Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens

Das Buch beinhaltet gut nachvollziehbares Wissen, wie wissenschaftliches Arbeiten schrittweise gestaltet werden kann. Konkrete Anleitungen und verstän...
Author: Max Solberg
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Das Buch beinhaltet gut nachvollziehbares Wissen, wie wissenschaftliches Arbeiten schrittweise gestaltet werden kann. Konkrete Anleitungen und verständnisgenerierende Erörterungen fließen ineinander, um den Prozess der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Arbeit zu unterstützen. Diese sollen auch dazu anregen, über die Materie eigenständig zu reflektieren und die eigenen Arbeitsweisen weiterzuentwickeln. Das Buch gibt zudem Antworten auf viele studentische Fragen, die aufgrund der Erfahrung der Autoren praxisbezogen einfließen. Die einzelnen Themen werden entlang des Ausarbeitungsprozesses behandelt und umfassen: • Eine einführende Reflexion über wissenschaftstheoretische Aspekte, welche hilft, sich in der wissenschaftlichen Landschaft zu orientieren und selbst ein stückweit zu positionieren. • Techniken und Erörterungen zur Entwicklung von Forschungsfragen, der Ausarbeitung eines Exposés und Zeitplans unter Bedachtnahme von Phasen und Meilensteine einer Arbeit. • Typen von Abschlussarbeiten, deren Rahmenbedingungen und formale Anforderungen sowie detaillierte Angaben über den gesamten Aufbau. • Ausführungen zur Recherche, Aufbereitung und Verwertung von Literatur, welche weit über den Tellerrand der Zitation blickt. • Hinweise zu unterschiedlichen Schreibtypen, einer wissenschaftlichen Sprache und Grundelementen des Schreibens werden durch Überlegungen zum Überarbeitungsprozess sowie zum Umgang mit Schreibblockaden abgerundet.

Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens

Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens

Lukas Richter, (MSc) ist Lektor, wissenschaftlicher Projektmitarbeiter und Doktorand an der Wirtschaftsuniversität Wien.

ISBN 978-3-7089-1306-3

www.facultas.at/verlag

JOST | RICHTER

Dr. Gerhard Jost ist Universitätsprofessor am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung der Wirtschaftsuniversität Wien.

GERHARD JOST | LUKAS RICHTER

Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens Eine prozessbegleitende und reflexive Perspektive

Gerhard Jost/Lukas Richter

Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens Eine prozessbegleitende und reflexive Perspektive

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage 2015 © 2015 Facultas Verlags- und Buchhandels AG facultas Universitätsverlag, 1050 Wien Alle Rechte vorbehalten. Satz: SOLTÉSZ. Die Medienagentur. Druck: Finidr, S.v.o. Ćeský Tĕšin Printed in the EU ISBN 978-3-7089-1306-3

Inhalt Vorwort ................................................................................................. 7 Tipps zum Lesen des Buches ............................................................. 9 1

Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive................................................................ 11 1.1 Einführung – Notwendigkeit der Reflexion................................. 11 1.2 Wissensformen und ihre Entwicklung......................................... 12 1.3 Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten.................................. 15 1.4 Wissenschaftstheoretische Denkrichtungen................................. 17 1.5 Qualitative/interpretative Sozialforschung und ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen....................................... 28 1.6 Gesellschaftliche Dimensionen der Wissenschaft ........................ 31 1.7 Fazit ............................................................................................. 33 1.8 Fragen zum Kapitel ..................................................................... 35 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Typologie und Rahmenbedingungen von Abschlussarbeiten .................................................................... 37 Einführung – Originalität und Selbständigkeit............................. 37 Typologie wissenschaftlicher Arbeiten.......................................... 38 Praxisorientierte Rahmenbedingungen........................................ 52 Hinweise aus der Praxis................................................................ 58 Fragen zum Kapitel ..................................................................... 58 Von der Forschungsidee über die Fragestellung zum Exposé....................................................... 59 Einführung – Mit dem Planen geht es los!................................... 59 Zeitmanagement als Erfolgskriterium ......................................... 62 Erste Schritte des Arbeitsprozesses............................................... 71 Hinweise aus der Praxis................................................................ 85 Fragen zum Kapitel...................................................................... 86 Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeit und formale Anforderungen........................................................... 87 Einführung – Baupläne für die Arbeit.......................................... 87 Die Gliederung als Gerüst der Arbeit............................................ 88 Anforderungen an einzelne Abschnitte der Arbeit...................... 100 Formale Anforderungen............................................................... 109 Hinweise aus der Praxis................................................................ 118 Fragen zum Kapitel ..................................................................... 119

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Literaturrecherche, Aufbereitung und Verwertung .......... 121 Einführung – Den Umgang mit Literatur umfassend betrachten..................................................................................... 122 Suche von wissenschaftlichen Arbeiten....................................... 123 Verwertung der Quelle ................................................................ 152 Exkurs: Fehlerhafte Zitation und das Plagiat................................ 171 Hinweise aus der Praxis................................................................ 172 Fragen zum Kapitel...................................................................... 173

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8

Schreiben als Prozess und Strategie....................................... 175 Einführung – Versprachlichung als Wissensgenese ..................... 176 Typologien des Schreibens............................................................ 177 Hinweise zur Verschriftlichung..................................................... 183 Überarbeitung des Textes.............................................................. 192 Merkmale einer (guten) wissenschaftlichen Arbeit .................... 205 Umgang mit Schreibblockaden..................................................... 207 Hinweise aus der Praxis................................................................ 214 Fragen zum Kapitel ..................................................................... 215

7 Literaturverzeichnis................................................................. 217

Vorwort Die Vorbereitung einer abenteuerlichen Reise in ein fremdes Land hat viel Ähnlichkeit mit dem Beginn wissenschaftlichen Arbeitens – es bedarf vieler Vorkenntnisse. Man muss sich informieren, die Sprache kennenlernen, versuchen, Gebräuche und Regeln zu verstehen und einen genauen Plan entwickeln, was man wo und wie machen kann. Und doch wird im Verlauf des Reiseerlebens – beziehungsweise während des Schreibprozesses – sich vieles anders gestalten, als man zu Beginn gedacht hat. Dies können schöne Momente sein, in denen man unerwartet Neues entdeckt, unbekannte Leidenschaften entwickelt und die Freude erlebt, sich in dieses (Fach-)Gebiet auch weiter vertiefen zu wollen. Manchmal kann aber Unvorhersehbares behindern, Pläne zurückwerfen oder sich ein Hindernis auftun, welches erst mit viel Engagement und Kraft überwunden werden muss. Ist man jedoch erfolgreich an seinem Ziel angekommen, beflügelt dies vielleicht sogar, sich in das nächste Abenteuer zu stürzen. Mit jedem neuen Aufbruch wächst das Wissen, Routinen stellen sich ein und Kenntnisse vertiefen sich, welche Regeln zu befolgen, aber für einen selbst hilfreich sind. Wie auf der Reise wird man auch im Schreibprozess Entscheidungen treffen müssen, die die weiteren Schritte beeinflussen sowie bindenden Charakter für den gesamten Verlauf haben und – wenn unbedingt nötig – nur mit großer Anstrengung revidiert werden können. In all diesen Situationen ist ein gewisses Maß an Grundlagenwissen nötig, welches man sich einerseits durch Lesen aneignet, aber zum Teil auch erst im Prozess durch Erfahrung und Reflexion des eigenen Schreibens erfährt bzw. versteht. Dieses Buch soll daher (prozessorientiertes) Grundlagenwissen vermitteln, welche Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten gestellt werden, wie sich Erkenntnisprozesse in der Forschung von alltagsweltlichen unterscheiden und welche Überlegungen dazu von Bedeutung sind. Es wurde versucht, mit universell einsetzbaren Techniken ein Rüstzeug zu erstellen, welches Verstehen erzeugen und die eigenen Reflexionskompetenzen stärken soll, um Seminararbeiten oder Abschlussarbeiten zu einem erreichbaren Ziel zu machen. Die Idee zu dem Buch ist im Rahmen der Leitung des Moduls „Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens“ entstanden, da wir, die Autoren, seit längerer Zeit für die inhaltliche Ausgestaltung dieser Lehrveranstaltung an der Wirtschaftsuniversität Wien verantwortlich bzw. dafür lehrend tätig sind. Im Zuge dieser Arbeit wurden verschiedene Unterlagen für das Modul entwickelt und zur Verfügung gestellt, u.a. ein Foliensatz und inhaltliche Leitfragen. Auch aufgrund von Nachfragen einzelner LV-Leiter_innen wie Student_innen und den persönlichen Erfahrungen aus den Lehrveranstaltungen wurde aus der Idee ein Projekt. Am Beginn der Arbeit war noch nicht klar, wie viel Arbeit bevorstand, denn trotz aller Erfahrung ist es jedes Mal eine spannende Aufgabe, etwas für eine Monographie zu reflektieren, systematisieren und aufzubereiten, was über Jahre in Routinen verinnerlicht wurde. Zudem galt es den Anspruch zu erfüllen, ein Buch über Grundlagen wissenschaftlichen

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Vorwort

Arbeitens bereitzustellen, welches in verschiedenen Departments und Disziplinen eingesetzt werden kann und nicht einseitig auf einen Aspekt oder auf eine Vorgehensweise rekurriert, da unsere Wirtschaftsuniversität eine Vielfalt an Fachrichtungen unter einem Dach vereint und sich in ein umfangreiches System an Universitäten verortet. Wir blieben daher mit Interesse und Eifer an der Arbeit – vielleicht eine der wichtigsten Voraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens – um ein Buch zu entwickeln, welches von Student_innen unterschiedlichster Fachrichtungen gelesen werden kann und einen (ersten) Einblick in das breite Feld bietet. Danken möchten wir Frau Imlinger und Herrn Rohr für ihre inhaltlichen und sprachlichen Anregungen, wie Herrn May für seine Hilfestellung bei grafischen Umsetzungen, sowie unseren Kolleg_innen und zahlreichen Student_innen, die unsere Erfahrungen mitgeprägt haben. Zum Schluss muss unseren Angehörigen gedankt werden für das entgegen­ gebrachte Verständnis der physischen und psychischen Abstinenz, welche jedes große Schreibprojekt in sich birgt.

Tipps zum Lesen des Buches Die Arbeit lässt sich auf zwei unterschiedliche Arten lesen, einerseits und gerade für Schreibneulinge empfehlenswert, kann das Buch in einem durchgearbeitet werden. So lässt sich ein guter Gesamteindruck über die Aspekte des wissenschaftlichen Arbeitens gewinnen. Auch versucht die Struktur des Buches den Ausarbeitungsprozess so weit wie möglich abzubilden und auch damit zu verdeutlichen. Auf Zirkularitäten kann hingegen nur hingewiesen werden. Vielleicht mag es etwas verwundern, dass im ersten Kapitel wissenschaftstheoretische bzw. metatheoretische Überlegungen vorangestellt sind. Diese sind jedoch unseres Erachtens eine wichtige Dimension des wissenschaftlichen Arbeitens, denn sie implizieren Entscheidungen, wie sie die eigene Verortung im System Wissenschaft unterstützen. Im zweiten Kapitel werden Typen von Arbeiten sowie Rahmenbedingungen vorgestellt, welche beide Einfluss auf den Ausarbeitungsprozess und weiterführende Entscheidungen nehmen. In kurzen Exkursen wird zudem ein Überblick über Verfahrensweisen in der qualitativen und quantitativen Sozialforschung gegeben, die zur Anregung dienen sollen. Das dritte Kapitel führt in die Planung einer wissenschaftlichen Arbeit ein und erörtert den Weg von der Idee zu einer brauchbaren Forschungsfrage. Deren Entwicklung nimmt einen zentralen Stellenwert ein, da sie in der Arbeit fokussiert wird. Das vierte Kapitel widmet sich im Besonderen dem Aufbau einer Arbeit, dazu werden formale wie inhaltliche Gliederungsprinzipien ausgearbeitet und die Teile und ihre spezifischen Anforderungen erörtert. Da bereits in dieser Phase auch erste Schreibaktivitäten stattfinden können, sind zudem einige Hinweise zur Manuskriptgestaltung und Sprache eingeflochten. Das fünfte Kapitel ist mit der Literaturrecherche, -aufbereitung und -verarbeitung befasst und soll zeigen, dass dieses Themenfeld weit mehr bietet als bloß einen Zitationsstil. Der adäquate Umgang mit Literatur etwa in Hinblick auf die Archivierung und damit das Bereithalten des Wissens sind Ankerpunkte des wissenschaftlichen Arbeitens und begleiten das gesamte Studium. Das letzte Kapitel versucht ein Verständnis für den Prozess des Schreibens zu vermitteln und sich mit der Produktion seiner Texte zu beschäftigen. Die Art, wie man schreibt oder schreiben kann, ist jedoch nicht einheitlich zu denken. Die Einsicht, dass auf unterschiedliche Schreibstrategien zurückgegriffen werden kann, wird dazu führen, etwaige Schreibängste in einem anderen Licht zu reflektieren. In zweiter Lesart können die Kapitel auch partiell gelesen werden und repräsentieren in sich aufbauende Teile. Die jeweiligen Einleitungen geben dazu die reflexiven Kerngedanken wieder und führen in die Thematiken ein. Um beide Varianten zu ermöglichen, wurde versucht, eine Balance zwischen Querverweisen und kurzen inhaltlichen Redundanzen zu finden – diese sollen zudem die Wichtigkeit der Aspekte betonen, jedoch nicht damit überfrachten. Also weder eine unnötige Langeweile noch ein beständiges „Vor-und Zurückblättern“ zu erzeugen. Wir hoffen, dass uns dies aus Sicht der Leser_innen gelungen ist und wünschen eine informative und anregende Lektüre.

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Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive

1.1 1.2 1.3

Einführung – Notwendigkeit der Reflexion............................ 11 Wissensformen und ihre Entwicklung.................................... 12 Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten............................. 15 1.3.1 Kriterium der „Wahrheit“............................................. 15 1.3.2 Generierung von (Grundlagen-)Wissen....................... 16 1.3.3 Entwicklung argumentativer Zusammenhänge und Wissenschaftssprache.................................................... 17 1.4 Wissenschaftstheoretische Denkrichtungen............................ 17 1.4.1 Differenzlinie: Rationalismus vs. Empirismus ............. 18 1.4.2 Differenzlinie: Konstruktivismus vs. Realismus............ 19 1.4.3 Hauptstrom der Forschungslogik: Kritischer Rationalismus............................................................... 20 1.4.4 Vorbehalte gegenüber dem Kritischen Rationalismus . 22 1.4.5 Kritischer Rationalismus vs. Kritische Theorie oder der „Positivismusstreit“................................................. 24 1.4.6 Folgerungen für die Konzeption empirischer Sozialforschung............................................................. 26 1.5 Qualitative/interpretative Sozialforschung und ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen.................................. 28 1.6 Gesellschaftliche Dimensionen der Wissenschaft.................... 31 1.7 Fazit......................................................................................... 33 1.8 Fragen zum Kapitel................................................................. 35

1.1

Einführung – Notwendigkeit der Reflexion

Wissenschaftliches Arbeiten besteht aus fachspezifischem (Grund-)Wissen, sei es z.B. jenem der soziologischen, betriebswirtschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Provenienz. Um ausreichend komplex zu sein, sind aber genauso metatheoretische Reflexionen notwendig. Damit sind Fragen der Wissenschaftstheorie angesprochen, z.B. was man unter wissenschaftlichem Wissen versteht, welchen Regeln oder Prämissen den Erkenntnisbemühungen zugrunde liegen oder wie Theorien aufzubauen sind. Es ist grundlegend, welche Strategien des Erkenntnisgewinns im wissenschaftlichen System Platz haben, welche sekundär oder sogar problematisch sind. Wissenschaft ist dabei kein monothetisch organisiertes Gebilde, sondern es haben sich unterschiedliche Denktraditionen herausgebildet. Gesellschaftliche, institutionelle und historische Rahmenbedingungen einer Epoche entscheiden über Zugänge und Wissensbestände, da sie sozial und ökonomisch eingebettet sind. Die folgende Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen einige Grundgedanken und Denkweisen sowie Ansprüche an

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Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive

wissenschaftliches Arbeiten aufgezeigt werden. Deutlich sollte werden, dass es in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weder nur einen einzigen noch einen überlegenen (hegemonialen) Blickwinkel gibt. Forschungsstrategien und Denkweisen weisen vielmehr eine Pluralität auf (siehe Brühl 2015, S.3ff.) und die Präferenz zu einem Ansatz kann durch die eigene ­Sozialisation, Innovation, Nützlichkeit für die Thematik oder kritische Haltung bestimmt sein. Durch die Herausbildung pluraler Denkweisen über den Erkenntnisgewinn existieren auch keine einheitlichen Ansprüche an wissenschaftliches Vorgehen. Folglich ist es nicht nur in sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Feldern unabdingbar, differente Erkenntnispositionen und Annahmen kennenzulernen. Erst dadurch lassen sich angemessene und bewusste Entscheidungen treffen und das wichtige Gütekriterium der Reflexivität umsetzen. Selbst beim Verfassen einer Abschlussarbeit im universitären Kontext werden implizit oder explizit immer Entscheidungen vorgenommen. Die Ausrichtung einer Arbeit beginnt bereits bei der Fragestellung, die einen (wissenschafts-) theoretischen und methodischen Zugang nahelegen kann. Abgesehen davon ist die dem wissenschaftlichen Arbeiten übergeordnete erkenntnistheoretische Dimension immer präsent, auch wenn Erkenntnisund Wissenschaftstheorien kein „anleitendes“ Wissen zur Verfügung stellen. Zur Anwendung in der Praxis bedarf es, ähnlich wie bei allen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien, einer reflexiven Zuwendung, um den Zugang und die angemessene Forschungsstrategie in der eigenen Arbeit zu wählen. Selbst bei Forschungsroutinen ist es nötig, sie auf der Basis von Grundlagenwissen z.B. über die Differenzen quantitativer und interpretativer Forschung anzuwenden. Kenntnis über den Pluralismus von wissenschaftlichen Zugängen erlaubt zudem nicht nur bewusste Entscheidungen, sondern genauso ein Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dadurch neue bzw. weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

1.2

Wissensformen und ihre Entwicklung

Unter dem Begriff des wissenschaftlichen Wissens ist zu verstehen, dass „wahre“ und begründete Theorien bzw. Aussagen über (soziale) Realität vorliegen. Wissen muss sich von bloßer Meinung unterscheiden, muss Beweise einbringen und darf in seiner Struktur nicht widersprüchlich sein. Bereits Platon unterscheidet zwischen situationsgebundener Meinung (Volksmeinung am Markt – „agora“) und abstraktem Wissen. Bis zu Platon wurde nicht auf abstraktes Wissen und überzeitliche Gesetzmäßigkeiten („Ideen“) Bezug genommen, die hinter den oberflächlichen, vergänglichen Erscheinungen lebensweltlicher Situationen stehen (vgl. Schülein & Reitze, 2005). Platon berief sich in seinen Ausführungen insbesondere auf die Geometrie als ideale Vorstellung, da sie etwas mit Sicherheit abbilden konnte. Abstraktes Wissen wird als „nomothetisches“ Wissen (Gesetze) eingestuft, das logisch widerspruchsfrei und mit Belegen gefestigt ist. Wissenschaftliches Wissen soll sich demzufolge

Wissensformen und ihre Entwicklung

vernunftbasiert von subjektiven Meinungen und einseitigen, verkürzten Vorstellungen absetzen. Verzerrungen und „Verblendungen“ sind zu vermeiden, wie auch durch das „Höhlengleichnis“ von Platon angesprochen wird. Er beschreibt darin – nach einem Gleichnis seines Lehrers Sokrates – Menschen, die in einer Höhle von Kindheit an festgebunden sind. Diese gefangenen Personen können nur die Schatten von Gegenständen wahrnehmen, die von einem Licht ausgehen. Trotzdem muss über die Wahrnehmung der Schatten, die sie benennen, eine sozial gültige („wahre“) Welt ausgebildet werden. Wenn nun ein Gefangener an das Sonnenlicht kommt – somit Erkenntnis über die Struktur der Welt gewinnt – würde er nach einer Zeit der Gewöhnung an das Sonnenlicht letztendlich bemerken, dass die in der Höhle entstandene Wirklichkeit aus Schatten besteht. Schließlich würde sich die Frage stellen, inwieweit ihm bei Mitteilung seiner Erkenntnis in der Höhle Glauben geschenkt wird. Um die Wirklichkeitskonzeption in der Höhle aufrechterhalten zu können, müsste man seine Erkenntnis zurückweisen und ihm vielleicht sogar das Verlassen der Höhle untersagen. Das Gleichnis verweist damit nicht nur auf falsche Alltagskonstruktionen, sondern genauso auf den beschwerlichen Weg des Erkenntnisgewinns und ihrer Vermittlung. Gültigkeit und Begründungszusammenhang von Wissen und die Vermittlung dieser Schritte sind folglich zentral. Alltagswissen ist als Differenz zu theoretischem/abstraktem Wissen subjektiv und pragmatisch orientiert. So lässt sich das (implizite) Handlungswissen vom (explizitem) theoretischem Wissen („Know-how“/„Knowing-that“; vgl. Kruse, 2007, S.62) differenzieren. Alltagswissen liegt dem Handeln zugrunde und soll sich in der Situation bewähren. Folglich ist es mit Routinen gekoppelt und bedarf vor allem einer Funktionsfähigkeit. Meist ist Alltagswissen nur mündlich überliefert und unsystematisch. Eine systematische Sammlung von Wissensbeständen, die dann der Auswahl einer Handlungsoption zugrunde liegt, ist nicht die Regel. Routinen prägen den Alltag. Die dafür verantwortlichen Deutungs- und Handlungsmuster sind kulturell und kollektiv verankert. Erst im Fall von Problemen setzt eine Reflexion über sie ein. Doch selbst diese Reflexion verbleibt in der Handlungspraxis und fordert weiterhin keine systematische Beobachtung ein. Nichtsdestotrotz besteht ein großes Angebot an wissenschaftlich-abstraktem Wissen, das für eine Verwissenschaftlichung des Alltags gesorgt hat. Es beruht auf dem Prinzip der funktionalen Differenzierung in modernen Gesellschaften, das sich bereits im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann. Gesellschaftliche Teilbereiche entwickeln eine Eigenlogik und spezialisieren sich. An die Stelle der „amateurhaften“ Organisation von Wissen tritt nach und nach ein eigenes professionelles Subsystem der Wissensproduktion und -verwaltung, das institutionell im Besonderen an Universitäten verortet wird. Diese Tendenz zur Verwissenschaftlichung löst ältere (Letzt-)Erklärungsmuster wie Mythen und Religionen zumindest partiell ab. Sie hatten in vormodernen Gesellschaften einen hohen Stellenwert, verlieren nun aber als Basis von Entscheidungen in der Gesellschaft ihre Bedeutung. Betrachtet man Mythen, so handelt es sich um Erzählungen, die gesellschaftliche Themen wie z.B. soziale Herkunft oder Vorgänge in der Natur mit

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Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive

(symbolischen) Bedeutungen versehen. Sie beziehen sich nicht notwendigerweise auf reale oder logisch-kohärente Begründungen und dienten in archaischen/einfachen Gesellschaften dazu, umfassende Welt- und Gesellschaftsbilder herzustellen. Dabei werden Phänomene z.B. in animistischer Weise dargestellt (z.B. einem Ding eine Seele zugesprochen) und lassen Projektionen auf ein Ding als vernünftig erscheinen. In modernen Gesellschaften sind Mythen nicht gänzlich abgeschafft, doch werden sie an den Rand gedrängt (vgl. Schülein & Reitze, 2005, S.29f.). Religion wiederum ist als System einer Weltinterpretation zu verstehen, das als nicht-rationale Wissenschaft und als Gegenwelt zum Mythos zu sehen ist. Im Unterschied zum Mythos wird ein Phänomen zwar systematisch begründet, aber die Annahme beibehalten, dass Ereignisse in der (Letzt-)Erklärung göttlichen und damit transzendenten Ursprungs sind. Insbesondere die Philosophie löst mit ihren erkenntnistheoretischen Überlegungen zu „logos“ und Vernunft religiöse und mythologische (Letzt-)Erklärungen ab. Die zunehmende Bedeutung von Experten- und wissenschaftlichem Wissen in modernen Gesellschaften kommt im Begriff einer „Wissensgesellschaft“ besonders zum Ausdruck. In dieser Vorstellung wird darauf verwiesen, dass in hochindustrialisierten Ländern theoretisches Wissen zum wichtigsten Produktionsfaktor geworden ist. Wissenschaftlich strukturiertes Wissen wird zur Quelle für Innovation und (professioneller) Handlungspraktiken als auch zur Grundlage politischer Entscheidungen (Pellert, 1999, S.17). Nicht mehr nur Arbeit, Rohstoffe und Kapital, sondern systematisch erzeugtes, begründetes Wissen ist in Gesellschaften ein zentraler Strukturierungsfaktor. Der Begriff der Wissensgesellschaft wurde besonders durch die Arbeit von Daniel Bell (1973) auch außerhalb der Wissenschaft bekannt. Verwiesen wird dabei auch auf die wachsenden Sektoren der (medienvermittelten) Informationsverarbeitung, auf das Phänomen der „Wissensarbeiter“ und auf die Bedeutung immateriellen (Bildungs-)Kapitals. Dabei unterliegt die Produktion und Verwertung von wissenschaftlichem Wissen einer gesellschaftlichen Organisations- und Verfügungsstruktur. Zugang und Aufbau von Wissen erfolgt nicht zentralistisch und durch geregelte Mechanismen, sondern über vielfältige Kanäle. Die Qualität wissenschaftlichen und insbesondere, „theoretisch-abstrakten“ Wissens entsteht mit Bezug zu einer fachlichen Diskursgemeinschaft („scientific community“). Neue Erkenntnisse werden im systematischen Vergleich mit anderen, vorangehenden Theorien entwickelt. Eine zentrale Form komplexer Argumentation und die Durchsetzung der Vernunft beruht wesentlich auf dem Übergang zur Schriftlichkeit. Sie befördert die eigene Konturierung von Wissenschaftsdisziplinen. Aufgabe der Wissenschaft ist dabei, nicht nur „theoretisch-abstraktes“ Struktur- und Erklärungswissen zu produzieren, sondern genauso Wege der Wissensproduktion, methodologische und erkenntnistheoretische Fragen aufzuwerfen und („besseres“) handlungspraktisches Wissen zu generieren. Zu unterscheiden ist Wissensproduktion ohne explizites, unmittelbar praktisches Ziel von jener mit direkter Nützlichkeit, z.B. in politischen, ökonomischen oder institutionellen

Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten

(betrieblichen) Bereichen. Im zweiten Fall sind Formen und Orte der Wissensproduktion sehr heterogen. Sie umfassen industrielle Forschung, Beratung oder außeruniversitäre Forschung. In diesen Rahmen wird meist in eher fluktuativen Forschungsgruppen nach einer Problemlösung gesucht. Konkret angewandte Qualitätskriterien dieses Wissens orientieren sich z.B. an Kriterien wie Kosteneffektivität, Konkurrenzfähigkeit oder Nachhaltigkeit. Sie hängen vom konkreten Kontext ab und stehen in einem unmittelbaren Anwendungszusammenhang. Bei einer (disziplinorientierten, oftmals universitären) Wissensproduktion ohne explizit praktisches Ziel wird die Problemdefinition innerhalb der „scientific community“ und ohne direkten Anwendungsbezug vorgenommen. Solche Fragen, die meist im Rahmen von Grundlagenforschung entstehen, sind mit sehr engen Qualitätskriterien verbunden. Die zentralen Begriffe, Denkweisen und Regeln wissenschaftlichen Arbeitens werden meist durch „peer reviews“ (als „gatekeeper“) eingefordert. Wissenschaftliches Arbeiten steht dann im Zeichen institutioneller Logiken des Wissenschaftssystems (z.B. Wertigkeiten von Publikationen im Kontext von Zeitschriften oder Konferenzen). Dabei ist die Bewährung des wissenschaftlichen Wissens im konkreten Kontext zunächst nicht das einzige und ausschließliche Ziel, sondern die Güte der Argumentations- und Vorgangsweise, wie auch die Akzeptanz von dominierenden Paradigmen (vgl. Pellert, 1999, S.21f.).

1.3

Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten

Welchen Ansprüchen soll wissenschaftliches Arbeiten genügen? Bereits mit Blick auf die Differenzen zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung (und selbst innerhalb der beiden Methodologien) zeigt sich, dass die Ansprüche unterschiedlich sind. Zieht man noch wissenschaftstheoretische und -logische Distinktionen hinzu, wird die Lage noch komplexer. Trotzdem lassen sich allgemeine Ansprüche an wissenschaftliches Arbeiten benennen.

1.3.1 Kriterium der „Wahrheit“ Gerade in der Öffentlichkeit beherrscht das Argument der „Wahrheit“ den Diskurs über die Qualität von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei genauerer Betrachtung können verschiedene Vorstellungen von „Wahrheit“ rekonstruiert werden (vgl. Herzog, 2012, S.41f.). Pragmatisch kann sich Wissen durch seine Bewährung im Einsatz auszeichnen, ist somit „wahr“, weil es (z.B. im medizinischen oder technischen Bereich) funktioniert („Erfolgstheorie“). Weitaus verbreiteter sind jedoch Vorstellungen von einem Korrespondenzbzw. Abbildverhältnis zwischen Erkenntnis und Realität. Genau genommen können aber nur Modelle mit anderen verglichen werden, somit ist die Überprüfung mit der Realität meist nicht möglich. Eine alternative Sichtweise dazu, die ebenfalls häufig im Hintergrund des Wahrheitsbegriffs steht, ist die Kohärenztheorie. Sie besagt, dass Argumente widerspruchsfrei bzw. stimmig sein

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Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive

und darüber hinaus gerechtfertigt werden müssen. Damit sind Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung angesprochen, etwa dass Messungen valide bzw. reliabel und Begriffe intersubjektiv eindeutig definiert zu sein haben. Erkenntnisse stehen dann in einer logisch konsistenten sowie empirisch überprüfbaren Vorgangsweise. Der Belegzwang und die Einschätzung von Datenbeständen zur Entwicklung und Prüfung von Hypothesen spielen dabei genauso eine Rolle wie die Angemessenheit von Methoden. Eine ähnliche Auffassung besteht bei der Konsenstheorie, nur wird hier stärker auf die Zustimmung der „scientific community“ Bezug genommen. Wissenschaft lässt sich als Gebilde von (Forschungs-)Konventionen betrachten, die sich (paradigmatisch) bewähren. Dabei kann sich auch Wandel vollziehen, wie etwa die zunehmende Bedeutung qualitativer Methoden in der sozialwissenschaftlichen Forschung während der letzten Jahrzehnte zeigt.

1.3.2 Generierung von (Grundlagen-)Wissen Nicht jede wissenschaftliche Arbeit trägt dazu bei, neues Wissen herzustellen. Vielfach dienen Forschungen der Überprüfung eines bereits bestehenden Zusammenhangs. Auch lässt sich keineswegs generell die Vorstellung vertreten, dass spätere Erkenntnis höherwertig einzustufen ist als frühere. So zeigt auch die bedeutende Arbeit von Kuhn (1967), dass nicht von einem linearen Fortschrittsgedanken bei der Produktion von wissenschaftlichem Wissen auszugehen ist. Kuhn hat herausgestrichen, dass Wissenschaft sich nicht durch kontinuierlichen Aufbau weiterentwickelt, sondern durch (revolutionäre) Paradigmenwechsel mitbestimmt ist. Auch der heutige Forschungsalltag zeigt, dass nicht ausschließlich aufgrund von Lücken im Wissenschaftssystem, sondern andere Kriterien wie z.B. die Forderung nach dem (direkten) praktischen Nutzen von Forschung mitentscheidend sein können. In den letzten Jahrzehnten ist in dieser Hinsicht eine „Ökonomisierung von Wissenschaft“ zu beobachten, die meist den Verwertungsaspekt in den Vordergrund rückt und Wissen zur Ware macht. Nichtsdestotrotz ist wissenschaftliches Wissen – wie die Geschichte zeigt und auch der Kritische Rationalismus postuliert – immer vorläufiges und hypothetisches Wissen. Besonders gilt dies für formallogische, aber auch andere Wissenschaften, die sich aufgrund gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen schneller weiterentwickeln. Wissenschaft entwickelt sich im Kontext von Gesellschaft, andererseits beeinflusst sie ihrerseits Modi des sozialen Alltags. So ist wissenschaftliches Wissen zentrale Grundlage des rasanten sozialen Wandels der letzten Jahrzehnte geworden, aber es wirken auch neue technische Entwicklungen, wie etwa die weitreichende Digitalisierung, genauso auf den Aufbau der Wissenschaft zurück. Zum Beispiel hat die Möglichkeit der Archivierung und des Umgehens mit großen Datensätzen Veränderungen im wissenschaftlichen Arbeiten mit sich gebracht. Manche Verfahrensschritte, aber auch Disziplinen (z.B. Wirtschaftsinformatik oder nachhaltige Ökonomie) haben sich im Zuge neuer Technologien überhaupt erst entwickelt.

Wissenschaftstheoretische Denkrichtungen

1.3.3 Entwicklung argumentativer Zusammenhänge und Wissenschaftssprache Jede wissenschaftliche Disziplin hat ihr eigenes Fachvokabular, das sich durch hohe Funktionalität in der „scientific community“ auszeichnet. Dieses soll den Wissenschaftler_innen zur raschen und präzisen Verständigung dienen. Für Einsteiger_innen in wissenschaftliche Fachbereiche wirkt dieser Umstand zum Teil befremdlich, genauso wie die von einer Wissenschaftsdisziplin bestimmten Fragen und Problemstellungen. Folglich setzen immer Sozialisationsphasen ein, um sich von „common-sense“ Perspektiven des Alltags zu wissenschaftlichen Blickwinkeln hin zu entwickeln. Grundsätzlich ist eine komplexe, sorgfältige Begriffsklärung erforderlich, sei es durch die Begriffsgeschichte oder durch die genaue Beschreibung von Merkmalen. Neben der (sinnvollen) Verwendung von Fachbegriffen bedürfen wissenschaftliche Texte aber auch einer logischen und nachvollziehbaren Argumentation. Als ein klassisches Beispiel für einen fundierten wissenschaftlichen Text, der gleichzeitig gut verständlich formuliert ist, lässt sich die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1975) nennen. Die Methoden und vielfältigen Datenerhebungen waren Grundlage, um die psychosozialen Folgen von (Massen-)Arbeitslosigkeit in einer Gemeinde differenziert und tiefgehend zu erforschen. Der Erfolg dieser Studie kann nicht nur den Methoden, sondern zu einem hohen Anteil dem schriftstellerischen Talent von Jahoda zugeschrieben werden, die Befunde und Statistiken in eine gelungene Abhandlung integrierte. Die Studie zeigt aber auch, dass politisches bzw. soziales Engagement von Autor_innen keinen Widerspruch zu anspruchsvollem wissenschaftlichen Arbeiten darstellt (die Wissenschafter_innen hatten ein Naheverhältnis zur sozialdemokratischen Arbeiterpartei SDAP – wie die heutige SPÖ damals hieß). Es zeigt exemplarisch, dass man methodisch anspruchsvoll arbeiten und zugleich politische Werthaltungen haben kann (vgl. auch die Aussage bei Eco, 2010, S.45f.). Im politischen Diskurs dieser Zeit war es eine bedeutende Frage, inwieweit Arbeitslosigkeit zur Freisetzung von apathischen/ resignativen Haltungen führen würde. Wissenschaft beschreibt, erklärt und prognostiziert zwar vorrangig, doch ist die Abgabe von Werturteilen, das Üben von Kritik und die Entwicklung von Alternativen auf der Basis von Erkenntnissen angebracht. Im Bereich sozialer Ungleichheit z.B. können Erhebungen über den „Ist-Zustand“ gesellschaftlicher Entwicklungen dazu genutzt werden, politische Maßnahmen auszuarbeiten und einen Wandel zu erreichen.

1.4

Wissenschaftstheoretische Denkrichtungen

„Wissenschaftstheorie“ beschäftigt sich mit der Frage, wie Erkenntnisbemühungen und – noch allgemeiner – Dimensionen des Erkenntnisprozesses beschaffen sein sollen. Konkret stellt dieser Bereich Fragen nach Aufgabe, Ziel oder Logik wissenschaftlichen Arbeitens. Anknüpfend an eine komplexitätsreduzierte Einteilung wissenschaftstheoretischer Strömungen (vgl. Kornmeier,

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Wissenschaftliches Arbeiten – Einbettung in eine reflexive Perspektive

2007, S.31) sollen zu Beginn zwei der grundlegendsten Differenzen im Erkenntnisprozess näher betrachtet werden.

1.4.1 Differenzlinie: Rationalismus vs. Empirismus Diese Differenzen beziehen sich auf „Erkennen mittels Verstand“ (Rationalisten) versus „Erkennen durch systematische (Sinnes-)Erfahrungen“ (Empirismus): • Rationalismus: Vernunft und rationales Denken sind für den Erwerb und die Begründung von Wissen vorrangig bzw. ausreichend. • Empirismus: Sinneserfahrungen, speziell in methodisch kontrollierter Form, sind die wichtigste oder ausschließliche Quelle wahrer Erkenntnis. Der wissenschaftstheoretische Diskurs zu Beginn der industriellen Revolution war durch diese Differenzlinie zwischen Rationalisten und Empiristen geprägt. Rationalist_innen legen als die wesentliche Quelle der Erkenntnis die intellektuelle Fähigkeit, das Denken und die Vernunft fest. Da die soziale Welt rational strukturiert ist, wäre sie auch durch Vernunft erkennbar. Einer der Begründer der Rationalisten war Descartes, ein Mathematiker und Philosoph. Er fordert die Gewissheit von Aussagen, die wie bei mathematischen Formeln immer und überall gelten. Sinneserfahrungen können demzufolge nicht als wissenschaftliche Fundamte bestehen, da sie infolge von Täuschungen zu falschen Erkenntnissen führen könnten. In der Suche nach der Methode des richtigen Gebrauchs der Vernunft, ließe sich jedenfalls an einer Erkenntnis nicht zweifeln: ich denke, also bin ich („Cogito ergo sum“). Die Folge des Rationalismus – es soll wie in der Mathematik oder Geometrie nur etwas behauptet werden, wenn es vollkommen sicher sei – ist, nichts jenseits der empirischen Erfahrbarkeit in Erkenntnisweisen zu akzeptieren. Der Rationalismus entstand mit der Epoche der Aufklärung, die das Denken und den Verstand zur Grundlage der (Moral-)Entwicklung macht, sinnliche Erfahrung hingegen als unsichere Erkenntnisgrundlage ansieht. Als zeitgenössische Gegenströmung zum Rationalismus forcierte der Empirismus erstmals die (Sinnes-)Erfahrung als zentrale Quelle von Erkenntnis: „Bis zum Empirismus war an den Kategorien des Denkens, nicht aber an der Kontrolle des Wirklichkeitskontakts gearbeitet worden“ (Schülein & Reitze, 2005, S.71). Vertreter_innen des Empirismus begründen ihren Ansatz damit, dass alle Erkenntnis auf Erfahrung beruht und keine Dinge „a priori“ bestehen. Sinneseindrücke wären der unumgängliche Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis. Mangelnde empirische Fundierung könnte in der Folge stärker z.B. zu Vorurteilen und Mythen führen. Empiristen vertreten eine induktive Forschungslogik. Erkenntnisse entstehen aus den Wahrnehmungen und können daher nicht einer deduktiven Logik folgen, da sie demzufolge immer empirisch entstehen. Modelle von Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung würden – so die Empiristen – nicht durch die Vernunft, sondern nur durch Erfahrung entdeckbar werden.

Wissenschaftstheoretische Denkrichtungen

Bereits einzelne Empiristen begrenzen die Möglichkeiten ihres Ansatzes und nehmen eine skeptische Haltung ein, inwieweit wahre Abbildungen einer objektiven Wirklichkeit – ohne Prämissen – überhaupt möglich seien. Beispielsweise lässt sich durch empirische Wahrnehmung die Kraft eines Magnets, die zur Anziehung von Eisenspänen führt, nicht einfach durch die Beobachtung der Anziehung von Eisenspänen entdecken. Wahrnehmung beruhe, wie spätere Ansätze stärker berücksichtigen, auf einem vorgängigen, kognitiven Einordnungsschema. Gleichfalls genüge das bloße Sammeln von Erfahrungen nicht, da es dadurch noch in keiner Struktur steht. Kant hat nun versucht, die Standpunkte der Empiristen und Rationalisten zu vereinen: Mit dem Satz, „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, hat er in der „Kritik der reinen Vernunft“ seine Philosophie ausgebreitet. Der „Verstand“ kann nicht ohne Erfahrung und Sinneswahrnehmung auskommen, da er das beobachtete Objekt (mit-)konstruiere: das „Ding an sich“ wäre folglich erkenntnismäßig nur unter Vorzeichen zugänglich (vgl. Römpp, 2007). Mit einem solchen Akzent in seiner Positionierung nimmt er einen Grundgedanken späterer konstruktivistischer Ansätze vorweg. Damit ist bereits die zweite zentrale Differenzlinie, nämlich die zwischen konstruktivistischer und realistischer Denkweise, angesprochen.

1.4.2 Differenzlinie: Konstruktivismus vs. Realismus Diese Differenzen beziehen sich auf die „Wirklichkeit als Produkt“ (Konstruktivisten) versus „einer vom Betrachter unabhängigen Realität“ (Realisten). • Konstruktivismus: Je nach Variante wird Wirklichkeit als sozial oder individuell hergestellt eingestuft – sie ist Produkt von Interaktionen oder/ und eines Betrachters. • Realismus: Es gibt eine von unserem Denken und Interpretieren unabhängige Realität, über die man angemessenes Wissen entwickeln kann. Konstruktivisten stellen ins Zentrum, wie die als prozessual verstandene Wirklichkeit entweder kognitiv beim/bei der Beobachter_in (Psychologie, Biologie) oder sozial (über Gesellschaft, Sprache und Kommunikation: Soziologie, Sozialpsychologie) entsteht und erfasst wird. Wahrnehmung und Erkenntnis sind als subjekt- oder milieuabhängig anzusehen. Realität wird daher erst durch Personen hervorgebracht und stellt damit auch (prozessuale) Fragen der Entstehung von Wissen und Erkenntnis ins Zentrum. Vielfach wird von Wirklichkeiten ausgegangen, deren Konstitution rekonstruiert werden kann. Der Radikale Konstruktivismus spitzt die Perspektive zu, indem er den/die Forscher_in als zentrale Instanz ins Zentrum des Erkenntnisprozesses rückt: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana, 1998, S.25). Wir haben es nie mit Dingen zu tun, sondern immer nur mit der Wahrnehmung der Dinge. „Der Konstruktivismus sagt nie etwas über das Sein und das Sein der Welt aus, er ist nie eine Beschreibung der Welt, sondern immer

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nur ein Versuch, das Wissen in einer gewissen Art zu verstehen“ (Glasersfeld, 1987, S.49). Da jeder nur einen indirekten Bezug zur Umwelt hat und Erkennen autonom vom Objekt vor sich geht, kreiert man in jeder Situation nur „brauchbares“ bzw. funktionsfähiges Wissen – dies gilt genauso für Wissenschaft. Wissenschaftliche Erkenntnisse fungieren wie Instrumente: sie zeigen uns Parameter der Wirklichkeit an und ermöglichen die Planung eines Weges, ohne die Realität genau zu kennen. Konstruktivistisch gedacht, kann bei Erkenntnissen daher nur von einem Passungs-, nicht aber von einem Abbildungsverhältnis zwischen Wissen und Realität ausgegangen werden. Statt „objektiver“ Rekonstruktionen sozialer bzw. wirtschaftlicher Phänomene werden „Viabilität“ und „erfolgreiches“ bzw. „funktionsfähiges“ Handeln gesetzt. Wissen bietet aus dieser Sicht vor allem (bessere) Orientierung im Umgang mit der Realität. In einem empirischen Programm des Konstruktivismus wird die „Fabrikation“ und Produktion von Erkenntnis als sozialer Prozess fokussiert: „Wie Wirklichkeit konstruiert wird, muss beantwortet werden, um zu klären, was diese ausmacht“ (Knorr-Cetina, 1989a, S.92). Auch im Fall von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, zum Beispiel im Bereich der Arbeiten in Laborstudien, wird von einer sozialen Konstitution von Wissen ausgegangen und Erkenntnis als soziale Produktion eigener Art betrachtet. Die sozialkonstruktivistische Denkweise (Berger & Luckmann 1969, 1987) setzt einen etwas anderen Fokus und diskutiert, wie Prozesse der Institutionalisierung, Objektivierung und Legitimation von Wissensbeständen ineinandergreifen, sodass soziale Ordnung hergestellt und transformiert wird. Realisten dagegen knüpfen an Alltagsvorstellungen einer denk- und beschreibungsunabhängigen Wirklichkeit an. Dabei wird meist die Wahrnehmung von Wirklichkeit mit der Wirklichkeit gleichgesetzt und davon ausgegangen, dass es eine wahre und vollständige Beschreibung der Welt gibt. Objekte können so wahrgenommen werden, wie sie sind: Wenn ich einen Gegenstand als rot wahrnehme, dann hat er diese Farbe. Anders ausgedrückt: Gegenstand und Repräsentation des Gegenstandes sind ident (vgl. Schantz, 2009).

1.4.3 Hauptstrom der Forschungslogik: Kritischer Rationalismus Ausgangspunkt des Kritischen Rationalismus sind die Zurückweisung des Induktivismus und der Versuch einer Neubegründung einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Methodik auf der Basis des Falsifikationsprinzips. Popper spricht sich in einem seiner Hauptwerke „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1992) dafür aus, Problemlösungen („Alles Leben ist Problemlösen“; Popper, 2004) abseits dogmatisch-autoritärer Ideologien durch rationale Diskussion zu suchen. Einen solchen Grundsatz einer „kritischen Vernunft“, den er für gesellschaftliche wie wissenschaftliche Belange aufstellt und für den Bereich des (methodischen) Forschungsvorgehens postuliert, sieht er im permanenten Versuch der Widerlegung von Theorien, also der Falsifikation,

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verwirklicht. Gesellschaften müssten am besten in Form eines egalitär-demokratischen Modells formiert sein, dass sich wissenschaftliche Vorgangsweisen kritisch hinterfragen lassen. Entscheidend ist, dass man vorläufige Erkenntnisse einer permanenten Prüfung aussetze: (endgültige) Verifikation sei nach Ansicht des Kritischen Rationalismus ohnehin nicht möglich. Damit stellt er sich in Widerspruch zu gesellschaftskritischen Konzeptionen, die Idealbilder gesellschaftlicher Entwicklung in ihren Erkenntnisanspruch einbauen. Popper visiert dagegen eine Form der Veränderung durch schrittweise Entwicklungen an: schlechte Lösungen/Erkenntnisse können erkannt und verbessert werden. Mit dem Falsifikationsprinzip wird ein normatives Idealmodell aufgestellt, wie empirische Wissenschaft forschungslogisch funktionieren soll. Methodologisch an den Naturwissenschaften orientiert folgt man einem deduktiv-nomologischen Modell, das allgemeine Gesetzmäßigkeiten und deterministische Aussagen ohne raum-zeitliche Begrenzungen als Erkenntnistypus favorisiert. Auf ein solches Modell wurde von Popper (1935) bereits im Werk „Logik der Forschung“ Bezug genommen und Ende der 40er Jahre von Hempel und Oppenheim („HO-Schema“) weiter fundiert. Dabei wird eine Hypothese in der Weise formuliert, dass aus einem Gesetz und dessen Randbedingungen (Explanans) ein erklärender Satz (Explanandum) abgeleitet werden kann. Forschung soll aus der Sicht Poppers nicht – so eine Grundüberlegung – bei der Sammlung von Beobachtungen und Daten beginnen. Problemlösungen, sei es im Bereich von Armut, Analphabetentum oder sozialer Ungleichheit, sind der Zielpunkt, an dem das notwendige Wissen anhand von Wahrnehmungen entwickelt und die Theorien wiederholt durch nachvollziehbare Prozesse der Beobachtung und Experimente überprüft werden sollen. Erkenntnisse sind gültig, solange sie den ausgesetzten Falsifikationsversuchen widerstehen. Es genügt nach Popper nicht, Wahrnehmungen anzuhäufen, sondern verweist darauf, dass Induktion nicht möglich ist und die einzige gültige Forschungslogik deduktiv sein muss. Diese Forschungslogik liegt der quantitativen, hypothesentestenden Sozialforschung mit den statistischen Prüfmethoden zugrunde. Deduktion bedeutet, aus einem allgemeinen Gesetz bzw. Axiom auf den Einzelfall zu schließen. Anhand eines bereits vorhandenen Gesetzes wird der besondere Fall erklärt. Zum Beispiel: Kinder mit frühem Elternverlust haben psychische Probleme (Gesetz). Dieses Kind hat einen Elternteil frühzeitig verloren (Prämisse). Dieses Kind hat psychische Probleme (Schluss). Induktion bedeutet, auf der Basis einer oder mehrerer Aussage(n) zu verallgemeinern, also vom Besonderen im Einzelfall auf allgemeine Gesetze zu schließen. Ausgangspunkt sind Wahrnehmungen der empirischen Realität. Zum Beispiel: Dieses Kind hat einen Elternteil verloren (Aussage). Dieses Kind hat psychische Probleme (Aussage). Kinder mit frühem Elternverlust haben psychische Probleme (Schlussfolgerung).

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Eine Wissenschaft müsste sich nach Popper besonders darum bemühen, ihre Theorien wiederholt zu prüfen und in Frage zu stellen. Aussagen müssen – folgt man dieser Denkweise – nicht nur durch Vernunft angeleitet werden, sondern insbesondere auf einer deduktiven Prüflogik basieren. Voraussetzung dafür ist eine „offene Gesellschaft“ und mündige Bürger, die dogmatischen Ideologien mit Vorsicht gegenüberstehen. Der grundsätzliche Anspruch Poppers und des Kritischen Rationalismus erscheint sich gerade in diesem Punkt besonders zu zeigen: Aussagen können nicht dadurch überprüft werden, dass sie mit bestimmten Theorien, religiösen Auffassungen oder Ideologien legitimiert werden. Alleine systematisches und intersubjektiv nachvollziehbares empirisches Testen von Sätzen und Theorien anhand der erfassbaren Realität haben stattzufinden. Damit ist eine Trennung zwischen Theorien/Hypothesen und empirischen Beobachtungen, die zur Prüfung dienen, verbunden. Solche empirischen Erkenntnisse seien dann nicht in bereits gefestigten Diskurslinien verfangen und ließen sich bei mangelnder Bewährung wieder verwerfen. So wird von einer evolutionären, schrittweisen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis auf der Basis kritisch-deduktiver Prüfung von Aussagen ausgegangen („Fortschrittsglaube“). Mit einer gewissen Vorsicht bedacht, werden folglich Erkenntnisse nur als vorläufig gültig gesehen, ohne dass dabei relativistische Perspektiven oder Vorstellungen von einer beobachterabhängigen Realität vertreten wären. Haltbar sind also Erkenntnisse über das Prinzip der Falsifikation, nicht der Verifikation. Quantitative Forschung findet sich in dieser Vorstellung einer Falsifikation von Hypothesen, die aus Theorien deduziert werden, wieder (auch wenn Forschungsdesigns der quantitativen Sozialforschung sich nicht darauf beschränken). Sie prüft die in der konkreten Forschungsanordnung aufgestellten Null- und Alternativhypothesen mit statistischen Testverfahren. Mit Hypothesen wird also von einer kausal erklärbaren sozialen Welt ausgegangen, deren Gültigkeit geprüft wird. Um eine empirische Prüfung möglich zu machen, müssen sich Aussagen auf Gegebenes bzw. Erfahrbares beziehen und die verwendeten Begriffe empirisch fassbar sein. Das Messbarmachen von Begriffen über Operationalisierungen ist in diesem Zweig empirischer Sozialforschung ein zentraler Vorgang.

1.4.4 Vorbehalte gegenüber dem Kritischen Rationalismus Kritik am Kritischen Rationalismus kann immanent oder exmanent geübt werden. Immanent ist zunächst der Vorgang der konkreten Falsifikation in mehreren Punkten zu bemängeln (vgl. Slunecko, 2012): • Zum einen betrifft es die Frage, unter welchen Prämissen eine Theorie aufgegeben werden soll – bereits nach ihrer Widerlegung oder erst, wenn eine bessere Erklärung vorhanden ist. Popper weist zwar die dogmatische Form der Falsifikation zurück, nimmt aber zu dieser Frage nicht Stellung. Gleichfalls verweisen Kritiker_innen darauf, ob für die Prüfung von Theorien nicht auch zum Teil induktive Vorgangsweisen notwendig wären.

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• Ein zweiter Punkt betrifft die Rückführbarkeit von (statistischen) Ergebnissen auf die Theorie. Insbesondere bei komplexen Operationalisierungen und Testanordnungen ist erst zu entscheiden, welche Teile der Theorie letztendlich durch die Falsifikation zu verwerfen sind oder ob die Theorie aufgrund der spezifischen Randbedingungen abzulehnen ist. • Kritisch einzustufen ist, dass Beobachtungen und Theorien zirkulär verbunden sind. Erst mit der Theoriewahl und der aufgestellten Hypothesen wird über die notwendigen Daten und Wahrnehmungen in der Falsifikation entschieden. Würden Entscheidungen über Theorien anders fallen, würden Phänomene anders sichtbar und überprüfbar werden (vgl. Slunecko, 2012). Interpretative (qualitative) Sozialforschung vertritt daher die Ansicht, dass deduktive Forschungslogik dazu führt, dass mit der Prädetermination im Bereich der Hypothesenentwicklung die Relevanzen ausgehend von Akteur_innen und sozialen Feldern nicht ausreichend berücksichtigt werden. Je nach (wissenschafts-)theoretischer Denkweise sind am Kritischen Rationalismus noch weitere Punkte als problematisch einzustufen. Diese verweisen gleichzeitig auf alternative Positionen in der Wissenschaftstheorie: • Bezieht man sich auf soziale Realität, die autopoietischen und nicht nomologischen (gesetzmäßigen) Charakter hat, dann müssen konnotative Theorien entwickelt werden, welche die komplexen Strukturen sozialer Gebilde abbilden können und sie nicht statistisch reduzieren (vgl. Schülein & Reitze, 2005). Konnotative Theorien berücksichtigen einerseits den autopoietischen Charakter sozialer Realität, andererseits den Aspekt, dass der/die Forscher_in in der sozialen Realität steht und selbstreflexiv tätig sein muss. • Die Abgrenzung von Popper zu historisch-materialistischen und dialektischen Analysen zieht eine (ahistorische) Vorstellung von sukzessiver Wissenschaftsentwicklung („step-by-step“) nach sich. Dem ist nach Kuhn (1967) zu widersprechen. Auf Basis von wissenschaftshistorischen Analysen vertritt er, dass sich wissenschaftliche Aktivität im Rahmen anerkannter Paradigmen vollzieht, die sich aber von Zeit zu Zeit verändern. Darunter sind umfassende Leitvorstellungen theoretischer und methodischer Provenienz zu verstehen. Sie werden nicht ständig transformiert, doch erfolgen immer wieder revolutionäre Ablösungen. Wissenschaftliche Entwicklung ist vor diesem Hintergrund nicht als ständiger, stetiger Fortschritt zu verstehen, sondern vollzieht sich im Rahmen von Paradigmen, die sich transformieren. • Der Kritische Rationalismus setzt seinen erkenntnistheoretischen und -logischen Schwerpunkt auf die Frage der Prüfung und Falsifikation von Ergebnissen. Der Bereich, wie Hypothesen überhaupt entdeckt werden sollen, wird – wie die qualitative Sozialforschung kritisch anführt – ausgeklammert. Insofern wird dem Kritischen Rationalismus mit der Deduktion ein „wissenskonservierendes“ (und kein „wissenserweiterndes“) Vorgehen zugeschrieben. • (Selbst-)Kontrolle durch permanente Falsifikation kann zwar als ein erstrebenswertes Ideal anzusehen sein, müsse jedoch in der Praxis erst umfassend angewandt werden (vgl. Slunecko, 2012). Konkurrenz um Anerkennung,

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Knappheit an Ressourcen, Machtverteilung und prioritäre Stellung von Diskursen bedingen, dass das Falsifikationsprinzip in der Praxis nicht umfassend angewandt wird. Schon der Wissenschaftspluralismus bedingt, dass wissenschaftsexterne, soziale Faktoren der Wissenschaft (z.B. „Schulenbildung“) neben Argumenten und Daten zu berücksichtigen sind. • Vertreter eines methodischen „anything-goes“ (Feyerabend, 1986) verweisen darauf, dass nicht das Einhalten von methodischen (Prüf-)Regeln zu bedeutenden, neuen Erkenntnissen in der Wissenschaftsgeschichte geführt hat. Innovative, neuartige Methoden, die nicht den in der Wissenschaft gültigen Regeln entsprechen, könnten daher durchaus wichtige Erkenntnisse liefern.

1.4.5 Kritischer Rationalismus vs. Kritische Theorie oder der „Positivismusstreit“ Zu Beginn der 60er Jahre entbrannte bei einer soziologischen Tagung in Tübingen eine bereits länger bestehende wissenschaftstheoretische Kontroverse. Popper und Adorno referierten über ihre Denkweise zur „Logik der Sozialwissenschaften“. Die Referate weiteten sich zu einem Konflikt aus, der als „Positivismusstreit“ in die Wissenschaftsgeschichte einging. Popper wies dabei die Zuschreibung der Kritischen Theorie zurück, seine Strömung sei (neo-) positivistisch, begründe er doch seine Rechtfertigungslogik nicht ausschließlich wissenschaftsimmanent. Die Problemlösungskapazität von Erkenntnissen habe genauso eine Bedeutung. Positivistisches Denken (z.B. von John Stuart Mill und August Comte) nimmt die Vorstellung zum Ausgangspunkt, dass soziale Realität gleichförmig und kausal wie die Natur aufgebaut und Logik in der Methodik ein wesentlicher Baustein sei. Nomothetische Erklärungen auf der Basis von deterministischen oder probabilistischen (quantifizierenden) Aussagen müssten im Zentrum stehen. Vorrangig besteht aus dieser Sicht die Notwendigkeit, sich dem „Positiven“, dem tatsächlich Gegebenen als Quelle der Erkenntnis zuzuwenden – etwas, das dem Kritischen Rationalismus nahe steht. Dementsprechend wird das Nicht-Metaphysische, die beobachtbaren „Tatsachen“ und in Messwerte abbildbaren Gesetzmäßigkeiten naturwissenschaftlicher Postulate zum Aushängeschild „gültiger“ Erkenntnis. Auf dieser Basis entwickelte sich eine Wissenschaftsausrichtung, die etwa – um nur einige Phänomene zu nennen – unbewusste bzw. latente, soziale oder biografische Strukturen kaum bearbeitbar macht. Die Überlegungen stellen intersubjektive Nachprüfbarkeit, Exaktheit und einheitliche Gütekriterien zwischen Natur- und Sozialwissenschaften in den Mittelpunkt. Weiterentwickelt hat sich der Positivismus in den 20er Jahren durch den Wiener Kreis, der sich besonders auf die Verifizierbarkeit und Logik bzw. Mathematik bezogen hat. Popper wahrte Distanz zu den Vertretern dieser wissenschaftstheoretischen Ausrichtung, er selbst hatte seinen Entwurf gerade in Abwendung vom „Logischen Empirismus“ (des Wiener Kreises) als „Kritischen Rationalismus“ benannt.

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