Gott hat uns auf den Menschen verpflichtet

Annette Schavan Gott hat uns auf den Menschen verpflichtet La diplomazia ai tempi di Papa Francesco Universität Bologna am 10. März 2016 I. Das Pon...
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Annette Schavan

Gott hat uns auf den Menschen verpflichtet La diplomazia ai tempi di Papa Francesco Universität Bologna am 10. März 2016

I.

Das Pontifikat von Papst Franziskus ist eine Zeit der Überraschungen1 . Das gilt wohl weniger für die Kardinäle, die seine Rede im Vorkonklave gehört haben. Da deutete sich in seinen klaren Worten an, dass er die Kirche in ihrem bisherigen Selbstverständnis für ungeeignet hält, in einer Beziehung der Empathie und Sympathie zu den Menschen und zu deren Alltag zu treten. Er spricht von einem „Geist des theologischen Narzissmus“. Er wirft den kirchlichen Institutionen Selbstbezogenheit vor. „Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst… Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten.“ 2 Seine Vorstellung ist ein andere. Er fordert eine „verkündende Kirche“, in deren Handeln die Begegnung mit Menschen im Mittelpunkt steht. „Es gibt jetzt 99 außerhalb des Schafstalls und nur eines bleibt drinnen: Das ist seine Sicht.“ 3 Um dieses eine Schaf dreht sich alles. Die Suche nach den 99 Schafen, die gegangen sind, ist eingestellt worden. Die Kirche erweckt den Eindruck, als gehe sie es nichts an, wenn immer mehr Menschen die Kirchen verlassen. Sie sucht die Gründe dafür im Leben dieser Menschen, nicht im Leben der Kirche. Seine Rede im Vorkonklave hat offenkundig die Kardinäle überzeugt. Sie haben ihn gewählt. Das lässt darauf schließen, dass sie spürten: Es muss ein neuer Wind in der Kirche wehen. Es braucht andere Wege, damit die Menschen unserer Tage die Botschaft hören und die Relevanz für ihr Leben verstehen. Es soll eine neue Nähe zu den Menschen entstehen, in dem sie die Empathie und Sympathie der Kirche und ihrer Hirten für ihr Leben spüren. Das erinnert an den Auftakt der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (Gaudium et spes): „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall findet.“ 4 Wer davon überzeugt ist, dass den Christen nichts „wahrhaft Menschliches“ fremd ist, der geht ungewohnte Wege. Das tut Papst Franziskus. Er reist nach Lampedusa und wirft Europa eine Gleichgültigkeit vor, die das Drama der Flüchtlinge provoziert. Er wählt für seine Reisen Länder in der Peripherie, um auf Armut, Verfolgung und die Verletzung der Menschenrechte hinzuweisen. Er spricht mit Obama über das Ende des Boykotts gegen Kuba und bewirkt nach Jahrzehnten der Gegnerschaft die Aufnahme von Beziehungen zwischen den USA und Kuba. Er geht auf die

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Pfingstbewegung zu und reist zum Reformationsjubiläum nach Lund, dem Gründungsort des lutherischen Weltbundes. Er trifft auf dem Weg nach Mexiko auf Kuba den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill I.. Er plant schließlich eine Reise nach Armenien. Er gibt zum Frühlingsfest einer chinesischen Zeitung ein umfassendes Interview und erinnert an die große kulturelle Tradition der Chinesen. Er lässt erkennen, dass er China bald besuchen möchte. Papst Franziskus ist kein Politiker, der rasche Erfolge braucht. Er zieht lange Linien. Er hat Zeit und weiß, dass es für jede Entwicklung einen kairos gibt. Er pflegt eine Diplomatie der klaren Worte, der eindeutigen Zeichen und Gesten. Er weiß, dass die Menschen diese Klarheit schätzen und ihm vertrauen. Er ist längst eine moralische Autorität – weit über die katholische Kirche hinaus. Er steht in keinem politischen Bündnis, auf das er Rücksicht nehmen muss. Seine alles bestimmende Überzeugung lautet: Gott hat uns auf den Menschen verpflichtet. Wo immer Menschen in Not geraten, da soll sie das Signal erreichen, dass Gott und seine Kirche an ihrer Seite sind. Wo die Solidarität schwindet, wie jetzt in Europa, da setzt er ein Zeichen der Nähe und Solidarität. Wo Egoismus politische Lösungen verhindert, da soll die Kirche zur Überwindung eben jenes Egoismus beitragen. Dazu aber muss sie selbst den Egoismus ablegen und sich den Menschen und ihrem Leben öffnen. Überraschend und manchmal auch ärgerlich ist das nur für jene, die sich abschotten, die ihre Sicherheit und ihren Wohlstand in Gefahr sehen und aus der Ferne auf die Nöte von Menschen blicken.

II.

Fern bleiben vermögen vor allem jene, die für alles eine Theorie entwickeln und sich damit selbst den Weg der Empathie versperren. In seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium – Freude am Evangelium“ widmet er dem Gedanken „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“ drei ausführliche Sätze: Er schreibt: „Es gibt Politiker – und auch religiöse Führungskräfte – die sich fragen, warum das Volk sie nicht versteht und ihnen nicht folgt, wenn doch ihre Vorschläge so logisch und klar sind. Wahrscheinlich ist das so, weil sie sich im Reich der reinen Ideen aufhalten und die Politik oder den Glauben auf die Rhetorik beschränkt haben. Andere haben die Einfachheit vergessen und von außen eine Rationalität importiert, die den Leuten fremd ist.“5 Das ist eine entwaffnende Analyse in mehrfacher Hinsicht. Sie erklärt eine Distanz zwischen Führungskräften und dem Volk, die im Laufe der Zeit zu wachsendem und wechselseitigem Unverständnis führt. Sie beschreibt zudem die Unfähigkeit, mit den Ideen die Wirklichkeit zu erklären und realistisch zu beschreiben. Letzteres aber ist der Sinn von Ideen. Wiederum in den Worten von Papst Franziskus: „Die Idee – die begriffliche Ausarbeitung – dient dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, zu verstehen und zu lenken. Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren oder

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definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement auslöst, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.“ 6 Womit auch klar ist, dass der Vorrang der Wirklichkeit vor der Idee die Idee nicht obsolet macht. Sie stellt allerdings eine neue Anforderung an unsere Rede über Ideen. Ihre lenkende Wirkung kann sie nur entfalten, wenn dadurch die Wirklichkeit erklärt und verstanden wird. Indem er das sagt, beschreibt Papst Franziskus zugleich die Gründe für die Ferne, in der sich auch die Führungskräfte der Kirche nach seinem Verständnis erhalten. Wer für alles eine Erklärung findet, die jenseits seines eigenen Handelns die Wirklichkeit beschreibt, hält sich diese Wirklichkeit fern. Das produziert Beziehungs- und Wirkungslosigkeit. Vermutlich ist das nach seinem Verständnis auch der Grund dafür, warum bereits 99 Schafe abhanden gekommen sind. In seinem Apostolischen Schreiben weist er auch darauf hin, dass eine Voraussetzung für den Frieden in der Welt der Frieden zwischen den Religionen ist. Die Mitglieder verschiedener Religionen dürfen sich nicht abschotten. Die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer Religion durch Anhänger anderer Religionen zerstört den Frieden. Zugleich warnt er: „Angesichts der Zwischenfälle eines gewalttätigen Fundamentalismus muss die Zuneigung zu den authentischen Anhängern des Islam uns dazu führen, gehässige Verallgemeinerungen zu vermeiden, denn der wahre Islam und eine angemessene Interpretation des Korans stehen jeder Gewalt entgegen.“7 Jene, die internationale Politik gestalten und verantworten werden nicht umhin kommen, sich stärker als in der Vergangenheit mit der Entwicklung in den verschiedenen Religionen und Konfessionen zu beschäftigen. Politiker und Diplomaten stellen derzeit fest, dass sie mit ihren Kenntnissen über Religionen und religiösen Konflikten erst am Anfang stehen. Wir müssen verstehen lernen, was zur Radikalisierung von Religionen beiträgt, ihr Friedenspotential brach liegen lässt und ihr Gewaltpotential aktiviert.

III.

Die erste Enzyklika von Papst Franziskus Laudato sì handelt „über die Sorge für das gemeinsame Haus“. Manche nennen sie eine Umweltenzyklika und kritisieren die Skepsis des Papstes gegen Ordnungen des Wirtschaftens, die zu mehr Exklusion denn Inklusion führen. Das genaue Studium des Textes von Laudato sì zeigt, dass die fundamentale Botschaft dieser Enzyklika auf Gerechtigkeit zielt. Laudato sì steht in der Tradition von „Rerum novarum“ (1891, Papst Leo XIII.). Sie legt dar, dass Armutsbekämpfung und Klimaschutz keine Alternativen sind, vielmehr in einem engen Zusammenhang stehen. Er ruft in Erinnerung, dass das Gemeinwohl vor Individualinteressen steht. Das ist eine gute alte Tradition der katholischen Soziallehre. Um dem Gemeinwohl gerecht zu werden, können auch Eigentumsrechte beschränkt werden. Zum Gemeinwohl zählt Papst Franziskus die Atmosphäre und fordert Aufmerksamkeit für Veränderungen, die sich schädlich vor allem für die

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Armen auswirken. Die von ihm hart kritisierte Ordnung des Wirtschaftens bezieht sich auf eine Ordnung des Kapitalismus, die die Gemeinwohlorientierung leugnet. Soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in Deutschland kennen, meint etwas anderes. Dazu gehört die Gemeinwohlorientierung des Eigentums. Dazu gehört die Verbindung von sozialer Verantwortung und dem Marktgeschehen. Das hat in Deutschland zu einer Jahrzehnte währenden Erfolgsgeschichte geführt – im Blick auf den ökonomischen und sozialen Erfolg. Das hat eine funktionierende Sozialpartnerschaft hervorgebracht, die Deutschland aus der Finanzkrise vor einigen Jahren stärker herausgeführt hat, als wir hinein gegangen sind. Eine Ordnung des Wirtschaftens muss auf den Menschen und seine Würde, seine Freiheit und Entfaltung ausgerichtet sein. Damit sind in der globalen Welt des 21. Jahrhunderts nicht alle Probleme gelöst. Gleichwohl lohnt es sich, die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft in Beziehung zu setzen zu dem Vorrang des Gemeinwohls, der in Laudato sì gefördert wird. „Das Gemeinwohl geht vom Respekt der menschlichen Person als solche aus. Mit grundlegenden und unveräußerlichen Rechten im Blick auf ihre ganzheitliche Entwicklung…Die gesamte Gesellschaft – und in ihr in besonderer Weise der Staat – hat die Pflicht, das Gemeinwohl zu verteidigen und zu fördern.“8 Laudato sì ist die Eröffnung eines neuen Kapitels in der Entwicklung der katholischen Soziallehre. Die Weiterentwicklung unseres Verständnisses vom Gemeinwohl im Blick auf die Humanökologie gehört heute zu den Zeichen der Zeit.

IV.

Drei Beobachtungen habe ich beschrieben: Das Selbstverständnis von Papst Franziskus, die Kirche auf neue Weise sprechfähig, dialogisch und solidarisch werden zu lassen. Sie soll ihren von ihm diagnostizierten Egoismus ablegen. Die Analyse von Papst Franziskus, wonach die Wirklichkeit Vorrang vor der Idee habe und sich Christen dieser Wirklichkeit stellen müssen, statt sie andauernd zu erklären. Papst Franziskus will Prozesse auslösen, neues Denken und neue Empathie provozieren, Gleichgültigkeit überwinden helfen. Christen sollen Verantwortung nicht an Institutionen delegieren und Sicherheit nicht in Strukturen suchen. Das ist eine starke Botschaft mitten in einer Welt, die an vielen Stellen fragil und verunsichert ist. Es braucht neue Leitideen sowie die Fähigkeit, sich eine Vorstellung davon zu machen, wo eine Stadt, ein Land, eine Gemeinschaft und eben auch die Kirche in zwanzig Jahren sein sollen. Christen wissen darum, dass sich Zukunft nicht planen lässt. Wir sollen uns darauf einlassen. Wir sollen das aber nicht fahrlässig und ziellos tun. Diejenigen, die die Europäische Union gegründet haben, sie hatten eine große Idee. An die damit verbundenen Ideale hat Papst Franziskus bei seinen Reden vor den Europäischen Institutionen in Straßburg erinnert.

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Als ein Mensch, der in seinem beruflichen Leben viel mit Institutionen und Strukturen zu tun hatte, erscheinen mir die spirituellen Impulse des Papstes sehr geeignet, als Weckruf zu wirken. Die Diplomatie und die internationale Politik werden davon nicht unberührt bleiben. An Bedeutung gewinnt, was und wer sich mit Empathie zu erkennen gibt als wirklich lösungsorientiert und nicht vor allem den Status quo bewahrend. Wie oft haben wir viele Argumente dafür, warum etwas nicht geht. Empathie ist eine Kraft, die zu Argumenten für neue Wege führen kann. Die Diplomatie und die Politik – sie sollen sich nicht verstecken, so verstehe ich Papst Franziskus. Sie sollen Spontanität nicht scheuen und Empathie wagen, damit Neues entsteht. Neue Wege sollen erkennen lassen: Gott hat uns auf den Menschen verpflichtet.

1 Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio gibt seiner Biographie über den Papst den Titel „Franziskus. Papst der Überraschungen. Krise und Zukunft der Kirche, Würzburg 2014 2 ebenda, 65 3 ebenda, 66 4 gaudium et spes, 1 5 Evangelii gaudium – Freude am Evangelium, Leipzig 2013, 133 f 6 ebenda 7 a.a.O.143 f 8 Papst Franziskus, Laudato sì. Die Umweltenzyklika des Papstes. Ziffer 157