Grundfragen der Ontologie

Grundfragen der Ontologie Was ist? Was heißt ‚sein‘? Was heißt es ‚zu sein‘? © Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003 1 Quine „das ‚Probl...
Author: Gerda Kramer
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Grundfragen der Ontologie Was ist? Was heißt ‚sein‘? Was heißt es ‚zu sein‘?

© Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003

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Quine

„das ‚Problem der Ontologie‘ kann mit drei (...) Worten beschrieben werden: ‚was gibt es?‘. Mehr noch, es kann mit einem einzigen Wort beantwortet werden: ‚alles‘ - und jeder würde diese Antwort als wahr akzeptieren.“ Quine, On what there is

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Quine „Die quantifizierten Variablen , , haben die gesamte Ontologie als Gegenstandsbereich, egal, woraus sie besteht: und wir sind dann und nur dann auf eine bestimmte ontologische Voraussetzung festgelegt, wenn das augenscheinlich Vorausgesetzte zu den Entitäten, die zum Gegenstandsbereich unserer Variablen gehören, gerechnet werden muss, damit sich eine unserer Aussagen als wahr ergibt.“ Quine, On what there is

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Motive der Ontologie

Objektivität

Sein unserer Selbst

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Der Riesen-Streit über das Sein

„cicamtolaxia oeqi tgs ourias“ (gigantomachía peri tês ousías) Platon, Sophistes 246 a

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Das Ökonomieprinzip der Ontologie: ‚Ockhams Rasiermesser‘ (Occam‘s Razor)

Pluralitas non est ponenda sine necessitate! Ockham, Ordinatio lib. 1 prol. q. 1 OT 1,74, Z.22 (wörtl.: Ohne Notwendigkeit ist eine Vielzahl nicht anzunehmen!)

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Motive der Ontologie

Sinne von ‚Sein‘

Objektivität

Objektive Gegebenheit → Begriff moderne analytische Philosophie (Molekül 1)

Sein unserer Selbst

Wirklichkeit → Dinge Antike, Mittelalter, Gegenwart (Molekül 2)

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Platon

„Ich sage also, was nur irgendeine Wirkkraft (dumalis) besitzt, es sei denn ‚von Natur irgendetwas anderes zu tun‘ (ooieim) oder wenn auch nur das geringste vom unbedeutendsten zu erleiden - und wäre es auch nur ein einziges mal -, alles in exakter Weise sei (omtus eimai); denn ich setze als Definition (Grenze), um das Seiende in seinem Sein abzugrenzen, nichts anderes als Wirkkraft (dumalis).“ Platon, Sophistes 247d-e

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Aristoteles „Die Wirklichkeit meint das Sein [oder Stattfinden: to uoaqxeim] für die Sache freilich nicht so, wie wir ‚dem Vermögen (dumalis) nach‘ begreifen. Dem Vermögen nach aber begreifen wir z.B. im Holz den Hermes und im Ganzen die Hälfte (dass sie weggenommen werden könnte), sodann einen Wissenden und gerade nicht einen Untersuchenden, wenn er fähig ist (dumalis) zu untersuchen; das jeweils andere ist der Wirklichkeit ( emeqceia) nach [...]. Daher darf man nicht für alles eine (gemeinsame) Definition suchen, sondern muss das Analoge zusammenschauen...“ Aristoteles, Metaphysik IX 6. 1048 a 30-37

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Kleine Historie der ‚Leerheit‘ des Seins

• Aristoteles (384-324 v. Chr.) • Anselm von Canterbury (1033-1109) • Thomas von Aquin (1225-1274) • Leibniz, G. W. (1646-1716) • Hume, David (1711-1776) • Kant, Immanuel (1724-1804)

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Aristoteles

„Das Sein oder Nicht-Sein ist nämlich noch kein bedeutungshaltiges Zeichen der Sache [von der es gesagt wird], auch dann nicht, wenn man das ‚seiend‘ an sich selbst nackt sagen würde; denn es selbst ist gar nichts, sondern bezeichnet eine gewisse Verbindung [zu etwas] hinzu, welche ohne das Verbundene nicht zu denken ist.“ Aristoteles: De interpretatione 3. 16b 20-25

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Leibniz

„Wenn Existenz etwas anderes als ein [allgemeines und auf alles zutreffendes] Drängen des Essenz wäre, so würde folgen, dass sie selbst eine Essenz hätte oder den Dingen irgendetwas hinzufügte, von dem wiederum gefragt werden kann, ob diese Essenz existiert oder nicht.“ Leibniz: De veritatibus primis in: Werke Bd.I [ed. Holz], S.176 Fn.

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Hume „Die Vorstellung der Existenz muss also genau dasselbe sein wie die Vorstellung dessen, was wir als existierend konzipieren. Sich in der Reflexion auf irgend etwas einfach zu beziehen und sich dabei auf Existierendes zu beziehen, sind nicht zwei verschiedene Dinge. Die Vorstellung der Existenz fügt, wenn sie mit der Vorstellung eines beliebigen Gegenstandes verbunden ist, nichts zu ihr hinzu. Was immer wir vorstellen, stellen wir als existierend vor. Jede Vorstellung, die es uns beliebt zu vollziehen, ist eine Vorstellung von etwas Seiendem. Wer dies bestreitet, muss notwendig auf den bestimmten Eindruck hinweisen können, aus dem die Vorstellung des Seins sich herleiten könnte, und zeigen, dass dieser Eindruck von jeder Perzeption, die wir als existierend betrachten, untrennbar ist.“ Hume: Treatise dt. 91; engl. 67

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Hume

„So gewiß jeder Eindruck und jede Vorstellung, deren wir uns erinnern, als existierend betrachtet wird, so gewiß ist die Vorstellung der Existenz nicht von irgend einem besonderen Eindruck abgeleitet.“ Hume: Treatise dt. 90f.; engl. 66f.

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Anselm von Canterbury: der ontologische Gottesbeweis Quod vere sit Deus „(Deus est)...aliquid quo nihil maius cogitari possit“ (Gott ist etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.) „Si enim vel in solo intellectu est, potest cogitari quod maius est.“ (Wäre es nämlich [das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann] nur im Verstande, dann könnte gedacht werden, daß es [auch] in Wirklichkeit sei. Dies aber wäre größer.) Anselm: Proslogion Kap. 2

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Kant „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, das ist ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzu kommen könnte. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauch ist es lediglich die Kopula eines Urteils. Der Satz „Gott ist allmächtig“ enthält zwei Begriffe, die ihre Objekte haben: Gott und Allmacht; das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädikat sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise auf das Subjekt setzt [also an ihm hervorhebt oder zur Abhebung bringt]. Nehme ich nun das Subjekt (Gott) mit all seinen Prädikaten (worunter auch die Allmacht gehöret) zusammen und sage: Gott ist, oder es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädikat zum Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf einen anderen]. Beide müssen genau einerlei enthalten, und es kann daher zu dem Begriffe, der bloß die Möglichkeit ausdrückt, darum, dass ich dessen Gegenstand als schlechthin gegeben (durch den Ausdruck: er ist) denke, nichts weiter hinzukommen. Und so enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche.“ Kant: Kritik der reinen Vernunft B 627f. A 599f. © Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003

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Problematische Züge von ‚Sein‘ ¬ Behauptung der Existenz von etwas scheint gar nichts auszusagen. Aristoteles, Leibniz, Hume, Kant

- Verneinung der Existenz von etwas scheint hingegen signifikant für die Welt zu sein. ® Existenz ist kein mögliches Merkmal, das zum Begriff einer Sache hinzutreten kann. Leibniz, Kant ¯ Andernfalls müsste man auch von diesem Merkmal wieder fragen, ob es existiert oder nicht. Leibniz

° Wenn doch, so könnte man Dinge durch einen Begriff von ihnen erschaffen. Hume

± Ob einem Begriff ein existierender Gegenstand entspricht oder nicht, scheint nicht ohne Erfahrung beurteilbar zu sein. Kant

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Thomas von Aquin

„Das, was der Intellekt zuerst als sozusagen Bekanntestes (quasi notissimum) begreift, und worein er alle Begriffe auflöst, ist das Seiende. [...] Daher ist es nötig, dass der Intellekt alle anderen Begriffe annimmt aufgrund einer Hinzufügung zum ‚Seiend‘. Aber dem Seienden kann nichts hinzugefügt werden als sozusagen externe Beschaffenheit (natura) in der Weise, wie eine Differenz hinzugefügt wird zum Genus, sondern wie ein Akzidenz zum Subjekt, weil jede beliebige Natur wesentlich ‚seiend‘ ist (quia quaelibet natura essentialiter est ens). Thomas: De veritate I1

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Frege „Wenn man dem Worte ‚Sein’ einen Inhalt geben will, so, daß der Satz ‚A ist’ nicht überflüssig und selbstverständlich ist, wird man dazu genötigt, zuzugeben, daß die Verneinung des Satzes ‚A ist’ unter Umständen möglich ist; d.h. daß es Subjekte gibt, denen das Sein abgesprochen werden muß. Dann aber ist der Begriff des ‚Seins’ nicht mehr allgemein geeignet, zur Erklärung des ‚es gibt’ zu dienen in der Weise, daß ‚es gibt B’s’ gleichbedeutend ist mit ‚einiges Seiende fällt unter den Begriff B’; denn wenden wir diese Erklärung an auf den Satz ‚Es gibt Subjekte, denen das Sein abgesprochen werden muß’, so erhalten wir ‚Einiges Seiende fällt unter den Begriff des Nichtseienden’ oder ‚Einiges Seiende ist nicht’.“ Frege: Dialog mit Pünjer; Freges Nachwort, S.19f

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Kleine Historie der ‚Leerheit‘ des Seins Aristoteles

Die Aussage ‚etwas existiert‘ besagt im Grunde gar nichts.

Anselm von Canterbury

ontologischer Gottesbeweis (‚Sein in Wirklichkeit’ fügt zur Vollkommenheit quasi noch etwas hinzu.) Das Seiende („ens“) als das Bekannteste („notissimum“)

Thomas von Aquin

Leibniz

Dilemma (Wenn ‚etwas existiert‘ etwas besagen würde...)

Hume

„Was immer wir vorstellen, stellen wir als existierend vor.“

Kant

„Sein ist kein reales Prädikat.“ (ontologischer Gottesbeweis funktioniert nicht!)

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit

Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Quine „Wie können wir uns nun zwischen rivalisierenden Ontologien begründet entscheiden? Die Antwort kommt nun gewiß nicht von der semantischen Formel ‚Sein heißt Wert einer Variablen sein‘; diese Formel dient im Gegenteil nur dazu, die Konformität einer bestimmten Aussage oder Doktrin mit einem vorgängigen ontologischen Standard zu überprüfen. Im Zusammenhang mit der Ontologie schauen wir nicht nach gebundenen Variablen zum zu erfahren was es gibt, sondern um zu erfahren, was eine bestimmte Aussage oder Doktrin, sei es eine eigene oder die eines anderen, sagt, daß es gebe; und insoweit haben wir es ganz regulär mit einem Problem der Sprache zu tun. Doch die Frage, was es gibt, ist eine andere. Auch in der Debatte darüber, was es gibt, haben wir noch Gründe, auf der semantischen Ebene zu operieren.“ [...] „Ein weiterer Grund, sich auf die semantische Ebene zurückzuziehen, besteht darin, daß wir dann eine gemeinsame Grundlage für unsere Debatten erhalten. Fehlende Übereinstimmung hinsichtlich der Ontologie beinhaltet grundlegende Verschiedenheit der Begriffsschemata;[...]“ [...] „Es ist damit dann nicht erstaunlich, daß ontologische Kontroverse zum Umschlagen in Kontroverse über Sprache tendiert. Wir dürfen nun jedoch nicht zu dem Schluß eilen, daß es von Wörtern abhängt, was es gibt. Die Übersetzbarkeit eines Problems in semantische Begriffe deutet nicht darauf, daß das Problem selbst ein sprachliches ist. Wer oder was auch immer Neapel sieht, hat den einen oder anderen Namen; und wenn wir diesen Namen den Worten ‚sieht Neapel‘ voranstellen, erhalten wir einen wahren Satz; trotzdem ist nichts Sprachliches daran, daß jemand Neapel sieht.“ Quine, Was es gibt, S.22f © Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003

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Quine „To be is to be the value of a bound variable.“ („Sein heißt der Wert einer gebundenen Variable zu sein.“) Quine, Was es gibt, S.15

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Existenzanalyse nach Quine Jede Existenzaussage entspricht einem ‚ontological commitment‘. „(...) eine Theorie [oder Diskursform] ist auf die und nur die Entitäten festgelegt, auf die die gebundenen Variablen der Theorie referieren können müssen, damit die Aussagen der Theorie wahr sind.“ Quine, Was es gibt, S.20

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Formen der Existenz generelle Existenz Monde existieren.

Es gibt/existiert etwas derart, dass es ein Mond ist. (Einige Himmelskörper sind Monde.) Es gibt/existiert etwas singuläre Existenz Der Mond existiert. derart, dass es Mond der Erde ist. Und nichts anderes ist Mond der Erde. Hexen Nicht es gibt/existiert generelle existieren nicht. etwas derart, dass es Nichtexistenz eine Hexe ist. (Kein weiblicher Mensch ist eine Hexe.) Der Teufel Nicht es gibt/existiert singuläre existiert nicht. etwas derart, dass es Nichtexistenz Fürst der Hölle ist. Und wenn etwas Fürst der Hölle ist, dann ist nichts anderes Fürst der Hölle.

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Formulierung der Existenz Dazu nötig: • Quantoren / gebundene Variablen z.B. ‚etwas‘, ‚jeder‘, ‚einige‘, ‚alle‘, ‚nichts’ • Prädikate / Klassen • Bereich von objektiven Gegenständen

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Frege „Die Anwendbarkeit dieses Verfahrens setzt voraus, daß man den Begriff in zwei Merkmale zerlegen könne. (...) Für den Satz ‚Es gibt Birken‘ müßte man einen anderen übergeordneten Begriff, etwa ‚Baum‘ wählen. Wenn man die Sache ganz allgemein machen will, muß man einen Begriff aufsuchen, der allen Begriffen übergeordnet ist. Ein solcher Begriff, wenn man es so nennen will, kann gar keinen Inhalt mehr haben, indem sein Umfang grenzenlos wird; denn jeder Inhalt kann nur in einer gewissen Beschränkung des Umfangs bestehen. Als solchen Begriff könnte man den des ‚Sich selbst gleichen‘ wählen, in dem man sagte ‚ Es gibt Menschen‘ ist dasselbe wie ‚Es gibt sich selbst gleiche Menschen‘ ist dasselbe wie ‚Einige Menschen sind sich selbst gleich‘ oder ‚Einiges sich selbst gleiche ist Mensch‘.“ Frege: Dialog mit Pünjer; Freges Nachwort, S.16

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Frege „Wenn aber der Inhalt der Aussage des Urteils ‚Menschen existieren’ nicht in dem ‚Existieren‘ liegt, wo liegt er dann? Ich antworte in der Form des partikulären Urteils. Jedes partikuläre Urteil ist ein Existentialurteil, das in die Form mit ‚es gibt‘ umgesetzt werden kann. Z.B. ‚Einige Körper sind leicht‘ ist dasselbe wie ‚Es gibt leichte Körper‘. ‚ Einige Vögel können fliegen‘ ist dasselbe wie ‚ Es gibt Vögel, die nicht fliegen können‘ usw. Schwieriger ist es, umgekehrt ein Urteil mit ‚ es gibt‘ in ein partikuläres umzusetzen. Das Wort ‚einige‘ hat außer dem Zusammenhange keinen Sinn; es ist ein Formwort wie ‚alle‘, ‚jeder‘, ‚keine‘ usw. [d.h. die Quantoren], das im Zusammenhange des Satzes eine logische Funktion auszuüben hat. Diese besteht darin, daß es zwei Begriffe in eine gewisse logische Beziehung zu setzen hat. In dem Satze ‚Einige Menschen sind Neger‘ werden die Begriffe ‚Mensch‘ und ‚Neger‘ in diese Beziehung gesetzt. Man hat also immer zwei Begriffe nötig, wenn man ein partikuläres Urteil bilden will.“ Frege: Dialog mit Pünjer; Freges Nachwort, S.13f

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Frege „Es ist ja Bejahung der Existenz nichts anderes als Verneinung der Nullzahl. Weil Existenz Eigenschaft des Begriffes ist, erreicht der ontologische Beweis von der Existenz Gottes sein Ziel nicht. Ebensowenig wie die Existenz ist aber die Einzigkeit Merkmal des Begriffes „Gott“. Die Einzigkeit kann nicht zur Definition dieses Begriffes gebraucht werden, wie man auch die Festigkeit, Geräumigkeit, Wohnlichkeit eines Hauses nicht mit Steinen, Mörtel und Balken zusammen bei seinem Baue verwenden kann. Man darf jedoch daraus, dass etwas Eigenschaft eines Begriffes ist, nicht allgemein schliessen, dass es aus dem Begriffe, d.h. aus dessen Merkmalen nicht gefolgert werden könne. Unter Umständen ist dies möglich wie man aus der Art der Bausteine zuweilen einen Schluss auf die Dauerhaftigkeit eines Gebäudes machen kann. Daher wäre es zu viel behauptet, dass niemals aus den Merkmalen eines Begriffes auf die Einzigkeit oder Existenz geschlossen werden könne; nur kann dies nie so unmittelbar geschehen, wie man das Merkmal eines Begriffes einem unter ihn fallenden Gegenstande als Eigenschaft beilegt. Es wäre auch falsch zu leugnen, dass Existenz und Einzigkeit jemals Merkmale von Begriffen sein könnten. Sie sind nur nicht Merkmale d e r Begriffe, denen man sie der Sprache folgend zuschreiben möchte. Wenn man z.B. alle Begriffe, unter welche nur ein Gegenstand fällt, unter einen Begriff sammelt, so ist die Einzigkeit Merkmal dieses Begriffes. Unter ihn würde z.B. der Begriff „Erdmond“, aber nicht der sogenannte Himmelskörper fallen. So kann man einen Begriff unter einen höheren, so zu sagen einen Begriff zweiter Ordnung fallen lassen. Dies Verhältnis ist aber nicht mit dem der Unterordnung zu verwechseln“ Frege, Grundlagen der Arithmetik S.64f.

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Existenzanalyse nach Frege Dilemma: - entweder: Existenz kann nicht ohne Widerspruch verneint werden. - oder: Es gibt Seiendes, das nicht seiend ist.

Lösung: Existenz als Eigenschaft von Begriffen! oder: Begriff zweiter Stufe

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Frege „Wenn man dem Worte ‚Sein’ einen Inhalt geben will, so, daß der Satz ‚A ist’ nicht überflüssig und selbstverständlich ist, wird man dazu genötigt, zuzugeben, daß die Verneinung des Satzes ‚A ist’ unter Umständen möglich ist; d.h. daß es Subjekte gibt, denen das Sein abgesprochen werden muß. Dann aber ist der Begriff des ‚Seins’ nicht mehr allgemein geeignet, zur Erklärung des ‚es gibt’ zu dienen in der Weise, daß ‚es gibt B’s’ gleichbedeutend ist mit ‚einiges Seiende fällt unter den Begriff B’; denn wenden wir diese Erklärung an auf den Satz ‚Es gibt Subjekte, denen das Sein abgesprochen werden muß’, so erhalten wir ‚Einiges Seiende fällt unter den Begriff des Nichtseienden’ oder ‚Einiges Seiende ist nicht’.“ Frege: Dialog mit Pünjer; Freges Nachwort, S.19f

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4 ‚Untersinne‘ von Sein • Sein qua Existenz •Sein qua Prädikation •Sein qua Identität •Sein qua Wahrheit

Objektive Gegebenheit

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‚analogia entis‘ nach Aristoteles Das Seiende • ist weder ein ‚univoker‘ Oberbegriff • noch ein ‚äquivoker‘ Begriff • sondern die 4 Grundsinne von Sein können jeweils nur in ihrer Verflechtung mit den anderen erklärt werden!

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‚analogia entis‘ nach Aristoteles Die Kategorien (grundlegende Aussageweisen) von Sein • Substanz

Grundlegende Kategorie

• Quantität • Qualität • Relation

Nachgeordnete Kategorien

• Haltung (Habitus) • Tun • Leiden • Ort • Zeit • So-liegen

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‚analogia entis‘ ontologisches Molekül des Aristoteles ‚Sein‘ hat einen Zentralsinn (‚Focal meaning‘):

Akzidentelle Bestimmung

Wahrsein - Falschsein

Substanz

Wirklichkeit - Möglichkeit

Kategoriale Bestimmungen

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

Wahrheit

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• das ‚logische Gegenstück‘ des Seins: •Korrespondenzanspruch (unserer Erkenntnisse mit den davon unabhängigen Fakten)

•Kohärenzanspruch (der Sätze und Aussagen einer Theorie)

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

Prädikation

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• Nichts existiert, von dem nicht irgendein Prädikat, irgendeine Bestimmung wahr ausgesagt werden kann. • Auf Existierendes beziehen wir uns immer nur indirekt via der Prädikate (die von ‚etwas‘ erfüllt werden oder nicht). • Prädikate / Begriffe haben die logische Natur des Allgemeinen. • Innere Differenz des Seins: • prädikativ-allgemeiner Aspekt • substantiv-einzelner Aspekt

Prädikation: Das Blatt ist grün.

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

Identität

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Was existiert, muss eine klare Identität haben: • Aussagenförmliche Kennzeichen • zweistelliges Prädikat (Gleichung /

zweistellige Aussageform) • Umkehrbarkeit • Identität qua Identifizierbarkeit /

Wiedererkennbarkeit •„no entity without identity“ (Quine) • Gegenstandsformale Erfordernisse der

Identifizierbarkeit: • Unterscheidbarkeit • individuelle Geschlossenheit • vollständige Bestimmtheit

Identitätsaussage: Neun ist die Zahl der Planeten im Sonnensystem. © Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003

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Quine „No entity without identity!“ (Keine Entität ohne Identität!) Quine, Ontological relativity S. 23

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität Identifizierbarkeit • individuierende Termini (=sortale Begriffe): Bedeutung mit Identitätskriterien für individuell geschlossene (einzelne) Fälle verknüpft. • kontinuative Termini (Eigenschaftsworte und Massentermini): - Kriterien der Unterscheidung von anderem (=Merkmale) - keine Kriterien der Wiedererkennung eines einzelnen Falles gegenüber anderen Fällen

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität

Unterscheidbarkeit: Von allem artverschiedenen und artgleichen prädikativ unterscheidbar. z.B.: Ein bestimmter Mensch ist unterschieden sowohl von allen anderen Lebewesen als auch von allen anderen Menschen. Im Kontrast: Zitronengelb ist unterscheidbar von jeder anderen Farbschattierung, aber nicht von anderen Fällen von Zitronengelb.

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität

Individuelle Geschlossenheit: Kein Teil eines Falles der Sorte ist wiederum ein Fall derselben Sorte. z.B. Kein Apfel-Teil ist wiederum ein Apfel.

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität vollständige Bestimmtheit: In Bezug auf jedes Prädikat muss entschieden sein, ob der identifizierbare Gegenstand es enthält oder nicht. z.B. Ist die Kuh Audumla ein Wiederkäuer? - Ja. Im Kontrast: Ist Pegasus ein Wiederkäuer? - ???

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität Probleme mit Identifizierbarkeit: • ‚Leibniz‘ Gesetz der Identität‘: wenn a = b; dann hat b dieselben Eigenschafte wie a. (a und b sind salva veritate in allen Kontexten füreinander einsetzbar.) • Problem der diachronischen Identität: (Wie kann, was eine Veränderung durchmacht, z.B. ein Mensch, hinterher dasselbe sein wie vor der Veränderung?) • Problem der konkreten Identität: (Wie kann ein und derselbe Mensch zugleich eine Vielzahl verschiedener Körperteile sein?)

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität zwei extreme Pole • Leibniz‘ Gesetz: identitas indiscernibilium (wenn a = b, dann sind a und b ununterscheidbar) • Identität als relativer Begriff (Geach): (‚dasselbe‘ immer nur in Relation zu einem Begriff z.B. dasselbe F oder dasselbe G – nicht: dasselbe Ding oder Individuum) Ausgleich These der sortalen Dependenz von Identität, Individualität und Existenz

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Ontologisches Molekül 1 - Sein als objektive Gegebenheit Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

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Identität sortale Dependenz von Identität, Individualität und Existenz (Wiggins): a = b genau dann, wenn es einen sortalen Begriff F gibt derart, dass 1. a und b einer Art (Sorte) von Dingen angehören, die die Extension von F ist (Extensionalität); und 2. zu sagen, dass x ein F ist, bedeutet zu sagen, was x seinem Wesen nach ist (Substantialität); und 3. a dasselbe F ist wie b oder unter F mit ihm koinzidiert (sortale Koinzidenz).

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 1. Problem der Unabhängigkeit dessen, was es gibt, von unserer Sprache (Quine) 2. Problem der Diagnose (Frege) 3. Problem der Entscheidbarkeit der fraglichen Existenz von irgendetwas 4. Problem der unscharfen Begriffe 5. Frege-Quine‘sche Analyse nur für eindeutige (uninteressante) Fälle brauchbar Problem der Existenz : - des Unbegreiflichen - des wesentlich Vagen - dessen, wozu unsere wissenschaftlichen Begriffe nicht reichen - von tiefgreifenden Wandlungen unterworfenen Entitäten 6. Redundanz des Existierenden gemäß unserer objektivitätstauglichen Begriffe

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 1. Problem der Unabhängigkeit dessen, was es gibt, von unserer Sprache (Quine) „Doch die Frage, was es gibt, ist eine andere.“ (Quine, Was es gibt. S.22) Ist Existenz wirklich nur eine Eigenschaft von Begriffen?

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 2. Problem der Diagnose (Frege) Existenzaussagen beziehen sich auf Begriffe, nicht auf die Dinge selbst. Sie diagnostizieren nur, was die Dinge jeweils sind. Können wir nicht bevor wir diagnostizieren, was ein Ding jeweils ist, einig darüber sein, dass es existiert?

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 3. Problem der Entscheidbarkeit der fraglichen Existenz von irgendetwas: Hinter jeder Existenzbehauptung verbirgt sich ein Allsatz. Allsätze über unendliche Gegenstandsbereiche sind aber unentscheidbar. Können wir alles, was es gibt, daraufhin untersuchen, ob es unter einen bestimmten Begriff fällt?

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 4. Problem der unscharfen Begriffe: z.B. Licht (Teilchen oder Welle?) Können solche unscharfen oder ‚nicht wohlgebildeten‘ Begriffe unter den Begriff 2. Stufe ‚Existenz‘ fallen? (Gerade hier wäre es ja interessant!)

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 5. Die Frege-Quine‘sche Analyse ist nur für eindeutige (uninteressante) Fälle brauchbar. Was ist mit dem Problem der Existenz : - des Unbegreiflichen (z.B. Gott) - des wesentlich Vagen (z.B. Mensch an der Schwelle des Todes) - dessen, wozu unsere wissenschaftlichen Begriffe nicht reichen (z.B. Seele eines Menschen) - von tiefgreifenden Wandlungen unterworfenen Entitäten (z.B. Personen)

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Das Ungenügen der Existenz qua objektiver Gegebenheit 6. Redundanz des Existierenden gemäß unserer objektivitätstauglichen Begriffe: Aus einem Gegenstand (z.B. ein Sandhaufen) lässt sich durch mehrere Begriffe eine Unzahl an objektiven Gegebenheiten machen (z.B. der Sandhaufen, die Sandkörner, die Mineralien, die Moleküle, die Atome etc.). Existieren alle diese Entitäten in gleicher Weise?

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Sein als objektive Gegebenheit

Identität Existenz

Wahrheit Prädikation

Sein als Wirklichkeit (actus / ejneärgeia)

Unterscheidbarkeit Existenz

Realität Relevanz

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Der ontologische Grundbegriff ‚Sein als Wirklichkeit‘ 1. Mit Existenz wird nichts Selbstverständliches ausgesagt. 2. Die Existenz kann widerspruchsfrei verneint werden. (Der 1. Sinn von Sein als objektiver Gegebenheit wird nämlich nicht ersetzt, sondern durch den 2. Sinn ergänzt!) 3. Es handelt sich bei der Existenz in diesem Sinn um einen Umstand, in dem sich (nicht alle im 1. Sinn objektiv gegebenen) Gegenstände befinden, nicht um eine Eigenschaft von Gegenständen. 4. Dieser Umstand kann objektiv wahr oder falsch ausgesagt werden. 5. Die Existenzzuschreibung erfolgt aufgrund einer rationalen, gedanklichen Operation: Wir denken uns in dieselbe Welt versetzt, in der das betreffende Wirkliche für unser Sein Relevanz besitzt. (indexikalischer Sinn von Sein)

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Die beiden Sinne von Sein objektive Gegebenheit

Wirklichkeit

Massenmittelpunkt der Erde

ja.

nein.

Zahlen

ja.

nein.

Pferde

ja.

ja.

Frage unmöglich, da kein geklärter Begriff ?

ja? (Zumindest ist die Frage nach seiner Existenz möglich!) ja.?

ja.?

ja.

ja.

?

Gott

Wirkung homöopatischer Mittel wir selbst Information /Bedeutung

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Sein als Wirklichkeit Wir müssen folgende Sachverhalte streng unterscheiden aber auch in ein eng verschränktes Verhältnis bringen: ‚was etwas ist‘ und ‚daß etwas ist‘

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57

Ontologisches Molekül 2 - Sein als Wirklichkeit (actus / ejneärgeia)

Unterscheidbarkeit Existenz

Realität Relevanz (für anderes Wirkliche)

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58

Ontologisches Molekül 2 - Sein als Wirklichkeit (actus / ejneärgeia)

Unterscheidbarkeit Existenz

Realität

Relevanz

Relevanz (für anderes Wirkliche)

Wirkliche Existenz von etwas erfordert: • Eine äußere oder innere Differenz von unterschiedlichen Aspekten und • Eine Relevanz- oder Stützungsbeziehung zwischen diesen. Alles Wirkliche, ist für das Sein von anderem Wirklichen relevant, d.h. stützt es in seinem Sein. (lat.: relevare - erleichtern)

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Aristoteles „Diejenigen aber, welche die mathematische Zahl als die erste ansehen, und so immer eine Wesenheit nach der anderen, und für jede andere Prinzipien setzen, machen die Wesenheit des Ganzen unzusammenhängend (denn die eine Wesenheit hat auf die andere durch ihre Existenz oder Nichtexistenz gar keinen Einfluß) und nehmen viele Prinzipien an.“ Aristoteles: Metaphysik, XII 10. 1076a 1-3 „Aber die Natur (vf v uäsi") ist doch offenbar nicht so ohne Zusammenhang (epeisodiwädh") wie eine elende Tragödie.“ Aristoteles: Metaphysik, XIV 3. 1090b 19f

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Ontologisches Molekül 2 - Sein als Wirklichkeit (actus / ejneärgeia)

Unterscheidbarkeit Existenz

Realität

Unterscheidbarkeit

Relevanz (für anderes Wirkliche)

Wirkliche Existenz von etwas erfordert: Unterscheidbarkeit oder ‚Bestimmtheit als etwas‘ (Verschränkung von: ‚was‘ und ‚daß‘) 1. aber: Kontrast: • 1. Seinssinn: Ausgang von einem Begriff – fällt etwas unter ihn, oder nicht? (Identität schon vorher vorhanden) • 2. Seinssinn: Ausgang von etwas im Umstand des Wirklichseins Also: Alles (Einzelne) muss zwar eine Identität haben. Aber wir können uns wegen der Vielschichtigkeit der Realität sehr leicht darüber täuschen. Deshalb sollte die Identität nicht der erste Schritt sein (erst kommt das ‚daß‘ – dann das ‚was‘). 2. aber: Nicht jedes Wirklich Existierende existiert als alles das, womit es kausale Relevanz hat! Aristoteles: Ein Mensch existiert (im 2. Sinne von Existenz) nicht als Nahrungsquelle für Mikroben (akzidenteller Aspekt), sondern als Mensch (substantieller Aspekt).

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Ontologisches Molekül 2 - Sein als Wirklichkeit (actus / ejneärgeia)

Unterscheidbarkeit Existenz

Realität

Realität

Relevanz (für anderes Wirkliche)

Was wirklich existiert, ist eine Realität: • Verschränkung von Daß-Sein oder Wirklichkeit (substantiver Aspekt) und Was-Sein oder Bestimmtheit (prädikativer Aspekt) • Wenn etwas einzelnes tatsächlich als dasjenige wirklich existiert (Daß-Sein), als das es sich uns durch manche Wirkungen auf anderes Wirkliche präsentiert (Was-Sein), ist es eine Realität - im Unterschied zum bloßen Schein. • Hier ist das Problem der Diagnose gelöst!

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Vor- und Nachteile der beiden Seinssinne

objektive Gegebenheit

Wirklichkeit

abrennende Kerze Lebewesen Bleibt es immer dieselbe Gibt es hier so etwas Kerze? wie eine diachronische Identität? Auch diese Frage Diese Frage nicht nicht möglich. möglich. (Wir haben nur (Wir haben Theorien mit Theorien über ontologischen bestimmte Festlegungen; aber nicht auf so etwas wie eine Geschehenssegemente am Lebewesen oder Kerze, die zu über Lebewesen zu verschiedenen jeweils nur einem Zeitpunkten dieselbe sein bestimmten könnte.) Zeitpunkt.) Es ist sowohl möglich, Diese Frage kann hier von immer derselben zumindest sinnvoll gestellt werden. Kerze zu sprechen, als auch von immer anderen Stadien eines Verbrennungsgeschehens.

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Nur beide Seinssinne zusammen leisten eine philosophisch zufriedenstellende Ontologie • Nur mit dem 2. Grundsinn beziehen wir uns nicht nur auf Begriffe, sondern auf das wirklich Existierende. • Mit dem 2. Grundsinn kehren wir in die Welt, in der wir leben zurück. Wir können das Seiende als etwas auffassen, dass uns in unserem Dasein betrifft (bzw. Relevanz in derselben Welt hat). • Die reale Bestimmtheit des wirklich Existierenden ist aber immer strittig. Deshalb brauchen wir auch den 1. (objektiven) Seinssinn unserer wissenschaftlichen Theorien. • Jeder der beiden Sinne besitzt seine ‚Spezialitäten‘, die dem anderen Sinn fehlen: • Existenz von abstrakten Gegenständen (z.B. der Mathematik) als ‚Spezialität‘ des Sinns der objektiven Gegebenheit. • Existenz des Unbegreiflichen (z.B. Gott und natürlich auch wir selbst!) als ‚Spezialität‘ des Seinssinns qua Wirklichkeit. • Diachronische Identät als Leistung des Seinssinns qua Wirklichkeit. Auf keinen der beiden Sinne sollte also verzichtet werden! © Thomas Buchheim - Ontologievorlesung SoSe 2003

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Heraklit 540-480 v.Chr.

„Der Kosmos“ [d.h. die konstituierende Ordnung der Dinge] ist „immerlebendiges Feuer [...], das in Maßen aufflammt und in Maßen verlöscht.“ (Clemens von Alexandria, Strom. V 104,2 DK 22 B 30)

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Platon

„Die sterbliche Natur sucht nach Kräften immer zu sein und unsterblich. Sie kann es aber nur auf die Weise, durch das Werden, indem stets ein anderes Junges anstelle das Alten übrig bleibt, worin ja auch jedes einzelne Lebewesen zu leben und dasselbe zu sein geheißen wird; zum Beispiel heißt einer von Kindesbeinen an derselbe, bis er ein Greis geworden ist. Und dies fürwahr, obwohl er nie dasselbe in sich hat solange er dennoch derselbe genannt wird; vielmehr entsteht er ständig neu, während das andere zugrundegeht, sowohl an den Haaren wie am Fleisch und den Knochen, dem Blut und überhaupt dem ganzen Körper.“ (Platon, Symposion. 207d)

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Das Problem der ‚Konstitution‘ des wirklich Existierenden 2 gedankliche Schwierigkeiten (wenn das ‚Haben einer Konstitution‘ ein zulässiges ontologisches Konzept sein soll): • Differenz zwischen Konstituiertem und Konstituentien (= das, was es konstituiert), z.B. des ganzen Menschen und der einzelnen Körperteile. Sie dürfen nicht einfach dasselbe sein (sonst wäre keine Konstitution möglich), aber auch nicht verschiedenes (sonst wäre ebenfalls keine Konstitution möglich). Ohne Konstitution stellt sich das Problem des Reduktionismus (Aristoteles: Materie). (Aristoteles, Metaphysik VII, 17) • Ständiger Fortgang der Wirkungen. Nachschub nötig, um das Konstituierte aufrecht zu erhalten. (Heraklit, Platon)

Um dieses Problem zu lösen, muß man die beiden Schwierigkeiten zusammen nehmen...

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Die Lösung des Problems der ‚Konstitution‘ des wirklich Existierenden Nicht alle Wirkungen am Körper eines Lebewesens tragen zu dessen Leben bei, z.B. Haarausfall, chemische Verunreinigungen der Haut u.a. Das, was das Konstituierte vom Konstituierenden unterscheidet, ist die Dynamik des Lebens, d.h. der Ausschnitt aus der Gesamtdynamik aller vorhandenen Körperteile. Das Konstituierte Lebewesen ist zwar nicht identisch mit seinem Körper zu irgendeiner Zeit, aber es koinzidiert zu jeder Zeit seines Lebens mit einem bestimmten Körper. Der Körper (= Konstituentien) kann so immer ein anderer sein – das Lebewesen (= Konstituiertes) bleibt dasselbe.

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J. Z.Young „The essence of a living thing is that it consists of atoms of the ordinary chemical elements we have listed, caught up into the living system and made part of it for a while. The living activity takes them up and organizes them in its characteristic way. The life of a man consists essentially in the activity he imposes upon that stuff. [...] it is only by virtue of this activity that the shape and organisation of the whole is maintained.“ Young(1971), An Introduction to the Study of Man. Oxford , S.86-87

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Jonathan Miller „In such a world the survival of form depends on one of two principles: the intrinsic stability of the materials from which the object ist made, or the energetic replenishment and reorganisation of the material which is constantly flowing through it. [...] The persistence of a living organism is an achievement of the same order as that of a fountain. The material from which such an object is made is constitutionally unstable; it can maintain its configuration only by flowing through a system which is capable of reorganising and renewing the configuration from one moment to the next. But the engine which keeps a fountain aloft exists independently of the watery form for which it is responsible, whereas the engine which supports and maintains the form of a living organism is an inherent part of its characteristic structure. The fact that the mechanisms responsible for maintaining life are virtually indistinguishable from the structures they support is one of the reasons why it took so long to identify their existence. [...] Modern biology came into existence only with the recognition that the vital impetus was distributed throughout the living tissues of the body, and that the heart, lungs and blood, far from being responsible for life, were kept alive by biochemical processes which they shared with all other structures of the living body.“ Miller, Jonathan (1978), The Body in Question. New York , S.140-41

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Peter van Inwagen Leben („life“) als • sich selbst erhaltendes Ereignis („self-maintaining event“) • wohl-individuiertes Ereignis („well-individuating event“) • selbst lenkendes Ereignis („self directing event“) • eifersüchtiges Ereignis („jealous event“) „Lives, however, are jealous. It cannot be that the activities of the xs constitute at one and the same time two ones.“ Inwagen, Peter van (1990), Material Beings. Ithaca , S.87-89

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Peter van Inwagen „What I am observing is an unimaginably complex selfmaintaining storm of standard components. I would compare it with the Great Red Spot on Jupiter, which has been in existence for hundreds of years. (Or I might compare it with a wave, or the propagation of a wave, which is a sort of self-maintaining event that involves different particles of fluid at different times.) The surface of the word is littered with standard components assembled in various ways. This storm that I am observing moves across the surface of the world draxing sxirls and clots of standard components into it and expelling others, always maintaining its overall structure. One might call it a homeodynamic event.[...] This observation is an acute one. There are such events as these. They are what I call lives.“ Inwagen, Peter van (1990), Material Beings. Ithaca , S.86-87

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