierung des Gesprochenen beim Schreiben als Anwendung des erworbenen Schriftwissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.3.6 Res¨ umee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.4 Analyse des Schreibens und Lesens von Schriftanf¨angern . . . . . . . . . . . 60 ¨ 2.4.1 Segmentierungen gesprochener Außerungen durch Schulanf¨anger . . 60 2.4.2 Gliederung von W¨ortern durch Schulanf¨anger . . . . . . . . . . . . . 63 2.4.3 Das Lesen von Schulanf¨angern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.5 Wortausgliederungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.5.1 Wortausgliederungen durch Schriftkundige . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.5.2 Wortausgliederungen in fr¨ uhen Kinderschreibungen . . . . . . . . . . 98 2.6 Die Aneignung des Gebrauchs literate Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.6.1 Der Gebrauch literater Strukturen bei Erwachsenen . . . . . . . . . 106 2.6.2 Der Erwerb literater Strukturen durch den Schrifterwerb . . . . . . . 109 iii

iv

INHALTSVERZEICHNIS

2.7

2.8

Lerntheoretischer Exkurs: Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Neuere Ergebnisse der Spracherwerbsforschung: Spracherwerb als Verbindung von Ged¨achtnisleistung und Aufbau von Regelwissen . 2.7.2 Neuere Ergebnisse der Entwicklungspsychologie: Belege f¨ ur ein generelles fr¨ uhes regelgeleitetes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.3 Schrifterwerb als Chance f¨ ur eine neue Qualit¨at des Lernens . . . . ¨ L¨ osungen der Ubungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 131 . 131 . 137 . 140 . 146

3 Folgerungen aus den Bestandsaufnahmen 159 3.1 Prosodie als Folge der Artikulationsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.1.1 Die Artikulation von Silben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.1.2 Der regelhafte Aufbau von Silben durch Druckauf- und abbau . . . . 163 3.2 Die Betonungsunterschiede der Silben als Merkmal deutscher W¨orter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3.2.1 Der Wortakzent im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3.2.2 Der Wortakzent des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.2.3 Vergleichende Beschreibung der einzelnen Silbentypen des Deutschen 174 3.3 Laute als Resultate abstrahierender Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3.3.1 Das Kontinuum der Silbe als Folge der supraglottalen Artikulationsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3.3.2 Beobachtungen der Schriftanf¨anger bei ihren Lautidentifikationen . . 188 3.3.3 Schrifhistorischer Exkurs: Dt. Orthographie und ihre Didaktik . . . 192 3.4 Laute als Folge der Sprechbewegungsabl¨aufe und ihre Einbettung in das Kontinuum der Silben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.1 Klassifzierung der Laute des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.2 Erschwernisse bei der Lautidentifikation . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3.5 Auswirkungen der Koartikulation auf die Artikulation . . . . . . . . . . . . 244 3.6 Wortausgliederungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 ¨ 3.7 L¨ osungen der Ubungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3.8 Analysierende Aktivit¨aten der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4 Koartikulation 221 4.1 Die verschiedenen Register der gesprochenen Sprache . . . . . . . . . . . . . 221 5 Der Aufbau wort¨ ubergreifender literater Strukturen 5.1 Wortausgliederungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Ann¨ aherung an das Kontinuum durch Erwachsene . . . . . 5.1.2 Analyse der Wortausgliederungen in fr¨ uhen Schreibungen . ¨ 5.1.3 Die Ubersetzungen‘ von Dialektsprechern als Beleg f¨ ur die ’ nung schriftsprachlichen Registers . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Schrifterwerb als Ausbau eines literaten Registers . . . . . .

I

Die Silbentypen des Deutschen

6 Die 6.1 6.2 6.3

. . . . . . . . . . . . Aneig. . . . . . . .

225 . 225 . 227 . 230 . 230 . 240

253

Normalsilbe 255 Das Vorkommen der Normalsilben im Grundschulunterricht . . . . . . . . . 255 Schreibungen der Normalsilbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Zur Systematik der Normalsilbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

INHALTSVERZEICHNIS

6.4

6.5

v

Die Vokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Bildung der Vokale . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Analyse von Kinderschreibungen der Normalsilbe 6.4.3 Unterrichtsbezogenes Res¨ umee . . . . . . . . . . 6.4.4 Zur unterrichtlichen Erarbeitung der Normalsilbe ¨ L¨ osungen zu Ubungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . .

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266 266 276 279 280 289

7 Die betonte Silbe 297 7.1 Die Aneignung der Schreibung betonter Silben . . . . . . . . . . . . . . . . 298 7.2 Die systematische Darstellung des Reims I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.2.1 Vokale mit losem Anschluss (hV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.2.2 Vokale mit losem Anschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 7.2.3 Zur Arbeit mit Hausbild und Lasso im Unterricht . . . . . . . . . . 338 7.3 Diphthonge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 7.3.1 Schließende‘ Diphthonge () . . . . . . . . . . . . . . . . 341 ’¨ 7.3.2 Offnende‘ Diphthonge () . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 ’ 7.3.3 Res¨ umee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 7.3.4 Zur Arbeit mit Hausbild und Lassos im Unterricht . . . . . . . . . . 355 7.4 Vokale mit festem Anschluss in geschlossener Silbe . . . . . . . . . . . . . . 357 7.4.1 Bildung und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 7.4.2 Dialektale Varianten der Vokale mit festem Anschluss (hv) . . . . . 362 7.4.3 Zur Arbeit mit dem Hausbild und dem Lasso im Unterricht . . . . . 374 7.5 Konsonanten im Endrand der betonten Silbe . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 7.6 Die systematische Darstellung des Reims II . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 7.6.1 Zum Begriff Sch¨arfung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 ’ 7.6.2 Untersuchungen zur Wahrnehmung von Lauten, f¨ ur die zwei gleiche Konsonantenbuchstaben geschrieben werden ( Sch¨arfungsschreibung)‘ 385 ’ 7.6.3 Zur phonologischen Systematik der Sch¨arfungsw¨orter . . . . . . . . . 403 7.6.4 Zur Schreibung der Sch¨arfungsw¨orter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 7.6.5 Die Darstellung der Sch¨arfungsschreibung in den derzeitigen Lehrg¨angen zum Schrifterwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 7.6.6 Untersuchung zur Nutzung des Hausbildes f¨ ur die Bewusstmachung der Struktur der Sch¨arfungsw¨orter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 7.6.7 Zur Arbeit mit Hausbild und Lasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 7.6.8 Lesen- und Schreibenlernen unter Ber¨ ucksichtigung des prosodischen Wissens der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 ¨ 7.7 L¨ osungen der Ubungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 8 Die 8.1 8.2 8.3 8.4

Reduktionssilbe Zur Systematik der Reduktionssilbe I . . . . . . . . Die Reduktionssilbe in Lehrg¨angen . . . . . . . . . Wahrnehmung und Schreibung der Reduktionssilbe Die Anfangsr¨ ander der Reduktionssilbe . . . . . . . 8.4.1 Komplexe Anfangsr¨ander . . . . . . . . . . 8.5 Zur Arbeit mit Hausbild und Lasso . . . . . . . . 8.5.1 Die s-Schreibung . . . . . . . . . . . . . . . ¨ 8.6 L¨ osungen zu Ubungsaufgaben . . . . . . . . . . . .

9 Komposita

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461 462 474 480 498 499 504 506 516 521

vi

INHALTSVERZEICHNIS

10 Systematik der Orthographie 10.1 Die Schreibung des f-Lautes . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Die Bedeutung der Morpheme im Deutschen als ten: die morphologische Konstanzschreibung . . 10.2 Die Schreibung der i-Laute . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis

523 . . . . . . . . . . . . 523 konstante‘ Einhei’ . . . . . . . . . . . . 529 . . . . . . . . . . . . 530 539

Kapitel 3

Folgerungen aus den Bestandsaufnahmen: eine Beschreibung des prosodieorientierten Orthographiemodells aus didaktischer Perspektive 3.1

Prosodie als Folge der Artikulationsbewegungen

Jede spontane Segmentierung des Gesprochenen – das konnten die Bestandsaufnahmen zeigen – ist eine prosodische, daher auch die von Kindern zu Beginn ihres Schrifterwerbs: Sie gliedern die Texte in Takte, d.h. nach betonten und unbetonten Einheiten, und in Silben: Silben sind die kleinste Einheit, in die Sprache spontan gegliedert werde kann. Die Basis dieser Gliederung ist die Wahrnehmung der Aktivit¨aten der Muskulatur des Bauch- und Brustraums, die auch f¨ ur die Atmung zust¨andig sind. Die Tatsache, dass die Kinder an ihrem Schriftanfang nahezu ausschließlich Konsonantenbuchstaben schreiben, also die Anfangsr¨ander der Silben pr¨asentieren, zeigt, dass sie den Neubeginn jeder Silbe am ehesten zu identifizieren in der Lage sind. Silben werden als neue Anst¨oße aufgrund des neuen Drucks, der durch die Muskelbewegungen des infraglottalen Bereichs entsteht, und / oder als die Zu- und Abnahme eines Schalls wahrgenommen. Sie stellen ein lautliches Kontinuum dar. F¨ ur Menschen, die (noch) nicht gelernt haben, eine Alphabetschrift zu schreiben, sind Silben der Laut‘. Die Segmentierung des ’ Kontinuums, die f¨ ur das Schreiben einer Alphabetschrift vorzunehmen ist,

160

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

kann nicht spontan und intuitiv geschehen, sondern bedarf besonderer kognitiver Anstrengungen, besonderer Abstraktionsleistungen. Diese basieren auf Wahrnehmungskategorien, die zur Unterscheidung einzelner Punkte in dem Kontinuum der Silbe herausgebildet werden m¨ ussen. Die erste Teilung der Silbe geschieht aufgrund des artikulatorischen und auditiven Kontrastes zwischen den Konsonanten im Anfangsrand, und den Vokalen im Reim. Die Binnengliederung dieser beiden Teile, wenn sie komplex sind, entspricht einer festen Ordnung:Laute als Segmente der Silbe, die f¨ ur das Schreiben einer Alphabetschrift zu identifizieren sind, sind in ihrer Abfolge und in ihrer Auspr¨agung in diese Ordnung eingebunden. Das Wissen u ¨ber diese Ordnung verhilft zum Erwerb der Wahrnehmungskategorien, die die Lautidentifizierungen erm¨oglichen.

3.1.1

Die Artikulation von Silben

Das Folgende sind Schreibungen, die sehr h¨aufig im 1. Schuljahr, auch noch (wie diese) zu Beginn des 2. Schuljahres anzutreffen sind: Die Kinder, die die W¨orter schon relativ vollst¨ andig schreiben, w¨ ahlen f¨ ur den Beginn einer neuen Silbe Großbuchstaben. Diese kennen sie als Markierung von neuen Anf¨angen (als W¨orter). Hier k¨onnen sie als Zeichen f¨ ur die Wahrnehmung des neuen Anstoßes, der mit der Bildung von Silben verbunden ist, gedeutet werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

L¨ oWe LauFen Sch¨ uKe Sinken Esel WenDe HeFte Brile H¨ ot PoPe rola FensDa BinDn Torte Muse SchbuKen

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

L¨owe LauFen St¨ uKe SchiKen Esl WenDe HetDe BilE H¨ ute PuPe RoLa Vensda BinDen tote M¨ uZe Spukn

In den Listen von 346 Kindern am Ende der 1. Klasse aus Hamburg enthielten u ¨ber 20% Markierungen der 2. Silben mit Großbuchstaben, und bei jedem Kind, das sie vornahm, kam es mindestens bei drei W¨ortern vor.

3.1. PROSODIE ALS FOLGE DER ARTIKULATIONSBEWEGUNGEN

161

Silbenbeginn mit Großbuchstaben bei Zweitkl¨asslern:

Um zu verstehen, weshalb prosodische Strukturen die Gliederung von Sprache bestimmen, ist es notwendig, sich zu vergegenw¨artigen, dass Sprechen ein biologisch-physikalischer Prozess ist. Die Wahrnehmung der Sprache, also dem Produkt des Sprechens, geschieht in einer doppelten Weise: • als Erleben des Produktionsprozesses, d.h. als rhythmisierte, kin¨asthetische und taktile Wahrnehmung der Aktivit¨aten der Organe, die an der Artikulation beteiligt sind ( Kin¨ asthetik“ = Bewegungs- und Muskelgef¨ uhl, Empfindungen f¨ ur Muskeln und ” Gelenke, Kin¨ asthesie“ = Lehre von den Bewegungsempfindungen). ” • als Aufnahme des Schalls, der beim Sprechen entsteht, durch die Ohren (auditive Perzeption)1 Beide Wahrnehmungsformen werden im Folgenden beschrieben werden, weil sie sozusagen das empirische Material liefern, das den Kindern f¨ ur ihre analytischen und synthetischen Aufgaben beim Schreiben- und Lesenlernen zur Verf¨ ugung steht. Dabei wird die Produktion im Vordergrund stehen, weil sie st¨arker von den Kindern kontrolliert und daher im Unterricht besser thematisiert werden kann. Wenn Nichtlinguisten u ¨berhaupt diesen biologisch-physikalischen Aspekt des Sprechens (evtl. beim Fremdsprachen lernen, wenn außergew¨ohnliche Artikulationen wie z.B. die f¨ ur im Englischen ge¨ ubt werden) wahrnehmen und u ¨ber Sprechorgane oder Artikulationsorgane reden, denken sie normalerweise ausschließlich an die Organe im Mundraum, in erster Linie wohl an die Zunge. Tats¨achlich ist es aber so, dass nicht nur weitere Organe im Mund, sondern dass auch der Kehlkopf mit der Glottis, vor allem der infraglottale‘ ’ Bereich, der Bereich unterhalb des Kehlkopfes mit den Atmungsorganen im Brustraum bis hinunter zum Zwerchfell am Sprechen beteiligt sind: Der Mensch spricht fast mit dem ganzen K¨ orper. An den Belegen in Kapitel 2 war zu sehen, dass die Kinder, bevor sie zur Schreibung von Zeichen f¨ ur Laute und zur Abgrenzung von W¨ortern kommen, andere Gliederungen vornehmen: Sie schreiben Silben und fassen Takte zu W¨ortern zusammen. Diese Gliederungen sind die ersten, denn sie beruhen auf Produktionen, die automatisch‘ geschehen, ’ die keiner Kontrolle, keines spezifischen Lernens bed¨ urfen. Sie sind elementar k¨orperlich vorhanden: Die Sprachproduktion folgt der regelm¨aßigen Bewegung, die durch den Wechsel von Ein- und Ausatmen entsteht. Er ist so elementar wie das Schlucken beim Essen, die Beinbewegungen beim Gehen, das Gleichgewichthalten beim Radfahren – alles Folgen 1 Das, was wir unter Verstehen“ annehmen, n¨ amlich das Umsetzen der biologisch-physikalischen Wahr” nehmungen in der Kommunikation, erfordert eine kognitive Verarbeitung dieser Wahrnehmungen (vgl. Lindner [einf¨ ugen Jahreszahl], S. 26-34):

– deren logisches Verkn¨ upfen und – deren Abgleich mit den Eintragungen im Ged¨ achtnis.

162

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

nicht bewusst gesteuerter, nicht willk¨ urlicher, sondern spontaner, instinktiver‘ T¨atigkei’ ten. Sprechen ist das Produzieren von Rhythmus. Die Gliederungen, die dabei entstehen, sind die, die als prosodische Gliederungen bezeichnet werden. Sie werden von den Sprechern spontan vorgenommen.

Abbildung 3.1: Die am Sprechen beteiligten Organe; vgl. Maas 1999, 35 [bibtex, tp] Silben sind Produkte des infraglottalen Bereichs (siehe Abb. 3.1 auf Seite 162). Wenn wir uns die Produktion der Silben bewusst machen wollen, geschieht das in der Wahrnehmung eines neuen Anfangs von etwas Neuem, verursacht durch Druck: ein neuer Anschub‘ ’ oder Anstoß‘, wie die alte Phonetik es nannte. ’ Jeder weiß, dass nutzbar 2 Silben hat, weil er 2 Anst¨oße‘ wahrnimmt. ’ benutzbar 3 Silben hat, weil er 3 Anst¨oße‘ wahrnimmt. ’ benutzbare 4 Silben hat, weil er 4 Anst¨oße‘ wahrnimmt. ’ unbenutzbare 5 Silben hat, weil er 5 Anst¨oße‘ wahrnimmt. ’ Wenn die Kinder in ihren fr¨ uhen Schreibungen jeweils nur die Anfangsr¨ander der Silben wiedergeben, zeigen sie damit, dass sie jeweils den neuen Anstoß‘, Anschub‘, den Beginn ’ ’ von etwas Neuem, etwas Anderem in der Fortsetzung ihres Gesprochenen wahrnehmen. Den Anschub k¨ onnen sie identifizieren und bezeichnen: meistens mit dem Konsonantenbuchstaben am Anfang, der Rest ist eine ungegliederte Einheit. Hier das Mitsprechen‘ eines Erstkl¨asslers bei der Schreibung von : ’ [hk*n.dΓ hk*n.dΓ k*n k*n k*n] – schreibt K“ ” [hk*n.dΓ hk*n.dΓ dΓ dΓ dΓ] – schreibt D“. ” Und wenn sie als f¨ unf W¨orter“ bezeichnen, haben sie hier die ” Anzahl der Anst¨ oße‘, die sie wahrgenommen haben, gez¨ahlt. ’

3.1. PROSODIE ALS FOLGE DER ARTIKULATIONSBEWEGUNGEN

3.1.2

163

Der regelhafte Aufbau von Silben durch Druckauf- und abbau

In Kapitel ?? (das erste ist gemeint, tp) haben Ergebnisse aus Untersuchungen mit vorschulischen Kindern gezeigt, dass diese, wenn sie Silben zu gliedern beginnen, konsonantische Anfangsr¨ ander und den gesamten Reim als die Segmente der Silben wahrnehmen. Sie gliedern Silben nicht, wie Schriftkundige es erwarten, in Laute, sondern in diese beiden Teile. Die fr¨ uhen Schreibungen nahezu aller Kinder best¨atigen diese Grenzziehung, auch sie bestehen – individuell unterschiedlich lange – lediglich aus Konsonanten. Dabei werden komplexe Anfangsr¨ ander h¨ aufig schon mit den Buchstaben f¨ ur beide Laute dargestellt, bevor die Reime geschrieben werden snblmn“ / ” gtrfn“ / ” schwta“ / ” Krknhas“ / ” Klt“ / ” Diese Reaktionen der Kinder lassen sich als Zeichen ihrer Wahrnehmung eines f¨ ur sie identifizierbaren Anfangs einerseits, des weniger identifizierbaren Restes andererseits interpretieren: Diese Wahrnehmung stimmt mit der phonetischen Beschreibung der Silbe als dem Kontrast zwischen dem Anfangsrand und dem Rest, dem Reim, u ¨berein. Die Teile werden in der Sprachwissenschaft als die beiden Konstituenten der Silbe bezeichnet. Physikalisch sind Silben zu sehen als der Wechsel von Weniger-Mehr-Weniger eines Schalls, der durch Zu- und Abnahme des Drucks der Muskulatur im supraglottalen Bereich erzeugt wird. So wird die Silbe seit dem Beginn der Phonetik als eine Schallkurve‘ beschrieben: ’ Kern

Anfangsrand

Endrand

Die einzelnen Punkte, die es auf dieser Kurve gibt, unterscheiden sich durch ihre jeweils unterschiedliche St¨ arke des Schalls: Elemente mit geringem Schall am Anfang und am Ende der Silbe, mit starkem Schall in ihrer Mitte. Die St¨arke des Schalls wird als Lautheit‘ ’ wahrgenommen: Die R¨ ander sind weniger laut‘ als die Mitte, der Kern. Der Fachterminus ’ f¨ ur diese Lautheit‘ ist Sonorit¨ at 2 . Entsprechend wird die Silbe als eine Sonorit¨ atskurve ’ bezeichnet. Die Abfolge der einzelnen Punkte auf der Kurve nehmen somit eine feste Ordnung ein. Diese ergibt sich, wie gesagt, durch die Unterschiede der Sonorit¨at, die die einzelnen Punkte haben – und zwar aufgrund der Bedingungen ihrer Bildung (die ich im Folgenden in Kapitel [querverweis, tp] beschreiben werde). Wir sind gewohnt, innerhalb der unendlichen Menge der Punkte auf dieser Linie, also der Elemente der Silbe – aufgrund unserer Schrifterfahrung – nur einige wenige wahrzuneh2 Sonor

= klingend – Sonorit¨ at = Schallf¨ ulle.

164

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

hohe Sonorit¨at

geringe Sonorit¨ at

geringe Sonorit¨at

men. Diese bezeichnen wir als Laute. Unser Schrifterwerb hat uns ein Kategoriensystem vermittelt, das unsere Wahrnehmung f¨ ur die Analyse so sehr pr¨agt, dass wir annehmen, Silben best¨ anden aus den Teilen, f¨ ur die wir Buchstaben schreiben, und aus nichts anderem. Ein Laut ist also eine Gr¨oße, die entsteht, wenn man sich f¨ ur das Schreiben angesichts der Vorgabe der einzelnen Buchstaben mit der Segmentierung der gesprochenen Sprache besch¨ aftigt. Die Verteilung der Laute in der Silbe l¨asst sich in folgender Weise beschreiben.

gut wahrnehmbare Laute hohe Sonorit¨ at‘ ’

schlechter wahrnehmbare Laute = geringe Sonorit¨ at‘ ’

schlechter wahrnehmbare Laute = geringe Sonorit¨ at‘ ’

Diese Dreiteilung der Silbe, die sich so ergibt, ist hier bereits bekannt: Sie ist der Hintergrund f¨ ur das Silbenstrukturmodell als Baumdiagramm, das in Kapitel [querverweis, tp] dargestellt wurde: Silbe S Reim  S Anfangsrand S Nukleus Endrand wenig

viel

wenig

Sonorit¨ at

¨ Uber die unterschiedliche Schallqualit¨at der einzelnen Laute, d.h. u ¨ber ihre Sonorit¨at, ist schon lange und immer wieder gearbeitet worden. Als einer der ersten hat der Arzt Oskar Wolf 1871 seine Ergebnisse ver¨offentlicht (vgl. Maas 1999, Neef 2002). Dabei hat er auch beschrieben, wie er zu ihnen gekommen ist: Ich lud Herrn Appunn und noch zwei Musikverst¨andige ein, gegen Abend mit ” mir einen Spaziergang ins Freie zu machen, und zwar bei windstillem Wetter im Monat Mai vorigen Jahres. Darauf w¨ahlte ich als Versuchsort eine mit hohen

3.1. PROSODIE ALS FOLGE DER ARTIKULATIONSBEWEGUNGEN

165

B¨ aumen bepflanzte Chauss´ee [. . . ]. Appunn suchte nun die einzelnen Sprachoglichst gleichm¨assig fortdauernder Tonst¨arke anzugeben, w¨ahrend laute in m¨ er darin von dem einen ihm nahe bleibenden Musiker controlirt wurde; der andere Freund und ich entfernten uns darauf r¨ uckw¨arts bis zu der Stelle, an welcher wir den hervorgebrachten Laut nicht mehr unterscheiden konnten, d.h. bis wir annehmen konnten, dass eine Verwechslung des gesprochenen Lautes mit einem anderen m¨ oglich w¨are.“ (zitiert nach Neef 2002, 33). Dieses war sein Ergebnis: 1. ∆ 360 Schritte 7. 2. o 350 Schritte 8. 3. e 330 Schritte 9. 4. u 280 Schritte 10. 5. M 200 Schritte 11. 6. m, n 180 Schritte 12. (zitiert nach Maas (1999, S. 139), Neef

s. f k, t r b h 2002,

170-175 Schritte 67 Schritte 63 Schritte 41 Schritte 18 Schritte 12 Schritte S. 34)

Alle folgenden phonetischen Messungen zur Sonorit¨at der einzelnen Laute best¨atigen grunds¨ atzlich die Ergebnisse von Wolf, pr¨azisieren sie jedoch in einigen Punkten Maas (vgl 1999, S. 127). 1. ∆q, a, (˘, Γ) 7. v, z 2. eq, ¸, oq, =, øq, œ 8. f, s, M, ‘, ¸c, [ 3. iq, yq, uq 9. b, d, g 4. *, ], V 10. p, t, k 5. l, r 11. h, b 6. m, n, 8 (Die Darstellung ist abgewandelt und enth¨alt nur die im Deutschen anzutreffenden Laute, bei den Lauten f¨ ur wird nicht differenziert.) Diese Skala l¨ asst den Lauten eindeutige Positionen auf der Sonorit¨atskurve der Silbe, damit auch f¨ ur die M¨ oglichkeit der Abfolge innerhalb der Silbe zukommen.

hohe Sonorit¨ at Anfangsrand

?  Reim P  P

Nukleus Vokale Konsonanten

6

Endrand

Vokale Konsonanten

6 geringe Sonorit¨ at

geringe Sonorit¨ at

Verantwortlich f¨ ur die Positionen, d.h. f¨ ur die Schallst¨arke‘, sind die Bedingungen ’ ur die Bildung der Laute. Bevor ich sie im Folgenden (vgl. Seite [querverweis, tp]) f¨ ausf¨ uhrlicher beschreibe, hier eine erste grobe Unterscheidung:

166

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

• Die ersten vier Positionen der Skalen sind von den Vokalen besetzt. Sie haben oßte Sonorit¨ at. Die Ursache hierf¨ ur liegt darin, dass bei ihrer Bildung keidie gr¨ ne Ber¨ uhrung oder starke Engebildung wie bei Konsonanten vorkommt. F¨ ur ihre Differenzierung gilt: Je weiter der Mund ge¨offnet ist, d.h. je gr¨oßer der Resonanzraum f¨ ur den Schall ist, um so lauter / h¨orbarer / sonorer ist der Laut – bei [∆] ist ¨ eine maximale Offnung, bei [iq], [yq], [uq] eine minimale (s. auch S. [querverweis, t.e.]). • Die unteren Positionen sind von den Konsonanten besetzt, und zwar gestaffelt: von [l] und [r] (den Konsonanten, die die alten Phonetiker aufgrund ihrer starken Sonorit¨ at als Semivokale‘ bezeichnet haben) bis hin zu den Lauten, die keinerlei Schall ’ entstehen lassen ([h] und [b]) (und denen darum lange Zeit der Status eines Lautes abgesprochen wurde) (s. auch S. [querverweis, t.e.]). Die Einteilung der Laute nach ihrer Sonorit¨at mit der die Ordnung ihrer Abfolge in der Silbe gegeben ist, ist f¨ ur didaktische Zusammenh¨ange des Schrifterwerbs von großer Bedeutung. Sie begr¨ undet auch den Kontrast zwischen dem konsonantischen Anfangrand und dem Reim, und er bestimmt offensichtlich die Analyseleistung der Kinder. So l¨asst sich feststellen, dass sich die fr¨ uhen Schreibungen mit der Modellierung der betonten Silbe im Deutschen decken: Wenn die Kinder am Schriftanfang zun¨achst vorrangig Konsonantenbuchstaben schreiben, zeigen sie damit sowohl die Wahrnehmung einer neuen Silbe, als auch die des Kontrastes der beiden Elemente Anfangsrand und Reim. Hier zur Erinnerung Schreibungen aus den einleitenden Beispielen (s. S. [querverweis, t.e.]ff., S. [querverweis, t.e.]ff.): hvt / PsL / Snblmn / Gtrfm / . Die Abnahme der Zahlenwerte zur Mitte hin (s. Tabelle auf S. 57 [pageref einf¨ ugen, tp]) belegt die Zunahme der Sonorit¨at, der folgender Abstieg die spiegelverkehrte Abnahme der Sonorit¨ at3 . [g 9.

r 5.

V 4.

n 6.

t] 10.




¸c 8.

t] 10.




u] 3.




q]




- [f 8.

l 5.

V 4.

- [g 9.

r 5.

∆ 1.

- [M 8.

n 6.

e 2.

- 3 Die einzige Ausnahme im Deutschen, bei der die Sonorit¨ atshierarchie nicht eingehalten ist, ist der Anfangsrand mit [Mt] und [Mp] und der Endr¨ ander mit [ts] und [ps]. Auf diese F¨ alle gehe ich an sp¨ aterer Stelle ein (vgl. Kapitel [querverweis, tp]).

3.1. PROSODIE ALS FOLGE DER ARTIKULATIONSBEWEGUNGEN

167

Bei offenen Silben () trudelt‘ der Vokal aus und seine Sonorit¨at nimmt ’ zum Silbenende hin ab. Silbengrenzen sind Wechsel zwischen Abnahme und erneuter Zunahme der Sonorit¨at. Sie sind so ebenfalls symbolisch zu veranschaulichen: [k 10.

* 4.

n 6.

d 9.

Γ] 1.

- [m 6.

a 1.

n 6.

a 1.

t 10.

jl] 5.

v 7.

8 6.

k 10.

v 7.

Mantel>

j n] 6.




¸ 2.

s 8.

t 10.

- [M 8.




-

- [t 10.


, , vgl. Kapitel Das gilt jedoch nicht allein f¨ ur die Reduktionssilben ( < > We-trenn“ / Wettrennen , Ant-rank“ / Andrang von Zweitkl¨asslern zeigen, dass das ” ” Ende einer Silbe / der Beginn der n¨achsten Silbe dann nicht eindeutig ist, wenn die Sonorit¨ at des wandernden‘ Konsonanten die Zugeh¨origkeit zu beiden Silben zul¨asst. ’

168

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

[n 6.

e 2.

q p 2. 10. -

[v 7.

¸ 2. -

[b 11.

a n 1. 6. -

t 10.

l 5.

* ¸c] 4. 8. -

r 5.

¸ 2. -

t 10.

r 5

j n] 6.

a 1. -

vs.

vs.

8] 6.

[v 7.

vs.

[n 6.

e 2.

q 2. -

¸ t 2. 10. -

r 5.

[b 11.

n 6.

a 1. -

b 9.

l 5.

j ¸ n] 2. 6. - d 9.

r 5

* ¸c] 4. 8. -


a 8] 1. 6. -




Die Zahlenfolgenwerte k¨ onnen verdeutlichen, weshalb die Kinder bei ihrer erlernten lautlichen Links-Rechts-Addition beim Lesen M¨ uhe haben, die Silbengrenze zu erkennen: Eine Sonorit¨ atsabnahme u ¨ber die Silbengrenze hinaus l¨asst es zu, den Konsonanten des Anfangsrandes der Reduktionssilbe mit zu der vorderen Silbe zu addieren‘: ’ Lesen einer Erstkl¨ asslerin von : [tsq tseq tseqlq tseqlth htseqlth.hbeq] Erst die Lautierung f¨ ur den n¨achsten Vokalbuchstaben () erzwingt die Artikulation einer neuen Silbe: Die Sonorit¨at des Vokals erfordert es. So artikulieren die Kinder auch aus diesen Gr¨ unden Unw¨ orter‘: [htseqlth.hbeq] ist nicht [hts¸l.t˘]. ’ Die bisherige Beschreibung der Silbe als Sonorit¨atssilbe macht deutlich, dass ihre Elemente, die wir als Laute bezeichnen, nicht in einer beliebigen Reihenfolge stehen: Die Folge ist bestimmt durch • den Wechsel von Konsonanten (als weniger sonore Elemente) und Vokale (als sonore Elemente) • innerhalb der Konsonantengruppen durch das Maß an Sonorit¨at, das jeder Laut im Vergleich zu seinen Nachbarn‘ hat. ’ In diesem Zusammenhang merken Studentinnen immer wieder an, dass die Beschreibung der Sonorit¨ atshierarchie, die die unterschiedliche Lautheit‘ der einzelnen Elemen’ te beschreibt, im Widerspruch zu dem zu stehen scheint, was Kinder bei ihrem fr¨ uhen Schreiben u ¨ber ihre Wahrnehmung der Silbe zeigten: Die Repr¨asentation ausschließlich der konsonantischen Anfangsr¨ ander am Schriftanfang l¨asst vermuten, dass sie diese am deutlichsten wahrnehmen. Dieser vermeintliche Widerspruch l¨asst sich aufl¨osen, wenn ber¨ uck¨ sichtigt wird, dass Außerungen auf zwei Weisen wahrgenommen werden: • h¨ orend ( mit dem Ohr“) ” • die eigene Artikulation in ihren k¨orperlichen, kin¨asthetischen und taktilen Abl¨aufen sp¨ urend ( mit dem Bauch und dem Mund“). ” Die Darstellung der Silbe als Sonorit¨atskurve geh¨ort in den ersten Bereich, sie beschreibt sie als Produkt der auditiven Wahrnehmung. Viele Hinweise seitens der Kinder wie ihre Beschreibungen dessen, was sie wahrnehmen, wenn sie Gesprochenes f¨ ur das Schreiben analysieren (s. S. [querverweis, t.e.]), lassen allerdings darauf schließen, dass ihre Wahrnehmung vor allem eine kin¨asthetisch-taktile Wahrnehmung ist: Zitate von Erstkl¨ asslern4 : 4 Diese

Zitate verdanke ich Helen Schmalhofer.

3.1. PROSODIE ALS FOLGE DER ARTIKULATIONSBEWEGUNGEN

169

Muss jetzt [vq] oder [fq], sie sind immer so gleich hier vorne.“ ” Bei [lq] und [nq] muss ich immer aufpassen, die sind beide hier oben.“ ” [8] – meinst du den mit der Zunge da ganz hinten?“ ” Hierin liegt offensichtlich die Begr¨ undung daf¨ ur, dass sie mehrheitlich Konsonantenbuchstaben vor Vokalbuchstaben schreiben: Konsonanten werden (vgl. Kapitel [querverweis, t.e.]) durch Engen oder Ber¨ uhrungen von zwei Artikulationsorganen gebildet, sie sind taktil sp¨ urbar, w¨ ahrend bei der Vokalbildung die Zunge eine je unterschiedliche Position im Mundraum einnimmt, um den Resonanzraum f¨ ur die Artikulation zu ver¨andern (vgl. Kapitel [querverweise: Konsonantenbildung, Vokalbildung, t.e.]). Konsonanten sind mit dem Mund‘, Vokale haupts¨achlich mit dem Ohr‘ wahrnehmbar, und die ’ ’ auditive Wahrnehmung scheint f¨ ur Schriftanf¨anger eine schwierigere zu sein als die taktile. (Diese Beobachtung hat nat¨ urlich eine große Bedeutung f¨ ur die Repr¨asentation der Schrift im Anfangsunterricht. Auf sie gehe ich an sp¨aterer Stelle ein.) Die Silbe ist ein Kontinuum, eine Einheit, gegliedert durch die Zunahme und Abnahme eines Schalls. Sie ist das Produkt der rhythmischen Bewegungen der Muskeln, die auch f¨ ur die Atmung zust¨ andig sind. Sie erzeugen einen Druckaufbau und einen Druckabfall des Schalls. Dadurch erh¨ alt sie die Kontur einer Kurve. Soll sie – z.B. f¨ ur das Schreiben einer Alphabetschrift – segmentiert werden, zeigt sich, dass die einzelnen Punkte, die auszugliedern sind, in ihrer Reihenfolge einer Ordnung unterliegen, die durch diese Schallkurve vorgegeben ist. Bezeichnet man die einzelnen Punkte als Laute, l¨ asst sich sagen, dass die Laute der Schallkurve der Silbe eingeordnet sind. Gilt die Beschreibung der Abh¨ angigkeit zwischen Silbe und Lauten f¨ ur alle Silben, gilt sie in besonderem Maße dann, wenn eine Sprache unterschiedliche Silbentypen hat: So hat die betonte Silbe andere Laute als die unbetonte.

Aufg. 3–1:

Welche der folgenden W¨ orter k¨ onnen einsilbige deutsche W¨ orter sein? Belegen Sie Ihre Entscheidungen mit der Zuteilung der Sonorit¨ atswerte zu den einzelnen Lauten: 1. SCHMASN 4. LPOS 2. KMIN 5. FNUMT 3. TNICHL 6. MDAS

Aufg. 3–2:

So geht es auch:

Aber anders ist die Verteilung der Laute auf die Silben einfacher zu sprechen. Begr¨ unden Sie das durch die Zuweisung der Sonorit¨ atswerte zu den einzelnen Lauten.

170

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Aufg. 3–3:

3.2

Alle W¨ orter haben zwei M¨ oglichkeiten der silbischen Gliederung. Begr¨ unden Sie beide M¨ oglichkeiten durch die je unterschiedlichen Zuweisungen der Sonorit¨ atswerte!

Die Betonungsunterschiede der Silben als Merkmal deutscher Wo ¨rter

¨ Im Deutschen haben die W¨orter (und l¨angere Außerungen) einen Rhythmus, eine Melodie. Das gibt ihnen nicht nur einen besonderen Klang, der Rhyth¨ mus kann auch die Bedeutung eines Wortes, einer Außerung tragen. Das Deutsche hat drei verschiedene Silbentypen. Die Schrift zeigt die Unterschiede – mit nur wenigen Einschr¨ankungen – als Hinweis f¨ ur den Leser auf die richtige Betonung konsequent an. Bei Dreisilbern und bei Komposita, bei denen die Silbenfolge einer allgemeinen Regelhaftigkeit f¨ ur die Betonung der deutschen W¨orter folgt, ist eine besondere Markierung nicht n¨otig. So kann der kompetente Leser in den meisten F¨allen auf Anhieb die Buchstabenkette nach der silbischen Gliederung mit der richtigen Betonung lesen (vgl. Kapitel [querverweis, tp]). Eine genaue Beschreibung der einzelnen Silbentypen, ihre jeweilige Wahrnehmung durch die Kinder und ihre Ber¨ ucksichtigung im Unterricht erfolgt in den Kapiteln [querverweis, tp]. Hier geht es zun¨achst darum, die Silbentypen voneinander abzugrenzen und sie als Rahmen f¨ ur die jeweils unterschiedliche Lautung darzustellen. 3.2.1

Der Wortakzent im Deutschen

Alle, die den Spracherwerb bei kleinen Kindern verfolgen konnten, hat erlebt, dass Ein- und Zweij¨ ahrige drei- und mehrsilbige W¨orter auf zweisilbige reduzieren: wird Lade“, wird Name“, wird . Aufschlussreich dabei ist, ” ”

¨ 3.2. DIE BETONUNGSUNTERSCHIEDE DER SILBENALS MERKMAL DEUTSCHER WORTER171

dass sie nicht die ersten Silben w¨ ahlen, sondern die letzten: Sie machen aus den W¨ortern aen, die Wortform, die ihnen offensichtlich die vertrauteste ist. Troch¨ Um Kindergartenkinder auf die Anforderungen des Schrifterwerbs vorzubereiten, habe ich mit Studentinnen in Seminaren und sp¨ater im Rahmen eines Projektes in Osnabr¨ uck (vgl. Tophinke 200? [Quelle erfassen und erg¨ anzen]) Spiele entwickelt, in denen die Kinder die Betonungsverh¨ altnisse von W¨ortern durch unterschiedlich große Gegenst¨ande wie Steine usw. symbolisieren sollen. Einige Studentinnen5 haben diese Aufgabe als Spiele mit 15 Kindern deutscher, russischer und t¨ urkischer Muttersprache durchgef¨ uhrt und im Rahmen ihrer Examensarbeiten dokumentiert und interpretiert. In den Spielen wurde von den Kindern erwartet, dass sie z.B. f¨ ur einen großen und einen kleinen Stein unter das Bild legten, f¨ ur einen kleinen und einen großen, f¨ ur einen kleinen, einen großen und einen kleinen. Die Studentinnen haben zweimal in der Woche ca. 15 Minuten in immer anderen spielerischen Formen die Aufgaben wieder aufgegriffen. F¨ ur ihre Hausarbeiten, in denen sie ihre Beobachtungen zusammenfassten, haben sie genau protokolliert, wie lange die Kinder ben¨otigten, um die Aufgaben fehlerfrei durchzuf¨ uhren. Die Beobachtungen ergaben folgende Zeitdifferenzen (E = eine Unterrichtseinheit von ca. 15 Minuten, die Zahlen geben die Anzahl der Kinder an):

Dauer Muttersprache Deutsch Russisch T¨ urkisch

2E 0 0 0

4E 4 2 1

6E 12 9 3

8E 15 9 5

10E 15 13 9

Die Tabelle6 macht deutlich, dass auch die Gruppe der deutschsprachigen Kinder mehrere Wochen brauchte, bis der u ¨berwiegende Teil von ihnen verstanden hatte, worin die Aufgabe bestand: Sie alle sprachen die W¨orter zwar fehlerlos, hatten jedoch noch nie u ¨ber deren Form gesprochen. Ihnen fehlte die Erfahrung, Sprache formal betrachten zu k¨onnen. Wie schon erw¨ ahnt, legten einige Kinder die Steine als Symbolisierung der abgebildeten Objekte: bei den großen Stein f¨ ur den K¨orper, den kleinen f¨ ur den Kopf, oder bei f¨ unf kleine Steine an einen großen. Sprache transportiert f¨ ur die meisten vorschulischen Kinder lediglich semantische Inhalte. Nachdem alle jedoch nach ca. zwei Wochen das ’ Spiel‘ gelernt hatten, konnten sie nach ca. vier Wochen alle Aufgaben zumeist fehlerfrei erf¨ ullen. Die mangelnden lexikalischen Kenntnisse einiger Kinder anderer Muttersprachen wurden dadurch unbedeutend, dass die Studentinnen den Kindern die W¨orter jeweils vorsprachen. Dennoch dauerte es bei einigen von ihnen weitaus l¨anger als bei den Kindern mit deutscher Muttersprache, bis sie die Aufgabe erf¨ ullen konnten. Es ist zu vermuten, dass die Abweichungen der Betonungsmuster des Russischen und T¨ urkischen als zentrale Ursache f¨ ur diese Verz¨ ogerung gesehen werden m¨ ussen: In beiden Sprachen gibt es zwar auch betonte Silben im Wort, die Silben selbst haben jedoch eine andere Struktur als im Deutschen, und der Rhythmus (der Fuß) der W¨orter ist ein anderer. So gibt es im Russischen mehr Abstufungen zwischen betont und unbetont als im Deutschen, und die Akzentuierungen k¨ onnen in einem Wort je nach seiner grammatischen Funktion wechseln. Im T¨ urkischen gibt es den Akzent (wie im Franz¨osischen) immer nur am Ende 5 Im

Einzelnen sind das: Stefanie Bischoff, Angelika Nagel, Stefan Schwind, und Angela Wagner. Zusammenstellung der Ergebnisse nahm Ulrike Steinhauser im Rahmen eines Projektes der PH Freiburg vor. 6 Diese

172

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

¨ einer Außerung (eines Wortes). Bedeutsam scheint zu sein: Beide Sprachen haben keine Reduktionssilben wie das Deutsche. Vor allem dieser letzte Unterschied mag die Ursache daf¨ ur sein, dass viele Kinder vor allem t¨ urkischer Muttersprache große M¨ uhe hatten, zweisilbige W¨ orter des Deutschen, die eine Reduktionssilbe haben, durch zwei Steine zu symbolisieren. Der anderen unbetonten Silbe ( bei z.B.) gaben sie hingegen durchg¨ angig einen Stein. Es ist zu vermuten, dass sie Reduktionssilben, obwohl sie sie sprechen, nicht als Silbe wahrnehmen. So haben einige Kinder relativ lange sowohl zu der Abbildung von als auch zu der von nur einen Stein gelegt (vgl. die Differenz in der Akzentuierung und Lautung der t¨ urkischen Namen : t¨ urkisch [∆i.hM¸], [gyq.hl¸r], deutsch [hb∆i.M˘], [hgyq.lΓ]). Aufschlussreich schien uns in diesem Zusammenhang auch, dass einige Kinder t¨ urkischer Muttersprache bei W¨ortern mit und () lange Zeit zwei Steine legten: Diphthonge, wie sie im Deutschen vorkommen (s. Kapitel ?? [querverweis einf¨ ugen, tp]) gibt es im T¨ urkischen nicht, das, was wir z.B. in als Diphthong wahrnehmen, ist im T¨ urkischen eine Vokal-Konsonant-Verbindung ([∆j]) [[wobei [j] wiederum auch als ein Halbvokal / Approximant klassifiziert wird: vgl. Pompino-Marschall: Einf¨ uhrung in die Phonetik. Berlin u.a.: de Gruyter 1995: 193ff.]]. Entsprechend nahmen die Kinder vermutlich den Diphthong, den Doppellaut‘, als zwei Vokale, damit als zwei Silbenkerne ’ wahr – und legten folglich zwei Steine.

3.2.2

Der Wortakzent des Deutschen

Das Deutsche hat also als besonderes Merkmal, dass die Silben der W¨orter sich durch eine unterschiedliche Akzentuierung voneinander abheben und dass die Bedeutung eines Wortes von dem Akzent abh¨ angt. Das Lesen der Kunstw¨ orter durch kompetente Leser (vgl. Kapitel [querverweis, t.e.]) ließ erkennen, wie selbstverst¨andlich der Akzentunterschied bei den Silben eines Wortes f¨ ur deutschsprechende Menschen ist. Durch ihn erhalten die W¨orter, die bereits angesprochenen spezifischen Merkmale des Deutschen. Sie sind sowohl f¨ ur ihre Analyse beim Schreiben, vor allem f¨ ur ihre Artikulation entsprechend der Buchstabenfolge beim Lesen von großer Bedeutung, denn die Schrift markiert sie. Zun¨ achst die Darstellung dessen, was Akzentuierung bedeutet, weil dieses Merkmal des Deutschen f¨ ur alle Kinder, vor allem f¨ ur die mit Muttersprachen, die dieses Merkmal nicht oder anders haben, von großer Bedeutung ist – und weil es in der Didaktik bisher sehr wenig Raum erhalten hat: Akzentuierungen sind Folgen besonderer Druckverh¨altnisse, also Folge der Aktivit¨ aten der Organe im infraglottalen Bereich. Ein besonderer Druck f¨ uhrt zu einer besonderen Lautst¨arke oder Tonh¨ohe (Maas, 1999; Kaltenbacher, 1998). Die Kinder im Kindergarten und im 1. Schuljahr bezeichnen betonte Silben, wenn sie um differenzierende Beschreibungen gebeten werden, als die starken“ oder lauten“, auch als ” ” die schweren“ Silben. Es f¨ allt ihnen in der Regel weitaus leichter, die betonten Silben in ” ortern zu bestimmen, als Erwachsenen wie z.B. meinen Studentinnen, die h¨aufig alle W¨

¨ 3.2. DIE BETONUNGSUNTERSCHIEDE DER SILBENALS MERKMAL DEUTSCHER WORTER173

Betonungsvarianten ausprobieren m¨ ussen, um die betonten Silbe nennen zu k¨onnen: at oder U.ni.ver.si.t¨ U.ni.ver.si.t¨ at oder U.ni.ver.si.t¨ at oder U.ni.ver.si.t¨ at oder U.ni.ver.si.t¨ at? Die Besonderheit von Sprachen wie Deutsch, das wie Englisch, Holl¨andisch, Schwedisch und Russisch zu den akzentz¨ ahlenden‘ Sprachen geh¨ort, l¨asst sich gut darstellen an ihrem ’ Kontrast zu der anderen Gruppe, den silbenz¨ahlenden‘ Sprachen, zu denen die meisten ’ anderen geh¨ oren. Unterschieden werden die Einheiten, die einen prosodischen Zusammenahlende Sprachen haben als solche Einheiten Takte, silbenz¨ahlende hang bilden. Akzentz¨ nicht: 6 Silben Das Fens.ter ist o.ffen

2 Takte 5 Silben

la fenˆetre est ou verte

1 Takt

Die Takte der akzentz¨ ahlenden Sprachen ergeben sich – wie in Kapitel ?? [querverweis, tp] bereits beschrieben – durch die Einheit einer betonten und einer oder mehrerer unbetonten Silben. Lyrische Texte erhalten ihren Rhythmus durch regelm¨aßige Taktgestaltungen. Ist keine unbetonte Silbe vorhanden, gibt es eine Pause: Ich. und. du. –. M¨ u.llers. Kuh. –. M¨ u.llers. E.sel. das. –. bist. –. du. –.

(Im) Fr¨ uh.tau. zu. Ber.ge. wir. ziehn. fa.lle.ra. –. Dass Kinder Takte als Einheit wahrnehmen, wurden in ihren Antworten auf die Frage, ¨ ortern eine Außerung bestehe, deutlich: fast ein Drittel der u aus wie vielen W¨ ¨ber 100 Kinder gab an, dass der gestiefelte Kater“, die Sendung mit der Maus“, Papa kocht ” ” ” eine leckere Suppe“ aus zwei W¨ortern‘ bestehe (vgl. Kapitel [querverweis, tp]). Ihre ’ Schreibungen zeigen weit bis in die 2. Klasse hinein Probleme mit den Wortabtrennungen, die durch diese prosodischen Wahrnehmungen bedingt sind. x – – der Mann badesich

der Mann badet sich

x – – fringt den schwam u ¨berden hund aus fringt den Schwamm u ¨ber dem Hund aus –x eruttscht. . .

er rutscht. . .

– x erget. . .

er geht. . .

x – – der Mann trognetsich ab

der Mann trocknet sich ab

Solche Schreibungen lassen erkennen, dass W¨orter in S¨atzen zu unbetonten Silben

174

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

werden k¨ onnen: sich, er‘ in diesen Textbeispielen.7 Dass Kinder sie beim Schreiben zusam’ menfassen oder mit W¨ ortern mit einer betonten Silbe zusammenschreiben, zeigt wieder den Primat der Prosodie in ihren Analysen: Sie markieren Takte durch ihre Setzung der Zwischenr¨ aume als W¨ orter.

3.2.3

Vergleichende Beschreibung der einzelnen Silbentypen des Deutschen

Bisher wurden die Silben des Deutschen dargestellt 1. als Drucksilben, die als neue Anst¨oße wahrgenommen werden ( mit dem Bauch“), ” 2. als Sonorit¨ atssilben, die durch den Wechsel von Schallanstieg und Schallabstieg gekennzeichnet sind ( mit dem Ohr“). ” Die Differenz der Silben als betonte oder unbetonte Silben aufgrund der unterschiedlichen Energie, mit der sie gesprochen werden, und die sowohl mit dem Bauch“ als auch ” mit dem Ohr“ wahrgenommen wird, zeigt sich in Unterschieden der internen Strukturen: ” Betonte und unbetonte Silben unterscheiden sich in ihren Binnengliederungen – was didaktisch von großer Bedeutung ist, weil die Schrift diese Unterschiede markiert, sie also f¨ ur das Lesen und Schreiben gekannt werden m¨ ussen. So haben wir im Deutschen Silben, die so aufgebaut sind, wie die Silben der meisten silbenz¨ahlenden Sprachen: Sie bestehen entweder aus Konsonant (K) und Vokal (V) (KV) oder aus Konsonant-Vokal-Konsonant (KVK). Hier wieder ein Vergleich mit dem Franz¨osischen: dt. dt.

[ba.] [ban.]

<
/ dit> /

franz. franz.

[pa.] [pas.]

<
/ tise> /

Die Silben des Deutschen, die den Silben der silbenz¨ahlenden Sprachen gleichen, sind im Deutschen unbetont, sie gleichen den Silben der meisten Sprachen der Welt, sie sind eben normal‘: F¨ ur sie gilt, dass alle Laute gleichberechtigt‘ aufeinander folgen. Aus diesem ’ ’ Grunde wird sie als die Normalsilbe‘ bezeichnet. In dem Moment, in dem diese Silben eine ’ Betonung erhalten – was auch im Deutschen m¨oglich ist –, ¨andert sich aber die interne lautliche Struktur der Silben. Wie die folgenden W¨orter (zus¨atzlich zu von S. 172) zeigen, ist der Betonungswechsel m¨oglich, weil die Laute, die sie enthalten, in ihrer Bildung die gleichen sind wie die der betonten Silben: August oder August, erlangen oder Erlangen, Subjekt oder Subjekt (Alfa) Romeo oder Romeo modern oder modern oder 8 Mit dem Betonungswechsel erh¨alt die Silbe eine neue Struktur: Der Zusammenhang zwischen vokalischem Kern und Konsonant im Endrand wird enger. 7 Dadurch ergibt sich ein bestimmtes Betonungsmuster f¨ ur deutsche S¨ atze, auf das ich aber hier noch nicht eingehen will, vgl. Kapitel [querverweis, t.e.]. 8 Im Englischen wird die Akzentuierung sogar grammatisch genutzt: Sie unterscheidet Substantive von Verben: a record vs. to record a present vs. to present a export vs. to export a permit vs. to permit.

¨ 3.2. DIE BETONUNGSUNTERSCHIEDE DER SILBENALS MERKMAL DEUTSCHER WORTER175 betonte Silbe (hS)

NormalSilbe (S)

@ @

@ @

@

@

@

@

@

@ Anfangsrand (A)

Nukleus (N)

[k

=

@ Endrand (E)

Anfangsrand (A) [k

n] trakt

@ Reim (R) =n] to


/

Maas (1999, S. 129 ff.) symbolisiert die unterschiedlichen Engen im Reim der betonten Silbe durch Spiralen, die seine Laute, beim Vokal beginnend, zuerst nach rechts expandierend, zusammenfassen. Gleichzeitig weist dieses Bild dem Vokal als sonorstes Element, damit dem Reim ein besonderes Gewicht zu.

M t R o o m ( XX ( XX X( X h(   hh h  

M p R * t s t XX H X H H  ``` H H  H  







Dieser Unterschied in den lautlichen Zusammenh¨angen der betonten Silbe zwischen Konsonant im Anfangsrand und Vokal einerseits, zwischen Vokal und Konsonant im Endrand andererseits ist die Ursache f¨ ur Wahrnehmungen der Kinder, die behaupten, die 1. Silbe von Mantel‘ best¨ unde aus [m] und [ban], von Hunde‘ aus [h] und [bVn], und die am ’ ’ Schriftanfang Silben ausschließlich mit dem Konsonantenbuchstaben des Anfangsrandes darstellen ( LW“ f¨ ur, HD“ f¨ ur ): Sie haben noch keine Wahrnehmungs” ” kategorien f¨ ur die Elemente des Reims entwickelt, auch dann noch nicht, wenn sie schon Vokale kennen‘, d.h. den Vokalbuchstaben mit seinem Namen benennen k¨onnen ( = ’ [b∆q]; vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp]). Um W¨ orter mit der richtigen Akzentuierung lesen zu k¨onnen, muss der Leser bei ortern, die Normalsilben enthalten, wissen, welches die zu betonende Silbe ist. Bei ZweiW¨ silbern () enth¨alt die Schrift keinen Hinweis. Deshalb k¨onnen W¨orter wie , die Betonung bei beiden Silben haben (wie auch bei , die in Norddeutschland auf die zweite Silbe, in S¨ uddeutschland auf die erste Silbe betont werden). Sehr viele W¨orter mit mehr als zwei Silben brauchen keine Markierung, denn die meisten ( eingedeutschten‘) Mehrsilber werden auf der vorletzten ’ Silbe betont9 : 9 Wenn

die Silben trotzdem eine Markierung haben, liegt der Grund in der Instruktion f¨ ur den Leser, wie er den Reim der betonten Silbe zu artikulieren hat: .

176

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Gardine Franzose Mandarine Rakete Tapete Katastrophe Kalender Botanik Vandalismus Dass dieses Wissen zum Sprachwissen schon junger Sch¨ uler geh¨ort, zeigt das Lesen des Namens , also eines Kunstwortes, in einem Diktattext. Den Diktattext haben 52 Drittkl¨ assler, 46 Viertkl¨ assler, 48 F¨ unftkl¨assler in der Hauptschule und 59 F¨ unftkl¨assler im Gymnasium gelesen. Die Markierung der 1. Silbe mit l¨asst erwarten, dass diese Silbe den Akzent tr¨ agt (vgl. ). Dennoch haben fast alle Grund- und Hauptsch¨ uler (92%) das Wort auf der 2. Silbe betont. Nur 5% haben sich korrigiert. Von den Gymnasiasten haben 43% die 2. Silbe betont, 60% von ihnen erst, nachdem sie sich korrigiert hatten. Offensichtlich ist die Betonung der vorletzten Silbe ein fester Automatismus im impliziten Sprachwissen der meisten deutschen Muttersprachler, und nur bei einer Gruppe, die sich intensiver mit dem Zeichensystem der Schrift auseinandergesetzt hat (den Gymnasiasten) wird dieser Automatismus aufgrund der Schreibung außer Kraft gesetzt.

(NOZ)

Verdi ist nicht Ver.di – das zeigt im Geschriebenen der eingef¨ ugte Punkt, im Gesprochenen die unterschiedliche Akzentuierung: [hv¸Γ.di] / vs. [hv¸Γ.hdi] /

Und o.tel.o ist nicht Othello.


oder


?

Abbildung 3.2: Spiele mit Akzentuierungen – erm¨oglicht durch den Einsatz graphischer Mittel: Normalsilben sind auch betonbar Die beiden bisher angesprochenen Silbentypen, • die Normalsilbe

¨ 3.2. DIE BETONUNGSUNTERSCHIEDE DER SILBENALS MERKMAL DEUTSCHER WORTER177

• die betonte Silbe sind zu erg¨ anzen durch den 3. Silbentyp des Deutschen, die Reduktionssilbe. Sie ist ebenso wie die Normalsilbe unbetont, unterscheidet sich jedoch von ihr vor allem durch die Reimbildung: Hier sind nur Reduktionsvokale (die Schwa [˘], [Γ]) und sonore Konsonan’ ten‘ ([l, m, n]) (vgl. die Sonorit¨ atstabelle von Seite ?? [querverweis, tp]) anzutreffen. Im Gegensatz zur Normalsilbe ist sie nicht betonbar. Erh¨alt die Buchstabenfolge eine Betonung, ver¨ andert sich ihre Lautstruktur: [g˘.hMaq] / vs. [hgeq.Ma] / j [g˘.hb¸n.d˘] / 10 vs. [hgeq.bn.d˘] / j / [fΓ.hseqn] / vs. [hf¸Γ.sn] Geht man 1. von der H¨ aufigkeit des Vorkommens der Reduktionssilbe, 2. von der Funktion, die sie f¨ ur die Grammatik eines Textes hat, aus, so zeigt sich ihre große Bedeutung f¨ ur deutsche W¨ orter: Sie bildet zusammen mit der betonten Silbe das typische“ deutsche ” Wort: den Troch¨ aus: lau.fe ro.te Schu.le Sch¨ u.ler lau.fen ro.tes Schu.len L¨ au.fer ro.tem Zu erg¨ anzen ist die Darstellung der prosodischen Strukturen deutscher W¨orter als Wechsel von betonten und unbetonten Silben durch eine weitere Differenzierung der Betonungsstrukturen. Sie betrifft zusammengesetzte W¨orter (Komposita), die im Deutschen (zum Leidwesen vieler Deutschlerner) sehr h¨aufig vorkommen. Aufg. 3–4:

Markieren Sie die unterschiedlichen Betonungen der Silben bei folgenden W¨ ortern! Sie werden nicht mit den beiden Zeichen x (betont), - (unbetont) auskommen: 1. Gartenzwerge 2. Wanderzirkus 3. Giraffenh¨ alse 4. Elefantenhaut 5. Bademeistergehalt 6. Schifffahrtsgl¨ uck

Die Komposita der Aufgabe 3.2.3 lassen erkennen, dass jedes Teilwort, wenn es nicht einsilbig ist, das u ¨bliche Betonungsgef¨alle deutscher W¨orter hat. Entsprechend treffen mehrere betonte Silben in dem Kompositum aufeinander. Dabei ergibt sich eine neue Hiearchisierung, bei der eine der betonten Silben zur hauptbetonten, die andere(n) zur nebenbetonten wird (werden). In aller Regel hat die erste betonte Silbe die Hauptbetonung. hBun.des.ikanz.lerin hVo.gel.igri.ppe hWelt.imeis.ter Wenn bei einem Kompositum die Betonung von der gebr¨auchlichen abweicht – was m¨ oglich ist – erh¨ alt das Wort eine andere Bedeutung: Fußballweltmeisterschaft vs. Fußballweltmeisterschaft Professorengattin vs. Professorengattin Examensklausur vs. Examensklausur Das Deutsche hat drei verschiedene Silbentypen: die betonte Silbe, die (unbetonte) Normalsilbe und die (unbetonte) Reduktionssilbe. W¨ orter klingen nur dann richtig“, wenn ihre Silben richtig betont werden: Nur dann entsprechen sie einem ” 10 Gebende

= Kopfbedeckung.

178

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

(NOZ) bevor s zuckt“ oder bevorzugt“: haupts¨ achlich der Akzent macht den Unterschied der Lautung: ” ’ ” [b˘.f=Γs.htsVkt] ’ [b˘.hf=Γ.tsVkt]

(taz) Die Schreibung suggeriert: . Nicht [hzeqn.zV[t] sondern [hzeqn.hzuq[t]: Wer sucht hier wohl?

Abbildung 3.3: Spiele mit Akzentuierungen – erm¨oglicht durch den Einsatz graphischer Mittel: Mit dem Wechsel der Akzentuierung a¨ndert sich die Bedeutung Wort mit einer bestimmten Bedeutung. Diese Bedeutung f¨ ur die Artikulation deutscher W¨ orter wird besonders dann erkennbar, wenn durch einen Betonungswechsel ein Wort mit einer anderen Bedeutung entsteht. Bei Komposita kommt eine weitere Differenzierung hinzu: Die jeweils betonten Silben der einzelnen W¨ orter des Kompositums unterscheiden sich noch einmal nach Hauptakzent und Nebenakzent.

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

3.3

179

Laute als Resultate abstrahierender Analysen

3.3.1

Das Kontinuum der Silbe als Folge der supraglottalen Artikulationsbewegungen

Mehrfach wurde dargestellt, dass die Didaktik davon ausgeht, dass Laute nat¨ urliche Gr¨oßen sein, die Kinder noch nicht wahrnehmen k¨onnten. Jeder Laut w¨ urde durch einen Buchstaben oder durch die bekannten Kombinationen repr¨asentiert. Apparative Verfahren, die Gesprochenes entsprechend dieser Definition in Laute zerschnitten haben, lassen jedoch schnell erkennen, dass ein Zusammenf¨ ugen so gewonnener Segmente nicht zur Artikulation verst¨andlicher W¨orter f¨ uhrt. Ebenfalls spricht gegen die Annahme einer Nat¨ urlichkeit‘ von Lauten, dass Erwachsene, die keine Alphabetschrift ’ zu schreiben gelernt haben, Silben nicht in Laute (in unserem Sinne) segmentieren k¨onnen. Offensichtlich sind laute Produkte einer Wahrnehmung, die f¨ ur die Identifikation geschult wurde: Die Lauterkennung ist Folge von analytischen Prozessen. Verantwortlich f¨ ur die Notwendigkeit der kognitiven Erarbeitung sind die komplexen Abl¨aufe bei der Artikulation, an der viele Organe gleichzeitig beteiligt sind: Das Zusammentreffen der Bewegungsabl¨aufe in einem minimalen Punkt l¨asst einen Klang entstehen, den wir als Laut zu bezeichnen gelernt haben. Laute sind daher weniger als 10% der Gesamtartikulation. Folgt man den Darstellungen der Didaktik, wie sie z.B. in Lehrerhandb¨ uchern zu Fibeln zu finden sind, sind Laute‘ – das wurde schon mehrfach angesprochen – in gleichem Maße ’ oßen des Gesprochenen wie Buchstaben in der Schrift, denn Buchstaben und konkrete Gr¨ Laute werden unbegrenzt gleichgesetzt: Mit Beginn des Leselehrgangs lernt das Kind die normale Laut-Buchstabe” Beziehung kennen. Sie besagt, dass jeder Laut durch einen bestimmten Buchstaben repr¨ asentiert wird. Es bedeutet eine Abweichung, wenn ein Laut als Buchstabenfolge (, , , , , , , , , ) geschrieben wird oder gar verschiedene Schreibweisen eines Lautes m¨ oglich sind ( oder ; oder oder ).“

• Das Wort wird mehrmals in nat¨ urlichem Sprechton gelesen. ” • Dann erfolgt die Analyse. Durch langsames Mitsprechen (Dehnlesen) und Mitzeigen der Buchstaben wird die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Elemente des Wortes gelenkt. Die Sch¨ uler entdecken den neuen Buchstaben – den neuen Laut. • Es erfolgt die optische und akustische Ausgliederung, indem der neue Buchstabe aus der Buchstabenfolge herausgel¨ost, seine optischen Merkmale verdeutlicht und der entsprechende Laut mehrfach gesprochen wird. Dabei ist auch Art und Stelle der Artikulation bewusst zu machen“ (Hervorhebungen C.R.)

180

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Diese Zitate sind exemplarisch f¨ ur die Beschreibung von Laut‘ in allen Fibeln (des’ halb der Verzicht auf die Quellenangabe) sowie in allen Lehrg¨angen, die Lauttreue‘ als ’ das 1:1 von Laut und Buchstabe interpretieren: Laute seien, so die Pr¨amisse, Elemente, die sich im Gesprochenen genauso gleichf¨ormig aneinanderreihen wie die Buchstaben im Geschriebenen. !! Wort aaa

! !!

!! !!

aa

aa

aa

Laut Laut Laut Laut Laut Buchst. Buchst. Buchst. Buchst. Buchst.

gesprochen geschrieben

Gleichzeitig wird angenommen, dass jedem Buchstaben an jeder Stelle des Wortes der gleiche Laut zuzuweisen sei: Sie seien also nat¨ urliche‘, spontan identifizierbare Elemente. ’ Die Aufgabe der Kinder am Schriftanfang best¨ande lediglich darin, sie zu identifizieren und ihnen die richtigen Buchstaben zuzuordnen. Um zu belegen, dass diese Sichtweise einer Segmentierungsm¨oglichkeit des Gesprochenen nicht zutrifft, im Folgenden Hinweise auf Versuche der Industrie, Sprechmaschinen‘ ’ zu bauen. Sie belegen vor allem beeindruckend das, was Laute nicht sind: In den 1950er Jahren ist in Amerika versucht worden, eine Maschine zu entwickeln, die Blinden Texte vorlesen sollte (vgl. Tophinke 1997, 2001). Das Unternehmen war jedoch recht erfolglos, weil die Stimme, die dabei synthetisch erzeugt wurde, weit von der menschlichen Stimme entfernt war. Man war damals n¨amlich noch davon ausgegangen, dass man gesprochene W¨ orter durch die Apparate so zerschneiden kann, wie Schriftkundige sie in einzelne Laute zerlegen, und dass die isolierten Element in neuer Zusammensetzung wieder W¨orter erkennen ließen. Das war allerdings nicht der Fall, denn jedes aus dem Kontinuum herausgeschnittene Element trug noch Merkmale des vorweggehenden Lautes und schon Merkmale des folgenden. Das machte die Texte v¨ollig unverst¨andlich. Denn die Lautung eines Wortes, das wurde so h¨ orbar, besteht aus weitaus mehr als aus Elementen analog der Buchstabenzahl. Das Ganze eines Wortes ist mehr als die Summe seiner Teile. n pr¨ asentieren zwei verschiedene Laute in und : [hba8k˘], [hban∆]. pr¨ asentiert drei verschiedene Laute in , , und : [hliq.s∆], [hba8.k˘], [hb∆q.li], [hban∆], pr¨ asentiert vier verschiedene Laute in und : [hliq.s∆], hb∆q.li] (vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp]). < >

Abbildung 3.4: Aus: Kunterbunt-Fibel, Klett 1993 a

< >

pr¨ asentiert drei verschiedene Laute in den drei W¨ ortern: [hmam∆], [hpap∆], [hl∆q.m∆].

Abbildung 3.5: Aus: Lollipop, Fibel-Arbeitsheft, Cornelsen 2000

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

181

Inzwischen ist die phonetische Industrie ein St¨ uck weiter: Z.B. haben einige Autos (die aber von Lehrerinnen nicht allzu h¨aufig gefahren werden) haben Navigationssysteme, bei denen eine elektronische Stimme, gut verstehbar, die Wegweisung vornimmt. Auch f¨ ur Computer gibt es seit 1997 Software, die es erm¨oglicht, dass l¨angere Texte verst¨andlich vorgelesen werden k¨ onnen. 2001 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung u ¨ber die Arbeit des Fachbereichs Phonetik der Universit¨at Saarbr¨ ucken, die die Forschungsarbeiten f¨ ur solche industrielle Softwareherstellung ( Logox“) geleistet hat: ” Bei der Entwicklung eines kommerziellen Produkts wie Logox stellte sich her” aus, daß die Aneinanderkettung von Einzellauten zu unbefriedigenden Ergeb¨ nissen f¨ uhrt. Die wichtigen Informationen f¨ ur den H¨orer liegen in den Uberg¨ angen zwischen den Lauten. Das f¨ uhrte zur Betrachtung der Diphone, also kleiner Einheiten, die von der Mitte eines Lauts bis zur Mitte des n¨achsten Lauts reichen. Um eine Logox-Stimme zu erzeugen, liest ein Sprecher eine Liste mit W¨ ortern vor – a ¨hnlich dem Training der Spracherkennung. Die Stimme wird aber digital aufgenommen. Aus diesen Aufnahmen werden bis zu 400 Mikrosegmente ausgeschnitten, und zwar solche, die bei der Verkettung auch in ganz neuen Kombinationen gut zusammenpassen. Durch die Aneinanderreihung der Mikrosegmente k¨onnen alle Lautfolgen erzielt werden, die in der deutschen Sprache vorkommen. So spricht die Software sp¨ater jeden beliebigen Text in einer recht ordentlichen Qualit¨at vor. Nat¨ urlich h¨ort man sofort, daß es sich um eine Computerstimme handelt“ (FAZ, 18.8.01). Diese Ergebnisse aus diesem nicht didaktischen Zusammenhang machen deutlich: Gesprochenes l¨ asst sich nicht in eine Aneinanderreihung von Elementen aufgliedern, die je einzeln mit dem gleichzusetzen sind, was die Didaktik unter Laut‘ versteht. Vielmehr ’ besteht die Aufgabe der Lautanalyse darin, innerhalb des Gesamten der spontan segmentierbaren Einheiten, der Silben, die minimalen Punkte herauszufinden, die aufgrund bestimmter Merkmale f¨ ur das Schreiben von Bedeutung sind: Es geht darum, die richtigen Mikrosegmente“ zu identifizieren. ” Dieses ist ein schwieriger Prozess – nicht nur f¨ ur Kinder. Das kann eine Untersuchung mit Erwachsenen belegen, die bereits schreiben und lesen gelernt hatten, allerdings in einer nicht alphabetischen Schrift: Die brasilianische Linguistin Ana Luiza G.P. Navas berichtete auf einem Workshop des Max-Planck-Instituts in Mjimegen im Sommer 2000 u ¨ber eine berichtete Untersuchung in Brasilien, Sao Paolo, die sie mit drei Gruppen von insgesamt 35 erwachsenen Japanern gemacht hatte. Eine Gruppe war nur auf Japanisch alphabetisiert – eine Sprache, deren Schrift Silben, nicht Laute pr¨asentiert. Eine zweite Gruppe konnte Japanisch und Portugiesisch lesen und schreiben, eine dritte ausschließlich Portugiesisch. Die Aufgabe der untersuchten Erwachsenen bestand darin, zun¨achst die Silben, dann die Laute einzelner W¨orter wiederzugeben. Die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich f¨ ur die F¨ ahigkeit zur Lautwahrnehmung u ¨berhaupt: Nur 25% der Japaner, die ausschließlich im Japanischen, einer Silbenschrift, lesen und schreiben gelernt hatten, haben Laute benennen k¨ onnen, w¨ahrend die beiden anderen Gruppen keinerlei Probleme mit dieser Aufgabe hatten. Da die japanische Schrift als Silbenschrift keine Lautanalyse erfordert, haben die nur auf Japanisch Alphabetisierten auch nicht die F¨ahigkeit der Lautanalyse entwickelt – nicht entwickeln k¨onnen und nicht entwickeln m¨ ussen. Diejengigen, die portugiesisch lesen und schreiben gelernt hatten, haben dabei auch gelernt, Laute im Sinne der lateinischen Alphabetschrift zu identifizieren. Diese F¨ahigkeit entsteht bei der Analyse des Gesprochenen f¨ ur das Schreiben mit einer Buchstabenschrift. Naturprodukte, also spontan zug¨ angliche Elemente, sind die sprachlichen Teile, die alle Sprecher ausglie-

182

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

dern und durch Pausen isolieren k¨onnen: Silben. Nicht nur Kinder m¨ ussen diese F¨ahigkeit erwerben, sondern auch Erwachsene, wenn sie nicht gelernt haben, eine Alphabetschrift zu gebrauchen. (Vergleichbare Untersuchungen wurden inzwischen mit Chinesen gemacht, deren Schrift ebenfalls keine Alphabetschrift ist.) ahigkeit von Anf¨ angern in einer Alphabetschrift, Laute im Sinne der Schrift Die Unf¨ zu identifizieren, h¨ angt mit der Produktion und Rezeption des Gesprochenen zusammen: Sprechen beruht auf den Bedingungen f¨ ur die Artikulation, d.h. den k¨orperlichen Bedingungen der Sprachproduktion. F¨ ur diese sind die Glottis und die Artikulatoren oberhalb von ihr verantwortlich.

Abbildung 3.6: Physiologie des Artikulationsapparates: nach Maas (1999, S. 35) Die Sprechorgane unterhalb der Glottis (infraglottaler Bereich) produzieren bei ihren Aktivit¨ aten Sch¨ alle (vgl. ?? [querverweis, tp]). Diese dringen durch die Ohren in unser Gehirn und werden dort zu Sprache bearbeitet, indem sie mit im Ged¨achtnis vorhandenen Klangmustern, die Bedeutung haben, abgeglichen werden. Die Sch¨alle sind physikalisch Messbares. Mit ihnen besch¨ aftigt sich die Phonetik. Die Ausformungen der Sch¨alle unterscheiden sich entsprechend der jeweiligen Aktivit¨aten und Positionen der sie produzierenden Sprechorgane, die durch ihre Ver¨anderungen bei der Artikulation die Ausformung des Schalles vornehmen: Der Unterschied z.B. zwischen [∆] und [i] besteht u.a. darin, dass bei [∆] die Zunge sich weit unten befindet, der Resonanzraum im Mund f¨ ur den Schall weitaus gr¨ oßer ist als bei [i]. Die phonetischen Apparaturen wie der Sonagraph und der Oszillograph zeigen durch unterschiedliche Markierungen die Unterschiede im Schall an. Hier die Bilder eines Sonographen und eines Oszillographen von der Artikulation der W¨ orter und : Die Bilder11 des Oszillographen und Sonographen, zwei Apperaturen der akustischen 11 F¨ ur

diese und alle anderen phonetischen Abbildungen danke ich Christina Noack.

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

183

[Die beiden Sonagramme von und von Christina – in digitaler Form! Ich frage bei Christina nach!] [Sonagramm von von Christina – bitte in digitaler Form !!!] Abbildung 3.7: Abbildungen des Sprachschalls bei und durch den Oszillographen (oben) und Sonagraphen (unten) Phonetik, veranschaulichen wie Sprache auch geschrieben‘ werden kann. Die Schrift ist ’ eine andere als die uns gewohnte, sie gebraucht keine Buchstaben, macht daher keine Grenzziehungen zwischen Segmenten, wie sie f¨ ur das Schreiben einer Buchstabenschrift notwendig sind: Die Schrift‘ der Apparate gibt das Kontinuum wieder, das gesprochene ’ Sprache ist. Dennoch lassen sich auch hier Gliederungen vornehmen: • Starke Ausschl¨ age im Bild oben, starke Schw¨arzungen unten weisen auf viel Energie, d.h. auf eine starke Sonorit¨at hin: Sie schreiben‘Vokalmarkierungen. ’ • Geringe, fast ausbleibende Ausschl¨age oben und Schw¨arzungen unten weisen auf Verschl¨ usse hin, die keinen Luftaustritt zulassen, damit den Apparaturen kein Signal geben. Sie markieren hier den Verschluss des Plosivlauts [t]. ur [y:] / []]]) l¨asst • Der Vergleich zwischen den beiden vorderen Vokalmarkierungen (f¨ unterschiedliche Linienf¨ uhrungen oben, eine unterschiedliche Verteilung der Schw¨arzungen unten erkennen. Sie zeigen die unterschiedlichen Kl¨ange beider Vokale an. Zus¨atzlich nimmt die Markierung f¨ ur den Vokal oben etwas mehr Raum als die f¨ ur den unteren ein. Die Differenz wird von denjenigen, die das Unterscheidungsmerkmal wahrzunehmen erlernt haben, als K¨ urze‘ oder L¨ange‘ wahrgenommen. ’ ’ Profis lesen weitaus mehr aus diesen Bildern. Hier haben die Bilder vor allem die ¨ Funktion, deutlich zu machen, dass die Uberg¨ ange zwischen den einzelnen Elementen, die wir als Laute bezeichnen, fließend sind: Die Abbildungen lassen den Schall, der bei der Artikulation entsteht, als ein Kontinuum erkennbar werden. Durch die Ausformungen ist er kein gleichbleibendes Ger¨ ausch wie ein Pfeifton, sondern Sprache, also eine Lautung, die sich durch die Bedeutung, die ihr das Ged¨achtnis gibt, von anderer Lautung unterscheidet. ur ein komplexes Unternehmen es sich bei der Artikulation, die eine GeUm was f¨ samtproduktion einer Vielzahl von Organen ist, handelt, k¨onnen R¨ontgenfilme in Zeitlupe sehr sch¨ on veranschaulichen. Stellvertretend f¨ ur die fotographierte Realit¨at lassen sich die Abl¨aufe auch als Graphiken darstellen, die von anderen phonetischen Ger¨aten, den Artikulographen, erstellt werden. Sie sind an verschiedene Artikulatoren angeschlossen und u aten auf andere Ger¨ate, die diese als Linien sichtbar, quantifi¨bertragen deren Aktivit¨ zierbar und qualifizierbar machen. Das Bild auf Seite ?? zeigt eine Versuchsperson, die an einen Artikulographen angeschlossen ist (aus Pompino-Marschall, 1995, S. 83). Die Abbildungen auf Seite 185 (aus ?, S. 21) gibt die Signale als Linien wieder, die durch Spulen gesendet wurden, die an Artikulatoren des supraglottalen Bereichs befestigt waren. Dieser Bereich ist f¨ ur die Modifizierung des Luftstroms, der mit je neuem Druck ausgestoßen wird, zust¨ andig: Hier werden die Silben, die Produkte der Aktivit¨aten der Organe des infraglottalen Bereichs, unterschiedlich geformt, wird ihnen eine unterschiedliche lautliche Gestalt gegeben. Die Spulen, die dieses Bild gesendet haben, waren an der Zungenspitze (ZS), dem Zungenr¨ ucken (ZR) und am Unterkiefer (UK) angebracht. Die Schrift oben zeigt, um welche Lautproduktion es sich jeweils handelt.

184

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

uhrung einer Untersuchung im phonetischen Labor mit einem Artikulographen (aus PompinoDie Durchf¨ Marschall, 1995, S. 83)

Die oberen drei Linien lassen vor allem erkennen, dass die einzelnen Abl¨aufe nicht deahrend ein Organ noch bei der Produktion des einen Lautes verweilt, ckungsgleich sind: W¨ haben andere Organe schon die Positionen zur Artikulation des Folgelautes eingenommen: Im ersten Teil des abgebildeten Satzes bis zum [t] von verlaufen die drei Linien relativ gleichm¨ aßig und parallel – relativ im Vergleich zu der großen Inkongruenz der Bewegungen danach: Der Verschluss des [t] wird mit der Zungenspitze gebildet, und w¨ ahrend er sich l¨ ost, die Spitze sich senkt, hebt sich bereits der Zungenr¨ ucken f¨ ur das [M], und dieser bleibt (hinten) oben f¨ ur das [uq], w¨ahrend die Spitze sich wieder senkt, um sich dann schnell f¨ ur das [l] wieder zum Gaumen zu heben. Der Unterkiefer bleibt in der ganzen Zeit unbewegt – weshalb es auch relativ schwer ist, die Artikulation vom Mund abzulesen. (Taube Menschen haben daher auch eine vielf¨altigere Zeichensprache als nur die der Artikulationsbewegungen des Mundes, die sichtbar sind.) Artikulation entsteht also durch unsynchrone Bewegungen der verschiedenen Organe, durch ihr Gleiten von einer Stellung in die n¨ achste, bei denen im Gleiten f¨ ur einen kurzen Moment ein bestimmtes B¨ undel von Merkmalen zusammentrifft, das wir als einen besonderen Punkt, als Laut‘ bezeichnet, wahrzunehmen gelernt haben. ’ Angewandt auf die obige Abbildung, die die Bewegungen einiger Artikulationsorgane wiedergibt, heißt das, dass lediglich die minimalen Elemente, die durch die senkrechten Striche abgedeckt sind, die Segmente darstellen, die wir als Laute wahrnehmen. Auf den Fl¨ achen dazwischen gleiten‘ die Organe von einer Position zur n¨achsten. Bezeichnen’ derweise nannte Sievers die Segmente, die wir als Laute‘ wahrzunehmen gelernt haben, ’ Stellungslaute. Sie entsprechen den minimalen Punkten, den Mikrosegmenten‘ der appa’ rativen Segmentierungen f¨ ur die Sprechmaschinen innerhalb des gesamten Lautstroms, an ur den Bruchteil einer Sekunde in einer bestimmten Position zudenen die Artikulatoren f¨

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

185

ucken (ZR) und Unterkiefer (UK), (aus ?, S. 21) Bewegungslinien von Zungenspitze (ZS), Zungenr¨

sammentreffen – eben den minimalen Segmenten, die in der Abbildung kaum viel mehr als den Fl¨ achen der Striche entsprechen. Davor und danach ist diese kin¨asthetische Konstellation noch nicht bzw. nicht mehr gegeben, der Schall, der an das Ohr dringt, ver¨andert sich. Dadurch, dass unsere Wahrnehmung durch die Stellungslaute‘ gebunden ist, neh’ men wir das Gleiten, den Vorgang der Ver¨anderung nicht wahr. Die Phonetik beschreibt das zeitliche Verh¨ altnis zwischen den Stellungslauten‘ und dem Gleiten der Artikulatoren ’ dazwischen, als weniger als 10:90. Sprechenlernen bedeutet zu lernen, die Artikulatoren asthetischen Konstellationen zu bringen, die die gew¨ unschte, im in die entsprechenden kin¨ Ged¨ achtnis gespeicherte Lautung erm¨oglichen. Maas (1999) gebraucht zur Beschreibung der Aktivit¨aten des Sprechers bei der Artikulation das Bild eines Ganges durch ein Geb¨aude in dem einige markante Fixpunkte anzustreben sind: Eine solche Skizze gibt nicht naturalistisch den gesamten Verlauf des Weges ” wieder, sondern nur die markanten Punkte, die anzusteuern sind: 1. ein alleinstehender Baum, 2. eine Bank, 3. eine kleine Fabrik, 4. eine Baumgruppe, 5. eine Kirche, 6. ein alleinstehendes Haus. Die Instruktion lautet entsprechend, jeweils diese Fixpunkte anzupeilen, also 1 → 2 → 3 → 4 → 5 → 6. Zwischen diesen Fixpunkten muß keine gradlinige Verbindung bestehen, sondern der Gang wird von den Gegebenheiten des Gel¨andes abh¨angig sein, die unter anden zu einem recht gewundenen tats¨achlichen Verlauf f¨ uhren k¨onnen: Umst¨ Die tats¨ achliche Verlaufslinie ergibt sich zwangsl¨aufig durch die Adaptierung der Zielvorgabe an das Gel¨ande“. ande sind in der Artikulation den Orten‘ vergleichbar, die Die Zielpunkte in dem Gel¨ ’ wir f¨ ur die Artikulation eines bestimmten Klanges, mit dem unser Ged¨achtnis eine Bedeutung verbindet, gelernt haben. Dieses Wissen um die Bewegungsabl¨aufe von einem Stellungslaut zum n¨ achsten bestimmt die Steuerung der Artikulatoren wie das Anpeilen der einzelnen Ziele unseren Gang durch das Gel¨ande bestimmt. Die Kl¨ange zwischen diesen Punkten, den Lauten, entsprechen einem Spaziergang, bei dem unsere Aufmerksamkeit durch besondere Punkte angezogen wird, das Dazwischen auch nicht wahrnehmen. Wir haben also die Kategorien entwickelt, die notwendig sind, um im kontinuierlichen Fluss des Gesprochenen die Segmente identifizieren zu k¨onnen, die schriftrelevant sind. Kinder

186

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

haben diese Kategorien aber noch nicht entwickelt, sie m¨ ussen das erst lernen. Schreibenlernen bedeutet also die Kontrolle der Bewegungsabl¨aufe w¨ahrend der Artikulation auf spezifische Punkte hin, und zwar auf die Punkte, die von unserer Schrift mit ihrem Zeichensystem markiert werden. Unsere Schrift sortiert die Komplexit¨at der Wahrnehmung der Schriftanf¨ anger. Sie bietet Kategorien, die die Wahrnehmung kanalisieren. (Weshalb das so ist, stellt das Kapitel ?? [querverweis zu Ickelsamer, tp] dar.) Beim Lesenlernen haben die Kinder die gleiche Aufgabe: Hier geben die Buchstabenfolgen die Instruktionen f¨ ur die Steuerung der Artikulatoren von einem Stellungslaut zum anderen zur Herstellung des Kontinuums, das ein Wort ausmacht. Ickelsamer, einer der ersten Didaktiker des Deutschen (vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp]), gebrauchte 1534 ebenfalls ein Bild, um die kognitiven Abl¨aufe beim Lesen zu veranschaulichen: Er beschrieb die Buchstaben als st¨ abe und steken“, das sich die lesen lernen den daran . . . halten“ ” ” (vgl. ebd.). Wie unser Gang durch ein Gel¨ande jedoch durch dessen Beschaffenheit beeinflusst ist, ist auch die Artikulation abh¨angig von dem u ur die Lautbildung: ¨bergeordneten Rahmen f¨ dem der Silbe. So wie ein Etappenziel auf einem Spaziergang m¨oglicherweise durch ein anderes verdeckt sein kann, kann die Wahrnehmung z.B. der Kurzvokale‘ durch ihren engen ’ Anschluss an den Folgekonsonanten verdeckt‘ sein: Die Kinder schreiben erst HNDE“, ’ ” bevor sie den Reim der betonten Silbe entsprechend den orthographischen Erwartungen zu differenzieren lernen. Um die schriftnotwendige Differenzierung durchf¨ uhren zu k¨onnen, m¨ ussen sie Wissen u ¨ber den Aufbau von Silben erwerben: In diesem Fall das Wissen, dass jede Silbe einen Vokal hat, also mit einem Vokalbuchstaben zu schreiben ist (Vorwurf einer Erstkl¨ asslerin – um Weihnachten – an ihre Lehrerin Karin Winkler bei der Korrektur eines freien Textes: Sag mir doch gleich dass jede Silbe einen Zauberbuchstaben ” [Vokalbuchstaben, C.R.] braucht!“). Wenn norddeutsche Kinder in einem n¨achsten Schritt Honde“ schreiben, haben sie die ” Etappen der Artikulation, die Stellungslaute‘, erkannt. Allerdings stimmt ihre Wahrneh’ mung nicht mit der der Standardsprache u ¨berein. Diese hat n¨amlich mit ihrer Orientierung am Geschriebenen ein Ideal‘ geschaffen, das von niemandem in dieser Form gesprochen ’ wird (vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp]). Insofern ist die Analyse und die Identifikation von Einzellauten als eine Schaffung von Idealformen“ zu bezeichnen, die in der so ” beschriebenen Reinform nicht vorkommen – Objekte, die es in der sprachlichen Realit¨at genauso wenig wie den idealen Mann oder die ideale Frau im richtigen Leben gibt –, obwohl man vorr¨ ubergehend das immer gern (wie bei den Lauten) glauben m¨ochte. Darauf werde ich in Kapitel ?? [querverweis, tp] ausf¨ uhrlicher eingehen. Die Notwendigkeit f¨ ur das Lesen- und Schreibenlernen Aufmerksamkeit zu b¨ undeln und abstrahierend Kategorien auszubilden, die im Ged¨achtnis gespeichert werden, und diese wiederum mit graphischen Mustern (Buchstaben und Buchstabengruppen) in Verbindung zu bringen, zeigt, dass Lesen- und Schreibenlernen auf Wissenserwerb basiert: Wissen • u ¨ber die Steuerung der Artikulatoren • u ur die Kontrolle der Steuerung, d.h. die Bedingungen der unter¨ber die Kriterien f¨ schiedlichen Lautbildungen in Abh¨angigkeit von den Silben • u ¨ber die graphischen Zeichen, die die Ergebnisse der Kontrolle symbolisieren. Die folgenden Darstellungen werden beschreiben, welche Systematik diesem Wissen, das die Kinder aufbauen, linguistisch gesehen, zugrundeliegt. Es ist das Wissen u ¨ber die Zuordnung der einzelnen Lautgruppen zu den verschiedenen Silbentypen und u ¨ber die

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

187

besonderen Merkmale eines Lautes im Vergleich zu anderen. Es ist also das Wissen u ¨ber die Kriterien, die die Bildung eines Lautes von der anderer unterscheiden: Laute als die Punkte in der Artikulation, bei denen mehrere Merkmale der Lautbildung zusammentreffen. Diese Merkmale geben jedem Laut einen spezifischen Charakter und unterscheiden ihn damit von asthetisch und auditiv. Ein Laut ist demnach ein Merkmalsb¨ undel. Das weist anderen kin¨ ihm zugleich einen spezifischen Platz innerhalb eines Wortes zu. So gibt es beispielsweise ¨ Ahnlichkeiten zwischen

[p], [b], [t], [d], [k], [g] im Gegensatz zu [m], [n], [8] n¨ amlich in der Art und Weise (dem Modus), wie sie gebildet werden (vgl. ?? [querverweis, tp]), aber auch zwischen [p], [b], [m] im Gegensatz zu [t], [d], [n] im Gegensatz zu [k], [g], [8],

n¨ amlich durch den Ort, wo die Gruppen jeweils gebildet werden. Dennoch unterscheiden sich alle einzelnen Laute jeder Gruppe in weiteren Merkmalen, um W¨orter mit unterschiedlicher Bedeutung wiederzugeben: .

Um die Leistungen, die die Kinder f¨ ur die Identifikation der Segmente, die Schriftkundige als Laute bezeichnen und mit Buchstaben und Buchstabenfolgen schreiben, einsch¨atzen zu k¨ onnen, beschreibe ich in Kapitel ?? [querverweis, tp] die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Lauten, um sie auf diese Weise individuell charakterisieren, sie aber gleichzeitig Klassen zuordnen zu k¨onnen. Beobachtungen von Schreibanf¨ angern zeigen, dass sie sich auf diese Weise die Lautanalyse erarbeiten: Sie artikulieren ¨ Folgen von W¨ ortern, deren Laute Ahnlichkeiten haben, um dabei die charakteristischen Merkmale eines Lautes in Absetzung zu anderen bestimmen zu k¨onnen.

188

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Aufg. 3–5:

Als Laute nehmen wir wahr, was wir beim Lesen- und Schreibenlernen innerhalb des lautlichen Kontinuums zu identifizieren gelernt haben, weil es mit Buchstaben wiedergegeben wird. Wie stark dieses Lernen unsere Wahrnehmung pr¨ agt, wird deutlich, wenn uns bei Sprachen, die einen anderen Lautbestand haben und die auch mit lateinischen Buchstaben geschrieben werden, unser gewohntes Schrift-LautungsMuster daran hindert, die ungewohnten Laute wahrzunehmen. Als Beispiel sollen nachfolgend die Bantusprachen Afrikas gelten. Hier finden Sie die Namen einiger afrikanischer L¨ ander. 1.

Schreiben Sie sie entsprechend ihrer Artikulation in Lautschrift auf: 1) Mosambik 5) Urundi 2) Tansanjika 6) Uganda 3) Madagaska 7) Zimbabwe 4) Botswana 8) Zambia

2.

Bantu-Sprachen haben einen sehr regelhaften KV-Silbenaufbau (Konsonant-Vokal), d.h. •



alle Silben sind offen (bis auf einige Einsilber), haben also keinen Konsonanten im Endrand es gibt keine komplexen Anfangsr¨ ander.

Schreiben Sie mit diesem Wissen die W¨ orter ein weiteres Mal: in unserer Schrift mit Punkten zwischen den Silben. 3.

Welche Folgerungen lassen sich so ziehen (a) (b)

4.

3.3.2

f¨ ur die Schreibung dieser Laute f¨ ur das Lautinventar der Sprache

Was zeigt Ihnen Ihre lautschriftliche Darstellung u ¨ ber Ihre Wahrnehmung von Lautung?

Beobachtungen der Schriftanf¨ anger bei ihren Lautidentifikationen

Die analysierenden Sprachspielereien der Kinder lassen erkennen, dass sie ¨ Lautfolgen produzieren, die Ahnlichkeiten haben, d.h. die sich in ein oder zwei Merkmalen gleichen. So n¨ahern sie sich langsam der Individualit¨at eines Lautes mit Hilfe ihres Wissens u ¨ber die Unterschiede zwischen den Lauten. Wenn sie Kinder dabei beobachtet haben, wie sie im 1. Schuljahr versuchen herauszuussen, wissen Sie, dass sie, solange sie noch keine finden, welche Buchstaben sie schreiben m¨ Sicherheit in der Bestimmung der Binnengliederung der Silbe haben, sie mit verschiedenen Lautungen spielen, bis sie die entscheidenden Informationen f¨ ur die Wahl der Buchstaben erhalten haben. Dabei zeigen sich • die Schnittstellen zwischen den schriftrelevanten Segmenten • die schriftrelevanten Merkmale der Segmente

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

189

Hier Teile einiger Transkriptionen des Mitsprechens von Erstkl¨asslern bei ihren Schreibversuchen:

Kind 1:

Jetzt kommt . [nq nquq hniq.n∆ n∆in nq m∆in mq nq hnuq.djl]. Mit [nq] wie .“ (schreibt ND) ” j . Kind 2: [zq z∆qkt zq tsqoq.hzqiq.bn.hzqa[ nj zq hzqiq.n∆.hzqi8t]. f¨ angt wie an.“ (schreibt SAT) ” (Die Kinder haben einige Konsonanten-Buchstaben-Zuordnungen an den Namen ihrer Mitsch¨ uler, mit denen Stabreime gebildet wurden, gelernt.) , , [kh∆uft kh*nt hkh¸.v*n kh∆uft g∆uft guqt g˘ kh˘ Kind 3: ” kh˘]“ (schreibt KF) , [bl∆u bl bl∆u bl∆u bl phl bluq.z˘ pluq.z˘ phl phl phl∆u bl∆u Kind 4: ” bl]. Mit [bl].“ (schreibt BLO) , [hthiq.gΓ hthiq.gΓ th=m thVΓnt th˘ kh˘ kh∆ql kh=mt kh˘ th˘ Kind 5: ” h ht iq.gΓ th˘].“ (schreibt TG) , [valt vq fq falt f∆in fq vq valt voq hval.di fq valt valt].“ (schreibt Kind 6: ” WT) , [l∆.ht¸Γ.n˘ l∆q l∆.ht¸Γ.n˘ l∆q n∆ hni.n∆ l∆ n∆ hlu.i lq Kind 7: ” l∆.ht¸Γ.n˘ lq].“ (schreibt LTNE)

Diese Beispiele sind exemplarisch: Die ersten beiden Kinder isolieren zun¨achst den Anfangsrand vom Reim, indem sie den Reim ersetzen und somit zu einer Grenzziehung innerhalb der Silbe kommen (A). Zus¨atzlich experimentieren sie mit den Konsonanten im Anfangsrand, um ihn durch Alternativbildungen bestimmen zu k¨ onnen (B).

Kind 1

Kind 2 hS

hS

L

L L

L

A RL

A

B

nq n n m

uq iq ∆in ∆in

A RL

A

B

z z z z ts

aqkt iq i i8t oq

(ben) (na)

Die sechs anderen Kinder experimentieren mit dem Laut im Anfangsrand, nachdem sie ihn durch Ersetzungen des Reims abgetrennt haben:

190

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Kind 4

Kind 5 hS

hS

L L A R

L L A R

bl ph bl pl ph phl bl

au lq uq uq lq ∆u ∆u

(se) (se)

th th th th kh kh kh kh th th th

iq =m VΓnt ˘ ˘ ∆ql =mt ˘ ˘ iq

(ger)

(ger)

Aufschlussreich ist, dass die artikulatorischen Experimente der Kinder (in aller Regel) ausschließlich in einem bestimmten Rahmen stattfinden: Sie tauschen jeweils Laute aus, die gemeinsame Merkmale bei ihrer Bildung haben, sich dabei in einem, h¨ochstens zwei Merkmalen unterscheiden: [n/m] (Kind 1) – [z/ts] (Kind 2) – [kh/g] (Kind 3) – [b/ph] (Kind 4) [th/kh] (Kind 5) – [v/f] (Kind 6) – [l/n] (Kind 7) Gleiches l¨ asst sich f¨ ur sogenannte Buchstabenverwechslungen12 bei Schreibanf¨angern feststellen: Auch hier pr¨ asentieren die geschriebenen Buchstaben Laute, die nur geringe Merkmalsdifferenzen zu den Lauten haben, die das Wort enth¨alt: 1. Besonders h¨ aufig sind in allen Dialektregionen Verwechslungen‘ von ’ , , : tort“ / , puch“ / , keben“ / . ” ” ” Sie tauchen vor allem dann auf, wenn dem Konsonanten ein weiterer folgt: tret“ / , plut“ / , Klas“ / . ” ” ” Zu dieser Gruppe der Verwechslungen‘ geh¨oren auch Schreibungen wie ’ Fant“ / . ” Nach einiger Zeit ist auch Umgekehrtes feststellbar: breis“ / , Gnie“ / , wrei“ / . ” ” ” In diese Gruppe geh¨ oren auch in einigen Regionen r/ch-Verwechslungen ( mart“ / , Tochte“ / ). ” ” Im Sprachraum s¨ udlich der Linie Mainz / Leipzig findet man diese Fehler besonders geh¨ auft. Ebenso zahlreich sind Verwechslungen‘ von am Anfang der unbeton’ ten Silbe: F¨ use“ / , sp¨ ater auch Raßen“ / . ” ” 2. Seltenere Verwechslungen‘ sind ’ ( ba“ / ) oder ( hame“ / ). ” ” Um zum einen die Leistungen der Kinder bei den Analysen einsch¨atzen zu k¨onnen, zum anderen ein Konzept zugunsten derjenigen, die hier Unterst¨ utzung brauchen, entwickeln 12 Ob es sich um Buchstabenverwechslungen‘, also ein Problem‘, das mit dem Erinnern der entspre’ ’ chenden graphischen Form zusammenh¨ angt, oder um die unzureichende lautliche Analysen handelt, kann nur f¨ ur den Einzelfall entschieden werden: Entweder kennt das Kind das orthographische Zeichen noch nicht oder es hat eine falsche lautliche Merkmalsanalyse vorgenommen.

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

191

zu k¨ onnen, im Folgenden eine systematische Beschreibung der Artikulation der Laute im Deutschen. Sie kennzeichnet die Punkte im Bewegungsablauf der Artikulatoren, die einen Laut entstehen und h¨ oren lassen, der eben in seiner charakteristischen Form dazu beitr¨ agt, dass ein Wort sich in seinem Klang und damit in seiner Bedeutung von anderen unterscheiden kann:








Diese Beschreibungen sind die Abstraktionen, die f¨ ur das Schreiben unserer Schrift vorzunehmen sind: sie gliedern das ungegliederte Kontinuum der Artikulationen entsprechend den Notwendigkeiten f¨ ur die Kodierung des Gesprochenen. Dabei nehmen sie Betrachtungen und Vergleiche von Ausschnitten der Bewegungsabl¨aufe bei der Artikulation vor und legen damit fest, was als Laute zu identifizieren sei. Diese Einteilungen und Merkmalszuschreibungen k¨ onnten auch anders vorgenommen werden – die lautgetreuen‘, aber ortho’ graphisch unerwarteten Kinderschreibungen lassen das erkennen ( ont“ / , th¨ ua“ / ” ” , sampft“ / ). Dass sie f¨ ur Erwachsene den Charakter von Modellen verloren ” urlichkeit erhalten haben (vgl. die Zitate aus und den Anschein von Objektivit¨at und Nat¨ den Fibelhandb¨ uchern), liegt daran, dass die modellierten idealtypischen Segmentierungen Grundlage einer Schrift mit einem begrenzten Zeicheninventar wurden, daher uns mit dem Erwerb dieser Schrift in Fleisch und Blut u ¨bergegangen sind. Sich die Tatsache des Modellhaften einerseits, unseren Pr¨agungen durch unsere Schrifterfahrungen andererseits vor Augen zu f¨ uhren, ist – wie gesagt – in didaktischen Zusammenh¨ angen von Bedeutung, wenn es darum geht, die L¨osungen, die die Kinder beim Schreiben finden, nicht als falsch, sondern als m¨ogliche Alternativen aufgrund sorgf¨altiger phonologischer Analysen zu w¨ urdigen. In meinen Seminaren hat es sich f¨ ur diese Aufgabe zuk¨ unftiger Lehrerinnen als sehr hilfreich erwiesen, die Erfindung‘ der deutschen ’ Orthographie als geistiges Produkt derjenigen nachzuvollziehen, die in einer bestimmten ur das Schreiben des historischen Phase nach Wegen suchten, mit Hilfe der Schrift, die f¨ Lateinischen bekannt war, die typischen Strukturen des Deutschen graphisch darzustellen. Aus diesem Grunde soll hier die Beschreibung der Aufgaben, die Kinder am Schriftanfang zu leisten haben, durch einen schrifthistorischen Exkurs unterbrochen werden. Zus¨atzlich l¨ asst der historische R¨ uckblick aus einer anderen Perspektive erkennen, weshalb Schrift im Deutschen keine Laute in einem 1:1-Verh¨altnis abbildet – und wie die Schreibungen als Symbolisierungen der f¨ ur das Deutsche typischen Strukturen oberhalb der Lautebene zu interpretieren sind, die f¨ ur den Schrifterwerb genauso zu bestimmen sind wie Laute. Laute sind Elemente der Silben, die Menschen in aller Regel nur f¨ ur das Schreiben einer Alphabetschrift identifizieren m¨ ussen. Diese Aufgabe stellt eine Leistung dar, die auf Analyse und Abstraktion beruht: Die Lerner m¨ ussen ein Kategoriensystem f¨ ur ihre Wahrnehmung entwickeln, das sie bef¨ ahigt, die minimalen Punkte im Kontinuum der Artikulation zu bestimmen, an denen die verschiedenen Artikulatoren in einer bestimmten Stellung zusammentreffen. Als Laute sind daher Segmente zu bezeichnen, die sich aufgrund gesteuerter Wahrnehmungsschulungen ergeben. Sie sind also nicht nat¨ urlich gegeben, sondern entstehen beim Schrifterwerb und f¨ ur ihn. Die Tatsache, dass die Schrift diese minimalen Idealpositionen‘ graphisch markiert, ’ hilft bei der Identifikation der Laute. Weshalb sie das tut, zeigt das folgende Kapitel. Die Beobachtungen von Kindern bei ihren Lautanalysen am Schriftanfang zeigt, wie sie sich darum bem¨ uhen, die erlernten Merkmale zu identifizieren und dabei die Individualit¨ at der Laute zu bestimmen.

192

3.3.3

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Schrifthistorischer Exkurs: Der Beginn der deutschen Orthographie und ihrer Didaktik

Die Analyse des Lesens und Schreibens Schriftkundiger ließ erkennen, dass sie ein System anwenden, das Buchstaben anders nutzt, als der Anfangsunterricht diese Aufgabe darstellt. Sie nutzen die Orthographie f¨ ur die prosodische Artikulation: Das Lesen deutscher W¨orter setzt die Herstellung ihrer prosodischen Struktur voraus, Schreiben die Analyse der prosodischen Muster. Die Prosodie ist den geschriebenen W¨ortern durch die Buchstabenfolge genauso eingeschrieben wie deren Lautung. Lehrbar und lernbar wird diese Komplexit¨at der Markierung dadurch, dass sie systematisch ist. Diese Systematik ist das Produkt derjenigen, die vor 500 Jahren f¨ ur die Verbreitung deutscher Texte nach den Fortschritten in der Buchdruckerkunst um deren optimale Lesbarkeit bem¨ uht waren und dabei graphische M¨oglichkeiten gefunden haben, das Besondere des Deutschen mit Hilfe der lateinischen Buchstaben, deren Nutzung ihnen gel¨aufig war, zu markieren. Die ¨okonomische, soziale und politische Situation in Deutschland vor 500 Jahren brachte es mit sich, dass einerseits der allgemeine Wunsch nach schriftsprachlichen Kenntnissen, zum anderen das damals revolution¨are Anliegen, das Schriftwissen auch an bildungsfernere Schichten zu vermitteln, dynamisch zunahmen. Hiermit war das Bem¨ uhen verbunden, die orthographische Systematik, die die deutschen Texte als Basteleien‘ der Drucker lesbar gemacht hatten, so darzustellen, ’ dass sie die Grundlage f¨ ur ein Konzept zum Lesenlernen bildete. So entstanden die ersten Didaktiken des Deutschen. Sie beschrieben beides: die spezifischen lautlichen Strukturen des Deutschen sowie die graphischen Muster, die als deren Symbolisierungen gefunden worden waren. Einer der bekanntesten Didaktiker dieser Zeit war Valentin Ickelsamer. Seine Arbeiten haben angesichts des derzeitigen Lese- und Schreibunterrichts noch immer eine große Aktualit¨at. Der Aufbau der deutschen Orthographie unter Nutzung der Schrift f¨ ur das Lateinische Auf Deutsch geschriebene Texte gab es schon recht fr¨ uh, die ersten stammen aus dem 9. Jahrhundert. Diejenigen, die begannen, deutsche Texte zu verschriften, waren den Umgang mit Schrift bereits gewohnt, sie waren Grammatiker‘. Die Schrift, die sie beherrschten, war ’ die lateinische. Statt, was denkbar war, radikal eine neue Schrift f¨ ur die andere Sprache, ur deren Schreibungen auf das Zeichensystem zur¨ uck, das Deutsche, zu schaffen, griffen sie f¨ das f¨ ur das Schreiben in dieser Zeit und dieser Region zur Verf¨ ugung stand: das lateinische Alphabet. ¨ Wie bei der Vorstellung der Lautschrift schon erw¨ahnt, brachte diese Ubernahme jedoch Komplikationen mit sich, denn die deutsche Sprache unterschied sich strukturell stark von der lateinischen: Das Deutsche ist im Gegensatz zum Lateinischen eine Akzentsprache, hat daher teilweise eine stark abweichende Lautung.

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

193

Allerdings war auch die lateinische Schrift nicht 1:1 lautgetreu‘: Die R¨omer hatten ihr ’ Schriftsystem ebenfalls von den Griechen u ¨bernommen, die es ihrerseits von den Ph¨oniziern u ¨bernommen hatten. Diese schrieben ein Schriftsystem, das vor 6000 Jahren semitische V¨ olker erfunden hatten: Deren revolution¨are Tat war es gewesen, nicht nur ganze W¨orter ¨ oder Silben mit Symbolen darzustellen, wie es vor ihnen die Agypter und andere V¨olker mit ihren Hieroglyphen gemacht hatten. Im Gegensatz zu allen ihren Schriftvorg¨angern, die inhaltliche Ganzheiten darstellten (z.B. ein Zeichen f¨ ur ), hatten sie die Lautung der Sprache analysiert. Sie symbolisierten deren wiederkehrende Elemente, die aufgrund ¨ ihrer Ahnlichkeiten bei der Bildung und im Klang identifizierbar waren, mit einem Zeichen. Die wegweisende Tat der Semiten war es also, Schrift mit der Produktion von Sprache, d.h. mit der Artikulation in Verbindung zu bringen: Die einzelnen Zeichen standen f¨ ur eine bestimmte Position der Sprechorgane w¨ahrend der Artikulation, die zu einer bestimmten Lautung f¨ uhrte. Durch ihre Wiederkehr in unterschiedlichen lautlichen Umgebungen ließen sie sich abstrahieren, isolieren, damit wurden sie zu identifizierbaren Segmenten, die man mit einem Zeichen, einem Buchstaben symbolisieren konnte. Dieser Schritt von der bildlichen Pr¨asentation von begrifflichen Ganzheiten, also von Inhalten wie in der Bilder- und der Silbenschrift, hin zu der Pr¨asentation ihrer lautlichen Strukturen gilt in der Schriftgeschichte als der entscheidende Schritt zur Alphabetschrift. Diese hat sich im Laufe der Jahrtausende als eine ¨außerst praktikable Schrift erwiesen. Konnten und k¨ onnen Bilderschriften aufgrund dessen, dass eine un¨ ubersehbar große Anzahl von Zeichen – im klassischen Chinesisch waren es etwa 30.000 – nur von einer kleinen Gruppe von Professionellen beherrscht werden, war und ist die Buchstabenschrift mit ihren 20-30 Zeichen weitaus lern¨ okonomischer, volksn¨aher‘ (vgl. ?, S. 5-7). Sie wurde dadurch ’ ur diejenigen, die sich nicht haupts¨achlich mit Lesen und Schreiben besch¨aftigten, auch f¨ lernbar, n¨ amlich f¨ ur gr¨ oßere Teile des Volkes. Deshalb wird diese Entwicklung Demotisierung (demos = das Volk) bezeichnet.13 Das Schreiben einer Alphabetschrift setzt als zentrale Leistung voraus, dass das Gesprochene als lautliche Form betrachtet wird – die zentrale Leistung, die auch Kinder erbringen, wenn sie f¨ ur das Schreibenlernen umschalten‘ m¨ ussen. Dass sie es tun, wird ’ sichtbar, wenn z.B. ihre Einkaufslisten nicht mehr nur aus Zeichnungen der einzukaufenden Waren bestehen, sondern Buchstaben dem Erinnern helfen sollen: Schriftzeichen als Symbolisierung, Abstrahierung von wiederkehrenden, beschreibbaren‘ Elementen des ’ Gesprochenen. Einkaufsliste einer F¨ unfj¨ ahrigen 1 T¨ ute Bonbonbs 1 Brot Nutella Kakao

Die Aufgabe der Kinder dabei ist im Prinzip die gleiche wie die, die die Semiten 6000 Jahre vorher gel¨ ost hatten, als sie sich um die Identifikation der Elemente bem¨ uhten, die in unterschiedlichen Kombinationen kin¨asthetisch und lautlich wiederkehren und dadurch identifizierbar werden. Erleichtert, vielleicht erm¨oglicht wurde diese Erfindung, weil die semitischen Sprachen sehr viele Konsonanten und nur wenige Vokale haben. So wurde f¨ ur die semitische Schrift – wie im Arabischen und Hebr¨aischen noch heute – aufgrund der geringen Zahl der Vokale Zeichen ausschließlich f¨ ur Konsonanten erfunden. Ihre Bildung war kin¨ asthetisch gut wahrnehmbar und unterscheidbar. Insofern sind diese Schriften 13 Der

Prozess der Demotisierung hat dann sein Ziel erreicht, wenn alle Menschen auf der Welt lesen und schreiben k¨ onnen. Gegenw¨ artig sch¨ atzt die OECD die weltweite Analphabetisierungsquote auf 60%.

194

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

auch Silbenschriften. Das Auff¨ ullen‘ des konsonantischen Ger¨ ustes mit Vokalen beim Le’ sen geschieht im Zusammenhang des Kontextes: Lesen als Interpretation. So wie bei den fr¨ uhen Schreibungen hiesiger Kinder ( LW“ / , MT“ / ) steht in diesen ” ” Sprachen ein Konsonantenbuchstabe f¨ ur eine Silbe. Die Erfindung der Schrift, so wie wir sie mit einem Repertoire von Zeichen sowohl f¨ ur ur Vokale kennen, erfolgte 3000 Jahre sp¨ater durch die Griechen. Sie Konsonanten als auch f¨ u ¨bernahmen die Schreibpraxis der silbischen Markierung durch Konsonanten und passten sie der griechischen Sprache an, indem sie Zeichen f¨ ur die Vokale erfanden. Aus dieser Zeit stammt der Begriff Silbe: Das griechische Wort syllaba heißt zusammenfassen‘ und meint ’ die T¨ atigkeit beim Lesen, Buchstaben, die die beiden Teile der Silbe, den konsonantischen und den vokalischen, pr¨ asentieren, mit den Augen‘ zu Silben zu addieren. Silben sind hier ’ n¨ amlich – anders als im Deutschen mit seinen unterschiedlichen prosodischen Mustern – als lineare Aneinanderreihung gleichwertiger Segmente darstellbar, die die Buchstaben pr¨ asentieren (wie z.B. im Italienischen, Spanischen, T¨ urkischen und andere silbenz¨ ahlenden Sprachen ohne Wortakzent noch heute, (vgl. Kaltenbacher, 1998). Die Erfindung neuer Zeichen, die die besonderen lautlichen Bedingungen wiedergeben ur die deutsche Schrift nie gegeben. Denn – vielleicht vergleichbar der Lautschrift – hat es f¨ die Verschriftung der deutschen Texte wurde mit den bekannten lateinischen Schriftzeichen vorgenommen. Der u ¨berwiegende Teil der Deutschen, die bis zum Beginn der Neuzeit schreiben konnten, waren (mindestens) zweisprachig: in Deutsch und Latein. Damit verbunden war die Aufteilung in gesprochene und geschriebene Sprache: Deutsch f¨ ur das M¨ undliche, Latein f¨ ur das Schriftliche (eine Doppelung der Sprachpraxis, wie sie heute in vielen Entwicklungsl¨ andern und in vielen Migrantenfamilien anzutreffen ist). Mit der ¨ Ubernahme der lateinischen Zeichen war auch – und das ist in unserem Zusammenhang das entscheidende – die Bestimmung der Segmente im Deutschen, die mit einzelnen Zeichen wiedergegeben wurden, verbunden: Die Wahrnehmung und Segmentierung des Gesprochenen war kanalisiert durch die Pr¨ agung, die durch das Erlernen der lateinischen Schrift stattgefunden hatte: Das Deutsche wurde als gleich‘ oder anders‘ zum Lateinischen in’ ’ terpretiert, aber das Andere wurde mit dem lateinischen Zeichenrepertoire geschrieben. Die lateinische Schrift hatte sich – wie gesagt – aus der griechischen entwickelt – unter anderung des Vorhandenen, um die spezifischen sprachlichen MerkmaAnpassung und Ver¨ le des Lateinischen darstellen zu k¨onnen. Auch hier zeigte sich, wie bei jedem Erben einer fremden‘ Schrift, dass ein Teil der Zeichen des Griechischen u ussig war, so dass sie ge¨berfl¨ ’ ur die Darstellung eigener Strukturen strichen wurden. Ein anderer Teil hingegen musste f¨ neu geschaffen werden. Gleiches galt f¨ ur alle Sprachen, die ihrerseits wieder die lateinische Schrift u ¨bernahmen. Die Ver¨anderungen des Schriftsystems betrafen das Erfinden‘ von ’ ur einzelne Laute als auch f¨ ur prosodische Merkmale, die es im LateiZeichen sowohl f¨ nischen nicht gab. Um welche Laute sich in den jeweiligen Sprachen handelt, wird sehr schnell immer dann deutlich, wenn die graphischen Zeichen andere als die Buchstaben des lateinischen Alphabets, n¨ amlich sprachspezifische sind wie z.B. im < > < > Deutschen, th im Englischen, en, in, on, an, un im Franz¨osischen. Die Tatsache, dass derselbe Laut wie z.B. [M] in den meisten Sprachen, in denen er vorkommt, ein je anderes graphisches Zeichen hat, weist beispielhaft auf die Individualit¨at der Entwicklung der Schrift in den einzelnen Sprachen hin, die das lateinische Systems u ¨bernommen hatten:

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

sch> sh> usw. <


s ,

< >

F¨ ur eine gewisse Zeit – Sprachen wandeln sich – konnte die koreanische Schrift als eine lautgetreue Schrift‘ bezeichnet werden: Laute verstanden als kin¨asthetisch und auditiv iden’ tifizierbare Momente im Kontinuum des Gesprochenen, die durch ein einziges Schriftzeichen graphisch fixiert werden. Ein Silbenteppich mit mit einsilbigen W¨ortern des Deutschen, nach dem Muster der alten koreanischen Schrift erstellt, macht erneut (wie die Lautschrifttabelle von Seite [querverweis pageref einf¨ ugen, tp]) sichtbar, wie weit das Deutsche von einer lautgetreuen‘ Schreibung ’ entfernt ist:

1. muss er gedoppelt werden, weil es f¨ ur jeden Vokalbuchstaben zwei lautliche Varianten gibt,

2. w¨are er viel l¨anger, weil es im Deutschen im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen wie eben auch zum Koreanischen komplexe Anfangsr¨ander gibt,

3. gibt es große Unterschiede in der Schreibung des Endrandes bei gleichem Laut (aufgrund der morphologischen Konstantschreibung des Deutschen).

Aus diesem Grunde bedarf es f¨ ur das Deutsche der lautschriftlichen Buchstaben, die laut’ treu‘ sind – und die mit ihrem Gegensatz zur Schreibung in Alphabetschrift deren Distanz zur Lauttreue‘ anzeigen. ’

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

Aufg. 3–6:

199

F¨ ullen Sie die Felder des folgenden Teppichausschnitts aus und schreiben Sie das Wort in unserer Schrift hinzu, wenn es das im Deutschen mit dieser Lautung gibt. Fertigen Sie anschließend einen Teppich mit dem Vokalzeichen an. [b] [biqt] biet

[m]

[r]

[M]

[gl] [iqt] [iqs] [iqm] [iql]

[b] [b*t] Bit

[m]

[r]

[M]

[gl] [*t] [*s] [*m] [*l]

a)

Worin bestehen die gr¨ oßten Differenzen zwischen den Silben des Deutschen und des Koreanischen?

b)

Welcher Unterschied besteht in der Schreibung der einsilbigen W¨ orter zwischen diesen Sprachen?

Das Bem¨ uhen der ersten Didaktiker der deutschen Sprache zur Erkl¨ arung des Schriftsystems als Markierung der Strukturen des Deutschen (Valentin Ickelsamer) Einer der Didaktiker‘ des beginnenden 16. Jahrhunderts war Valentin Ickelsamer (1500– ’ 1541) (vgl. Ickelsamer 1972). Seine Didaktik spiegelt sehr sch¨on die damalige Situation, in der es darum ging, deutschsprachigen Menschen die M¨oglichkeit zum Lesen deutscher Texte zu geben, wider. Da seine Bew¨altigung dieser didaktischen Anfangssituation angesichts der Praxis des gegenw¨ artigen Lese- und Schreibunterrichts sehr aufschlussreich ist, gehe ich ausf¨ uhrlicher auf seine Darstellungen ein. Ickelsamer geh¨ orte zu den Sozialrevolution¨aren der Fr¨ uhen Neuzeit, die sich das Ziel gesetzt hatten, die bis dahin unbeweglichen sozialen und politischen Verh¨altnisse zu ver¨andern.16 Eine ihrer Waffen‘ war die Bildung, die zu verbreiten vor allem durch die Erfindung des ’ Buchdrucks forciert m¨ oglich wurde. So ging es Ickelsamer darum, das machtvolle Privileg des Schriftwissens, das bis dahin nur wenige hatten, gr¨oßeren Gruppen der Bev¨olkerung zukommen zu lassen, es zu demotisieren (vgl. Giesecke 1975; Maas 1992 [ins Lit.verz. aufnehmen, tp]). Das bedeutete, dass die Sprache, die die Bev¨olkerung sprach (und nicht die der Gelehrten) verschriftet werden musste.17 Seine Didaktik‘ Die rechte weis, auffs k¨ urzist lesen zu lernen“ aus dem Jahre 1534 ’ ” 16 Gegenw¨ artig scheint nach einer fast dreißigj¨ ahrigen Pause dank der erschreckenden Ergebnisse von PISA u ahlich wieder ein Bewusstsein f¨ ur ¨ber die Festigung der sozialen Ungleichheit durch die Schule allm¨ die politische Dimension von Bildung, insbesondere von literater Bildung zu entstehen. 17 In dieser Situation befinden sich heute viele Entwicklungsl¨ ander, deren Sprachen noch nicht verschriftet sind. Da auch sie auf bestehende Schriftsysteme (lateinische oder arabische Schrift) zur¨ uckgreifen, stehen sie vor dem gleichen Problem wie die Schrifterfinder‘ in Europa vor ca. 500 Jahren. ’

200

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

enth¨ alt entsprechend eine systematische Darlegung der Strukturen des Deutschen in ihrem Gegensatz zu den lateinischen, so wie sie den Schreibungen in den Druckerzeugnissen seiner Zeit zugrundelagen. An den Anfang seiner Anweisungen zum Lesenlernen setzte er die – auch gegenw¨ artig noch ¨ außerst aktuelle – Warnung davor, Buchstaben so, wie es aus dem Griechisch- und Lateinunterricht bekannt waren, als Zeichen f¨ ur isolierte Laute zu sehen und diese dann zu syllabieren‘, d.h. zu Silben zusammenzuziehen. Im Deutschen seien ’ urden, f¨ ur das Erlesen Buchstaben dann, wenn sie als Symbole isolierter Laute gesehen w¨ von Silben und W¨ ortern dem lesen lernenden mehr hinderlich dann dienstlich“. ”

Aber also: [F¨ ur das Lesen] der W¨ orter und Silben sind die Buchstaben dem ” Lesenlernenden mehr hinderlich als dienlich“. Buchstaben sind f¨ ur ihn Anweisungen f¨ ur die Artikulation ( wie mans mit den Nat¨ urli” chen organis und ger¨ ust im mund machet“). Sie markieren dabei wie St¨abe und Stecken“ ” in einem Gel¨ ander den Bewegungsablauf der Artikulation. Lesenlernen bedeutet, diesen Bewegungsablauf entsprechend den Stecken und St¨aben“ zu gestalten, sie wie Punkte ” in einer Landschaft artikulatorisch anzustreben, um dann das n¨achste Ziel, den n¨achsten Stecken anzustreben. Buchstaben pr¨asentieren im Sinne Sievers (vgl. dazu Kapitel ?? [querverweis, tp]) die Stellungslaute‘ und die Lautung zwischen ihnen, von Sievers ’ als Gleitlaute‘ bezeichnet, beschreibt er ebenfalls als nicht identifizierbar, n¨amlich als die ’ Anteile der Lautung, da man gar nichts h¨ort“. ”

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

201

Ins Zentrum seiner Analysen r¨ uckt er die Einheiten, die beim Lesen zu produzieren ur sie beschreibt er die f¨ ur das Deutsche spezifischen Strukturen. Seine sind: Silben. F¨ didaktischen Anweisungen an die Leser betreffen das Dekodieren des Zeichensystems, entsprechend das die Drucker f¨ ur die unterschiedlichen Silben des Deutschen gew¨ahlt hatten. Dabei beschr¨ ankt er sich auf die Silbenvariante, die das Deutsche vom Lateinischen unterscheiden und in besonderer Weise einerseits zu schreiben, andererseits zu dekodieren sind: Silben mit Konsonantenh¨ aufungen in den Silbenr¨andern und mit festem Anschluss im Reim (mit Kurzvokal‘). ’ So geh¨ oren in seiner Darstellung seitenweise Auflistungen mit Mustern ( figurlin“) f¨ ur ” Silben mit mehreren Konsonanten ( stumsillaben“) im Anfangsrand, da sie f¨ ur denjenigen, ” die ir nicht wohl gewonet“ sind, ein starcke und mechtige verhindernis eines geschickten ” ” lesens“ sind. Immer wieder weist er darauf hin, dass es die Aufgabe des Lesers ist, Laute nicht einzeln zu benennen. Vielmehr seien sie s¨amtlich und [mit] beh¨ander Nennung ” miteinander“ zu artikulieren. Es geht ihm um die Artikulation des gesamten Anfangsrands als Einheit (wie Kinder ihn vor der Konfrontation mit den Lehrg¨angen wahrnehmen). Er hebt ihn vom Reim, der mit den Lautbuchstaben“ beginnt, ab: Er betrachtet die ” Buchstaben als Pr¨ asentanten der silbischen Strukturen: Denn Buchstaben werden nicht isoliert, nicht als Pr¨ asentanten von Lauten, betrachtet, sondern werden systematisch den beiden silbischen Konstituenten Anfangsrand und Reim zugeordnet (wie die Kinder es am Schriftanfang machen). Indem er die verschiedenen Varianten tabellarisch auflistet, stellt er die Systematik auch graphisch dar. So nutzt er die Bedingungen und M¨oglichkeiten der Schrift, die besonderen Strukturen des Deutschen darzustellen.

Von Stummsyllaben (Konsonanten) Als erstes soll man lernen, wie mit den Stummbuchstaben Silben gemacht und zusammengesetzt werden. Es gibt Zweier, Dreier und mehr Stummbuchstaben:

202

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

s¨ amtlich sind [mit] beh¨ ander Nennung miteinander zu verbinden. Es ist ein achtiges Verhindernis eines geschickten Lesens, wenn man das starkes und m¨ nicht wohl gewohnt ist. Entsprechend der esten Aufgabe der Leser, die Buchstabenketten silbisch zu gliedern, weist er den Konsonanten ( Stummbuchstaben“) in mehrsilbigen W¨ortern die wichtige ” ander zu markieren, indem er auf die Position von KonsonanFunktion zu, die Silbenr¨ tenbuchstaben am Silbenbeginn hinweist: Sie stehen allwege [in den] Silben vorm ersten ” Lautbuchstaben“, d.h. der Leser erkennt in der Kette der Buchstaben den Beginn einer neuen Silben an dem Konsonantenzeichen vor dem Vokalzeichen (eine Praxis, die, wie in Kap. [querverweis, t.e.] dargestellt, das Lesen Erwachsener bestimmt). Das sind ungeheuerlich [erstaunlicherweise] alle Silben, bei denen [die Kon” sonanten] allwege [immer in den] Silben vorm ersten Lautbuchstaben des Wortes stehen.“ Im Anschluss an die Betrachtung der Anfangsr¨ander beschreibt er die Artikulation von Reimen. Dabei beschr¨ ankt er sich – wie gesagt – auf Kurzvokale‘ in geschlossenen ’ Silben, weil es diese Reimvariante im Lateinischen nicht gibt, daher zu den Auff¨alligkeiten des Deutschen geh¨ ort. Er stellt sie als artikulatorische Einheit, als festen Anschluss“ dar: ” das man die buchstaben fein rein auff einander rencken und ziehen lerne“. ” In seiner Darstelung dieser Silbenvariante des Deutschen geht er wieder systematisch vor, indem er folgende Progression w¨ahlt, die er auch f¨ ur das Lesen empfiehlt: 1. zun¨ achst die Betrachtung des Reims: Hier beschreibt er die Artikulation des festen ’ Anschlusses‘, also der Artikulation von Vokal und Konsonant als Einheit ( fein rein ” auff einander“) 2. die Erg¨ anzung des Reims durch die Artikulation des Konsonanten im Anfangsrand, abschließend 3. als weitere Erg¨ anzung Silben mit komplexen R¨andern. Seine Leseanweisungen lassen sich in folgender Weise zusammenfassen: 1. Folgt dem Vokal ein Konsonant im Reim, so sind sie als eine eng verkn¨ upfte Einheit zu artikulieren ( das man die buchstaben fein rein auff einander rencken und ziehen ” lerne“, die lautbuchstaben allweg auff einen stumben nacheinander gezogen bis gar ” herab“). 2. Die Konsonantenkombinationen im Anfangsrand sind als Einheit zu artikulieren ( s¨ amtliche und beh¨ ande nennung miteinander “). ” 3. Das Zusammenziehen von Anfangsrand und komplexem Reim geschieht erst, nachdem beide als Einheiten, der Reim zuerst, artikuliert wurden ( Man lernets aber ” auch fein, so mans [die Konsonanten] vorn an der lautbuchstaben setzt“). 4. Grenzen zwischen Silben sind dadurch erkennbar, dass die n¨achste Silbe immer mit dem Konsonanten vorm ersten lautbuchstaben des Wortes“ beginnt. ”

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

203

Angesichts der buchstabenisolierten Links-Rechts-Synthese, die den gegenw¨artigen Anfangsunterricht noch immer bestimmt, muten diese 500 Jahre alten empirischen Ergebnisse zum Lesenlernen revolution¨ ar an. Sie zeigen den Schl¨ ussel f¨ ur den Gebrauch der Zeichen der Schrift als Symbolisierung der spezifischen Strukturen des Deutschen, gleichzeitig f¨ ur ihre Dekodierung und ihre Darbietung in didaktischen Zusammenh¨angen: • Die Drucker leisteten vor dem Hintergrund der klassischen sprachlichen Vorbilder Latein und Griechisch die prosodische und grammatische Analyse des Deutschen und erfanden‘ in Erg¨ anzung zu den zur Verf¨ ugung stehenden Buchstaben der lateinischen ’ Schrift das notwendige zus¨atzliche Zeichensystem, das den Lesern das Entdecken der Lautung des Deutschen in den Schreibungen erm¨oglicht: Sie nutzen daf¨ ur den Wechsel zwischen Vokal- und Konsonantenbuchstaben, deren Kombination in den Silben sowie den Einsatz zus¨atzlicher Buchstaben () sowie der Dopplung von Konsonantenbuchstaben.18 . So entstand die Systematik der Markierungen, die heute immer noch gelten und die Leser weiterhin nutzen (vgl. Kapitel ?? querverweis, tp). • Die Aufgabe der Didaktik – damals wie heute – war und ist es, das Zeichensystem, das die Drucker f¨ ur das Scheiben deutscher Texte erfunden‘ hatten, an die Sch¨ uler ’ weiterzugeben, das sich die lesen lernenden daran wie an st¨ abe oder steken halten“. ” Buchstaben d¨ urfen dabei nicht als Pr¨asentanten von einzelnen Lauten dargestellt werden, sondern als Merkmale f¨ ur die Artikulation von Silben, denen die gesamte 18 In

dieser Zeit wurden auch Wortabtrennungen durch Leerzeichen und Markierungen der Satzglieder durch Großbuchstaben vorgenommen, vgl. ?; R¨ ober-Siekmeyer 1998 [in Lit.verz. aufnehmen, tp]

204

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Lautung, also auch die prosodische, sozusagen eingeschrieben ist. Aber also worts ” und sillaben weyse seind die buchstaben dem lesen lernenden mehr hinderlich dann dienlich“. (Deshalb Ickelsamers ausf¨ uhrliche, systematische Darstellung der lautlichen Gestalten der Silben im Deutschen.) Das Schreiben stellt er als analytische, kognitive Aufgabe dar: Das Ausgangsmateri’ ur das Schreiben ist das gesprochene Wort – ging es doch darum, das Deutsche zu al‘ f¨ verschriften. Als Aufgabe f¨ ur das Schreibenlernen nennt er das Entdecken der regelhaften Verbindung der Schrift mit dem Gesprochenen ( So nemb er ein jedes Wort, des Buch” staben er schreiben will, selbst in seinen Mund“). Dabei schreibt er der kin¨asthetischen Kontrolle große Bedeutung zu: Wenn der Sch¨ uler die W¨orter selber in seinen Mund“ ” nimmt, merckt er die verenderung der laut und Stim vil ehe und baß, dann so ers von ” ort“. Entsprechend beschreibt er die Positionierung der Organe bei der Bileinem andern h¨ dung der einzelnen Laute sehr ausf¨ uhrlich: Aufgabe des Sch¨ ulers beim Schreibenlernen sei es zu u ¨ben, die lautliche Analyse der Silbe als Reihung von kin¨asthetischen Ver¨anderungen zu erfahren.

Wenn er aber die Teile im Wort fein, rein und eigentlich von einem anderen Teil absondern [will], so nimmt er jedes Wort, dessen Buchstaben er wissen will, selber in seinen Mund. Dann merkt er die Ver¨ anderungen der Konsonanten und Vokale viel eher, als wenn es von einem anderen h¨ ort.

In dem Wort sind vier Ver¨ anderungen, das sind vier Buchstaben. Zuerst h¨ ort und vernimmt man einen starken Atem, als wenn man in die H¨ ande haucht. Das ist das [h]. Das haucht man auf den Laut [a]. Nach dem Laut [a] kommt ein Klang durch die Nase und zuletzt wird ein Zischen einer jungen Taube oder einer Schlange geh¨ ort. Keins dieser vier Teile ist dem anderen gleich.

3.3. LAUTE ALS RESULTATE ABSTRAHIERENDER ANALYSEN

205

Das Hauptproblem des Schreibenlernens besteht f¨ ur ihn darin, bei der Analyse der asthetischen Ver¨anderungen beim Sprechen zu erkennen Silben Anzahl und Form der kin¨ ( . . . nimmt er jedes Wort . . . selber in seinen Mund“) und diese Ver¨anderungen in der ” Weise kategorisieren zu k¨ onnen, dass sie mit Buchstaben in der erlernten Form in Verbindung zu bringen sind. Entsprechend seiner grunds¨ atzlichen Beschreibung der Silbe als Kombination aus konsonantischem Anfangsrand und vokalischem Reim differenziert er auch hier wieder zun¨achst Vokale und Konsonanten. Die zweite Aufgabe f¨ ur den Schreiber besteht f¨ ur ihn jedoch darin, die kin¨ asthetischen Merkmale in der Produktion der einzelnen Konsonanten differenzieren zu lernen, um dadurch die Ver¨anderungen bestimmen zu k¨onnen. Die Aufgaben, die Ickselsamer vor 500 Jahren f¨ ur das Lesen und Schreiben des Deutschen darstellte, gelten noch immer. Dazu mehr in den Kapiteln ?? bis ?? [querverweis, tp]. Um den Lehrerinnen, deren Auftrag es ist, den Kindern, die das brauchen, Hilfen f¨ ur das Entdecken und Systematisieren zu bieten, den Aufbau des deutschen Lautsystems zu zeigen, im Folgenden die Beschreibung der Laute des Deutschen entsprechend ihrer Bildung. Vorweg die Antwort auf die Frage, die Lehrerinnen und Studentinnen im Anschluss an aftigung mit der Didaktik von vor 500 Jahren immer wieder stellen: Wie konnte die Besch¨ es dazu kommen, dass Ickselsamers Beschreibungen der Aufgaben f¨ ur das Lesen- und Schreibenlernen, das sich mit der gegenw¨artigen Praxis Erwachsener und dem schrittweisen Vorgehen der Kinder belegbar deckt, g¨anzlich in Vergessenheit geriet? Eine Antwort auf diese Frage, die sowohl von der Sprachwissenschaft als auch von der Didaktik erstaunlich ¨ selten gestellt wird, findet sich in dem Uberblick u ¨ber die Geschichte der Didaktik seit Ickselsamer, den Maas gibt (vgl. Maas (1992, S. 215-224); ?, S. 346-390; vgl. auch ?; ?; Munske (2005)). Er l¨ asst sich in folgender Weise skizzieren: Die Entdeckung der Kindheit‘ mit ihrer erzieherischen Wende nicht zuletzt infolge ’ der religi¨ osen Auseinandersetzungen im 16. Jahrhundert ließ den gesellschaftlichen Bildungswunsch und -auftrag in den Hintergrund treten. Mit der Dominanz der P¨adagogik geriet auch die sachbezogene Dimension von Unterricht, die an der fachlichen Systematik orientiert ist, in den Hintergrund, geriet geradezu in Vergessenheit. So konnte sich eine Sichtweise des Bezugs zwischen Lautung und Schrift etablieren, die diesen als ein Abbildungsverh¨ altnis in einem 1:1-Bezug beschrieb. Die Beobachtung der zahlreichen Aus’ nahmen‘, die so zwangsl¨ aufig entstanden, f¨ uhrten einerseits zu schriftsprachlichem Drill, andererseits zu den wiederholten Bem¨ uhungen um orthographische Reformen. F¨ ur den derzeitigen theoretisch und didaktisch unbefriedigenden Zustand, der durch die Parallelit¨at eines wenig systematischen Regelwerks und eines Lexikons, das die durch die Regelformulierungen geschaffenen Ausnahmen auflistet, sind die Reformen verantwortlich, die unter der Leitung Konrad Dudens vor und nach 1900 durchgef¨ uhrt wurden. Die neueren Auseinandersetzungen mit der Orthographie und ihrer Geschichte, die vor u ¨ber 20 Jahren begannen, formulieren die orthographische Systematik neu. Ihre Resultate haben, wie hier sichtbar wird, didaktisch eine hohe Brisanz. Sowohl die zeitliche als auch die bildungstheoretische N¨ ahe derjenigen, die das orthographische System des Deutschen als ein didaktisches Konzept beschrieben haben (wie z.B. Ickelsamer) zu denjenigen, die es geschaffen haben (den Druckern), begr¨ undet die sprachliche Ad¨ aquatheit der fr¨ uhen Didaktiken und ihre Aktualit¨ at bis heute: Diese fr¨ uhen didaktischen Konzeptionen geben – sozusagen aus erster Hand – Aufschluss dar¨ uber, vor welchen Aufgaben die Buchdrucker, die die graphischen Muster zu der Zeit festlegten, standen, als es ihnen darum ging, die sprachlichen Strukturen des Deutschen mit dem Zeichensystem des Lateinischen, das als Wissen zur Verf¨ ugung stand, zu symbolisieren, und welche L¨ osungen sie w¨ ahlen. Eine Inter-

206

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

pretation der Arbeiten der fr¨ uhen Didaktiker aus dieser Perspektive macht deutlich, aus welchem Grund Darstellungen des Lautung-Schrift-Verh¨ altnisses im Deutschen, die die historischen Bedingungen und ihre Verarbeitungen unber¨ ucksichtigt lassen, zu keiner systematischen Darstellung kommen k¨ onnen.

Aufg. 3–7:

3.4

3.4.1

Ickelsamer beschreibt ausf¨ uhrlich u ¨ ber viele Seiten seines kleinen Buches den Aufbau deutscher Silben / W¨ orter. 1.

Wie beschreibt er sie?

2.

Welche Variante beschreibt er?

3.

Warum beschreibt er gerade sie?

Laute als Folge der Sprechbewegungsabl¨ aufe und ihre Einbettung in das Kontinuum der Silben Klassifzierung der Laute des Deutschen

Laute sind Elemente von Silben in der Wahrnehmung derjenigen, die schreiben wollen. Sie lassen sich als kin¨asthetische Ereignisse verorten: An ihrer Produktion sind mehrere Organe beteiligt. Diese vollziehen unterschiedliche, aber systematisierte Bewegungsabl¨aufe. Durch das Zusammentreffen dieser Bewegungsabl¨aufe in einzelnen Punkten entstehen identifizierbare Segmente, die wir dann als Laute bezeichnen. Sie sind mit Hilfe bestimmter Merkmalskategorien voneinander unterscheidbar und dadurch beschreibbar. Diese Differenzen m¨ ussen Kinder erlernen. Erfolgreiche Schreiber zeigen mit ihren Schreibungen, dass sie Laute entsprechend deren Merkmalen zu differenzieren gelernt haben. Fehler der schw¨acheren Schreiber entstehen dadurch, dass sie nicht alle Merkmale bestimmen k¨onnen. F¨ ur ihre F¨orderung ist es notwendig, dass Lehrerinnen die artikulatorischen Merkmale der einzelnen Laute genau kennen und den Kindern durch den Unterricht Gelegenheit geben, ihre Wahrnehmungen durch das Wissen u ¨ber diese Merkmale zu differenzieren lernen. Zur Identifikation der Merkmale hilft den Kindern ein Wissen u ¨ber den Aufbau der Silben. ¨ Folgende Außerungen und Dialoge von Erstkl¨asslern haben Studentinnen in ihren Arbeiten dokumentiert:

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

K1

[v] oder [f]? Die verwechsel ich immer, jedesmal ist mit Z¨ahne und Lippe.“ ”

K2

, [p*n].“ ” Du sagst doch nicht [hp*n.gu.hbiqn]! Du sagst doch [p*8].“ ” Wieso [pi8], nein: [p*n].“ ” Quatsch! [p*8]. Mit dem da hinten.“ ” Nein, ich sage [hp*n.gu.hbiqn]. Schreibe ich auch mit .“ ” [hp*n.gu.hbiqn] gibt‘s doch gar nicht. [hp*8.gu.hbiqn]. Da hinten der!“ ”

K3

. Mit [s] oder [ts].“ ” [h=ls h=qlqs] ich glaube mit [s]. Ich h¨or nichts anderes. [h=ls]. Oder?“ ” [h=ls]. Ich weiß nicht. Die Zunge ist immer da oben. [h=ls]. Ich frag mal lieber.“ ” Diese Dialoge – sowie ihre Dokumentationen durch die Studentinnen – zeigen zweierlei:

• die Ausrichtung der analytischen Leistungen von Erstkl¨asslern bei der Kontrolle ihrer Artikulation f¨ ur das Schreiben auf die Bewegungsabl¨aufe der Artikulatoren hin und die F¨ ahigkeiten der Kinder, dar¨ uber zu sprechen, wenn Situationen das erfordern und erm¨ oglichen • die F¨ ahigkeit von Studentinnen und Lehrerinnen, die Kinder zu solchen Beobach¨ tungen und Uberlegungen zu f¨ uhren, diese dann wahrzunehmen und sie didaktisch zu interpretieren. Beides erfordert Wissen: bei den Kindern als Herausbildung der Merkmale, die f¨ ur das Schreiben relevant sind, bei den Studentinnen und Lehrerinnen ebenfalls zun¨achst die ur die Aufgaben, die Kinder zu leisten Kenntnisse dieser Merkmale, dann Bewusstsein f¨ haben, um dieses Wissen zu erwerben und beim Lesen und Schreiben zu nutzen. Die Darstellungen dieses Kapitels folgen phonetischen und phonologischen Resultaten (?Eisenberg, 1998; ?) [Sievers und Eisenberg im Grammtikduden in .bib-DB aufnehmen; zus¨ atzlich noch hier auff¨ uhren: Zur Diskussion der Differenzen ” in den verschiedenen Modellierungen vgl. Becker 19??, Neef 200(?) vokale“]. Als Belege f¨ ur die didaktische Relevanz dieser linguistischen Beschreibungen gelten wieder Kinderschreibungen: Ihre Fehler lassen sich erneut als Best¨atigung daf¨ ur lesen, dass die Kinder in ihren Lautbetimmungen den kin¨asthetischen Bewegungsabl¨aufen folgen, f¨ ur die sie zunehmend sichere Analysekategorien entwickeln. ¨ Vokale (kurzer Uberblick; vgl. auch die Kapitel ?? und ?? [querverweis, tp]) (Die Beschreibung der Vokale geschieht an dieser Stelle nur in einem verallgemeinernden ¨ Uberblick, vor allem im Kontrast zu den Konsonanten. Denn mehr noch als f¨ ur die Konsonanten gilt f¨ ur sie, dass ihre Mermkale davon abh¨angen, in welchem Silbentyp sie vorkommen. Deshalb geschieht die systematische Vorstellung der Vokale in Kapitel [querverweis, tp] im Zusammenhang der Darstellung der einzelnen Silbentypen des Deutschen.) Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Vokale sich von Konsonanten dadurch unterscheiden, dass es bei ihnen zu keinen Ber¨ uhrungen zwischen zwei Artikulatoren kommt.19 Die lautlichen Unterschiede zwischen Vokalen entstehen dadurch, dass die Zunge innerhalb des Mundraums unterschiedliche Positionen einnimmt, so dass unterschiedliche Resonanzr¨ aume entstehen. Dabei wechselt sie von vorne nach hinten sowie von oben nach 19 Einige

Phonetiker weisen experimentell nach, dass es bei der Bildung der engen Vokale [iq], [yq], [uq] auch zu Ber¨ uhrungen kommt, sie lassen jedoch mehr Luft passieren als die Frikative und [l].

208

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

unten. Zus¨ atzlich unterscheidet sich die Bildung der Vokale dadurch, dass bei einigen die Lippen gespreizt, bei anderen gerundet sind. Die Lautschriftzeichen auf der folgenden Abbildung zeigen die Punkte an, an denen sich die Zungenspitze befindet, wenn der Laut artikuliert wird.

Abbildung 3.8: Zur Verortung‘ des Vokaldreiecks mit Langvokalen‘ im Mundraum ’ ’

  uq Muse Miete, m¨ ude iq yq      Mitte, M¨ unze *] V Muffe   oq eq øq Meere, m¨ ogen  Mode   = Molke Mette, m¨ ochte ¸ œ     a ∆q mahne (wie: Ich mahne dich!“) Matte ”   Abbildung 3.9: Alle Vokale der betonten Silbe (ohne [¸q])im Standarddeutschen (vgl. auch Kapitel [querverweis, tp]) Ausschlaggebend f¨ ur die Bildung der Vokale in den betonten Silben ist, wie der Bezug des Vokals zu dem Folgekonsonanten ist: entweder trudelt‘ er aus, so dass der Eindruck ’ von L¨ ange entsteht, oder beide haben einen sehr engen Bezug, d.h. die Bildung des Konsonanten setzt sehr schnell nach der Artikulation des Vokals ein. Die Bildung, damit auch der Klang, h¨ angen also von dem jeweiligen Silbentyp und der jeweiligen Variante der betonten Silbe ab. Konsonanten ur den Mutterspracherwerb gilt, dass er zun¨achst auditiv gesteuert ist, indem die FremdeinF¨ dr¨ ucke (die Sprache der anderen) mit denen der eigenen Produktion verglichen werden. Jeder folgende bewusste Umgang mit Sprache auf der bewussten Kontrolle der kin¨asthetischen Sinneseindr¨ ucke durch die einzelnen Artikulatoren (vgl. Lindner, 1975, S. 43-44). Das gilt f¨ ur das kindliche Experimentieren mit Sprache, f¨ ur das Singen, aber auch f¨ ur den Zweitsprach- und Fremdspracherwerb und vor allem f¨ ur das Nachsp¨ uren der kin¨asthetischen Empfindungen der artikulatorischen Bewegungsabl¨aufe f¨ ur das Schreiben, das hier von Bedeutung ist. Lindner benennt als Sinnesqualit¨aten“ (Lindner, 1975, S. 41), die die kin¨asthetische ” Analyse steuern, die Ber¨ uhrungs-, Druck-, Vibrations-, Temperatur-, Spannungs- und ” Lageempfindungen“. Die Rezeptoren, die die Reize aus dem K¨orperinnern aufnehmen und in Nervenimpulse umwandeln, sind u ¨ber die Fl¨ache aller Sprechbewegungsorgane verteilt. Am leichtesten k¨ onnen die Ber¨ uhrungsempfindungen f¨ ur die Kontrolle genutzt werden. Sie entstehen vor allem durch die Aktivit¨aten der Zunge, aber auch der Lippen, und geben Auskunft dar¨ uber, wo ein Laut mit welchen Organen gebildet wird. Ebenfalls relativ

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

stark ausgepr¨ agt sind die Spannungsempfindungen, die durch Rezeptoren in den Gelenkkapseln und Muskeln der Artikulatoren u ¨bertragen werden. Sie sind zwar nicht so leicht bewusst manipulierbar, f¨ uhren aber dennoch zu recht sicheren Bestimmungen. Innerhalb des Lautrepertoirs betrifft das vor allem die Differenzierung der beiden Vokalgruppen, die in der sprachwissenschaftlichen Literatur als gespannte‘ ( Langvokale‘) oder ungespann’ ’ ’ te‘ ( Kurzvokale‘) beschrieben werden. So wird dieses Merkmal zu einem zentralen f¨ ur die ’ Analysen beim Schreiben. Mit Nachdruck weist Lindner auf M¨oglichkeiten der optischen Kontrolle mit Hilfe eines Spiegels hin (vgl. Lindner, 1975, S. 44): Er l¨asst den Sprecher Lage und Bewegungen der Artikulatoren teilweise recht genau beobachten. Es ist jedem zu empfehlen, so eigene Erfahrungen zu sammeln, die dann unterrichtlich genutzt werden k¨onnen. Kinder sind hier hervorragende Beobachter. Die folgende Systematisierung der Konsonanten des Deutschen zeigt, dass bei ihrer Bildung die Ber¨ uhrungsempfindungen das Prim¨are, damit die Grundlage der Klassifikationen sind. Bei den Konsonanten gibt es zahlreiche Lautverwandtschaften‘ (Lindner, 1975). Sie ’ lassen sie zu Gruppen ( Klassen‘) zusammenfassen. Dabei haben sich folgenden drei Kri’ terien als maßgeblich erwiesen (vgl. zum Folgenden Sievers 1901, 51-79 und 115-148; v. Essen 1962, 73-95; Lindner (1975, 124-169), Eisenberg (1998, 54-82); Maas (1999, 52-73); Pompino-Marschall (1995, 172-219)): 1. Laute werden an unterschiedlichen Stellen im Ansatzrohr gebildet (Artikulationsorte) 2. Die Lautbildung geschieht durch die Beteiligung unterschiedlicher Organe (Artikulatoren) 3. Die Luft, die f¨ ur die Artikulation genutzt wird, passiert die Glottis und das Ansatzrohr auf unterschiedliche Weise (Artikulationsmodus) 1. Unterschiedliche Artikulationsorte Eine Differenzierung, die f¨ ur Kinder relativ gut wahrnehmbar ist, deren Beobachtung im Unterricht deshalb auch angeregt werden sollte, erfolgt nach den Artikulationsorten, d.h. nach der Region innerhalb des Raums oberhalb der Glottis ( Ansatzrohr‘), in der ’ z.B. die Ber¨ uhrung durch die Zunge mit dem Gaumen, dem Munddach“ (Sievers), statt” findet. Artikulationsstellen befinden sich an verschiedenen Punkten des Ansatzrohrs (auf eine st¨ arkere Differenzierung, wie sie in der phonologischen Literatur u ¨blich ist, soll hier verzichtet werden). Dabei ergibt sich systematisierend eine vierfache Differenzierung: Bei einer Zuordnung von Artikulationsort und Lauten ergibt sich folgende Systematisierung: Artikulationsorte Laute a) Zusammenschluss der Lippen (1,2) [m] ; [b], [p] b) Ber¨ uhrung der Unterlippe durch die oberen [v], [f] Schneidez¨ ahne (1,3) c) Ber¨ uhrung der Zunge mit dem Zahndamm (4) [d], [t]; [n] d) Ber¨ uhrung verschiedener Teile der Zunge mit [j], [¸c]; [‘], [M]; [s], [z]; [ts]; [l]; dem harten Gaumen (5) ([r]) e) Ber¨ uhrung verschiedener Teile der Zunge mit [g], [k]; [8], [[]; ([r]) dem weichen Gaumen (6) ¨ f) Offnung der Glottis (7) [h], [b]

210

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Abbildung 3.10: S¨amtliche Artikulationsorte; nach ?, S. 23 Die folgenden Abbildungen zeigen die Aktivit¨aten der Artikulatoren in Abh¨angigkeit von der Lautproduktion: [ersetzen, wenn die digitalen Vorlagen von Hr. Birtel da sind, tp, 07.06.2006]

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

a)

[p], [b] [m] Artikulation mit den Lippen

b)

[v], [f] Artikulation mit Oberz¨ ahnen und Unterlippe

c)

[t], [d] [n] Artikulation am Zahndamm

d)

[z], [s], [‘], [M] [j], [¸c Artikulation am harten Gaumen

d)

[k], [g] [8] Artikulation am weichen Gaumen

212

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

F¨ ur die Artikulation der verschiedenen [r]-Laute, die nach einzelnen Dialektregionen ussten unterschiedliche Positionen angegeben werdifferierten, dort aber einheitlich ist, m¨ den (vgl. K¨ onig 1989 [in .bib-DB aufnehmen, tp]), das [r] soll daher hier unspezifiziert bleiben. Ebenfalls unber¨ ucksichtigt bleiben in dem Schema [h] und [b], die an sp¨aterer Stelle angesprochen werden (vgl. S. [einf¨ ugen querverweis, ap]. Gut veranschaulichend und dabei beeindruckend f¨ ur phonetische Anf¨ anger sind h¨ aufig die Methoden, mit denen die fr¨ uhen Phonetiker zu ihren Ergebnissen gekommen sind – vor allem darum, weil sie technisch noch nachvollziehbar und nicht wie in der modernen apparativen Phonetik hochkompliziert sind. So beschreibt Sievers (1901, S. 56) Versuche zur genauen Bestimmung der Artikulationsstellen, die in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts u.a. von den Phonetikern Coles (1872) und Gr¨ utzner (1879) gemacht wurden: Sie f¨ uhrten zun¨ achst einen k¨ unstlichen Gaumen, d.h. eine d¨ unne, genau nach dem Gaumen der untersuchten Personen gearbeitete Kautschukplatte in den Mund ein. Danach bestrichen sie die trocken abgewischte Zunge ” dick mit Carmin – oder Chinesischer Tusche‘“ oder Kakaopulver. Anschließend wurden die ein’ zelnen Laute m¨ oglichst deutlich und zwanglos“ artikuliert. Die Abdr¨ ucke, die dabei durch die ” Tusche auf dem k¨ unstlichen Gaumen sichtbar wurden, ließen bei passendem Licht“ mit einem ” Kehlkopfspiegel die Ber¨ uhrungen, d.h. die Artikulationsstellen erkennen. Otto von Essen (1991, S. 78f.) beschreibt die Fortsetzung dieser Versuche bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, bei denen zwar die verwendeten Materialien sich ¨ anderten und die Versuche dadurch perfekter wurden, das Vorgehen allerdings das gleiche blieb. Bei ihm lassen sich auch weitere Beschreibungen von Beobachtungstechniken der Phonetik nachlesen (Essen von 1991, S. 76-83).

Zur Ortung‘ der einzelnen Artikulationsstellen bei der Selbstbeobachtung ist es emp’ fehlenswert, selber mit dem Finger den Gaumen entlang zu fahren und auch Kinder dieses tun zu lassen. Die einzelnen Teile des Gaumens – zun¨achst der Damm hinter den Z¨ahnen, dann das lange St¨ uck des harten Gaumens, der in den weichen Gaumen u ¨bergeht – lasuhlen. Das Gaumensegel mit seinem untersten Teil, dem Z¨apfchen, ist sen sich deutlich erf¨ zu sehen, wenn man seinem Gegen¨ uber mit einer Taschenlampe in den Mund leuchtet, ihn die Zunge rausstrecken und sagen l¨asst. Zu meinem Erstaunen hatte das u ¨ber ¨ die H¨ alfte der Kinder in den 1. Schuljahren, in denen ich diese Ubungen in Zweiergruppen durchf¨ uhrte, bereits vor dem Spiegel gemacht. Viele kannten den Haken‘ hinten im Mund, ’ bei dem einem u ¨bel wird, wenn man den anfasst“, aus Selbstexperimenten, teilweise auch ” aus Kindersendungen des Fernsehens. H¨ aufige Fehler wie lipe“, lime“ f¨ ur lassen annehmen, dass die Kinder den Arti” ” kulationsort richtig bestimmt haben: Die Buchstabenverwechslungen‘ repr¨asentieren Lau’ te, die am gleichen Artikulationsort gebildet werden. Fehler wie lite“ / , schpul“ ” ” / , Kach“ / , bei denen m¨oglicherweise der Artikulationsort nicht richtig ” bestimmt wurde, kommen bei normal sprechenden Kindern ¨außerst selten vor. 2. Artikulierende Organe (Artikulatoren) Zus¨ atzlich zu der Artikulationsstelle lassen sich die Laute nach dem artikulierenden Organ unterscheiden, das die jeweilige Artikulationsstelle ber¨ uhrt. Es sind entweder 1. die Lippen 2. Z¨ ahne und Lippen 3. die Zunge. Artikulatoren Laute 1. Lippen [m], [b], [p] 2. Oberz¨ ahne / Unterlippe [v] / [f] 3. Zunge alle anderen Konsonanten außer [h] und [b] Die Zunge, die ihre enorme Beweglichkeit durch zahlreiche, unterschiedlich verlaufende

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Muskeln erh¨ alt, ist prim¨ ar verantwortlich f¨ ur die Wechsel in der Artikulation: ihre Bewegungen gehen nach vorn und nach hinten, gegen den Gaumen und nach unten oder gegen die unteren Schneidez¨ ahne. Dann hat sie die M¨oglichkeiten, ihre Form zu ver¨andern und ihren vorderen, mittleren oder hinteren Teil anzuheben. Die Lautbildungen durch die Zunge lassen sich vierfach differenzieren: Artikulierender Teil der Laute Zunge 3a Zungenvordersaum bzw. Zun- [d], [t]; [z], [s]; [‘], [M]; [n]; ([r]) genspitze 3b vordere Zungenoberfl¨ ache [¸c], [j] 3c mittlere Zungenoberfl¨ ache [g], [k]; [=] 3d hintere Zungenoberfl¨ ache [[]; ([r]) Zur Bildung von [r] vgl. S. 212.

214

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

1.

[p], [b] [m] Artikulation mit den Lippen

2.

[v], [f] Artikulation mit Lippen und Z¨ahnen

3.a

[t], [d] [n] [z], [s], [‘], [M] Artikulation mit dem Zungenvordersaum oder der Zungenspitze

3.b

[j], [¸c] Artikulation mit der vorderen Zungenoberfl¨ache

3.c

[k], [g] [8] Artikulation mit der mittleren Zungenoberfl¨ache

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Die Aktivit¨ aten der Lippen lassen sich gut mit einem Spiegel betrachten. Besonders uhrlicher dargestellt wird (vgl. Kap.[einf¨ auf die Bildung der Vokale – die sp¨ater ausf¨ ugen querverweis, ap])– haben sie großen Einfluss: ihre Spreizung bei den Lauten f¨ ur und und ihre Vorst¨ ulpung bei den Lauten f¨ ur sind der Teil ihrer Lautbildung, asst. Auch f¨ ur die Artikulation einiger Konsonanten haben sie der sich gut beobachten l¨ Bedeutung: [b], [p], [m], [‘], [M], [v], [f] sind sog. Lippenlaute (Labiale), d.h. bei ihnen sind die Lippen aktiv. (v, f] haben dabei einen Sonderstatus dadurch, dass sie durch die Ber¨ uhrung von Lippe und Z¨ ahnen gebildet werden. 3. Artikulationsmodus Ein drittes Kriterium zur Beschreibung von Lauten betrifft die Form (den Modus), die den Durchgang des Luftstroms an der Glottis vorbei durch den Mund- und Nasenraum (den Modus der Artikulation) bestimmt. Daher ist der Artikulationsmodus verantwort’ lich‘ f¨ ur die Resonanz, mit der ein Laut gebildet wird, damit f¨ ur die Wahrnehmbarkeit at, vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp]) der einzelnen Laute im Ver(Lautheit und Sonorit¨ gleich zu anderen: Laute mit einem großen Resonanzraum haben eine große Sonorit¨at – und umgekehrt: Bei den Vokalen, die die gr¨oßte Sonorit¨at haben, kann die Luft den Mundraum ungest¨ ort passieren, es gibt kein Hindernis, d.h. keine Ber¨ uhrung von Lippen oder Zunge mit einer der Artikulationsstellen, die den Luftstrom hinderte und dabei ein Ger¨ausch wie z.B. eine Reibung verursachte. Das wird aber andererseits, wie bereits gesagt, der Grund daf¨ ur sein, weshalb Kinder Vokale am Schreibanfang so wenig wahrnehmen: Sie k¨ onnen sie nicht erf¨ uhlen‘, weil es keine Ber¨ uhrung zwischen Artikulatoren gibt. Daher ’ werden die ersten segmentierenden Wahrnehmungen zun¨achst von der der Konsonanten, deren Bildung sp¨ urbar ist, dominiert. Die Formen der Artikulation, die Konsonanten produzieren, werden als Enge- und Verschlussbildungen zu gekennzeichnet: Enge- und Reibelaute Bei den Enge- oder Reibelauten (Frikative) [z], [s], [‘], [M], [v], [f], [¸c], [[], [j] sind die Unterlippe bzw. Teile der Zunge dem Artikulationsort so nahe, dass beim Luftaustritt die spezifischen Ger¨ausche entstehen. Der Unterschied zwischen den einuhrt daher, dass sie unterschiedliche Artikulationsorte und unterschiedliche zelnen Lauten r¨ artikulierende Organe haben. Verschlusslaute Bei den oralen Verschlusslauten (Plosive) [d], [t], [b], [p], [g], [k] verschließen die Lippen oder die Zunge an unterschiedlichen Artikulationsstellen den Mund fest, so dass die Luft zun¨ achst gestaut wird, bis der Verschluss zum n¨achsten Laut hin, f¨ ur den die Zunge schon die entsprechende Position eingenommen hat, gel¨ost wird. Sie haben eine relativ geringe Sonorit¨ at. Steht der Plosiv am Ende eines Wortes, wird der Verschluss h¨ aufig nicht ge¨ offnet.20 Auch sie unterscheiden sich wieder durch die Stellen, an denen der Verschluss vorgenommen wird und dabei unterschiedlich große Resonanzr¨aume entstehen l¨ asst, die die Individualit¨ aten von Lautgruppen entstehen lassen: mit den Lippen ([b], [p]), hinter den Schneidez¨ ahnen ([d], [t]), am hinteren Gaumen ([g], [k]).

Kinderschreibungen: Verben ohne in E, cr 20 Das

t

< >

wird die Ursache daf¨ ur sein, dass sehr viele Erstkl¨ assler bei Verben der 3. Person Singular kein schreiben: er h¨ upft, er mach“, vgl. auch Kapitel ?? [querverweis, tp]. ”

216

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Nasale Verschlusslaute Einen dritten Artikulationsmodus haben die nasalen Verschlusslaute (Nasale) [m], [n], [8], bei denen genauso wie bei den Plosiven an unterschiedlichen Artikulationsorten Verschl¨ usse vorgenommen werden: mit den Lippen ([m]) bzw. mit der Zunge und vorderem ([n]) bzw. hinterem Gaumen ([8]. Der Unterschied zu den Plosiven kommt dadurch zustande, dass das Velum (Z¨apfchen) gesenkt ist, dadurch die Luft durch den Nasenraum austritt. Der Verschluss wird nicht wie bei den oralen Verschlusslauten plosiv‘ gel¨ ost. Der Resonanzraum wird dadurch weitaus gr¨oßer, die Laute ’ werden weitaus sonorer (vgl. S. einf¨ ugen querverweis, ap]). Q Ort Q ModusQQ

Q

Lippen

harter Gaumen

weicher Gaumen

[v], [f]

[z], [s], [‘], [M], [j], [¸c]

[[]

[p], [b]

[t], [d]

[k], [g]

[m]

[n]

[8]

1.

Frikative

2.

Plosive

3.

Nasale

Abbildung 3.11: Differenzierung der Konsonanten nach den Artikulationsmodi, vgl. ?, S. 26f. Der ng-Laut bedarf einer besonderen Erw¨ahnung, weil er den meisten Erwachsenen – so meine Erfahrung mit Studentinnen und Lehrerinnen – als Laut unbekannt ist: F¨ ur [z*n] / geben sie drei Laute, f¨ ur [z*8] / vier Laute an. Das kommt wohl daher, weil [8] von der Schrift mit zwei Buchstaben (als Digraph) wiedergegeben wird. im Gegensatz zu den anderen Di- bzw. Trigraphen im Deutschen ( und ) wird mit zwei Lauten in Verbindung gebracht ([n] und [g]), vermutlich aus dem Grunde, weil bis vor wenigen Jahren uhrten.21 die Fibeln als und einf¨

Weiterhin kann sich dieser Eindruck 2 Buchstaben = 2 Laute dadurch gefestigt haben, dass die Rechtschreibw¨ orterb¨ ucher festlegen, dass die Worttrennung am Zeilenende bei mehrsilbigen W¨ ortern zwischen beiden Buchstaben und vorgenommen wird: , anders als 21 Den

Hinweis auf die Filbeseite von Prima verdanke ich Gabriele Skrypnik

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Abbildung 3.12: Fibel Prima“, Schroedel-Verlag ”

¨ bei und . Im Rahmen der Ubungen zur Silbentrennung im 2. Schuljahr kann sich der Eindruck bei den Kindern verfestigen, dass es sich um zwei Laute analog den beiden Buchstaben handeln muss, denn und bleiben bei der Silbentrennung zusammen, w¨ahrend von ihnen erwartet wird, dass sie und zwei Silben zuordnen.

Die folgenden Schreibungen belegen die Unsicherheiten vieler Kinder bis in die Sekundarstufe, die dieser buchstabenfixierte Unterricht nicht ausr¨aumen konnte. Kinder identifizieren den Laut allerdings korrekt. So schrieben 13 von 19 Zweitkl¨asslern Ongkel“ statt . ” Oft trennen sie, bis sie etwas anderes lernen m¨ ussen, W¨orter mit in folgender Weise: Kli-ngel“ [hkl*8˘l], [hz*8˘n]. Ist der [8]-Laut am Ende der 1. Silbe, trennen sie – ” j Ang-ker“ [hba8.kΓ]. Bei v¨ ollig korrekt, wenn sie der Lautung folgen: Sching-ken“ [hM*8.kn], ” ” vielen bleibt bei der ng-Schreibung relativ lange eine Unsicherheit. Hier alle Schreibvarianten von von Zweitkl¨asslern aus drei verschiedenen Dialektregionen: Fast 70% waren ohne . Sie lassen erkennen, dass das Problem der Schreibung nicht dialektal bedingt ist.

218

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

¨ Au: Der neue Sprachfuchs. Ubungsbuch f¨ ur das 2. Schuljahr“. Klett, 62: Hier wird von ” den Kindern erwartet, dass sie beim Silbenklatschen als zwei Laute sprechen.

Aufg. 3–8:

Sehr viele Kinder haben statt oder geschrieben (ca. 50%). Einige haben (ca. 10%), einige keine Konsonantenbuchstaben im Endrand, daf¨ ur am Anfang der unbetonten Silbe () (4%) geschrieben. Andere Konsonantenbuchstaben tauchen nicht auf. Die Kinder haben also einen Teil des Merkmalsb¨ undels, n¨ amlich den Verschluss, richtig bestimmt, ein oder zwei Merkmale hingegen unbeachtet gelassen. Kreuzen Sie in der folgenden Tabelle an, welche Merkmale die jeweiligen Schreiber vermutlich erkannt haben! nasaler Verschluss nasaler Verschluss richtiger falscher richtiger falscher Artikulationsort Artikulationsort lansam“ ” lagsam“ ” lanzam“ ” lazam“ ” ... ...

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Osnabr¨ uck: 10 von 13 Schreibungen ohne

Hochdorf/Schwarzwald: 10 von 21 Schreibungen ohne Zus¨ atzlich zu den Formen, in denen der Luftstrom das Ansatzrohr passiert, geh¨ort zu der Beschreibung der Artikulationsmodi die Form, in der der Luftstrom an der Glottis vorbei in das Ansatzrohr trifft (vgl. Lindner, 1975, S. 50f.). Die Glottis ist ein Teil des Kehlkopfs. Sie l¨ asst sich g¨ anzlich verschließen (beim Essen, wenn die Speise durch die Speiser¨ ohre transportiert wird oder bei Anstrengungen, wenn die Luft im Brustraum oren die Stimmlippen und der Stellknorpel. Er gibt der Glottis gestaut wird). Zu ihr geh¨ eine große Beweglichkeit, die verschiedene Einstellungen f¨ ur den Luftaustritt erm¨oglicht. So werden hier die Abstufungen zwischen Fl¨ ustern und Schreien erzeugt. Zus¨atzlich bestimmt die Muskulatur der Glottis durch unterschiedliche Bewegungen die Tonh¨ohe und die Intensit¨ at des Drucks, mit dem gesprochen wird, also Akzentuierung und Intonation. Das Vibrieren der Stimmb¨ ander ist Voraussetzung daf¨ ur, dass ein Laut stimmhaft oder stimmlos Laut ist: Stimmhaftigkeit entsteht dadurch, dass die im Brustkorb komprimierte Luft, wenn sie den Kehlkopf passiert, die Stimmb¨ander zum Vibrieren bringt. Daf¨ ur wird die Glottis kurz ge¨ offnet und dann relativ lange wieder ein St¨ uck geschlossen, was die Vibration erm¨ oglicht. Das geschieht bei • allen Vokalen, • den Nasalen [m] / [n] / [8], • dem [l] und dem [r], • den Reibelauten [v] / [z] / [j] / [‘] und • den Verschlusslauten [g] / [d] / [b]. Bei den stimmlosen Lauten kommt es nicht zu der erneuten Schließung der Glottis, so dass die Luft ungehindert in das Ansatzrohr eintritt. Dieser Modus wird als Aspiration wahrgenommen. Sie ist daran erkennbar, dass die Kerzenflamme vor dem Mund ausgeht, ahrend sie bei den stimmhaften Lauten nur flackert. w¨ Stimmhaftigkeit l¨ asst sich auf folgende Weise als Kontrast beobachten (vgl. Sievers 1901, 12f.): Wenn man die Finger auf den Kehlkopf legt, lassen sich die Schwingungen

220

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Hamburg: 14 von 17 Schreibungen ohne

Schreibungen eines Freiburger Zweitkl¨asslers

ander bei stimmhaften Lauten wie den Vokalen, dem [l], [r], [z], [‘] und den der Stimmb¨ Nasalen [m] / [n] / [8] erf¨ uhlen. Bei den stimmlosen Lauten [k], [t], [p], [¸c], [[], [M], [f] ist nichts dergleichen zu beobachten. An Paarbildungen aufgrund des Unterschieds stimmhaft / stimmlos wird dieses Merkmal in den meisten Dialektregionen gut erkennbar: Die Vibration ist z.B. vorhanden beim [d], aber nicht beim [t], beim [g], aber nicht beim [k], beim [b], aber nicht beim [p], beim [z], aber nicht beim [s]. Sie ist auch der einzige Unterschied zwischen den Lauten [f] und [v]. Falschschreibungen wie Fasser“ / , Tolch“ / ” ” , k¨ onnen Folge einer unzureichenden Wahrnehmung der Stimmhaftigkeit sein. Vor allem im S¨ uddeutschen wird dieser Kontrast h¨aufig nicht gesprochen. Das hat Auswirkungen auf die Rechtschreibung: Bei der s-Schreibung hat das allerdings nur eine rechtschreibliche Bedeutung am Anfangsrand der unbetonten Silben, da hier Stimmlosigkeit nach Langvokal‘ durch markiert wird: , (zur s-Schreibung s. S. ’ [querverweis, t.e.]). Problematischer ist das f¨ ur die Schreibung der Plosive, weil es hier keine eingrenzende Regel gibt. Hier haben die Kinder in S¨ uddeutschland wohl keine andere M¨oglichkeit, als die Schreibung der Anfangsr¨ ander ged¨achtnism¨aßig zu speichern. Bei den Plosiven gibt es – oft in Verbindung mit den Merkmalen Stimmhaftigkeit / Stimmlosigkeit – ein weiteres Merkmal, das in der phonetischen Literatur mit den Begriffen fortis / lenis‘ bezeichnet wird: Es betrifft das Maß des Druckes, mit dem die Konsonanten ’ ur Kinder wahrnehmbar wird der Unterschied zwischen Fortis gesprochen werden. Auch f¨ und Lenis an der Aspiration, mit der die Laute gesprochen werden: Fortislaute haben eine starke Aspiration, die z.B. auf dem Handr¨ ucken vor dem Mund sp¨ urbar wird oder bei der eine Kerze, vor den Mund gehalten, erl¨oscht. Allerdings werden die Laute normalsprachlich nur am Anfang betonter Silben aspiriert, weil dort der Luftdruck relativ stark ist. Kinder, die gelernt haben, Lautidentifikationen f¨ ur die Buchstabenwahl ausschließlich an Anlauten‘, d.h. an den absoluten Anfangsr¨andern betonter Silben durchzuf¨ uhren, haben ’ oft M¨ uhe, diese Laute auch dann zu entdecken‘, wenn ein Merkmal nicht in der Aus’ pr¨ agung wie bei Anlauten‘ vorhanden ist. Das ist bei den Plosiven in anderen silbischen ’ Positionen der Fall, an denen die stimmlosen Laute lenis gesprochen werden, also geringer

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Ein Text eines F¨ unftkl¨ asslers zeigt, dass sich das Problem nicht rausw¨achst. aspiriert sind22 : • an der 2. Stelle im Konsonantencluster am Silbenanfang ([Mtiql], [Mpiql] = [Mdiql], [Mbiql]/ , ) sowie spiegelverkehrt an einer vorletzten Position im Endrand ([doitM], [rVtM] = [doidM], [rVdM] / , ; siehe auch S. [querverweis, t.e.])

(taz) Da hat jemand genau hingeh¨ ort

(taz) • im Silbenendrand ([maqlt], [huqpt], [h∆qkt] = [m∆qld], [huqbd], [h∆qgd] / , , , • am Anfangsrand von Reduktionssilben ([hg¸s.tΓn] = [hg¸s.dΓn] / ), vor j = [hgr¸q.d˘], [hbeq.dn] j / , allem nach Langvokalen‘ ([hgr¸q.t˘], [beq.tn] ’ ). Kinder, f¨ ur die die Aspiration das zentrale Unterscheidungsmerkmal ist, schreiben an diesen Positionen entweder gar keinen Buchstaben oder w¨ahlen einen orthographisch falschen (vgl. auch S. [querverweis, tp]): schdil“, schbil“ / , nich“, ” ” ” hub“, hak“, mald“ / , , , (vgl. S. [querverweis, tp]) ” ” ” Gr¨ ade“, bedn“, gesdern“ / , , . ” ” ” Umgekehrt zeigt sich bei Analyse¨ ubungen der Kinder am Anfang der 1. Klasse, dass sie beim Auflautieren‘ einen Plosiv im Endrand so stark aspirieren, dass er dabei einen neuen ’ Druck erh¨ alt eine neue Silbe wird. Konsequenterweise h¨angen einige dann ein an. Hier die Tranksription des Mitsprechens eines Erstkl¨asslers: : [geqt geqt g˘ geqt g˘], schreibt G [geqt beq beq geqt], schreibt E [geqth geq.th t˘ geq.t˘], schreibt T [geq.t˘ t˘ t˘], schreibt E 22 Im Deutschen ist die Unterscheidung nach Lenisplosiven und Fortisplosiven nicht bedeutungsunterscheidend: Hier ist es gleichg¨ ultig, ob wir [tiqf] oder [thiqf] sagen. Anders hingegen in vielen anderen sprachen, in denen die Differenz lenis / fortis bedeutungsunterscheidend ist. Hier ein Beispiel aus einer Bantusprache: In ihr wird die Differenz auch graphisch wiedergegeben: [pha.la] / = Maisbrei“, ” [pala] / = sanft“. ”

222

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Osnabr¨ uck

Hamburg

S¨ amtliche Varianten von in zwei 2. Klassen: Mehr als 10% schrieben am Anfang der Reduktionssilbe Im Deutschen gibt es den Gegensatz stimmhaft / stimmlos nur bei den Plosiven und Frikativen. Vokale, Nassale sowie [l] und [r] werden als Sonoranten bezeichnet, sie sind immer stimmhaft und haben diesen Unterschied nicht. So ergibt sich f¨ ur die Gruppe der deutschen Konsonanten folgende Einteilung:

fett = Sonoranten kursiv = stimmlos / fortis

A r t i k u l a t i o n s o r t

¨ Uberwindungsmodus plosiv

nasal

Lippen

m

harter Gaumen

n

b

p

v

f

j

¸c

d

t

z

s

8

g

k

l (r)

‘ weicher Gaumen

liquid

frikativ

M [

(r)

Die Laute [l], [r], [h], [b] Abschließend die Beschreibung der Laute, die in den bisherigen Darstellungen unerw¨ahnt blieben: [l, r, h, b]. [l] (ein Liquid) wird gebildet, indem die Zunge den Mundraum in der Mitte am weichen Gaumen verschließt, so dass die Luft seitlich vorbeistr¨omt. Dadurch hat der Laut eine hohe Sonorit¨at. Aufgrund der Einmaligkeit dieser Lautbildung ist seine Identifikation f¨ ur die Kinder relativ unproblematisch, mir sind keine Auslassungen oder Verwechslungen‘ bekannt. ’ Die Laute, die f¨ ur die Konsonanten, den wir schreiben, stehen, haben eine große Varianz. Sie ist vorwiegend regional bedingt. So klingt der Laut in Bayern anders als in vielen anderen Regionen, die sich auch wiederum voneinander unterscheiden k¨onnen (vgl. auch S. 136 [querverweis, tp]). In den meisten Regionen wird f¨ ur nur am

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

Silbenanfang ein Konsonant gesprochen: j / , [hdeq.rn] j / < deren>, [hreq.dn] und am Anfangsrand der Reduktionssilbe nur, wenn das Wort relativ langsam gesprochen wird (vgl. Kapitel [querverweis, tp]): j langsam: [hdeq.rn] schnell (umgangssprachlich): [deΓn] In den Endr¨ andern ist der ehemalige Konsonant in den meisten Dialektregionen inzwischen vokalisiert‘ ( r-Schwund‘). Im Dialektatlas von K¨onig sind u ¨ber 20 Realisierungen ’ ’ des r-Lautes beschrieben (vgl. K¨onig? [querverweis einf¨ ugen]). So gibt es Unterschiede in Abh¨ angigkeit zu dem vorweggehenden Laut: der Laut f¨ ur in klingt anders als in . Wie auch immer der Laut gebildet wird, von allen Varianten sind in jeder Region die gleichen anzutreffen: Alle haben eine relativ große Sonorit¨at. Die geringste Sonorit¨ at haben [h] und der sog. Glottisverschluss ([b]). Bei beiden wird die Glottis lediglich ge¨ offnet, und der Luftstrom wird f¨ ur die Artikulation des Vokals genutzt. Die beiden Laute unterscheiden sich dadurch, dass bei [h] ein wahrnehmbarer Hauch vor dem Vokal am Silbenanfang ensteht, der bei [b] fehlt: [balt] / [halt] / [balt] / Beide Laute gibt es jedoch nur da, wo die Silbe mit relativ starkem Druck artikuliert wird, also nur im Anfangsrand von betonten Silben – darum kommen beide im Deutschen nicht im Anfangsrand von unbetonten Silben vor. Ebensowenig haben sie einige Muttersprachen der Migrantenkinder, und sie brauchen oft eine systematische Schulung ihrer Artikulation, bei der die Schrift visualisierend genutzt werden sollte. Die besondere Thematisierung von im Unterricht ist aus dem Grunde n¨ otig, weil der Buchstabe, der f¨ ur [h] geschrieben wird, auch in anderen Funktionen genutzt wird ( und sollen hier unber¨ ucksichtigt bleiben): / [hheq.b˘] im A der betonten Silbe: f¨ ur [h] / [meql] in R zur Markierung des Langvokals‘ ’ / [hzeq.˘] im A der unbetonten Silbe : ein graphisches Zeichen f¨ ur den Silbenbeginn ( silbentrennendes “, vgl. ” S. einf¨ ugen querverweis])

Der Text zur Einf¨ uhrung‘ des missachtet, dass nur im Anfangsrand betonter ’ Silben einen Laut pr¨ asentiert: bei hat das keine lautliche, sondern eine grammatische Funktion: es zeigt die Zweisilbigkeit der notwendigen grammatischen Form des Verbs (3.Pers.Pl.) an [hzeq.˘n]. Aus: Die Kunterbunt Fibel, Klett 1997 Von den Kindern zu erwarten, dass sie f¨ ur jeden -Buchstaben den Laut wie in bilden23 , f¨ uhrt wieder zur Produktion von Kunstw¨ ortern. Einige Kinder versuchen noch im 3. Schuljahr, beim Lesen das sog. Dehnungs-h () f¨ ur diesen Buchstaben einen aspirierten 23 In

einigen Fibeln stehen auf der Siete, auf der


eingef¨ uhrt‘ wird, auch W¨ orter mit dem silben’ ’

224

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Laut zu sprechen. Das alles weist darauf hin, wie wichtig es ist, der Nutzung des h- Buchstabens eine besondere Aufmerksamkeit im Unterricht zu geben.

Der Glottisverschluss [b] bedarf in aller Regel einer ausf¨ uhrlichen Darstellung in didaktischen Zusammenh¨ angen. Denn die Tatsache, dass vor dem Vokal in W¨ortern (wie ) ein Laut artikuliert wird, ruft bei Erwachsenen h¨ aufig Erstaunen hervor, weil sie nicht annehmen, dass W¨orter, die im Geschriebenen mit einem Vokalbuchstaben beginnen, auch einen Konsonanten im Anfangsrand haben. Er wird sp¨ urbar ( h¨orbar‘ w¨are ’ hier der falsche Begriff), wenn man folgende Wortfolgen mit u ¨bertrieben viel Druck spricht oder fl¨ ustert: [balt] / [balt] / oder j / [fΓ.hrai.zn] j / [fΓ.hbai.zn] Nach meinen Erfahrungen aus Seminaren und Lehrerfortbildungsveranstaltungen ist er nur wenigen bekannt – und dann h¨ochstens aus dem Fremdsprachenunterricht ( glottal ’ stop‘). Eigentlich w¨ are er eher als Glottis¨offnung‘ zu bezeichnen, denn er entsteht, wenn ’ die Glottis durch einen relativ starken Luftdruck gesprengt wird, der dem folgenden Laut, dem Vokal, die notwendige Lautst¨arke (Sonorit¨at) gibt. Im Gegensatz zu den W¨ortern, bei denen der Luftstrom durch eine Enge- oder Verschlussbildung der Artikulationsorgane als Laut (Konsonant) wahrnehmbar wird, nehmen die Artikulatoren bei W¨ortern mit einem Glottisverschluss sofort die Position des Vokals ein: / . Daher gibt es kein Merkmal, das ihn taktil wahrnehmbar macht. Ein anderer Grund, weshalb uns vor allem schwer f¨allt, ihn wahrzunehmen ist – wie gesagt –, dass es f¨ ur ihn keinen Buchstaben im Deutschen (im Gegensatz z.B. zum Hebr¨aischen und Arabischen) gibt – es zeigt sich wieder: Wir sind gewohnt, Laute ausschließlich als phonetische Korrelate zu Buchstaben zu identifizieren, und zwar in der Weise, wie uns das der Anfangsunterricht gelehrt hat. Da betonte Silben im Standarddeutschen immer mit einem Laut vor dem Vokal (Sievers: Con-Sonanten“ beginnen, l¨asst sich an folgenden Minimalpaaren die Existenz ” des Glottisverschlusses als Laut kognitiv erkennen: [tsv∆i.hb*n.dΓ] / [tsv∆i.hk*n.dΓ] [geqpt.hba[t] / [geqpt.hma[t] j j / [m*t.fiq.ln.hb*n.zl n]

zwei Inder / zwei Kinder gebt acht / gebt Macht

Sicherlich k¨ onnen Sie sich noch an dieses Sprachspiel aus ihrer Kindheit erinnern: Blumentopferde als [blu.hm¸n.to.ipf¸Γ.d˘] oder [hblu.m˘n.t=pf.ib¸Γ.d˘]. Wird das [pf] zur rechten Silbe gezogen ([pf¸Γ.d˘]), hat die betonte Silbe einen f¨ ur jeden wahrnehmbaren konsonantischen Anfangsrand. Ist das [pf] Endrand der linken Silbe ([t=pf]), ist der Anfangsrand – graphisch gesehen – leer, an die Stelle des [pf] von tritt jetzt bei der Glottisverschluss: [b¸Γ.d˘]. Er ist als Knacklaut wahrnehmbar. Viel Freude haben Studentinnen und Lehrerinnen an den beiden Sprech- und Schreibweisen von , einmal mit einer silbischen Gliederung nach – dann trennenden ‘. So lernen die Kinder das h“ in einer Fibel mit folgenden W¨ ortern: . Der Lehrerkommentar weist nicht auf die unterschiedliche Funktion des Buchstabens hin.

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

beginnt die Folgesilbe mit ([u.hriqn.Mt*8t]) – oder nach – dann beginnt die Folgesilbe mit dem Glottisverschluss: [hbuΓ.hb*n.sti*8t] (vgl. auch [bu.hr∆ql] und [buΓ.halt] / ). Menschen mit romanischer Muttersprache kennen den Glottisverschluss (ebenso wie [h]) nicht, sie ziehen in der Regel den Konsonanten im Endrand der linken Silben in den Anfangsrand der rechten, wenn dort kein Konsonant ist ( liaison>) und sprechen ’ f¨ ur uns dann franz¨ osisch oder italienisch . . . . Der Alte kauft das Auto> [d¸.ral.t˘.k∆uf.da.sau.hto] [dΓ.hbal.t˘.k∆uf.das.hb∆u.to]24


, wenn [s] als Morphem einem [t]-Laut im Endrand folgt:
viel>


r

im Anfangsrand der Reduktionssilbe (),

– der Laut f¨ ur

< >

r

nach Kurzvokal‘ (), ’

– der Laut f¨ ur

< >

r

nach Langvokal‘ (). ’

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

große Sonorit¨ at 6

? geringe Sonorit¨ at

1.-4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Vokale Liquid l, (r) Nasale m, n, 8 Frikative v, z Frikative f, s, M, j, ¸c, [ Plosive b, d, g Plosive p, t, k h, b

Die Ordnung der Silbe, die durch die Sonorit¨atshierarchie gegeben ist, l¨asst daher nur Reihungen zu, bei der am Anfang Laute mit h¨oherer Sonorit¨at Lauten mit geringerer Sonorit¨ at folgen. Das betrifft auch die Reihenfolgen in den komplexen R¨andern. Dadurch kommen am Anfangsrand Liquide, Frikative und Nasale nach Plosiven, aber nicht umgekehrt. [b l uq t] 9. 5. 3. 10. - [k n uq t] 10. 6. 3. 10. - [M r oq t] 8. 5. 3. 10. - [M l oq t] 8. 5. 3. 5. - Die Zahlen der Sonorit¨ atsskala weisen nach, dass bei diesen W¨ortern die Lautfolge durch die regelhafte Zunahme der Sonorit¨at zum Silbenkern und die anschließende Abnahme zum Rand hin bestimmt ist (vgl. auch Kap. [querverweis, t.e.]). Die feste Ordnung, die auf diese Weise entsteht, l¨ asst die M¨oglichkeiten der Folgen von Konsonantenklassen am Anfang und am Ende von Silben genau beschreiben: 1. Laute der untersten Stufen (10., 9.) (Plosive), kombiniert mit Lauten einer h¨oheren Stufe (Tabelle 3.1) 2. Laute der n¨ achst unteren Stufe (7., 8.) (Frikative), kombiniert mit Lauten einer h¨ oheren Stufe (Tabelle 3.2) Zu 1.: Kombinationen in komplexen Anfangsr¨andern mit Plosiven an 1. Stelle, die im Deutschen anzutreffen sind: Angesichts einiger Unsicherheiten von Kindern noch im 2. Schuljahr ist erneut hervorzuheben, dass [ks] () und [kv] () aus zwei Konsonanten bestehen, die anders geschrieben werden, als die Kinder, die einen 1:1-Bezug zwischen Laut und Buchstaben erlernt haben, das erwarten: Schreibungen wie Qsine“ oder Qusine“ / ei” ” nerseits, kwasseln“ / , kwieschen“ / und wekst“ / an” ” ” dererseits lassen es notwendig erscheinen, die Lautung im Unterricht anzusprechen und ihren Bezug zur Schrift zu kl¨ aren. (Da der [ks]-Laut h¨aufiger im Endrand als im Anfangsrand anzutreffen ist, wird er sp¨ ater ausf¨ uhrlicher thematisiert, vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp].)

234

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

A” A’ p b t d k g

Liquide r l Preis Platz Brei blau treu drei Krach klein grau glatt

A’ p b t d k g

f Pfau -

m Khmer Gm¨ und

A” Frikative v s Psalm Twist zahm Dwars quer Xanten -

Nasale n pneumatisch Knie Gnom

z -

M Pschorr Tschako -

Tabelle 3.1: Nach Maas (1992, S. 271)

Zus¨ atzlich zu den Kombinationen mit den Plosiven ist ein weiteres Cluster anzutreffen, das aus drei Lauten als Kombination der beiden Affrikata [ts] und [pf] mit einem sonoreren Laut besteht: [tsv∆i] / [hpflan.ts˘] / , [hpfr]n.d˘] / . Zu 2.: Kombinationen mit komplexeren Anfangsr¨andern mit Frikativen an 1. Stelle, die im Deutschen anzutreffen sind:

erste Stelle f v s M

zweite Stelle Nasale

Liquide r Frau Wrack – schrie

l flau Wladimir Slalom schlau

m Smog schmal

n Snack Schnee

andere Frikative v – Sven Schwein

f Sphinx -

Tabelle 3.2: Nach Maas (1992, S. 272)

Die Darstellung ist nicht vollst¨andig, ihr fehlt die Auflistung von Lautkombinationen, die der Sonorit¨ atshierarchie widersprechen, daher als Ausnahmen im Deutschen zu bezeichnen sind: Anfangsr¨ ander mit einem Frikativ ([M], [s]) vor Plosiven ([t], [p], [k]):

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

[M t iq l] 8. 10. 3. 5.  -




[M p iq l] 8. 10. 3. 5.  -




[s k ∆q 8. 10. 2.  -

t] 10.




Hier liegt, streng genommen, eine Nebensilbe‘ vor, wenn man Silbe mit dem Vorhan’ densein eines Silbengipfels beschreibt, der sich durch ein Mehr an Sonorit¨at im Vergleich zu den Nachbarlauten ergibt. 3. 5. 8. [M

10. p

iq

l]

Die Schrift hat bei [M] f¨ ur diese Irregularit¨at‘ der Sprache ein besonderes Zeichen ’ gew¨ ahlt: Werden alle u ¨brigen Kombinationen von [M] mit Konsonanten, die der linearen Sonorit¨ atszunahme entsprechen, als geschrieben, erh¨alt vor [t] und [p] der schLaut ein .

W¨ ahrend es zur Kombination mit [t], [p] lautlich keine Alternative zu gibt, gibt es in der Kombination mit [m], [n], [l], [v] durchaus die Alternative mit [M] / oder [s] / im Anfangsrand. Die Kombinationen mit scheinen vielen Kindern jedoch einige M¨ uhen zu machen. So scheiterte fast zwei Drittel von 48 Hauptsch¨ ulern beim Erlesen des Wortes und wurde in Hauptschultexten mehrfach schlawen“, ” aber Slawiner“ geschrieben. ”

236

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN


6.

Aber: 8. 10. 3. 5.  -
3. 5. -

Auch hier ist die Ausweitung des Anfangsrandes auf drei Elemente m¨oglich: , Sprudel>. Fr¨ uhe Schreibungen von W¨ortern mit [M] im Anfangsrand k¨onnen wieder die Exaktheit der phonologischen Wahrnehmung von Kindern sowie ihr Bem¨ uhen um Regelbildung belegen: Einige zeigen, dass sie diese Irregularit¨at entdeckt haben, und markieren sie – sozusagen als Beweis f¨ ur ihr Erkennen des Regelhaften – konsequent. So habe ich einige Schreibungen von Erstkl¨ asslern, die das vor oder mit einer deutlichen L¨ ucke von dem Rest des Wortes abgetrennt haben. Diejenigen, die Wortabtrennungen zus¨ atzlich mit Punkten graphisch verst¨arken, setzen hier manchmal auch einen Punkt: Der Sonorit¨ atsabfall nach [M] l¨asst sie eine neue Silbe wahrnehmen.
ist zu schreiben f¨ ur den Laut im Anfangsrand von W¨ortern wie Tina
ist zu schreiben f¨ ur den Laut im Anfangsrand von W¨ortern wie Dose, doof .


< > Fehler bei st , sp im Anfangsrand sind in allen Dialektregionen anzutreffen. Einen Uberblick u uhen der Kinder, das entsprechende Merkmalsb¨ undel in den Griff zu be¨ber das Bem¨ kommen, geben die Ergebnisse zweier Examensarbeiten aus Hamburg und Freiburg27 , die die Schreibungen von W¨ orterlisten durch je zehn Erstkl¨ assler aus Klassen, die nach der Methode von J. Reichen unterrichtet wurden, ausgewertet haben. Unter den diktierten W¨ ortern waren auch W¨ orter mit und am Wortanfang (). Die Tabelle 3.3 auf Seite 237 zeigt die Statistik, bezogen auf die Schreibungen des Silbenanfangs:

Hamburg

Okt Nov Jan M¨ arz Mai

Schd 12 10 8 4 4

Scht 6 8 8 6 4

Sd 2 -

Freiburg

Gesamtsumme der W¨orter x 10 Kinder St 2 2 4 8 12

20 20 20 20 20

Schd 14 12 8 4 -

Scht 6 8 10 8 6

Sd -

Gesamtsumme der W¨orter x 10 Kinder St 2 8 14

20 20 20 20 20

Tabelle 3.3: Schreibungen des komplexen Anfangsrandes in 1. Klassen

Die Zahlen machen deutlich, dass in den ersten Monaten bis zu der Zeit, wenn die Kinder beginnen, sich mit Geschriebenem in ihrer Umwelt auseinanderzusetzen, sehr viele, teilweise u ¨ber 50%, den Buchstaben f¨ ur den stimmhaften Plosiv w¨ ahlen. Dass u ¨berraschend viele Kinder sehr lange brauchen, um hier von dem gelernten Schreib, ’ wie du sprichst‘ abzuweichen, hat eine Untersuchung von mir, an der je 6 Klassen (128 Kinder) teilgenommen haben, gezeigt. Sie enthielt die W¨ orter , die noch im 2. Schuljahr zu 76%, 27 Die

Arbeiten schrieben Anna Gerber und Helen Th¨ urmer.

238

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Hamburg

Okt Nov Jan M¨ arz Mai

Schb 14 12 8 6 -

Schp 6 8 10 4 8

Sb 4 -

Freiburg

Gesamtsumme der W¨orter x 10 Kinder Sp 2 6 12

Schb 10 10 6 2 2

20 20 20 20 20

Schp 10 10 12 14 4

Sb -

Gesamtsumme der W¨orter x 10 Kinder Sp 2 4 14

20 20 20 20 20

Tabelle 3.4: Schreibungen der komplexen Anfangsr¨ander in 1. Klassen im 3. Schuljahr zu 38%, im 4. Schuljahr zu 8% mit schd“ bzw. schb“ geschrieben wurden. ” ” Aufg. 3–11:

Wie sind folgende Leseprobleme von norddeutschen Hauptsch¨ ulern zu erkl¨ aren? 1. [z∆.hm∆r.t˘n zam.m∆r.zm∆.t˘n] j 2. [Mm∆r.tnj z∆.hm∆q.tn]

Konsonantencluster im Endrand Bezogen auf den Endrand gilt f¨ ur die Lautfolge, die im Deutschen m¨oglich ist, die Umkehrung der Folge f¨ ur den Anfangsrand. Ihre Schematisierung l¨asst folgende Kombinationsm¨ oglichkeiten erkennen: 1. Kombinationen in komplexen Endr¨andern mit Plosiven an letzter Stelle vorletzte Stelle letzte Stelle p t k

Liquide (r) Korb Ort Sarg

l Kalb mild Ulk

Nasale m plump Amt –

n – Wind –

Frikative 8 – bangt Bank

f – Heft –

s – Last –

M – wischt –

¸c – Licht –

[ – lacht –

Tabelle 3.5: Komplexe Endr¨ander im Deutschen mit Plosiven an letzter Position (nach Maas 1992, 273) 2. Kombinationen in komplexen Endr¨andern mit Frikativen an letzter Stelle Die Tabellen machen deutlich: Endr¨ander unterliegen im Vergleich zu den Anfangsr¨andern ankungen: einigen Einschr¨ • An letzter Stelle kommen keine stimmhaften Plosive vor. (Darum m¨ ussen wir uns im Englischen, wo es sie gibt, immer solche große artikulatorische M¨ uhe geben: [hi.hs¸qz]

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

vorletzte Stelle letzte Stelle

Liquide

Nasale

f s M

(r) Dorf Kurs forsch

l Schilf Fels falsch

m – Ems Ramsch

n Senf Hans Wunsch

¸c

durch

Elch



M¨onch

Frikative 8 – rings th¨ uringisch –

f s – – aufs – Dimi- – troffsch – –

M – Tischs – –

¸c – – Pechs/ Kirchs –

[ – Dachs Bachsch –

Tabelle 3.6: Nach Maas (1992, S. 274) / .) Weder wird bei ein [d] noch bei ein [b] gesprochen – allerdings auch nicht die aspirierten Konsonanten [th] und [ph], die die Kinder im Anfangsunterricht f¨ ur‘ die Buchstaben gelernt haben: Die Plosive im Endrand ’ sind lenis, werden daher von den Kindern oft mit stimmhaften Plosiven verwechselt, f¨ ur die sie dann schreiben ( er hubt“ / , er ged“ / geht , drei Mag“ / ). Sprechen die Kinder den Plosiv aspiriert aus ”h aft>), entsteht der Eindruck einer weiteren Silbe, die die Kinder ([Ml¸qft ] / mit e schreiben: schlefte“ (vgl. Kapitel [querverweis, tp]). ” • Das im Endrand wird – wie gesagt – nur in wenigen Dialektregionen als Konsonant gesprochen. In den meisten ist es vokalisiert und bildet in betonten Silben mit dem Vokal im Nukleus einen Diphthong (vgl. dazu Kapitel [querverweis, t.e.]): T¨ ur: [tyqΓ] T¨ urkei: [t]Γ.hk∆i] Schreibungen von Kindern, die noch nicht die M¨ oglichkeit – und Unm¨ oglichkeit – der Buchstabenfolgen im Silbenendrand entdecken konnten: Ihnen fehlt noch das entsprechende Schriftwissen.

Abschließend der Hinweis, dass die Lautfolge ([st], [Mt]), die aufgrund des Verstoßes gegen die Sonorit¨ atshierarchie f¨ ur den Anfangsrand bereits besonders beschrieben wurde, im Endrand ebenfalls den Charakter einer Nebensilbe hat: , (). Auch hier ist in Kinderschreibungen an der zweitletzten Stelle h¨ aufig der Buchstabe f¨ ur den stimmhaften Plosiv anzutreffen: du stebst“, Geburdstag“, deudsch“, du mergst es“. ” ” ” ” Einige Kinder interpretieren die Verschlussl¨osung von [t] plus [s] manchmal als [ts] und schreiben du stopzt“ / , Geburztag“. (Die letzten Beispiele machen deutlich, ” ” dass die lautliche Analyse der Endr¨ander f¨ ur das Schreiben schon fr¨ uh mit dem Aufbau eines morphologischen und grammatischen Wissen verbunden werden muss.)

240

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

S¨ amtliche Varianten der Schreibungen von aus drei Klassen aus drei Dialektregionen: 4451% der Schreibungen in allen drei Klassen hatte an Stelle von .

aus Hamburg

aus Osnabr¨ uck

aus dem Schwarzwald ortern nach Die Wahl des an Stelle von kommt vor allem in W¨ nach anderen Konsonantenbuchstaben:


Silben lassen also – das hat die sonorit¨atsbezogene Beschreibung der Bildung der einzelnen Konsonanten gezeigt – bestimmte Lautkombinationen zu und schließen andere aus – eine Tatsache, die Schriftkundigen bekannt ist. Das hatte bereits das eingangs beschriebene kleine Experiment mit der Differenzierung von m¨oglichen deutschen und nicht-m¨oglichen deutschen W¨ ortern gezeigt (vgl. Kapitel [querverweis, tp]). Kinder haben – das zeigen ihre Schreibungen – dieses Wissen auch: Sie haben es mit ihrem Spracherwerb lange vor ihrer Einschulung erworben, k¨onnen es nur noch nicht f¨ ur ihr Schreiben nutzen, es ist noch kein wissenschaftliches Wissen im Sinne Wygotskis. So entdecken Erstkl¨ assler in den Klassen, mit denen ich zusammenarbeite, sehr schnell, ob der See-Elefant in den Urmel-B¨ uchern28 , der das [M] immer durch [pf] ersetzt, bestimmte W¨ orter sprechen kann oder nicht: So etwas Ungerechtes! Kaum auf der Welt-, und phon ein eigenes Haus! Aber ” wenn ich mir unter dem Bett eine ganz kleine bepfeidene Mupfel einrichte, kriege ich Pfimpfe“ (S. 56). Folgende W¨ orter lassen sich in die See-Elefanten-Sprache u ¨bertragen: sch¨ on – pf¨ on, schlau – pflau, schnell – pfnell, Schreck – Pfreck usw. folgende aber nicht: schwarz – pfwarz, still – pftill, Sport – Pfport usw. Wenn die Kinder dann Gelegenheit erhalten, W¨ orter mit Sprachfehlern‘, schreibend oder ’ mit Buchstabenk¨ artchen legend, auszuprobieren, erfahren sie viele Best¨ atigungen ihres Wissens f¨ ur das, was geht‘ und was nicht geht‘, damit u aßigkeiten des Silben- / ¨ber die Regelm¨ ’ ’ Wortaufbaus im Deutschen. Dieses Wissen ist die notwendige stabile Basis f¨ ur den Schrifterwerb.

Der Hinweis darauf, dass mit den Bedingungen der Lautbildungen die Sonorit¨at der Laute, damit ihre Platzzuweisung innerhalb der Silben verbunden ist, sind die Laute wieder eingefangen‘: als Segmente im u ¨bergeordneten Rahmen des silbischen Kontinuums. ’ Dass sie dabei nur minimale Punkte der Gesamtartikulation darstellen und nicht in der idealisierten Form vorkommen, wie das diese Beschreibungen suggerieren m¨ogen, habe ich bereits in Kapitel 3.3.1 [querverweis formatieren, tp] angesprochen. Kinderschreibungen zeigen immer wieder die Probleme der Anf¨anger, Laute im Sinne der Orthographie 28 Max

Kruse, Urmel aus dem Eis, dtv Junior Klassiker 2000.

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

zu bestimmen. Welche Auswirkungen dabei die Tatsache hat, dass die Artikulatoren sich nicht synchron bewegen, dadurch F¨arbungen‘ eines Lautes durch die seiner Nachbarschaft ’ und Mehrfachinterpretationen m¨oglich sind, zeigen die Analysen des folgenden Kapitels. Laute sind aufgrund verschiedener Merkmale ihrer Bildung identifizierbar. Dabei sind zun¨ achst Vokale von Konsonanten zu unterscheiden, dann die Gruppe der Konsonanten entsprechend der unterschiedlichen Beteiligung der Artikulationsorgane bei der Bildung. So wird jeder Laut beschreibbar nach seinem Artikulationsmodus, den beteiligten Organen und dem Artikulationsort. F¨ ur das Schreiben m¨ ussen die Kinder die bewusste Verortung‘ der Artikulation eines Lautes lernen. Die entsprechende ’ Analyse des Gesprochenen k¨ onnen sie jedoch nur dann in ihrer Wahrnehmung der Bewegungsabl¨ aufe verankern, wenn sie kognitive Kategorien entwickelt haben, die ihre Beobachtung steuern. Wenn sie Fehler machen, l¨ asst das darauf schließen, dass sie diese Kategorien noch nicht hinreichend gebildet haben. Um die Schreibungen entsprechend diagnostizieren zu k¨ onnen, brauchen die Lehrerinnen ein fundiertes Wissen u ¨ ber die Merkmale, die die Kinder vermutlich noch nicht wahrgenommen haben. Dieses Wissen der Lehrerinnen dient im Unterricht zugleich zur Bestimmung von notwendigen Schwerpunktsetzungen. Einige Fehler treten besonders geh¨ auft auf. Sie lassen darauf schließen, dass die Kinder an einigen Stellen besondere M¨ uhe haben, ihre Artikulation zu kontrollieren. Diese Bereiche werden im Folgenden angesprochen. Aufg. 3–12:

Kinder wollen folgenden Text in die See-ElefantenSprache der Urmel-B¨ ucher u bersetzen‘. (Er ersetzt ’¨ [M] durch [pf ].) An welchen W¨ ortern sind sie gescheitert? Samstag steigt unser großes Urmelfest. Al” le Geschwister, Eltern und Großeltern sind herzlich eingeladen. Als Eintritt schenkt uns bitte Kuchen und Saft.“

3.4.2

Erschwernisse bei der Lautidentifikation

Eine Beschreibung von Lauten wie die des letzten Kapitels l¨asst leicht den Eindruck aufkommen, dass deren Identifikationen aufgrund der Eindeutigkeit ihrer Merkmale nicht mit Schwierigkeiten verbunden sein k¨onnen. Viele Schreibungen von Kindern belegen jedoch das Gegenteil. Damit die Anstrengungen, die mit einer Lautidentifikation im Sinne der Schrift verbunden sind, sichtbar werden, soll im Folgenden dargestellt werden, welche Faktoren sie beeinflussen. Die Beschreibungen k¨onnen anschaulich belegen, dass Laute keine nat¨ urlichen‘ Gr¨oßen sind, sondern Resultate von Analysen, die von den Be’ dingungen der Koartikulation des Kontinuums abstrahieren m¨ ussen. Individuelle und regionale F¨ arbungen‘ der Lautbildung ’ Vor einigen Jahren hatte die Zeitschrift GEO“ einen ausf¨ uhrlichen Bericht u ¨ber die Arbeit ” der Phonetiker, den sie Die Stimme. Wie sie verf¨ uhrt, was sie verr¨at“ betitelte.29 Hierzu ” 29 GEO,

Nr. 12, 1998. Den Hinweis auf dieses Heft verdanke ich der Freiburger Studentin Mareike S¨ urder.

242

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

geh¨ orte auch die Vorstellung einiger der phonetischen Apparaturen wie Sonagraphen, ihrer Arbeitsweise und ihrer Nutzung, z.B. durch die Kriminalpolizei: Seit einiger Zeit sind Stimmen sichtbar zu machen – mit dem Sonagraphen. Er ” u ¨bersetzt‘ Schallaufnahmen in digitale Spektrogramme, aus denen der Fach’ mann unter anderem erkennen kann, welche Grundfrequenz (Tonh¨ohe) eine Stimme hat, ob sie verraucht, heiser oder schrill klingt und ob der Sprecher bestimmte Vokale oder Konsonanten auf besondere Weise artikuliert. Kriminalisten nutzen Sonagramme, um T¨ater durch Stimmvergleiche zu identifizieren“ (GEO 1999 [Heftnummer], a.a.O., S. 55). ¨ uberstellungen sonagraphischer Darstellungen von Außerungen von Prinzessin Gegen¨ Diana, Veronika Feldbusch, Gerhard Schr¨oder, Bill Clinton und Joseph Goebbels machen in dem Artikel deutlich, dass die Abbildungen, die Spektrogramme, typische Merkmale des jeweiligen Sprechers sichtbar und messbar machen: Energiemenge, Geschwindigkeit, H¨ohe der T¨ one – das sind einige der Merkmale, die Lautung in ihrer individuellen Auspr¨agung zeigen. Wir h¨ oren die Unterschiede, wenn wir eine Stimme mit einer Person zusammenbringen, die graphischen Apparaturen lassen die Differenzen sichtbar werden. Der Bericht eines Kriminologen des BKA beschreibt in dem Artikel auf vielfache Weise beeindruckend, wie diese sichtbaren und messbaren individuellen Sprachmerkmale der Artikulation zur Identifikation einzelner Personen genutzt werden k¨onnen. Die Darstellungen lassen sich zu dem Fazit zusammenfassen: Sprache, Lautung hat individuelle Anteile. Die Kriminologen leisten angewandte Phonetik, indem sie die unterschiedlichen Pr¨agungen von Lautung aufgrund der Differenzen in der individuellen Produktion nutzen. Laute sind – das wird so deutlich – Abstraktionen, die von den individuellen Merkmalen zu l¨ osen sind. Didaktischen Fragestellungen weitaus n¨aher als die Aufgabenbereiche der Industrie und des BKA ist die Dialektforschung. Ihr Forschungsbereich sind die Unterschiede in der lautlichen Produktion in den verschiedenen Regionen. Auch sie liefert zahllose Beispiele, die belegen, dass das Gesprochene anders zu beschreiben ist, als wir es tun, wenn wir in der u ¨blichen Form von Lauten‘ sprechen, und darunter genormte Einheiten wie Buchstaben ’ in der Schrift verstehen. Die Komplexit¨ at dieser Abl¨aufe, die allt¨aglich“ (Wygotski, vgl. Kapitel ?? [quer” asst erkennen, dass die Analyse des Gesprochenen, der wissenverweis, tp]) geschehen, l¨ ” schaftliche“ Umgang mit ihr, eine ¨außerst anspruchsvolle Aufgabe ist. Um sie in Angriff zu nehmen, bedarf es zun¨ achst einmal eines Anlasses. Der Anlass, der die meisten Menschen zur analytischen Besch¨ aftigung mit ihrer Sprache bringt, ist das Erlernen einer Alphabetschrift in der Schule. Die Darstellungen in Kapitel 2 [querverweis formatieren, tp] konnten zeigen, dass die Kinder beim Schreiben am Schriftanfang 1. Gesprochenes zun¨ achst silbisch gliedern und zuerst Konsonantenbuchstaben schreiben 2. erst allm¨ ahlich die Silben vervollst¨andigen. Aus dieser Beobachtung l¨ asst sich folgern, dass die Kinder in der Analyse und Kontrolle f¨ ur das Schreiben prim¨ ar auf die Wahrnehmung der Produktion ( mit Bauch und ” ar auf die der Perzeption ( mit den Ohren“) ausgerichtet sind: KonsoMund“), sekund¨ ” nanten sind die silbischen Elemente, die durch sp¨ urbare Aktivit¨aten der Artikulatoren entstehen, w¨ ahrend Vokale nur mit den Ohren“ wahrzunehmen sind. Kinder – so lassen ” sich diese Beobachtungen zusammenfassen – analysieren Gesprochenes mit dem Ziel, Texte in einer Buchstabenschrift zu schreiben,

¨ 3.4. LAUTE ALS FOLGE DER SPRECHBEWEGUNGSABLAUFE UND IHRE EINBETTUNG IN DAS KONTINU

• durch die Beobachtungen der Ver¨anderungen, die ihre Artikulatoren w¨ahrend des Sprechens vornehmen, vor dem Hintergrund der Buchstaben, mit denen sie jetzt konfrontiert werden, • nutzen diese Beobachtung f¨ ur die Herausbildung von Kategorien, die es ihnen erm¨oglichen, einen regelhaften, kontrollierten Bezug zwischen dem Geschriebenen und ihren Beobachtungen der Artikulation herzustellen, • und speichern ihre Beobachtungen nach einer Experimentierphase im Ged¨achtnis (vgl. Lindner, 1975, S. 27). Schreibenlernen ist demnach kein prim¨ar wahrnehmungsfundierter Vorgang. Vielmehr bedarf die Wahrnehmung einer Steuerung, einer Kanalisierung auf die Merkmale innerhalb der sprachlichen Komplexit¨ at hin, die schriftrelevant sind. Schreibenlernen ist kognitive Arbeit. Das Folgende belegt diese kognitiven Leistungen der Kinder an einigen Beispielen. Laute sind keine Naturprodukte‘, ihre Identifikation, die f¨ ur das Schreibenlernen ’ zu leisten ist, bedarf einer genauen Kontrolle der artikulatorischen Abl¨ aufe und der auditiven Eindr¨ ucke. Um diese Kontrollen durchf¨ uhren zu k¨ onnen, brauchen die Kinder Kategorien, mit denen sie ihre Wahrnehmung so kanalisieren, dass sie die f¨ ur die

244

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

Schrift entscheidenden Segmentierungen einerseits, die Merkmale der individuellen Laute andererseits bestimmen k¨ onnen. Wie nehmen Kinder diese Kategorienbildungen vor?

3.5

Auswirkungen der Koartikulation auf die Artikulation

Die Beschreibung der Lautbildungen wie im letzten Kapitel suggeriert Isolierbarkeit einzelner Laute. Die Losl¨osung von Lauten aus dem Kontinuum des Gesprochenen ist jedoch nur heuristisch, modellierend m¨oglich, und sie zeigt die Perspektive der Schriftkundigen, die Segmentierungen bei ihrem Schrifterwerb bereits erlernt haben und sie nachtr¨aglich idealisierend beschreiben. Die Kinder m¨ ussen die Bestimmung der Elemente, die als Laut im Sinne der Schrift von der Schrift angezeigt werden, erst erlernen. Ihre Schreibungen enthalten h¨aufig – auch dann, wenn sie durch die Anzahl der Buchstaben nachweisen, dass sie die notwendige Menge der Segmentierung vorgenommen haben – andere als die erwarteten Buchstaben. Zahlreiche dieser Falschschreibungen zeigen eine Regelm¨aßigkeit, die darauf schließen l¨asst, dass die Artikulation der Kinder von der, die der Orthographie zugrundeliegt, abweicht. Die Erschwernisse f¨ ur die Kinder bei der Identifizierung der Laute aufgrund der kin¨asthetischen und taktilen Kontrollen ist damit verbunden, dass sich die Artikulatoren nicht synchron bewegen. Dadurch entstehen F¨arbungen‘ ’ eines Lautes durch seine Nachbarschaft, die zu Beginn des Schrifterwerbs, bei einigen Kindern auch noch sp¨ater, zu Fehlinterpretationen im Sinne der Orthographie f¨ uhren k¨onnen. Schreibungen wie die in Abb. 3.17, bei denen der erwartete Vokalbuchstabe durchg¨angig durch einen oder zwei andere Buchstaben ersetzt ist, sind in nahezu allen Dialektgebieten sehr h¨ aufig. Sie lassen annehmen, dass sich hinter diesen Schreibungen kein individuelles Unverm¨ ogen, sondern eine Systematik verbirgt. Eine Analyse, die in der Lage ist, von den Pr¨ agungen unserer lautlichen Wahrnehmung durch die Schrift abzusehen, zeigt sehr schnell, worin diese Systematik begr¨ undet ist: Die Produktion eines Lautes geschieht nicht rein‘, d.h. entsprechend seiner isolierten Artikulation. Vielmehr ist sie eingebunden in ’ ihre Nachbarschaft, d.h. in die Artikulation der gesamten Silbe. Bei z.B. hat das zur Folge, dass die Lippenrundungen von [M] und [m] bei der Artikulation des Vokals beibehalten bleiben. So wird [*] zu []] oder – in Norddeutschland h¨aufiger (vgl. Kapitel ?? [querverweis, tp] – zu [ø], und wird zu schw¨ umt“ oder schw¨omt“, und ” ” wird zu St¨ umme“. ” Die ununterbrochenen Bewegungen der artikulierenden Organe, die die Abbildung [querverweis, ap] auf S. [querverweis, ap] zeigt, bringen es mit sich, dass Sprache als Kontinuum produziert und wahrgenommen wird. Denn wenn die Artikulatoren von einer Position, die Schriftkundige als Laut wahrnehmen, die n¨achste anstreben, ert¨ont die ” Stimme weiter“ (Sievers 1901, 34). Die Abbildungen der Sonagraphen und Osziographen veranschaulichen, dass es keine Pause beim Sprechen, vergleichbar einer L¨ ucke zwischen zwei Buchstaben gibt. Laute ergeben sich daher in dem Kontinuum eben nicht als eindeu-

3.5. AUSWIRKUNGEN DER KOARTIKULATION AUF DIE ARTIKULATION

245

1. schw¨omt“ / ” 2. schw¨ umt“ / ”

3. St¨ ume“ / ”

Abbildung 3.17: Aus ? tig isolierbare Elemente wie die einzelnen Perlen einer Kette analog den Buchstaben in einem Wort. Es gibt im Kontinuum keine klaren Abgrenzungen, jedenfalls nicht zwischen denjenigen Elementen, die die Erwachsenen als Laute wahrnehmen. Pausen sind, wenn sie u ¨berhaupt gemacht werden, nur an den Grenzen von Drucksilben m¨oglich, und wenn Silben spontan segmentierbar sind, dann lediglich durch den Kontrast von Anfangsrand und Reim. Die Ungleichzeitigkeit der Bewegungen der verschiedenen Artikulatoren hat zur Folge, dass die Bildung eines Lautes zus¨atzlich von der seiner Nachbarn‘ beeinflusst wird, ’ weil ein oder mehrere Artikulatoren schon / noch eine andere Position einnehmen. Dieses Ph¨ anomen wird als Koartikulation bezeichnet. Diese der einzelnen Laute durch ihre jeweilige Umgebung bei der Produktion der Artikulation, bestimmen auch die Wahrnehmung. Das Wort in seinen Schreibungen durch die Kinder hat das veranschaulichen k¨ onnen. Das Beispiel mit der bzw. - Verwechslung‘ ’ ( schw¨ umt“, schw¨ omt“) zeigt, dass sie dabei zus¨atzlich zur Bestimmung der Merkmale, ” ” die einen Laut identifizierbar machen, mit einer Menge von Komplikationen zu k¨ampfen haben, die den Ver¨ anderungen der komplexen Bewegungsabl¨aufe im Rahmen der Koartikulation geschuldet sind. Die Analyse dieser Bewegungsabl¨aufe, von denen anzunehmen ist, dass die Kinder sie in ihren Ver¨ anderungen beim Sprechen entsprechend den Anweisungen, die sie daf¨ ur im Unterricht erhalten haben, wahrnehmen und zur Grundlage ihrer Segmentierung f¨ ur das Schreiben machen, haben wir Erwachsenen automatisiert. Beim Rechtschreibenlernen haben wir zugleich gelernt, unsere Sinneseindr¨ ucke der Orthographie anzupassen. So

246

KAPITEL 3. FOLGERUNGEN AUS DEN BESTANDSAUFNAHMEN

h¨ ort‘ fast jeder Erwachsene ein [iq] bei . Lehrerinnen m¨ ussen jedoch, um die ’ kindlichen Beobachtungen nachvollziehen zu k¨onnen und ihrer Aufgabe der Diagnose nachkommen zu k¨ onnen, Kenntnisse u ussen wissen, dass z.B. ¨ber diese Abl¨aufe haben. Sie m¨ das bei kein Resultat einer falschen Wahrnehmung, sondern ¨> oder z eq v oq d ∆q


n iq


h a t
schw¨ umt“ ” M v */] m t
schw¨omt“ ” M v */œ m t
M¨onsch“ ” m ¸/œ n M
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Fens(ter)> f ¸ n s
iq b n/ j m j l * p n/ j m j z


j 8 * 8 k n/j
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[mVm]

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[M] [Muqt]

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[gliqm]

[iqm]

[gl] [gl*t] [gl*s]




[Muqs]

[gl] [gluqt] [gluqs]

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[gluqm]

[M] [MVt] [MVs] [MVm]

[iqt]

[*qt] [*s] [*m]

[uqt] [uqs] [uqm]

[gl] [glVt]

[Vt]

[glVs]

[Vs]

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[Vm]