Leitthema Nervenarzt 2014 · 85:273–278 DOI 10.1007/s00115-013-3900-y Online publiziert: 19. Februar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

S. Hodgins1, 2 · R. Müller-Isberner3 1 Département de Psychiatrie, Université de Montréal 2 Institute of Psychiatry, King’s College London 3 Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina

Schizophrenie und Gewalt Das mit Schizophrenie einhergehende Stigma beruht darauf, dass diese Menschen als unberechenbar und gefährlich wahrgenommen werden [2]. Ein realistischer Umgang mit den tatsächlichen, von Schizophrenen ausgehenden Risiken eröffnet wirksame Präventionswege und könnte somit ganz entscheidend zur Entstigmatisierung beitragen. Die empirische Evidenz zu leugnen, hilft den Betroffenen nicht: Schizophrenie ist ein empirisch gut belegter Risikofaktor für Gewalttaten.

Gewaltkriminalität bei Schizophrenen Männer und Frauen, die an einer Schizophrenie leiden, haben im Vergleich zur Restbevölkerung ein erhöhtes Verurteilungsrisiko. Dieses Risiko steigt von gewaltfreier Delinquenz, über Gewaltdelinquenz hin zu Tötungsdelinquenz an [26]. In einer dänischen Geburtskohorte von 358.180 Personen, die bis in die Mitte ihres 4. Lebensjahrzehnts nachverfolgt wurden, wurden Menschen, die wegen einer Schizophrenie mindestens einmal stationär behandelt worden waren, mit solchen verglichen, die nie stationär in der Psychiatrie aufgenommen worden waren: Schizophrene Männer hatten ein um den Faktor 4,6 (95%-Konfidenzintervall [-CI]: 3,8– 5,6) und Frauen ein um den Faktor 23,2 (95%-CI: 14,4–37,4) erhöhtes Gewalttäterrisiko. Ähnliche Ergebnisse wurden in anderen Geburts- und Bevölkerungskohorten gefunden ([1, 25], Übersicht bei [5]). Obgleich insgesamt weniger Frauen als Männer wegen Gewalttaten verurteilt werden, steigert Schizophrenie das Risiko bei ihnen deutlich mehr.

D Die Assoziation zwischen Schizophre-

nie und Gewaltdelinquenz ist robust. Sie wurde von unterschiedlichen Forschergruppen, in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Kulturen sowie unterschiedlichen Gesundheits- und Justizsystemen gefunden. Hierbei wurden unterschiedliche experimentelle Designs (Longitudinalstudien an Geburts- und Populationskohorten, Vergleiche von Schizophrenen und ihren Mitbürgern in der Gemeinde, Diagnosestudien an kompletten Häftlingskohorten) verwandt. Wichtig ist, dass die, diesen Studien zugrunde liegenden Verurteilungen auf Gewalttaten in der Gemeinde beruhen, nicht aber auf Gewalthandlungen in psychiatrischen Krankenhausstationen, wo Strafverfolgung sehr selten ist (Übersicht bei [5]). Nichts spricht dafür, dass die gefundenen erhöhten Raten von Gewaltkriminalität Ausdruck einer Diskriminierung durch Strafverfolgungsbehörden sind (Diskussion bei [9]). Schizophrene Rechtsbrecher sind die Hauptursache für die europaweit zu beobachtende Zunahme forensischer Behandlungsplätze [11, 21].

Die epidemiologischen Studien zeigen konsistent, dass der Anteil Schizophrener, der Straftaten begeht, von Studie zu Studie schwankt, sich bei Schizophrenen im Vergleich zur Restbevölkerung aber durchgängig ein erhöhtes Risiko zeigt. In Ländern mit hohen Raten an Gewaltkriminalität haben Schizophrene ein höheres Gewalttäterrisiko als in Ländern mit niedrigen Raten, was darauf hindeutet, dass zumindest einige der Faktoren, die die Gewaltkriminalität in der Allgemeinbevölkerung verursachen, auch bei schizophrenen Gewalttätern relevant sind. Am häufigsten begehen Schizophrene Körperverletzungen. Tötungsdelikte sind selten, verursachen aber die größte mediale Aufmerksamkeit. In einigen Ländern werden alle Personen, die eines Tötungsdeliktes beschuldigt werden, psychiatrisch untersucht. Anhand solcher Untersuchungen ließ sich der Anteil Schizophrener an Tötungsdelinquenten bestimmen. Er liegt zwischen 6 und 28%, variiert also erheblich zwischen Staaten, und innerhalb von Staaten, über Zeitepochen hinweg (. Tab. 1). Dies liegt daran, dass die Häufigkeit von Tötungsdelikten von Land zu Land und über Zeitepochen hinweg sehr verschieden ist, die Präva-

Tab. 1  Anteil schizophrener Täter bei Tötungsdelikten. (Literaturnachweis bei [3]) Region

Erfassungszeitraum

Finnland Victoria, Australien Kopenhagen BRD Kalifornien Hessen London Island Nordschweden

1984–1991 1993–1995 1959–1983 1955–1964 1978–1980 1992–1996 1979–1980 1900–1979 1970–1980

Anteil schizophrener Täter (%) 6,1 7,2 8,0 8,2 9,9 10,0 11,0 14,9 28,4 Der Nervenarzt 3 · 2014 

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Zusammenfassung · Summary lenz der Schizophrenie dagegen stabil bei etwas unter 1% liegt, was dann zu einem unterschiedlichen Anteil Schizophrener an den Tötungsdelinquenten führt (Übersicht bei [3]). In einer innerstädtischen englischen Stichprobe von 205 schwer psychisch kranken, stationären Patienten – meist handelte es sich um Schizophrene – waren 80% bereits früher stationär behandelt worden. Das Durchschnittsalter lag bei knapp unter 40 Jahren. 46,7% der Männer und 16,5% der Frauen hatten wenigstens einen Strafregistereintrag wegen einer Gewalttat, im Mittel waren es zwei solcher Einträge. Insgesamt hatten die 82 Männer mit Strafregistereintrag 1792 Straftaten begangen, die 23 Frauen mit Registereintrag begingen 458 Taten [6]. Im Vergleich zur englischen Gesamtbevölkerung entsprach das Verurteilungsrisiko dieser englischen Patientengruppe dem, was in Studien in Dänemark und Schweden gefunden wurde (Übersicht bei [5]). Von den wegen einer Straftat verurteilten Schizophrenen haben bis zu 72% bereits vor Krankheitsausbruch mindestens eine Vorstrafe [26]. Eine Studie aus Dänemark nutzte nationale Gesundheits- und Kriminalitätsregister, um die Kriminalität aller Personen, die nach 1963 geboren wurden und in 1999 die Diagnose einer Schizophrenie erhalten hatten, zu erfassen. 37% der männlichen und 7% der weiblichen Schizophrenen hatten bereits vor Erstkontakt mit dem psychiatrischen Versorgungssystem eine Vorstrafe [19]. In Studien, die mit nationalen Gesundheitsund Strafregisterdaten arbeiten, wozu es keines Einverständnisses der Betroffenen bedarf, finden sich grundsätzlich höhere Raten an Verurteilungen vor Erstkontakt mit der Psychiatrie als in klinischen Studien ([19, 26], Übersicht bei [5]). In einer repräsentativen englischen Stichprobe von Menschen, die wegen einer Erstepisode einer Psychose behandelt wurden, hatten ein Drittel der Männer und 10% der Frauen eine Vorstrafe, 20% der Männer und 5% der Frauen hatten zumindest eine Vorstrafe wegen einer Gewalttat [7]. Von der anderen Seite her betrachtet fand eine dänische Studie erhöhte Raten späterer Schizophrenieerkrankungen unter jugendlichen Straftätern (Übersicht bei [5]).

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Nervenarzt 2014 · 85:273–278  DOI 10.1007/s00115-013-3900-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 S. Hodgins · R. Müller-Isberner

Schizophrenie und Gewalt Zusammenfassung Hintergrund.  Es gibt mittlerweile eine robuste Evidenz dafür, dass Schizophrenie das Risiko für Gewalttaten erhöht. Schizophrene Rechtsbrecher sind die Hauptursache für die europaweit zu beobachtende Zunahme forensischer Behandlungsplätze. Fragestellung.  Die Arbeit untersucht das empirisch gesicherte Wissen über den Zusammenhang von Schizophrenie und Gewalt. Material und Methode.  Es wurde eine systematische Literaturauswertung durchgeführt. Ergebnisse.  Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, haben im Vergleich zur restlichen Bevölkerung ein erhöhtes Risiko, wegen Gewalttaten verurteilt zu werden oder sich anderweitig aggressiv zu verhalten. Psychotische Symptome erklären nur das in akuten Phasen häufige aggressive Verhalten, nicht aber vergleichbares Verhalten vor Ausbruch der Erkrankung oder außerhalb akuter Krankheitsphasen. Drei distinkte Phänotypen schizophrener Gewalttäter konnten identifiziert werden: Individuen mit einer im Kindesalter beginnenden Störung des Sozialverhal-

tens, die sowohl vor als auch nach Ausbruch der Schizophrenie antisoziales und aggressives Verhalten zeigen; Individuen ohne Vorgeschichte von Verhaltensproblemen, die mit Ausbruch der Erkrankung aggressives Verhalten zeigen; und Individuen, die nach vieljährigem Krankheitsverlauf schwere Gewalthandlungen begehen. Über die Ätiologie dieser drei Typen von Rechtsbrechern ist ebenso wenig bekannt wie über die neuronalen Mechanismen, die dieses Verhalten initiieren und aufrechterhalten. Schlussfolgerung.  Psychiatrische Versorgungssysteme müssen dem von schizophren erkrankten Menschen ausgehenden Gewaltrisiko durch angemessene Risikoeinschätzungen und Interventionen, die antisoziales und aggressives Verhalten fokussieren, Rechnung tragen. Schlüsselwörter Forensik · Schizophrenie · Gewalt · Störung des Sozialverhaltens · Literaturreview

Schizophrenia and violence Summary Background.  There is now robust evidence that schizophrenia is associated with an increased risk of violence. Across Europe, the numbers of forensic hospital beds have dramatically increased largely due to admissions of men with schizophrenia. Objective.  This article critically reviews the extant literature on schizophrenia and violence. Material and methods.  A systematic review of the literature was carried out. Results.  People with schizophrenia are at increased risk, as compared to the general population, to be convicted for violent crimes because they are more likely to engage in aggressive behaviour towards others. While psychotic symptoms explain aggressive behaviour during acute episodes, they do not explain such behaviour at other stages of the illness or prior to onset of illness. Three distinct phenotypes of offenders with schizophrenia

Aggressives Verhalten von Schizophrenen ohne strafrechtliche Ahndung Auch gravierende Rechtsbrüche führen nicht automatisch zu strafrechtlicher

have been identified: individuals with a childhood onset of conduct disorder who display antisocial and aggressive behaviour both before and after schizophrenia onset, individuals with no history of conduct problems who begin engaging in aggressive behaviour at the onset of illness, and individuals who engage in a severe physical assault after many years of illness. Little is known about the   aetiology of the three types of offenders and about the neural mechanisms that initiate and maintain these forms of behaviour. Conclusion.  Mental health services need to assess the risk of violence among patients with schizophrenia and provide treatments that directly target antisocial and aggressive behaviour. Keywords Forensic · Schizophrenia · Violence · Conduct disorder · Literature review

Ahndung: Gewalthandlungen gegenüber nahen Angehörigen werden meist nicht zur Anzeige gebracht, mit einer Einweisung nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) hat ein Polizist in vielen Ländern, so auch in Deutschland, zumeist

Leitthema seine Pflicht getan und nur schwerste Gewalthandlungen mit schweren Verletzungen oder tödlichem Ausgang werden regelhaft strafrechtlich verfolgt. Insofern spiegeln Daten, die auf Verurteilungsstatistiken beruhen, nicht das ganze Ausmaß der Belastung dieser Menschengruppe mit aggressivem Verhalten wider. In einer englischen Patientengruppe berichteten 41,7% der Männer und 21,1% der Frauen mindestens einmal im Leben eine gravierende Gewalthandlung begangen zu haben. 49,2% der Männer und 38,8% der Frauen berichteten in den vorangegangenen 6 Monaten gegen eine andere Person tätlich geworden zu sein. 21,7% der Männer und 18,8% der Frauen berichteten, in den vorangegangenen 6 Monaten in lebensbedrohlicher Weise gegen andere gewalttätig geworden zu sein. In gleicher Weise wurden aus anderen Stichproben Schizophrener Häufigkeiten aggressiven Verhaltes in einem 6-Monats-Zeitraum von 8–77% und potenziell lebensbedrohlicher Gewalt zwischen 0 und 40% berichtet. Die Verurteilungsrate wegen Gewalttaten ist bei schizophrenen Frauen niedriger als bei Männern, jedoch legen einige Studien nahe, dass die Prävalenz aggressiven Verhaltens gleichhoch ist (Übersicht bei [6]). Gewaltkriminalität gegenüber anderen in der Gemeinde und strafrechtlich nicht verfolgtem aggressivem Verhalten liegen die gleichen Korrelate zugrunde [5]. Eine weitere wichtige Konsequenz gewalttätigen Verhaltes bei Schizophrenen ist deren eigene Viktimisierung [10].

Gewalttätiges Verhalten Schizophrener besser verstehen Schizophrene Gewalttäter stellen eine heterogene Population dar. Unterschiede bestehen bezüglich des Alters bei Erstauftreten und der Persistenz gewalttätigen Verhaltens und – vermutlich – im Hinblick auf die dem aggressiven Verhalten jeweils zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen. Positivsymptome erklären Aggressionshandlungen in akuten Krankheitsphasen, nicht aber aggressive Verhaltensweisen, die in anderen Krankheitsphasen oder bereits vor Krankheitsausbruch auftreten [13]. Drei distinkte Typen von Schizophrenen mit aggressivem

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Verhalten gegenüber anderen ließen sich identifizieren: F Typ I: Individuen, die von klein auf antisoziales und aggressives Verhalten zeigen, das sich – unbeeinflusst vom Ausbruch der Schizophrenie – im Erwachsenenalter fortsetzt. F Typ II: Individuen, die weder in Kindheit noch Jugend Verhaltensprobleme hatten, dann aber ab Ausbruch der Erkrankung aggressives Verhalten zeigen. F Typ III: Eine kleine Gruppe von Individuen ohne antisoziale oder gewalttätige Vorgeschichte, die nach längerem Krankheitsverlauf in der 3. bzw. 4. Lebensdekade plötzlich eine schwerste Gewalthandlung begehen.

Typ I: Schizophrenie bei vorausgehender Störung des Sozialverhaltens Der Vorläufer einer Schizophrenie ist in bis zu 40% der Fälle eine Störung des Sozialverhaltens [8, 14]. Dies ist dann mit frühem Beginn eines lebenslangen Musters von antisozialem, aggressivem und kriminellem Verhalten assoziiert. Im Vergleich zu anderen schizophrenen Rechtsbrechern haben Schizophrene mit frühen gravierenden Verhaltensproblemen mehr Verurteilungen wegen gewaltfreier und gewalttätiger Delikte und verübten eine breitere Palette verschiedenartiger Taten. Ihre Delinquenzkarrieren gleichen denen psychisch gesunder Täter mit antisozialer Persönlichkeitsstörung. Weiterhin zeigen fast alle eine bis in die frühe Adoleszenz zurückreichende Vorgeschichte von Substanzmissbrauch ([18], Literaturnachweis bei [5]).

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Kognitive Defizite behindern das Erlernen nichtaggressiver Problemlösungswege Diese Verhaltensmuster sind moderat erblich und erste Hinweise deuten auf erhöhte Raten an Kriminalität und Substanzgebrauch bei Verwandten von Schizophrenen, die eine Störung des Sozialverhaltens haben, hin [8]. Möglicherweise haben diese Individuen eine spezifische Kombination von Genen, die eine Vul-

nerabilität sowohl für Schizophrenie als auch für eine Störung des Sozialverhaltens erzeugen und so zu einer veränderten Reaktion auf Umwelteinflüsse führen. Die bei Schizophrenen häufiger als bei Nichtschizophrenen gestellte Diagnose Störung des Sozialverhaltens legt die Schlussfolgerung nahe, dass eine Vulnerabilität für Schizophrenie, das Risiko eine Störung des Sozialverhaltens zu bekommen, erhöht. Die Mechanismen über die Gene und Umweltfaktoren additiv oder interaktiv diese Verhaltensmuster erzeugen, sind unbekannt. Bezüglich der genetischen Faktoren und Umwelteinflüsse, die zu den jeweiligen Störungen führen, unterscheiden sich Schizophrene mit einer vorausgegangenen Störung des Sozialverhaltens sowohl von anderen Schizophrenen als auch von Nichtschizophrenen mit einer Störung des Sozialverhaltens. Kürzlich wurde gezeigt, dass schizophrene Männer, die vor Krankheitsausbruch die Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens aufweisen, die gleichen, mit aggressivem Verhalten assoziierten Anomalien der grauen Substanz zeigen, wie Menschen ohne Schizophrenie, aber mit einer Störung des Sozialverhaltens. Zusätzlich zeigen sie aber auch Anomalien, die sich bei Schizophrenen ohne Störung des Sozialverhaltens finden lassen [22]. Angesichts der Präsenz kognitiver, perzeptueller und motorischer Defizite bei Kindern, die später eine Schizophrenie entwickeln [27, 28], liegt es nahe, dass dies die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung des Sozialverhaltens erhöht. Diese Defizite behindern das Erlernen nichtaggressiver Problemlösungswege. Weiterhin werden spezifische Genkombinationen in Interaktion mit Umwelteinflüssen, Geburtskomplikationen, ungünstigen Aufwuchsbedingungen und der verminderten Fähigkeit, Emotionen in der Mimik anderer zu erkennen, mit persistierendem aggressivem Verhalten in Verbindung gebracht (Übersicht bei [5]). Andererseits führt eine Störung des Sozialverhaltens dazu, dass jene, die eine Vulnerabilität für Schizophrenie haben, Verhaltensweisen zeigen, die das Risiko eines Ausbruches der Schizophrenie erhöhen (z. B. früh beginnender Cannabiskonsum) [16].

Typ II: Delinquenzbeginn bei Krankheitsausbruch Einige schizophrene Rechtsbrecher waren vor Krankheitsausbruch weder antisozial noch gewalttätig, zeigen aber mit Übergang zur ersten psychotischen Episode wiederholt aggressive Verhaltensweisen gegen Personen. Verglichen mit schizophrenen Rechtsbrechern vom Typ I ist bei Typ II der Anteil jener, die jemals eine Gewalttat begangen haben, gleich, sie begehen jedoch insgesamt weniger gewalttätige und noch weniger gewaltfreie Straftaten. Bemerkenswerterweise ist der Anteil von Tötungsdelikten bei Typ II größer (23,9%) als bei Typ I (10,4%). Erwartungsgemäß hatten Patienten ohne Vorgeschichte von früherer Antisozialität ein späteres Alter bei Erstverurteilung [5]. Es gibt nur wenige Untersuchungen an wiederholt gewalttätigen Schizophrenen, die vor Krankheitsausbruch kein antisoziales Verhalten zeigten. Die wichtigste Studie, die diesen schizophrenen Tätertyp beschreibt, wurde unter Benutzung nationaler Gesundheits- und Strafregister in Dänemark durchgeführt [20]. Die später Verurteilten waren eher männlich, hatten ein geringeres Alter bei Diagnosestellung und hatten spätestens zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruches eine Substanzdiagnose. Aggressives Verhalten ist über die Lebensspanne hinweg recht stabil. Wenn ein erwachsenes Individuum ohne entsprechende Vorgeschichte anfängt aggressive Verhaltensweisen zu zeigen, so liegt es nahe, dass hier veränderte Hirnfunktionen zugrunde liegen. Bei jenen Individuen ohne Vorgeschichte von Gewalt und Antisozialität, die mit Übergang in oder nach einer ersten akuten psychotischen Episode gewalttätig werden, könnten jene Veränderungen im Gehirn, die der Psychose zugrunde liegen [30], entweder die Hemmschwelle für aggressives Verhalten herabgesetzt oder zu einer Gefühlskälte gegenüber anderen geführt haben. Viele dieser Menschen dürften während der Übergangsphase in die erste psychotische Episode ihren Zustand mit Alkohol und Drogen verschlimmert haben, da diese Substanzen, ebenso wie andere äußere Einflüsse bei Schizophrenen gra-

vierendere Folgen haben als bei psychisch Gesunden [17]. Drei Ursachen können mit einer Steigerung des Risikos aggressiven Verhaltens in Verbindung gebracht werden: F Substanzmissbrauch, F mit dem Krankheitsausbruch einhergehende massive Veränderungen in Hirnstruktur und -funktion und F die Reaktion des Individuums auf diese Veränderungen [5].

Typ III: Gewalttaten nach längerem Krankheitsverlauf Gewöhnlich handelt es sich hier um ca. 40 Jahre alte, chronisch schizophrene Männer, die ohne eine Vorgeschichte von Gewalt oder antisozialem Verhalten nach 10- bis 20-jährigem Krankheitsverlauf, plötzlich töten oder zu töten versuchen, häufig eine Bezugsperson [3]. Bislang wurde diese Tätergruppe nur in einer einzigen Studie untersucht. Hierbei war Gefühlskälte mit Gewalttätigkeit und Negativsymptomen, nicht aber mit Störung des Sozialverhaltens oder Substanzmissbrauch assoziiert [23]. Möglicherweise resultiert die das Risiko aggressiven Verhaltenes steigernde Gefühlskälte einiger chronisch Schizophrener aus den mit der Krankheit einhergehenden progressiven morphologischen Hirnveränderungen.

Was sind die Konsequenzen? Weitaus die meisten der Schizophrenen, die strafrechtlich untergebracht sind, waren zuvor – meist über Jahre hinweg mit einer Vielzahl stationärer Aufnahmen – Klienten der Allgemeinpsychiatrie gewesen. Gleichwohl hat die dortige Behandlung nicht verhindern können, dass Delikte begangen wurden und eine Einweisung in eine forensische Fachklinik erfolgte [11]. Auf der anderen Seite belegen Studien, dass nach absolvierter kriminalpräventiver Behandlung im Maßregelvollzug das durchschnittliche Delinquenzrisiko entlassener Forensikpatienten geringer ist, als jenes von Patienten, die aus stationärer Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie entlassen wurden [12].

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Auch in der Allgemeinpsychiatrie sollten Risiken eingeschätzt und gemanagt werden können Wenn es offenkundig möglich ist, mit adäquaten Interventionen Risiken, die sich in der Vergangenheit bereits verwirklicht hatten, zu beherrschen, sollten diese Interventionen auch geeignet sein, primär präventiv eingesetzt zu werden [29]. Dies würde aber voraussetzen, dass auch in der Allgemeinpsychiatrie zumindest die Basistechniken von Risikoeinschätzung und Risikomanagement verfügbar sind und auch tatsächlich eingesetzt werden. Entsprechende Behandlungstechniken stehen zur Verfügung [15]. Angesichts der zunehmend schwindenden rechtlichen Möglichkeiten, behandlungsuneinsichtige Schizophrene mit hohem Gewalttäterrisiko bereits im Vorfeld einer Einweisung in den Maßregelvollzug einer suffizienten Behandlung zuzuführen, ist gegenwärtig aber eher zu erwarten, dass der psychiatrische Maßregelvollzug – in Deutschland – mehr und mehr ein Teil der Regelversorgung wird, mit aller sich daraus entwickelnden weiteren Stigmatisierung, die dann aber alle psychisch Kranken treffen wird. Auch wenn in Deutschland nicht absehbar ist, dass die Verhinderung von Delinquenz als Aufgabe ambulanter Versorgung gesehen wird, sollte man wissen, dass Studien aus Ländern, in denen unfreiwillige ambulante Behandlungsmaßnahmen auch außerhalb strafgerichtlicher Weisungen zulässig sind, zeigen, dass sich so Rehospitalisierungen, Gewalthandlungen sowie eigene Viktimisierung verringern und Compliance sowie Parameter von Lebensqualität steigern lassen ([4], Übersicht bei [24]).

Fazit für die Praxis F Angesichts des mit Schizophrenie einhergehenden erhöhten Gewalttäterrisikos sollten Menschen, die sich wegen einer Schizophrenie in Behandlung begeben, grundsätzlich gleich zu Beginn ihrer Krankheitskarriere auf das Vorhandensein einer frühen Vorgeschichte von Verhaltensproblemen und Aggressivität hin untersucht werDer Nervenarzt 3 · 2014 

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Leitthema den. Dies ist nicht aufwendig, man muss nur danach fragen. F Eine bereits bei erstem Kontakt zum psychiatrischen Versorgungssystem identifizierbare Hochrisikogruppe ist gekennzeichnet durch: Erziehungsversagen der Eltern, frühe Verhaltensauffälligkeiten zu Hause, in der Schule und in der Öffentlichkeit, Substanzmissbrauch im Kindes- und Jugendalter, Institutionalisierungen mit der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens, Erstdelinquenz vor Erstkontakt mit der Psychiatrie, Kodiagnosen von antisozialer Persönlichkeitsstörung und Missbrauch illegaler Substanzen sowie Persönlichkeitszüge von Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit und Empathiemangel [11, 12].

Korrespondenzadresse Prof. S. Hodgins Département de Psychiatrie, Université de Montréal C.P.6128, Succ. CentreVille (Pavillon 3050) Montréal Québec H3C 3J7 Kanada R. Müller-Isberner Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina Landgraf-Philipp-Platz 3, 35114 Haina/Kloster [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  S. Hodgins und R. Müller-Isberner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.     Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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