Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause Tallafuss, Petra

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Author: Lothar Huber
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Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause Tallafuss, Petra

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Publication date: 2008 Link to publication in University of Groningen/UMCG research database

Citation for published version (APA): Tallafuss, P. (2008). Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause: zur Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR s.n.

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RIJK SUNIVERSITE IT G RONINGEN

„Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause“ – Zur Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR

Proefschrift ter verkrijging van het doctoraat in de Letteren aan de Rijksuniversiteit Groningen op gezag van de Rector Magnificus, dr. F. Zwarts, in het openbaar te verdedigen op donderdag 11 december 2008 om 13:15 uur

door Petra Tallafuss geboren op 6 juli 1977 te Schwetzingen (Duitsland)

Promotor:

Prof. dr. W. Wende

Beoordelingscommissie:

Prof. dr. A. Visser Prof. dr. G. Helmes Prof. dr. H. W. H. Niebaum

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Erster Teilband

Inhalt

Einleitung .................................................................................................................... 7 I.

Grundlegungen für die Hauptmann-Rezeption in der DDR: Hauptmann in der SBZ ..................................................................................... 28 1. Kulturpolitische Anfänge im Umfeld des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands ................................................. 28 2. Hauptmanns Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft .......................................... 40 3. Widerstände gegen die Restituierung der Dichter-Ikone Hauptmann.......... 60 4. Der verstorbene Dichterfürst als legitimatorische Stütze ............................ 65 5. Das Spielplandilemma der Nachkriegszeit: Diagnosen und Reaktionen im Theater der Zeit ......................................... 79

II.

Zur Rezeptionslage in der DDR ........................................................................ 88 1. Wahrnehmung und Würdigung der Person Gerhart Hauptmanns ............... 89 1.1. Materielle Konkretisationen der Hauptmann-Ehrung .................. 89 Exkurs: Die Grabstätte Gerhart Hauptmanns ............................... 93 1.2. Die Inszenierung von Jubiläen und Geburtstagen nach 1949 ...... 97 1.3. Gerhart-Hauptmann-Museen ...................................................... 117 1.4. Wertungen in der Literaturgeschichtsschreibung – ein Beispiel..123 2. Ideologie und Ästhetik des Programmhefts .............................................. 129 3. Zur Präsenz sozialkritischer Dramen Hauptmanns auf DDR-Bühnen ...... 140 3.1. 1949-1953: Die Durchsetzung der planmäßigen Ideologisierung . 143 3.1.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 143 3.1.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 151 3.1.3. Bertolt Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann ........................................................................ 165 3.2. 1954-1964: Ausbau und Festigung des Systems ........................... 189 3.2.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 189 3.2.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 196 3.2.3. Inszenierungen im Kontext des Centenariums .................. 207 3.3. 1965-1970: Kulturrepression am Ende der Ulbricht-Ära .............. 223 3.3.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 223 3.3.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 226 3.4. 1971-1975: Ansätze gelockerter Kulturpolitik unter Honecker .... 236

3.4.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 236 3.4.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 240 3.5. 1976-1981: Die krisenhafte Entwicklung nimmt ihren Lauf ......... 243 3.5.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 243 3.5.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 245 3.6. 1982-1989: Der (kultur-)politische Zusammenbruch .................... 263 3.6.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen .............................. 263 3.6.2. Rezeptionsschwerpunkte ................................................... 267 III.

Hauptmann als deutsch-deutscher Grenzgänger ............................................. 270

IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 277 V.

Anhang ............................................................................................................ 285 1. Abbildungen ............................................................................................... 285 2. Übersichten 2.1. Spielzeit 1949/50 – 1952/53 .......................................................... 294 2.2. Spielzeit 1953/54 – 1963/64 .......................................................... 295 2.3. Spielzeit 1964/65 – 1969/70 .......................................................... 296 2.4. Spielzeit 1970/71 – 1974/75 .......................................................... 297 2.5. Spielzeit 1975/76 – 1980/81 .......................................................... 298 2.6. Spielzeit 1981/82 – 1988/89 .......................................................... 299

VI. Verzeichnisse.................................................................................................... 300 1. Werkregister ............................................................................................... 300 2. Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. 307 3. Literaturverzeichnis ................................................................................... 309

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Dankwort 1939 kritisierte der Hauptmann-Freund und -Forscher Felix A. Voigt den Rückgang an Veröffentlichungen über Gerhart Hauptmann und dessen Werk. Gleichzeitig merkte Voigt aber verwundert an, dass unter jenen wenigen Publikationen zahlreiche Dissertationen seien, Hauptmann also immer noch als „Objekt für Doktordissertationen“ begehrt sei – und dies obschon „kaum ein anderer Dichter der neuen Zeit weniger für Erstlingsversuche geeignet“1 sei als Hauptmann. Die wissenschaftlichen Methoden zur Untersuchung literarischer Werke und ihrer Rezeption haben sich seit Voigts Zeiten von Grund auf geändert. Dennoch stellt die Beschäftigung mit Hauptmann in einem ‚Erstlingsversuch’ auch heute noch eine Herausforderung dar. Deswegen gilt mein herzlichster Dank all jenen, die das Annehmen dieser Herausforderung ermöglicht und befördert haben – allen voran meinen Eltern und meinem Bruder. Für wertvolle Anregungen, konstruktiv-kritisches Feedback und für eine überaus umsichtige Betreuung danke ich besonders Prof. Dr. Wara Wende. Des Weiteren danke ich den Gutachtern Prof. Dr. Anthonya Visser (Leiden), Prof. Dr. Günter Helmes (Flensburg) und Prof. Dr. Hermann Niebaum (Groningen). Dank gebührt Heike Lorenz vom Bühnenverlag Felix Bloch Erben für die Auskünfte zur Bühnenpräsenz Hauptmann’scher Stücke sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Theaterarchive des Staatstheaters Dresden, des Deutschen Theaters Berlin, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, der Freien Volksbühne Berlin, des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau-Görlitz, der Gerhart-Hauptmann-Gedenkstätte Erkner, der Akademie der Künste Berlin, des Bundesarchivs Berlin und Gabriele Schmidt (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. der TU Dresden). Hans Jörg Schmidt sei dafür gedankt, dass er mir immer ermutigender Ansporn war. Nicht zuletzt möchte ich Lars Koch dafür danken, dass er die härteste Phase dieses ‚Erstlingsversuchs’ nicht nur mit großem fachlichem Verstand und zahllosen Anstößen zum Weiterdenken begleitet hat, sondern dass er mir mit seiner bestärkenden Geduld gerade auch dann eine unschätzbare Unterstützung bot, wenn gar nichts mehr zu gehen schien. Berlin, im Juli 2008 Petra Tallafuss 1

Felix A Voigt, Grundfragen der Gerhart-Hauptmann-Forschung (1939), in: ders., Gerhart-Hauptmann-Studien 1934-1958, hg. von Mechthild Pfeiffer-Voigt, Berlin 1999, S. 79-94, hier: 79.

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Einleitung Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Kreise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. Karl Marx

Gerhart Hauptmann lebte und schrieb unter drei deutschen Herrschaftssystemen, dem deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem ‚Dritten Reich’. In seinem letzten Lebensjahr kam er zudem mit Führungspersönlichkeiten der SBZ bzw. späteren DDR in Kontakt. Nachdem Hauptmann am 6. Juni 1946 im schlesischen Agnetendorf (Jagniątków) verstorben war, verstand es jene Elite des ‚neuen Deutschland’, die Trauerfeierlichkeiten mehr zum eigenen Legitimationsdenn zum Ehrerweis für den Verstorbenen zu dehnen. Bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Systeme genossen Person und Werk Gerhart Hauptmanns in diesem Zeitraum deutscher Geschichte von staatlicher Seite stets große Anerkennung – mit Ausnahme der Abscheu, die Kaiser Wilhelm II. gegen den vermeintlichen „Vergifter des deutschen Volksgeistes“2 hegte. Aufwändige Feierlichkeiten zu Hauptmanns 60., 70. und 80. Geburtstag – die einen mit Festakten und Ehrungen durch höchste Repräsentanten der Weimarer Republik begangen, die anderen unter besonderem Engagement Baldur von Schirachs in Breslau und Wien zelebriert – verliehen dieser Wertschätzung Ausdruck. Immense gesellschaftliche Achtung widerfuhr dem Literaturnobelpreisträger des Jahres 1912 gerade in der Weimarer Republik. Hier galt er nicht nur vielen als deren „geistiger König“3, sondern wurde im Herbst 1921 sogar als Anwärter auf das Reichspräsidentenamt gehandelt. Für Kulturgrößen 2

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Anatoli Lunatscharski, Vor Sonnenaufgang und -untergang. Zum 70. Geburtstag Gerhart Hauptmanns [veröffentlicht in: Iswestija, 25.11.1932], in: ders., Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Franz Leschnitzer, Dresden 1962, S. 129-137, hier: 129. Vgl. Weimarer Republik, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Mit einer Einleitung und Kommentaren hg. von Anton Kaes, Stuttgart 1983, S. XXI.

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wie etwa Heinrich Mann war Hauptmann damals schon längst der allseits beliebte „Präsident des Herzens“.4 Ebenfalls zu majestätischer Titulatur griff Thomas Mann in seiner, Hauptmann zum 60. Geburtstag gewidmeten Rede Von Deutscher Republik. In ihr erklärte er Hauptmann zum „Volkskönig“, zum „König der Republik“.5 Der zentrale Grund für das Hauptmann’sche Popularitätsphänomen liegt, neben der Klassizität eines Großteils seines Schaffens, in dem Umstand begründet, dass Hauptmann offiziell weder für noch gegen eines der Herrschaftssysteme bzw. eine ihrer Ideologien schrieb. Zunächst wurde ihm diese Eigenschaft als Tugend angerechnet. Reichskanzler Joseph Wirth lobte 1922 Hauptmanns Zeitungebundenheit und Geradlinigkeit.6 Seine geschickte und zumeist unausgesprochene Weigerung, eine eindeutige Stellung zu beziehen, die sich bisweilen sogar in eine „literarisch geradezu genossene Entschlusslosigkeit“7 auswachsen konnte, wurde aber bereits früh von hellsichtigen Zeitgenossen kritisiert. Beispielsweise charakterisierte Carl Sternheim, linksradikaler Spötter des juste milieu, Hauptmann als Paradebeispiel des „vollendeten Assimilationsprinzips“8. Sternheim warf Hauptmann vor, politisch, wirtschaftlich und geistig „ohne eigene Seinsweise charakterlos“ zu sein und „stets den besten Anschluß an die augenblickliche Konjunktur“ zu suchen.9 Bemängelte Sternheim, dass Hauptmann über keine „eigene Gesinnung“ verfügte, so sah man im sich formierenden nationalsozialistischen Lager Hauptmann paradoxerweise als „Wegweiser für eine nach uns kommende Zeit starker deutscher Führergestalten“10. Früh wurde auch vonseiten der Sozialdemokratie versucht, Hauptmann politisch in Besitz zu nehmen. Diese Versuche wurden primär von der Hoffnung getragen, der Autor des sozialkritischen Stücks Die Weber könnte das nachbürgerliche Dichtertalent sein, dem eine ästhetische Übersetzung politischer Weltan4

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Heinrich Mann, in: Festschrift zum 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns, hg. von Felix Hollaender, Berlin 1922, S. 7. Dem schloss sich auch Thomas Mann an: „Ich liebe und bewundere Gerhart Hauptmann von jeher, auch noch in seinen schwächeren Produkten [...]“ (ebd., S. 8). Thomas Mann, Von Deutscher Republik [veröffentlicht in: Neue Rundschau 33, Bd. 2 (1922)], in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. II, Frankfurt a.M. 1965, S. 11-52, hier: 12. „Unser Volk kann stolz sein auf ihn, der nicht als Günstling von Zeitströmungen, sondern Widerständen und Hemmungen zum Trotz sich durchgesetzt hat – durch seine große Kunst und durch die Unbeugsamkeit seiner Seele“ (Joseph Wirth, in: Hollaender [Hg.], Festschrift, S. 3). Gert Mattenklott, Gerhart Hauptmann – Ein Porträt, in: Walter Engel/ Jost Bomers (Hg.), Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns, Berlin 1997, S. 11-22, hier: 16. Umfrage: Wie denken Sie über Gerhart Hauptmann? In: Der Freihafen, 5 (1922), H. 3, S. 12 f., hier: 12. Ebd. Hans F. Blunck, in: ebd.

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schauung und damit die Eröffnung neuer Wirkhorizonte im Sinne einer politisch aktivierenden Literatur gelänge. So beobachteten etwa August Bebel und Wilhelm Liebknecht den jungen Hauptmann mit großem Interesse.11 Die Erwartungshaltung der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Kreise prägte ihr Rezeptionsverhalten:12 Im Zuge ihrer Fokussierung auf die (vermeintliche) „Ideologieträchtigkeit“13 von Literatur wurde das Hauptmann’sche Oeuvre in seiner Existenz selbst nicht als semiologisches Faktum hingenommen, mit dessen Gegenläufigkeiten man sich reflektierend auseinander zu setzen hätte, sondern dem Strukturmodell von Basis und Überbau nach als Reaktion auf das Zeitgeschehen erklärt. Auch der eigentlich ein „tiefes Misstrauen gegen die naturalistische Dekadenz“14 hegende Franz Mehring rühmte 1893 in diesem Sinne öffentlich die „mächtige revolutionäre Wirkung“15 der Weber. In diesem Stück – so das Fazit des Publizisten und Politikers – sei es Hauptmann gelungen, „aus dem Born eines echten Sozialismus zu schöpfen“16. Nicht zu letzt schätzte Georg Lukács, der nach dem Ungarn-Aufstand entthronte „Papst des sozialistischen Realismus“17, Die Weber und Der Biberpelz als „bleibende Denkmäler“ der deutschen Literatur.18 Die funktionalistische politische Indienstnahme der Autorfigur Gerhart Hauptmann, die sich in diesen zeitgenössischen Bewertungen bereits andeutet, ist – auf die Jahre nach 1945 gewendet – Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Bevor jedoch im Folgenden die Rezeptionsstrategien im Umgang mit Hauptmanns 11

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Im November 1890 lernte Hauptmann August Bebel, den Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, durch dessen späteren Schwiegersohn und ehemaligen Mitbewohner Hauptmanns, den Arzt Ferdinand Simon, kennen (Behl, Gerhart Hauptmann in Berlin [1946], in: ders., Wege zu Gerhart Hauptmann, Goslar 1948, S. 57-63, hier: 57). An Franz Mehring schrieb Bebel am 20.11.1893: „Auf Ihre Besprechung des Hannele bin ich gespannt. Alle Hoftheater führen es auf […] – das ist bedenklich. Es sollte mir leid sein, wenn er in dieser Richtung seinen Beruf entdeckte, über den er sich bisher wohl selbst noch nicht klar war“ (Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 5, München 1995, S. 43). Bei der Weber-Aufführung am 25.09.1894 im Deutschen Theater Berlin soll sich Liebknecht nach dem I. Akt „mit Klatschen hervorgetan“ haben (Bericht des Polizeipräsidenten an den preußischen Innenminister vom 04.10.1894, zit. nach: Praschek [Hg.], Gerhart Hauptmanns Weber, S. 291-294, hier: 293). Die aufrührerischen Reden der Figur des Moritz Jäger aus Die Weber wurden noch Anfang der 1920er Jahre als agitatorisches Material in der Roten Fahne abgedruckt: Sch. Uk, Die Weber, in: RF, (1921), Nr. 291; Die Weber, in: RF, (1921), Nr. 289. Vgl. Joseph Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bordieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995, S. 64. Peter Sprengel, Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1984, S. 52 f. Franz Mehring, Gerhart Hauptmanns Weber [1893], in: ders., Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel, Berlin (Ost) 1961, S. 277-285, hier: 284. Ebd., S. 283. Frank Benseler (Hg.), Zur Literatur. Einleitung, in: Georg Lukács, Revolutionäres Denken. Eine Einführung in Leben und Werk, Darmstadt 1984, S. 101-108, hier: 102. Georg Lukács, Überwindung des Naturalismus, in: ders., Schriften zur Literatursoziologie, 5. Auflage, Neuwied 1972, S. 462-468, hier: 465.

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„Dramaturgie der Parteilosigkeit“19 in der SBZ/DDR näher ins Blickfeld gerückt werden sollen, sind zunächst einige weitere Anmerkungen zum „biografischen Ausgangsmaterial“ dieser Ausdeutungen, zum sozialpolitischen Kontext und zur Analysemethode dieser Untersuchung vonnöten. Zu Hauptmanns sozialer und politischer Physiognomie Boten die uneindeutigen Äußerungen Hauptmanns breite Interpretationsmöglichkeiten für Kreise jedweder Couleur, so stand allen politischen Eingemeindungsversuchen indes der widersprüchliche Charakter Hauptmanns im Wege. Hauptmann konnte auf intellektuell redliche Weise weder biografisch noch hermeneutisch vereindeutigt werden. Seine mangelnde Entschlussfähigkeit, die sich „jeder sozialen Typisierung entzog“20, machte ihn in Kombination mit seinem literarischem Erfolg zwar einerseits als Projektionsfläche attraktiv, andererseits ließ ihn sein verwischtes politisches Profil gleichwohl immer wieder auch als unsicheren Kantonisten erscheinen. Dort, wo man eigentlich eine klare politische Bekenntnispraxis erwartet hätte, blieb Hautmann meist ausweichend und wage. Wollte man ihn bzw. sein Werk dennoch als integralen Bestandteil der sozialistischen Literatur interpretieren, so waren umfassende Umdeutungen bzw. Ausblendungen erforderlich. Die dabei auftretenden Interessen- und Konfliktlagen sowie die Argumentations- und Deutungsstrategien, die die Spannungen zwischen sozialistisch-interpretierbaren und widerständig-bürgerlichen Hauptmann-Anteilen überwinden sollten, nehmen in einigen Aspekten die Interpretationspraxis der Hauptmann-Rezeption in der SBZ/DDR vorweg. Sie seien im Sinne eines Einstiegs in die nachfolgende Rekonstruktion des sich wandelnden HauptmannBildes in der DDR daher kurz dargestellt. Hauptmanns soziale Physiognomie, sein angeblich „kräftiges rotes Volks21

blut“ , bot Akteuren des sozialdemokratischen Lagers eine Grundlage, um

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Vgl. Klaus Müller-Salget, Dramaturgie der Parteilosigkeit. Zum Naturalismus Gerhart Hauptmanns, in: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement, hg. von Helmut Scheuer, Stuttgart 1974, S. 48-67. Moritz Heimann, Gerhart Hauptmann. Züge zu seinem Porträt, in: ders., Nachgelassene Schriften, Berlin 1926, S. 100, zit. nach: Mattenklott, Gerhart Hauptmann, in: Engel/ Bomers (Hg.), Zeitgeschehen, S. 11-22, hier: 19. Konrad Haenisch, Gerhart Hauptmann und das deutsche Volk, Berlin 1922, S. 19. Unter Hauptmanns Ahnen väterlicherseits finden sich Weber, Handwerker und Häusler; mütterlicherseits Angestellte und Dienstleute. Der Großvater Ehrenfried war ein „Weber und Dorfmusikus“ (CA, VII, S. 571), der sich, über den Umweg des Militärs der Not entkommen, zum Besitzer des Gasthofs Zur Krone emporgearbeitet hatte (Hans Daiber, Gerhart Hauptmann oder Der letzte Klassiker, Wien 1971, S. 72). Der Vater Robert, der sich vom Marseillaise spielenden „Roten“ zum glühenden Bismarck-Verehrer wandelte (CA, XI, S. 494), führte den Gasthof fort. Insgesamt ist Hauptmanns Herkunft somit im

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Hauptmann im kaiserkritischen Spektrum links von der Mitte zu positionieren. Dies umso mehr, als Hauptmann, indem er Die Weber seinem Großvater widmete, mit Stolz auf seine quasi-proletarischen Wurzeln zurück zu blicken schien. Das dem Stück ein ‚Arbeiter-Flair’ gebende Ensemble aus familiärer Nostalgie, Historienmalerei und Revolutionsliedern brachte Hauptmann deshalb in nationalen Kreisen schnell den Spottnamen ‚Ballonmützen-Hauptmann’ ein. Der Dichter sollte damit als Sympathisant der Sozialdemokratie gesellschaftlich desavouiert werden,22 was wiederum sozialdemokratischen Kreisen im Sinne der Lagerbildung zupass kam. Auch die kurzzeitige, im Rahmen der Ikarier-Unternehmung23 gelebte Sozialismusaffinität, die Hauptmann in seinem Dramenerstling Vor Sonnenaufgang verarbeitete, legte den Eindruck einer grundsätzlichen Sympathie mit der Sozialdemokratie nahe.24 Darüber hinaus leisteten selbstgewählte Assoziationen mit dem Sozialismus – wie etwa der Untertitel „soziales Drama“ für Vor Sonnenaufgang, der den intendierten Theaterskandal noch zusätzlich befeuerte25 – und die Bearbeitung gesellschaftlich brisanter Themen der Inbesitznahme durch sozialdemokratische bzw. sozialistische Kreise weiterhin Vorschub. Soweit die Haben-Seite sozialdemokratischer Frontenbildung. Auf der Soll-Seite der weltanschaulichen Indizienkette stand dem jedoch ein ‚realer’ Ger-

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bürgerlichen-bodenständigen Milieu zu verorten (Sigfrid Hoefert, Gerhart Hauptmann, Stuttgart 1974, S. 10). Vgl. Gerhard Eckert, Anekdoten aus Schlesien. Mit 30 Anekdoten um Gerhart Hauptmann, 2. Auflage, Husum 1995, S. 44; Heinz Lux, Der Breslauer Sozialistenprozess. Auch eine Hauptmann-Erinnerung, in: Hermann Bahr/ Walter Heynen (Hg.), Mit Gerhart Hauptmann. Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis, Berlin 1922, S. 69-82, hier: 81. Hauptmann trat den Ikariern im Frühjahr 1882 bei. Dass keiner der Beteiligten damals der sozialdemokratischen Partei angehörte, signalisiert den jugendlich-naiven wie politisch unverbindlichen Charakter der Unternehmung. Weil man nicht mit dem Sozialistengesetz ins Gehege kommen wollte, hatte sich die Gruppe sogar bei der Polizei angemeldet, was beim Breslauer Sozialistenprozess 1887 als „ganz besondere Perfidie“ ausgelegt wurde (Lux, Der Breslauer Sozialistenprozess, in: Bahr/ Heynen [Hg.], Mit Gerhart Hauptmann, S. 69-82, hier: 77). Dass Hauptmanns harmloses Engagement in dieser Gruppe wenig inhaltlich unterfüttert war, sondern aus einer allgemeinen, der bürgerlichen Stimmungslage in der Zeit vor der Jahrhundertwende korrespondierenden Utopie-Begeisterung entsprang, wurde von den Zeitgenossen nicht gesehen (zum Stimmungshintergrund vgl. Justus H. Ulbricht, ‚Transzendentale Obdachlosigkeit’. Ästhetik, Religion und ‚neue soziale Bewegungen’ um 1900, in: Wolfgang Baumgart/ Gotthard Fuchs/ Manfred Koch [Hg.], Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 2, Paderborn 1998, S. 47-68). „Sein erstes Stück nannte Hauptmann ein ‚soziales Drama’, und daher stammt das Gerede, er habe sofort ein soziales Weltbild, den Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf die Bühne geführt, der sozialen Frage der Zeit die weltbedeutenden Bretter geöffnet“ (Mehring, Ästhetische Streifzüge [1898/99], in: ders., Aufsätze zur deutschen Literatur, S. 141-226, hier: 189); vgl. Uwe Schneider, Literarische Zensur und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Kaiserreich, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890-1918, München u.a. 2000, S. 394-409, hier: 397; Zur Theorie und Geschichte des Literaturskandals vgl. Johann Holzer/ Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen 2007.

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hart Hauptmann gegenüber, der sich in seinem Handeln und in seinen wechselhaften öffentlichen Äußerungen in Distanz, manchmal gar in direkter Kontradiktion zur sozialistischen Sache befand. So stritt Hauptmann den Sozialismusverdacht gegen Die Weber vehement ab, verweigerte sich jeglicher Parteizugehörigkeit, agierte spätestens seit der Jahrhundertwende immer stärker kulturkonservativ und unterstützte z.B. sogar die Wiederwahl Hindenburgs. Allem Anschein nach war das politische Verhalten Hauptmanns von einem Wissen um die ‚Spielregeln’ des gesellschaftlichen Aufstiegs und von strategischem Resonanzkalkül bestimmt. Die Ursprünge dieser Interessenspolitik legte Hauptmann im Abenteuer meiner Jugend (1937) rückblickend offen. Hier beschrieb er seine jugendliche Sympathie für die Unterschicht – Fuhrleute, Dienstmädchen, Bergleute und Tagelöhner, denen er in seiner schlesischen Heimat täglich begegnete.26 Gleichzeitig war sich Hauptmann – zumindest der retrospektiven Stilisierung nach – immer bewusst, in welche Richtung ihn sein Weg gesellschaftlich führen sollte. Hauptmann wollte ‚dazu gehören’, Mitglied jener Oberschicht werden, deren Angehörige ihm in der Jugend wie „Halbgötter“27 erschienen. Da er früh erkannte, dass – den wilhelminischen Gesellschaftsregeln gemäß – der Umgang mit der Unterschicht von der Oberschicht sanktioniert wurde, keimte in ihm eine Angst, den Unwillen der besseren Gesellschaft auf sich zu ziehen und die erahnten Aufstiegschancen zu verspielen. Aus diesem Bewusstsein einer prekären sozialen Verhaltensarchitektonik erwuchs Hauptmanns charakteristisches „Schwanken zwischen Autoritätsgläubigkeit und romantischem Sozialismus“28, das sich gut in der Formel ‚über unten schreiben, aber oben leben’ ausdrücken lässt. Trotz des zeitweilig empfundenen „echtblütig[en] proletarische[n] Ressentiment[s]“ und der „quälende[n] Wut gegen das Bürgertum“,29 begnügte sich Hauptmann deshalb mit der Rolle des interessierten Beobachters der gesellschaftspolitischen Vorgänge und sozialistischen Bestrebungen. Nicht zuletzt festigte die 1855 vollzogene Eheschließung mit der Großkaufmannstochter Marie Thienemann – von Mehring als „sozialer Schachzug“30 eingestuft – die Selbstpositionierung Hauptmanns in der gesellschaftlichen Hierarchie. Die so geschaffene, neue gesell26

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Die „Schauplätze“ dieser Jugendzeit „lagen auf zwei verschiedenen Hauptebenen, von denen die eine die bürgerliche, die andere zwar nicht die durchum proletarische, aber jedenfalls die der breiten Masse des Volkes war“ (CA, VII, S. 474). CA, VII, S. 482. Reinhard Alter, Gerhart Hauptmann, das deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg, in: Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein/Ts. 1984, S. 184-204, hier: 188. CA, VII, S. 616. Mehring, Ästhetische Streifzüge [1898/99], in: ders., Aufsätze zur deutschen Literatur, S. 141-226, hier: 187.

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schaftliche Basis musste aus einer am historischen Materialismus geschulten Perspektive zwangsläufig Einfluss auf das Denken und Schreiben des Umworbenen haben: In der „wirtschaftliche[n] Geborgenheit“31 dieser Verbindung wollte man – auch noch zu DDR-Zeiten32 – die Bremse sehen, die das potenzielle Engagement Hauptmanns und die von ihm erwartete politische Entwicklung blockiert habe. Wenngleich alternative Gesellschaftsentwürfe Hauptmann Zeit seines Lebens beschäftigten, so trug diese Faszination doch die Signatur der gesicherten, bürgerlichen Existenz. Der so entstehende Zusammenhang von Literatur und Leben stellte einen Kompromiss dar, der es ermöglichte, gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolg zu vereinbaren. Als Eigenart Hauptmanns fügt sich in diesen Zusammenhang, dass er sich Vereinnahmung, besonders wenn sie im festlichen Gewande der Huldigung daherkam, gerne gefallen ließ. Hauptmann genoss es, wenn er im Mittelpunkt von Zeremonien öffentlicher Anerkennung stand. Wer dabei jeweils die Zeremonienmeister waren und mit welchen Botschaften die Bewunderungsbekundungen sich mittelbar verknüpften, interessierte ihn hingegen weniger. Zudem war Hauptmann wie viele andere Intellektuelle nach 1933 empfänglich für die von massenpsychologischem Kalkül durchwirkte NSInszenierungskraft und für die Sprachgewalt Hitlers. Das Ausbleiben klarer Worte gegen das Hitler-Regime bzw. seine extreme Unsicherheit in der Einschätzung der neuen politischen Machtverhältnisse – für Hauptmann war Hitler mal das „Weltgenie“33, mal der „Henker“34 – rührte von diesem Charakterzug her und brachte ihn bei vielen Exil-Schriftstellern in Misskredit. Diese verübelten dem bei der Machtergreifung Siebzigjährigen, dass er in den Jahren der NS-Diktatur antaioshaft an seiner ihm physisch immer näher kommenden Heimaterde festhielt und die Möglichkeit der Emigration ausschlug.35 Im Hinblick auf die Rezeptionskonstellationen in der SBZ/DDR noch schwerer wogen unkritische bis affirmati31

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Paul Merker, Ein reiches Leben, in: Gerhart Hauptmann zum 80. Geburtstag am 15. November 1942, Breslau 1942, S. 9. „Freilich, die Verbindung mit Marie und der Übergang ins besitzende Bürgertum erschwerten künftig seine Solidarisierung mit der Arbeiterbewegung. Er vermochte zwar weiterhin gefühlsmäßig mitzuleiden, doch nicht zielbewusst mitzukämpfen“ (Eberhard Hilscher, Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Mit bisher unpublizierten Materialien aus dem Manuskriptnachlaß des Dichters, Berlin [Ost] 1987, S. 41). Hauptmann nach dem Frankreich-Feldzug Hitlers (28.06.1940), zit. nach: Hans von Brescius, Gerhart Hauptmann. Zeitgeschehen und Bewusstsein in unbekannten Selbstzeugnissen, Bonn 1976, S. 302. Ferenc Körmedy, „Warum ich Deutschland nicht verlasse?“ Hauptmann und Hitler – Anklage und Selbstanklage – eine Begegnung 1938, in: Die Welt (10.11.1962). Thomas Mann war einer der wenigen, die hierfür Verständnis aufbringen konnten: „Ich kann es dem alten Hauptmann nicht übel nehmen, dass er schweigt. Was soll er sich um Habe und Vaterland reden?“ (Ders., Brief an A. M. Frey vom 12.06.1933, in: ders., Briefe 1889-1936, hg. von Erika Mann, Frankfurt a.M. 1962, S. 333).

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ve Äußerungen Hauptmanns in der Öffentlichkeit. Hierzu zählen seine pronationalistische Stellungnahme zum Austritt aus dem Völkerbund von 1933,36 ein Beitrag zur Wahlpropaganda im Vorfeld der Reichstagswahl von 1936,37 sowie seine Zustimmung zum ‚Anschluss’ Österreichs von 193838. In Zeitungen des Auslands wurde er deshalb als „Schaufensterautor des Dritten Reiches“ angegriffen39 und von dem einstigen Freund Alfred Kerr40 verbittert angefeindet. Enge Vertraute wie C. F. W. Behl, Hans von Hülsen und Felix A. Voigt verteidigten Hauptmann später immer wieder im Rekurs auf das Postulat der Po-

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Hauptmann, Ich sage ‚Ja’, in: Leipziger Neuesten Nachrichten, Stuttgarter Neues Tageblatt bzw. Berliner Tageblatt [09./10.11.1933], in: CA, XI, S. 1133 f. „Leider habe ich hier, bei meinem Alter, nicht die Möglichkeit, eine Stimmurne zu erreichen. Darum wähle ich diesen Weg, um das Selbstverständliche zu sagen: nämlich, dass ich mich in diesem weltgeschichtlichen Augenblick mit dem geschlossenen Willen von Führer und Volk durchaus einig fühle“ (Gerhart Hauptmann zum 29. März. Ein Bekenntnis zu Führer und Volk, in: Berliner Tageblatt [27.03.1936], CA, XI, S. 1145). „Die untrennbare Vereinigung Deutsch-Österreichs mit seinem deutschen Mutterlande und des Mutterlandes mit Deutsch-Österreich ist die unabwendbar folgerichtige Verwirklichung einer geschichtlichen Notwendigkeit. Es war ein Sohn Deutsch-Österreichs, dessen eisernen Willen die Mächte hinter den Sternen ausersahen, um ihr längst gefallenes Verdikt über Nacht zu verwirklichen“ (in: Berliner Tageblatt [02.04.1938], Abendausgabe, CA, XI, S. 1158 f.). Vgl. Körmendy, „Warum ich Deutschland nicht verlasse?“, in: Die Welt (10.11.1962); In seiner Dokumentation über die Shanghai-Emigration integrierte der Emigrant Alfred Dreifuss das folgende Spottgedicht mit dem Titel „An Gerhart Hauptmann – Difficile est satiram non scribere“: „Du bist dem Göbbels à la Götz gekrochen / Und hast Kotau gemacht vor jedem Schwein, / Das Propaganda machte und verbrochen / Den Untergang der Kunst! Du allein. // „Denn nicht nur Männer machen die Geschichte, / Sie machen auch die Kunst!“ sprach Doktor G. / Doch die Geschichte liegt auf dem Kehrichte. / […] // Du hast dich aufgeregt um Dresdens Zwinger, / Als der Bankrott schon vor der Haustür stand. / Doch dafür rührtest du nicht einen Finger, / Dass man Millionen hat mit Gas verbrannt! // Es sitzt sich angenehm in seiner Villa / Im Keller, wo der Rotwein zaubert Mut. / […] Die deutsche Herrenrasse war dein Traum. / Man briet sich als Kotlett die frische Leber / Von Polen, Tschechen, Russenpack: Abschaum! / Doch im Theater spielte man Die Weber. // Mensch, dazu wird man dreiundachtzig Jahre / So zwischen Maß und Memel, Etsch und Belt / Und spielt den Weihnachtsmann im Silberhaare / Und „stellt sich zur Verfügung“ heut der Welt. // „Du wurdest dreiunddreissig nicht verbrannt, / Was Ehre hiess im zwanzigsten Jahrhundert. / Man wird dich lesen, Hauptmann, mit Verstand. / […] / Nach dem Gesetz, nach dem ihr angetreten, / so werdet ihr gerichtet werden. Pflicht!!!“ Das Gedicht von Dreifuss, der nach 1964 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Berliner Theatergeschichte am Märkischen Museum tätig war, zeigt, wie wenig Verständnis viele Emigranten „für jene Geistesgrössen“ aufbringen konnten, „die mit ihrem Verbleiben in Deutschland bewusst oder unbewusst dem Faschismus dienten“ (ders., Die Schanghai-Emigration 1939-1947 unter besonderer Berücksichtigung der in dieser Stadt und in dieser Zeit geleisteten Kulturarbeit, [SAPMO – BArch, SgY30/1496, Blatt 103 f.]). „Es gibt seit gestern keine Gemeinschaft zwischen mir und ihm, nicht im Leben und nicht im Tod. Ich kenne diesen Feigling nicht. Dornen sollen schlagen, wo er noch hinwankt. Und das Bewusstsein der Schande soll ihn würgen in jedem Augenblick. Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden“ (Alfred Kerr, Gerhart Hauptmanns Schande, in: Deutsche Freiheit [Prag], [11.11.1933], zit. nach: ders., Die Diktatur des Hausknechts und Melodien, hg. von Hein Kohn und Werner Schartel, Hamburg 1981, S. 23-27, hier: 23).

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litikferne der Kunst als einen „ewig sich Wandelnde[n]“41, als „Proteus“42 und „Individualisten“43. Auch wurden private Aufzeichnungen Hauptmanns zur Relativierung seiner öffentlichen Stellungnahmen ins Feld geführt.44 Der Tenor dieser Verteidigungsversuche war, dass Hauptmann nicht anders gekonnt habe, als mit seiner Person und seinem Werk stets zu überraschen und die Gemüter zu spalten. Aber in seinem dichterischen Werk, so wurde behauptet, sei letztlich kein Wort zu finden, „das man als eine billigende Stellungnahme zu den verbrecherischen Lehren des Nazismus deuten könnte“45 – allerdings auch keine offenen Worte dagegen. Zu Faktoren der Hauptmann-Bewertung in der SBZ/DDR Der Schriftsteller und kommunistische Kulturpolitiker Johannes R. Becher ließ sich 1945 als Präsident des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands von der uneindeutigen Gesinnung Hauptmanns gegenüber dem Nationalsozialismus nicht befremden. Ebenso wenig störte ihn Hauptmanns großbürgerliche Bodenhaftung, die sich, selbst in der frühen Schaffensphase präsent, in der letzten Lebenshälfte zur „Aristokratomanie“46 ausgewachsen hatte.47 Be41

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Voigt, Die Insel der Seligen. Ein Beitrag zur Deutung der Weltanschauung Gerhart Hauptmanns (1934), in: ders., Gerhart-Hauptmann-Studien, S. 31-44, hier: 31. Hans von Hülsen, Freundschaft mit einem Genius. Erinnerungen an Gerhart Hauptmann, München 1947, S. 34, 47; Carl Friedrich Wilhelm Behl, Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann. Tagebuchblätter, München 1949, S. 109; Gustav Erdmann griff diese Bezeichnung erneut auf, nannte Hauptmann „den wahrhaft proteischen Dichter“ (Erdmann, Walther Rathenau und Gerhart Hauptmann [1962/1992], in: ders., Der bekannte und der unbekannte Gerhart Hauptmann. Ausgewählte Aufsätze, hg. von H. D. Tschörtner, Schwerin 2000, S. 43-49, hier: 43). Voigt, Gerhart Hauptmann unter der Herrschaft des Nazismus (1946), in: ders., GerhartHauptmann-Studien, S. 113-117, hier: 117. Vgl. z.B. „Schließlich und am wichtigsten entsprechen Hauptmanns private Worte, in Notizbucheintragungen und in Briefen, keineswegs seinem öffentlichen Handeln und Aussagen zwischen 1933 und 1945. Er handelte stets als der Humanist und Idealist, der er war“ (Philip Mellen, Gerhart Hauptmann und Alfred Kerr: Kontroverse ohne Ende? In: Krzysztof A. Kuczyński/ Peter Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann. Autor des 20. Jahrhunderts, Würzburg 1991, S. 43-57, hier: 56). Voigt, Gerhart Hauptmann, in: ders., Gerhart-Hauptmann-Studien, S. 113-117, hier: 113. Erich Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse... Erinnerungen an Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Klaus Mann, Gustaf Gründgens, Emil Jannings und Stefan Zweig, München 2005, S. 36. Der Hauptmann-Freund Paul Schlenther beschrieb sein elitäres Bewusstsein folgendermaßen: „Als er dann selbst in die Höhe stieg, als er mit ‚Hochgeboren’ wie mit seinesgleichen zu verkehren begann, als ihm die Lebensformen der Aristokratie einleuchteten, als er sich selbst in die Berge der Heimat hinein sein Schlösschen baute, da trat ihm der Gegensatz von Volk und Herrschaft in den Schein heitrer Phantasie“ (ders., Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Neue Ausgabe umgearbeitet und erweitert von Arthur Eloesser, [o.O] 1922, S. 168). Die kurze Ehe Benvenuto Hauptmanns mit der Prinzessin Elisabeth zu Schaumburg-Lippe kann als nachgelagerter Ausdruck der gesellschaftlichen Ambitioniertheit des Vaters gesehen werden (Kurt Freiherr von Reibnitz, Gestalten rings um Hindenburg. Führende Köpfe der Republik und die Berliner Gesellschaft von heute, 2., verbesserte Auflage Dresden 1929, S. 82, 152).

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cher sah trotz dieser und anderer Marker eines eigentlich für das ‚neue Deutschland’ ungeeigneten Habitus in Hauptmann den geeigneten Kandidaten für das Amt des Kulturbund-Ehrenpräsidenten und warb daher intensiv um ihn. Hierbei zählte das symbolische Kapital des Nobelpreisträgers, die internationale Bekanntheit des Namens Hauptmann, der durch die Größe seines Werkes und die ihn umgebende Aura des Humanismus Bechers Ansicht nach zum Aushängeschild eines ‚anderen’ Deutschland taugte. Dieser „Nimbus-Effekt“48, wie der Westberliner Hauptmann-Forscher Martin Machatzke jene Wirkkraft nannte, wurde durch Hauptmanns Goethe-Nachfolgebestrebungen nur noch erhöht. Darüber hinaus konnte für ihn eine ausreichende Zahl entlastender Momente geltend gemacht werden.49 Sie halfen, verfehlte Äußerungen und Handlungen, wie etwa das Hissen der Hakenkreuzflagge an seinem Haus auf Hiddensee,50 auszugleichen. Ebenfalls dokumentierten sie, dass seine oszillierende Meinung nie dauerhaft zu Hitlers Gunsten in eine eindeutige Systemaffirmation gekippt war. Zu Hauptmanns Entlastung wurden Fakten ins Feld geführt, die sich jedoch, wie Eberhard Hilscher, der die Hauptmann-Forschung in der DDR seit den 1960er Jahren prägte, später zu bedenken gab, je nach Gusto „beträchtlich modifizieren und sehr verschieden interpretieren“51 ließen. So wollte man glauben, dass Hauptmann von den Nationalsozialisten nur toleriert, nicht aber protegiert worden war. Antirassistische Stellungnahmen in Tagebüchern wie die Niederschrift des 1937 in Rapallo entstandenen Requiems Die Finsternisse galten ebenfalls als Beweis dafür, dass es sich bei Hauptmann um einen ‚antifaschistischen’ Kulturproduzenten handelte. Ebenso vorbildlich erschien Hauptmanns nie entäußerte Loyalität gegenüber jüdischen Freunden wie Max Pinkus, Samuel Fischer, Otto Brahm, 48 49

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Martin Machatzke, Editorisches Nachwort, in: CA, XI, S. 1283-1331, hier: 1327. Vgl. Tschörtner, Die Zeit der Finsternisse, in: Neue Literatur, 25 (1974), H. 11, S. 72-85, hier: 72-76; Rolf Rohmer, Gerhart Hauptmann. Bildbiographie, 6., neubearbeitete Auflage Leipzig 1987, S. 64, 76-80; Vgl. insgesamt die Argumentation von Alexander Abusch, Größe und Grenzen Gerhart Hauptmanns, in: SuF, (1963), H. 1, S. 48-61. Hauptmann gab im Herbst 1933 den Auftrag, die Hakenkreuzflagge zu hissen: „Setzen Sie bitte die Flagge, die jetzt üblich ist!“ Zit. nach: Sonja Kühne, „Haus Seedorn“ und seine Gäste, in: Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. Das GerhartHauptmann-Haus, hg. von der Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der GerhartHauptmann-Stiftung, Berlin 1999, S. 27-49, hier: 34 f. Ob diese jemals auf dem Wiesenstein in Agnetendorf gehisst wurde, ist nicht bekannt (ebd., S. 37). Kerr lästerte über die Motive dieser Handlung: „[…] aus Furcht, aus Vorteilsucht, aus schmieriger Schwäche, Hauptmann ist wurmstichig im Seelengrund“ (ders., Die Diktatur, S. 23-27, hier: 25). „All diese Fakten sind […] zutreffend, aber sie lassen sich beträchtlich anreichern und sehr verschieden interpretieren“ (Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Tschörtner [Red.]/ Kulturbund der DDR. Präsidalrat. Zentrale Kommission Literatur, Gerhart Hauptmann. Werk und Wirkung. Beiträge der Referentenkonferenz zum 125. Geburtstag des Dichters, Berlin, 13. März 1987, Club der Kulturschaffenden ‚Johannes R. Becher’, Berlin [Ost] 1987, S. 2-26, hier: 23 [nachfolgend abgekürzt als: Referentenkonferenz 1987]; vgl. Hilscher, Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: Kuczyński [Hg.], Gerhart Hauptmann. Internationale Studien, Łódź 1996, S. 88-107, hier: 106).

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Max Reinhardt und Walter Rathenau, sein gerade auch in Gesprächen mit NSAnhängern ostentatives Schwelgen in Erinnerungen an August Bebel, Aristide Briand und Gustav Stresemann.52 Pluspunkte waren aus sozialistischer Nachkriegsperspektive zudem die von Hauptmann bis zur Verkörperung internalisierten humanistischen Werte und seine Volksverbundenheit, die sich besonders in der Hinwendung zu ‚einfachen’ Menschen als dramatis personae ausdrückte. Auf dieser Grundlage wurde Hauptmann das Verdienst zugeschrieben, „den sozialistischen Realismus auf der deutschen Bühne vorbereitet“53 zu haben. Eine These, die durch die Wahl gesellschaftlich relevanter Themenstellungen für seine Stücke (Verelendungserscheinungen, uneheliche Mutterschaft, Betrug vs. Selbsthilfe etc.) scheinbar bestätigt wurde. Trotz mancher Kritik am Naturalismus selbst, erwiesen sich die entsprechenden Stücke Hauptmanns deshalb in vielerlei Hinsicht als legitimatorisch nützlich:54 Allen voran konnten seine Milieubeschreibungen als Zeugnisse für den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgegeben werden. Sie gerieten zur willkommenen Negativfolie für die im Aufbau begriffene sozialistische Gesellschaft. Zwar wurde das naturalistische Theater für tot erklärt, die „große realistische Tradition“, zu der Hauptmann zählte, wollte man indes „verwenden und verjüngen“.55 Das auf der Annahme eines sozialistischen Wissens- und Entwicklungsvorsprungs beruhende kulturelle Sendungsbewusstsein implizierte, dass man sich zu derartigen ‚Verjüngungskuren’ für literarische Werke nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet fühlte. Welche Blüten die identitätsstiftende Überzeugung trieb, „kluge Sachverwalter“ des Kulturerbes bzw. im Falle Hauptmanns „mündige Erben derer Vor Sonnenaufgang“ zu sein,56 soll in der vorliegenden Untersuchung anhand von Inszenierungsbeispielen gezeigt werden. Hauptmanns Werke wurden bis in die 1950er Jahre hinein auch deshalb bereitwillig aufgegriffen, weil die damalige Produktion an aktuellen deutschen Theaterstücken, die den neuen Idea52

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Behl, Zwiesprache, S. 221 (Agnetendorf, 20.05.1944); Grigorij L. Weiss, Gerhart Hauptmann und die Sowjetunion. Erinnerungen und Gespräche aus dem Jahre 1945, in: Gerhard Ziegengeist (Hg.), Begegnung und Bündnis. Sowjetische und deutsche Literatur. Historische und theoretische Aspekte ihrer Beziehungen, Berlin (Ost) 1972, S. 427-440, S. 433. Abusch, Größe, in: SuF, (1963), H. 1, S. 55. Vgl. Lothar von Balluseck, Dichter im Dienst. Der sozialistische Realismus in der deutschen Literatur, Wiesbaden 1965, S. 15. Herbert Ihering: Gerhart Hauptmann und das realistische Theater, in: Programmheft: Berliner Ensemble, Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann in der Bearbeitung des Berliner Ensembles, S. 17 f., hier: 18 [AdK, Erwin-Geschonneck-Archiv 98]. Vgl. Liane Pfelling, Alltag und Feststag Theater, Berlin (Ost) 1973, S. 29 f., wonach es die zentrale Aufgabe der Kultur- und Theaterpolitik der DDR sei, die Werke bürgerlicher Literaturgrößen „zu bewahren, im Bewusstsein des Volkes nicht nur wach, sondern auch jung zu erhalten“. Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 427-440, hier: 439.

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len und bildungsbürgerlichen Anforderungen entsprachen (‚Zeitstück’),57 quantitativ als auch qualitativ ungenügend war. Die „Aneignung des schier unerschöpflichen Reichtums des nationalen und weltliterarischen dramatischen Erbes“58 stellte somit eine Notwendigkeit dar, mit der sich diese Lücke schließen, eine systemstützende Legitimationsbasis in den Kreisen der noch existierenden bürgerlichen Eliten schaffen und der eigene Bedeutungsanspruch unterstreichen ließ. Außerordentlich anerkennungsfördernd sollte sich in der SBZ/DDR schließlich der beachtliche Ruhm auswirken, den Hauptmann in der Sowjetunion genoss.59 Kein geringer als Lenin selbst hatte sich einst als großer HauptmannBewunderer gezeigt: Er redigierte nicht nur die erste russische WeberÜbersetzung, die seine Schwester 1895 im Geheimen erstellt hatte,60 sondern wohnte im gleichen Jahr sogar einer Weber-Aufführung im Deutschen Theater Berlin bei.61 Zu DDR-Zeiten erinnerte eine eherne Tafel mit Lenins Profil am Eingang des Theaters an jenen historischen Besuch. In der Wendezeit demoliert, wurde die Tafel bei Renovierungsarbeiten 1994/95 allerdings abgenommen und befindet sich heute im Fundus des dortigen Theaterarchivs. Lenin hatte vor allem

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Zum bildungsbürgerlichen Kultur- und Literaturverständis und dessen Kontinuitäten vor und nach 1933 vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1996, S. 96 ff. und ders., Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Modere 1880 – 1945, Frankfurt a.M. 1999, S. 290 ff. Pfelling, Alltag, S. 29. Wie DDR-Theaterwissenschaftler später immer wieder betonten, war Hauptmann damals „lange Zeit in Russland der beliebteste und erfolgreichste ausländische Dichter“ (Günter Gerstmann, Gerhart Hauptmann und die russische Literatur, in: TdZ, 9 [1954], H. 2, S. 31-33, hier: 31). Alfred Kantorowicz, Begründer und Herausgeber der gesamtdeutschen Nachkriegszeitschrift Ost und West, betonte z.B., dass Hauptmanns frühe Werke „nirgendwo in der Welt eine solche Empfänglichkeit und ein so tiefes Verständnis fanden wie gerade in Russland“ (ders., Der junge Gerhart Hauptmann, in: Neue Welt [1953], Nr. 5, S. 624-642 und Nr. 6, S. 744-761). Dass die ersten Bände der Gesammelten Werke ab 1902 in Russisch erschienen – vier Jahre vor der ersten deutschen Gesamtausgabe – spricht für Hauptmanns Beliebtheit (Albrecht Zappel, Gerhart Hauptmann – ein Dichter der Menschlichkeit. Bedeutung und Wirkung seiner Werke in den USA und in Rußland. Gerhart Hauptmann zum 125. Geburtstag, Hannover 1987, S. 9; vgl. Albert A. Kipa, Gerhart Hauptmann in Russia: 1899 – 1917, Hamburg 1974, S. 245). Den Höhepunkt der Hauptmann-Rezeption in der jungen Sowjetunion bildete am 14.03.1923 eine Weber-Aufführung im Rahmen der Festsitzung zum 25. Jahrestag der KP in Moskau (E. Mandel, Gerhart Hauptmanns Weber in Russland, in: ZfS, 12 [1967], H. 1, S. 5-19, hier: 19; Zappel, Gerhart Hauptmann, S. 39). Die Einbindung in Feierlichkeiten von systemtragender Bedeutung zeigt, dass Hauptmann damals nicht nur über einen überdurchschnittlichen Bekanntheitsgrad verfügte, sondern fest in das literarische Feld der Sowjetunion integriert und sein Werk von der politischen Führung protegiert wurde. Mandel, Gerhart Hauptmanns Weber, in: ZfS, 12 (1967), H. 1, S. 5-19, hier: 6, 14 f.; Zappel, Gerhart Hauptmann, S. 33 f.; Weiss, Am Morgen nach dem Kriege. Erinnerungen eines sowjetischen Kulturoffiziers, Berlin (Ost) 1981, S. 137; Christa Höpfner/ Irmtraud Schubert, Lenin, Berlin (Ost) 1980, S. 40. Lenin, Brief an M. A. Uljanowa vom 10.08.1895, in: Wladimir I. Lenin, Briefe, Bd. X: Briefe an die Angehörigen 1893-1922, Berlin (Ost) 1976, S. 10 f.; Zappel, Gerhart Hauptmann, S. 37.

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das propagandistische Potenzial der Weber geschätzt, die er im Sinne einer thymotischen Massenmobilisierung62 nach der Oktoberrevolution verstärkt aufführen ließ.63 Eine Tatsache, die im Kontext der Beisetzungsfeierlichkeiten für Hauptmann 1946 besondere Betonung finden sollte.64 Eine weitere Bewertungskomponente war der Respekt, der Hauptmann von Literaten wie Anton Čechov und Maksimovič Peškov, genannt Gor’kij, gezollt wurde. Wie etwa Grußadressen zu Hauptmanns 50. und 60. Geburtstag belegen, sah Gor’kij diesen als Brückenbauer zwischen den Nationen und als Ehrenbürger der Sowjetunion.65 Schließlich hatte sich Hauptmann selbst vom russischen Theatervisionär Konstantin Stanislavskij begeistert gezeigt66 und sich mit Lev N. Tolstoj zu den russischen Wurzeln seines Werkes bekannt67. Ein Umstand, durch den sich Hauptmann obendrein als Patron der in der DDR propagierten deutsch-sowjetischen Freundschaft eignete.68 62

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Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006, S. 171ff.; vgl. Lenin, Parteiorganisation und Parteiliteratur (13.11.1905), Nachdruck in: ders., Über Kunst und Literatur, Moskua, Berlin (Ost) 1977, S. 58-63. Zappel, Gerhart Hauptmann, S. 34; Weiss, Am Morgen, S. 138; Höpfner/ Schubert, Lenin, S. 40; vgl. Hinweise auf die Nutzung von Die Weber als Waffe der russischen revolutionären Bewegung in: Hans-Günther Thalheim/ Günter Albrecht/ Kurt Böttcher u.a. (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. VIII, 2: Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin (Ost) 1975, S. 1095. Sergej I. Tjulpanow, Rede anläßlich des Traueraktes zum Tode Gerhart Hauptmanns, in: ders., Erinnerungen an deutsche Freunde und Genossen, Berlin (Ost) 1984, S. 14. So soll Gor’kij gesagt haben: „Hauptmann hat viel getan für das hehre Werk der Vereinigung der Menschheit zu einer großen Familie“, zit. nach: Behl, Der Kampf um Hauptmann, in: Ludwig Marcuse (Hg.), Gerhart Hauptmann und sein Werk, Berlin, Leipzig 1922, S. 157-186, hier: 163; „Gerhart Hauptmann ist unser geworden, uns vertraut, von uns geliebt, sein Name ist einer der bedeutendsten Namen unserer Generation“ (Gor’kij, Russische Huldigungsadresse an Gerhart Hauptmann zu seinem 60. Geburtstag, zit. nach: Zappel, Gerhart Hauptmann, S. 42 f.). Im Kontext einer Begegnung mit Stanislavskij im Frühjahr 1906 in Berlin soll Hauptmann gesagt haben: „Ich habe für meine Stücke immer solch ein Spiel erträumt, wie ich es bei Ihnen gesehen habe – ohne jede theatralische Vergewaltigung und Konvention –, ein einfaches, tiefes, gehaltvolles Spiel“ (Rühle, Das gefesselte Theater, S. 56); vgl. Behl, Zwiesprache, S. 60 (Kloster, 13.08.1941); Rohmer, Gerhart Hauptmann, S. 52 f. „Meine literarischen Wurzeln gehen zurück auf Tolstoj: ich würde das nie leugnen. Mein Drama Vor Sonnenaufgang ist befruchtet von Macht der Finsternis“ [Bekenntnis zur russischen Kultur, erschienen in: TR (11.10.1945)], CA, XI, S. 1207; In Das Abenteuer meiner Jugend gab Hauptmann an: „Ich hatte Zola, dann als ersten Russen Turgenjew, später Dostojewski und schließlich Tolstoj wesentlich in mich aufgenommen, wobei das größte Erlebnis, das mich immerwährend durchwühlte, Dostojewski blieb“ (CA, VII, S. 1058). Bemühungen, Hauptmann und sein Schaffen als geistige Brücke zwischen Deutschland und Russland zu stilisieren, finden sich u.a. bei Weiss, der detaillierte Untersuchungen zu Hauptmanns Beziehungen „zur russischen Literatur und zur russischen revolutionären Bewegung, zu dem jungen Sowjetstaat und seiner sozialistischen Literatur“ forderte und ein derartiges Unterfangen als „höchst aktuell und wichtig“ bezeichnete. Schließlich würden sich hieraus „weitere Möglichkeiten [erschließen], die Wege gegenseitiger kultureller Beeinflussung und geistiger Bereicherung in jener stürmischen und komplizierten Epoche deutsch-russischer Begegnung und dramatischer Verflechtung beider Völker zu verfolgen“. An anderer Stelle heißt es: „Die zahlreichen Zeugnisse über geistige Gemeinsamkeiten Hauptmanns mit der fortschrittlichen russischen Kultur und ihren hervor-

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Ausschlaggebend für die anfänglich sehr intensive Hauptmann-Rezeption in der SBZ/DDR war letztenendes jedoch Hauptmanns Bekenntnis zum demokratischen Neuanfang und – wie man sich zu deduzieren befugt glaubte – zu einem Deutschland sozialistischer Prägung. Wie im Folgenden ausführlich darzustellen ist, hatte Becher diese Einwilligung Hauptmann im Herbst 1945 abgerungen. Das umgemünzte Bekenntnis ermöglichte eine politisch imprägnierte Inbesitznahme wie sie 1962 Alexander Abusch – seit 1961 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der DDR – im Kontext von Hauptmanns 100. Geburtstag artikulieren sollte. Mit Sätzen wie „Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause“69 unternahm Abusch damals den legitimationsinduzierten Versuch, Hauptmann endgültig für den Sozialismus zu vereinnahmen und ihn post mortem zu einem Bürger der DDR zu ernennen. Dass die DDR mit Eberhard Hilscher, Gustav Erdmann, Heinz Dieter Tschörtner und Rolf Rohmer einige der prominentesten Hauptmann-Forscher der Nachkriegszeit hervorbrachte, kann überdies als Indiz dafür gewertet werden, wie intensiv man sich dort mit jenem geistigen Wunschehrenbürger beschäftigte. Zum Stand der Forschung Die einschlägige Forschungsliteratur gibt in Hinblick auf die Rezeption von Gerhart Hauptmanns sozialkritischen Dramen in der DDR nur vereinzelte Hinweise her. Die bisherige Auseinandersetzung mit dem Hauptmann-Bild in der DDR ist durch eine Streuung der Beobachtungen kennzeichnet, die zudem eher auf eine faktenorientierte Nacherzählung öffentlicher Auftritte und Inszenierungen bezogen sind und nicht entschlossen nach der Repräsentationsfunktion der ‚Chiffre Hauptmann’ im Legitimationsmanagement der SBZ/DDR fragen. Jürgen Rühle bezieht sich in seinem Standardwerk Das gefesselte Theater aus dem Jahre 1957 nur in sehr knapper Form auf die Hauptmann-Rezeption, um die Schwankungen in der kulturpolitischen Doktrin, den „Zickzackweg der Parteilinie“70, zu illustrieren. Die Notwendigkeit der Zusammenschau von kulturpolitischer Phase und Rezeptionsgeschichte vor Augen führend, deutet Rühle jedoch schon an, dass die Einstellung zu Hauptmann zwischen der Bejahung des Gesamtwerkes, der par-

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ragenden Vertretern aber werden für die Forschung mehr und mehr an Interesse gewinnen und Bedeutung erlangen“ (ders., Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist [Hg.], Begegnung, S. 427-440, hier: 427, 438); vgl. außerdem die Zusammenstellung von Freundschaftsbelegen anlässlich Hauptmanns 85. Geburtstag: Gorki und Hauptmann im Sturm der Zeit. Groß ist ihr Verdienst um die Menschheit, in: Aufbau, (1947), H. 3, S. 318-321. Vgl. Abusch, Größe, in: SuF, (1963), H. 1, S. 59 f. Jürgen Rühle, Das gefesselte Theater. Vom Revolutionstheater zum Sozialistischen Realismus, Köln, Berlin 1957, S. 413-415.

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tiellen Rezeption oder gar der Ablehnung jeglicher Beschäftigung mit Hauptmann schwanken konnte. Etwas ausführlicher ist die Darstellung von Sophie Wölfl71, die sich in ihrer Dissertation von 1979 mit der Rezeptionsgeschichte der Weber beschäftigt, dem in dieser Hinsicht am besten untersuchten Werk Hauptmanns. Der Rezeption nach 1945 werden in ihrer Darstellung, die in diesem Teil nur Forschungsliteratur berücksichtigt, vierundzwanzig Seiten gewidmet. Weniger als die Hälfte des Kapitels befasst sich dabei mit der DDR, was vermutlich mit der in den 1970er Jahren noch schwierigen Materialsituation zusammenhängt. Entsprechend aussageschwach bleiben die erzielten Ergebnisse, wonach z.B. die in der DDR erschienen Weber-Darstellungen von Hans-Jürgen Geerdts72, Hannelore Herting73 und Ursula Münchow74 „das Stück zur Verbreitung sozialistischen Gedankenguts in Anspruch zu nehmen“75 suchen. Noch zu DDR-Zeiten wurde im Rahmen der Referentenkonferenz zum 125. Geburtstag Hauptmanns 1987 ein eigener Bilanzierungsversuch zur Rezeptionsgeschichte in der DDR unternommen.76 Die DDR-Elite der Gerhart Hauptmann-‚Spezialforschung’ setzte sich während dieser Konferenz mit Fragen auseinander wie etwa „Schuf er nicht im wesentlichen Arme-Leute-Kunst, die uns kaum mehr interessiert?“ oder „Ist er eigentlich noch berühmt?“77. Trotz dieses relativ schlichten Fragesettings ist die Dokumentation dennoch für die vorliegende Untersuchung wesentlich, als sie am Ende der Hauptmann-Rezeptionsgeschichte in der DDR zeigt, wie mit dem damals „verbreitete[n] Desinteresse“78 an Hauptmann umgegangen wurde. Entgegen der über Jahrzehnte vorherrschenden Rezeptionslinie drückt sich hier die späte Bereitschaft der DDR-Germanistik aus, den Rezeptionsskopus – um der erhofften „reizvolle[n] Neuentdeckung“79 willen – auch auf die bis dato strikt ausgeblendete neoromantische Phase des Hauptmann-Werkes auszuweiten.80 Eine Wandlung, die nicht allein von der Ab-

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Sophie Wölfl, Gerhart Hauptmanns Die Weber. Untersuchungen zur Rezeption eines „naturalistischen“ Dramas, Diss. München 1979, S. 131-154. Hans-Jürgen Geerdts, Gerhart Hauptmann: Die Weber, Diss. Jena 1952. Hannelore Herting, Der Aufschwung der Arbeiterbewegung um 1890 und ihr Einfluß auf die Literatur, Diss. Berlin 1961. Naturalismus 1892-1899. Dramen, Lyrik, Prosa hg. von Ursula Münchow, Berlin (Ost), Weimar 1970, S. 714 f. Wölfl, Gerhart Hauptmanns Die Weber, S. 133. Referentenkonferenz 1987. Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: ebd., S. 2-26, hier: 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. „Und wenigstens einmal sollte auf eine Bühnendichtung der sog. Neuromantischen oder symbolistischen Werkreihe eingegangen werden; nicht unbedingt auf den einstmals er-

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sicht zeugte, die Hauptmann-Rezeption mit allen Mitteln zu revitalisieren, sondern insgesamt von der Rehabilitation der „romantischen Schule“ und deren Nachfolgeströmungen abhing, die in den 1970er Jahren eingesetzt hatte.81 Die einzige Veröffentlichung, die die hier zu behandelnde Fragestellung bisher dezidiert in Angriff genommen hat, ist Albrecht Zappels und Konrad Hüthers82 Band Gerhart Hauptmann – der Dichter der Menschlichkeit auf den Bühnen der Sowjetzone und der DDR 1945-1989. Ansehen und Würdigung des Dichters in der Kulturpolitik der sozialistischen Gesellschaft von 1995. Die Darstellung resultiert aus der Liebhaberei des Chemikers Zappel, der sich als „engagierte[r] Schlesier“83, Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien und Vorsitzender der Schulvereinigung der Gerhart-Hauptmann-Oberrealschule Breslau aus lokalhistorischen Gründen dem Andenken Hauptmanns zutiefst verpflichtet sah. Sein Hauptanliegen war es, den nach 1945 fortwährenden Ruhm Hauptmanns zu dokumentieren. Entsprechend unternimmt jener schmale, verehrungszentrierte Band in erster Linie eine unkritische Inventarisierung von HauptmannInszenierungen in der SBZ/DDR. Als weiteres Beispiel für die eher kursorische Betrachtung der DDRRezeption kann an dieser Stelle auf Hamilton Becks84 Beitrag von 1996 verwiesen werden. Dessen Fokus liegt auf der Wirkungsgeschichte von Vor Sonnenuntergang im ‚Dritten Reich’, die Interpretation des Stückes zu DDR-Zeiten wird daher nur gestreift.85 Beck greift auf Letztere zurück, um die Breite des ideologischen Rahmens zu demonstrieren, auf den sich Vor Sonnenuntergang spannen lässt: So lag das Stück in seiner filmischen Adaption Der Herrscher von Harald Bratt „voll auf der Linie der NS-Ideologie in den Jahren 1936-37“86, während es in der von der „sowjetischen Interpretationsrichtung“ geprägten SBZ/DDR als Menetekel des Faschismus hochgehalten wurde. Beck weist nach, dass die Rezeptionsgeschichte dieses Dramas auf einer „Kette von produktiven Missver-

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folgreich inszenierten Kitsch von der Versunkenen Glocke, sondern vielleicht auf Indipohdi oder das ‚Glashüttenmärchen’ Und Pippa tanzt! […]“ (ebd., S. 12). Jens Saadhoff, Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen ‚gesellschaftlichem Auftrag’ und ‚disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007, S. 106. Albrecht Zappel/ Konrad Hüther, Gerhart Hauptmann – der Dichter der Menschlichkeit auf den Bühnen der Sowjetzone und der DDR 1945-1989. Ansehen und Würdigung des Dichters in der Kulturpolitik der sozialistischen Gesellschaft, hg. von der Vereinigung ehemaliger Angehöriger der Gerhart Hauptmann Oberrealschule Breslau, Leverkusen 1995. Rudi Pawelka, Dr. Albrecht Zappel verstorben, in: Schlesische Nachrichten (Juli 2005), H. 13, S. 15. Hamilton Beck, Sah er wirklich so viel voraus? Zur Wirkungsgeschichte von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in: Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 7-24. Ebd., S. 9-11. Ebd., S. 18.

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ständnissen“ beruht,87 zumal es eigentlich nicht gegen den Faschismus, sondern gegen die „schleichende Amerikanisierung der Deutschen Kultur“ z.Z. der Weimarer Republik geschrieben worden sei.88 Typisch für die Behandlung nicht nur von Vor Sonnenuntergang in der DDR sei es, so Beck, dass man Gerhart Hauptmann eine „hellseherische parteipolitische Weitsicht zugeschoben [habe], die er überhaupt nicht hatte“89. Der Behauptung, dass nach dem Fall des eisernen Vorhangs „ein regerer Ost-Westdialog über den schlesischen Dichter und über die Rezeption seines Oeuvres in Ost und West nach 1945 eingesetzt“ habe,90 kann nur mit Blick auf die Hauptmann-Rezeption in Ostmitteleuropa zugestimmt werden. Wie der Sammelband Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns von 1997 erkennen lässt, widerfuhr dieser Thematik gerade in Polen ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse. Ein Umstand, der angesichts der Tatsache wenig überrascht, dass sich mit Bad Salzbrunn (SzczawnoZdrój), Schreiberhau (Szklarska Poręba) und Agnetendorf drei der fünf Hauptmann-Erinnerungsorte im heutigen Polen befinden.91 In jenen Darstellungen des Sammelbandes, die sich mit der kommunistischen Herrschaftsphase beschäftigen, finden Deutungsmuster aus der marxistisch-leninistischen Rezeptionsmatrix Erwähnung, die ebenfalls der Hauptmann-Rezeption in der DDR zugrunde liegt.92 Die Rezeption der sozialkritischen Dramen Hauptmanns in der SBZ/DDR selbst wird in den Beiträgen dagegen höchstens beiläufig erwähnt. Auffällig erscheint dabei, dass vor allem das Verhalten des Dichters in der NS-Zeit – in Berichten z.T. aus bevölkerungspolitischen Gründen zur Faschismus-Sympathie übersteigert93 – im Zentrum des mittelosteuropäischen Hauptmann-Interesses der Nachkriegszeit stand. In der Slowakei, Tschechien, Ungarn wie auch Polen sorgte dies

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Ebd., S. 23. Ebd. Ebd. Engel/ Bomers, Vorwort, in: dies. (Hg.), Zeitgeschehen, S. 8. Milan Žitný, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in der Slowakei, in: Engel/ Bomers (Hg.), Zeitgeschehen, S. 110-121; Václav Maidl, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in Tschechien, in: ebd., S. 122-130; Ferenc Szász, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in Ungarn, in: ebd., S. 131-142; Kuczyński, Gerhart Hauptmann nach der Wende in Polen, in: ebd., S. 143-149; Anna Stroka, Gerhart Hauptmann auf den polnischen Bühnen, in: ebd., S. 150-158; Mirosława Czarnecka, Zur Aufnahme der Prosawerke Gerhart Hauptmanns in Polen, in: ebd., S. 159-174; George GuŃu, Zu Gerhart Hauptmanns Werk in Rumänien. Rezeptionsgeschichtliche Aspekte, in: ebd., S. 175-191. Vgl. GuŃu, Zu Gerhart Hauptmanns Werk in Rumänien, in: ebd., S. 175-191, hier: 187. GuŃu legt in seinem Beitrag dar, dass „sowohl die rumänischsprachige als auch die deutschsprachige Publizistik in Rumänien nur Ergebnisse der DDR-HauptmannForschung ihren Lesern vorstellte, [...]“ (ebd., S. 189). Kuczyński, Gerhart Hauptmann nach der Wende, in: ebd., S. 143-149, hier: 143 f.

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für eine nachhaltige, rezeptionshemmende Stigmatisierung Hauptmanns.94 Fand Hauptmann dennoch positive Beachtung, so wurde über Jahrzehnte fast ausschließlich dessen frühe Schaffensphase beleuchtet – ein Rezeptionsmerkmal, das die DDR mit seinen Blocknachbarn verband. Einem Beitrag der Breslauer Hauptmann-Forscherin Anna Stroka über die (germanistische) Wahrnehmung Hauptmanns in der Volksrepublik Polen und der Wendezeit95 sind zudem Hinweise darauf zu entnehmen, dass Hauptmann bei Jubiläumsanlässen als kulturelles Bindeglied zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen fungieren konnte. Zielsetzungen, Rezeptionsfokus und Vorgehensweise Entgegen der bisher kusorischen Verortung der Rezeptionslage Hauptmanns in der Literaturgeschichtsschreibung versucht die vorliegende Untersuchung, die Literaturrezeption als Bestandteil eines umfassenden und über Diskurse und kulturpolitische Handlungskonstellationen vermittelten Prozesses zu erfassen. Dies geschieht, indem zentrale (kultur-)geschichtliche Momente ebenso in den Blick genommen werden wie konkrete Realisationen der Hauptmann-Pflege in der DDR. In kritischer Auseinandersetzung mit dem den sozialistischen Kulturdiskurs über einen langen Zeitraum dominierenden Verständnis von Kunst als Funktionsgut wird in der vorliegenden Darstellung untersucht, welcher spezifische gesellschaftliche Wert dem sozialkritischen Werk Gerhart Hauptmanns unter verschiedenen (kultur-)politischen Bedingungen in der DDR beigemessen wurde. Es ist zu fragen, worin dieser Wert aus der spezifisch politisch-funktionalen Sichtweise bestand und im Rahmen welcher sowohl kunstpolitischen sowie distinktionsstrategischen Bewertungsmuster er gewonnen bzw. vermittelt wurde. Die so formulierten literatur- und rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen sollen im Folgenden primär auf die „sogenannten ‚sicheren Theaterstücke’“96 Hauptmanns angewandt werden, d.h. all jene Stücke, die soziale Probleme ihres Zeitalters verarbeiten. Schwerpunktmäßig handelt es sich um die Dramen Vor Sonnenaufgang (1889), Die Weber (1892), Der Biberpelz (1893), Rose Bernd (1903), Die Ratten (1911) und Vor Sonnenuntergang (1932). Inhalte und Kerndaten zur Entstehung

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Žitný, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in der Slowakei, in: ebd., S. 110-121, hier: 117 f.; Maidl, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in Tschechien, in: ebd., S. 122-130, hier: 129 f.; Ferenc Szász, Die Rezeption Gerhart Hauptmanns in Ungarn, in: ebd., S. 131-142, hier: 139; Anna Stroka, Gerhart Hauptmann in der polnischen literarischen Öffentlichkeit (1945-1990), in: Kuczyński/ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 167181, hier: 171. Stroka, Gerhart Hauptmann, in: Kuczyński/ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 167181. Vgl. Abusch, Größe, in: SuF, (1963), H. 1, S. 56.

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und Uraufführung dieser und aller weiteren erwähnten Stücke können im Werkregister im Anhang nachgeschlagen werden. Die Fokussierung auf die Rezeption der sozialkritischen Dramen wurde aus mehreren Gründen vorgenommen. Die erste, gattungsspezifische Einschränkung ist dem Relevanz konstituierenden Umstand geschuldet, dass der Erfolg Hauptmanns auf seinen Dramen beruhte. Hinzu kommt, dass sich Wirkung bzw. Wirkungsintentionen der Dramatik – im Gegensatz zur Lyrik und Epik – anhand von Dokumentationen zur Aufführungspraxis gut nachvollziehen lassen. Da Gerhart Hauptmann über 40 Dramen hinterließ, deren Berücksichtigung den Untersuchungsrahmen sprengen würde, rücken hier seine Dramen mit sozial- bzw. zeitkritischem Tenor in den Mittelpunkt des Interesses. Nicht zuletzt resultierte die Verengung des Rezeptionsfokus aus der Aufführungspraxis selbst: Das vom Bühnenverlag Felix Bloch Erben, dem Rechteinhaber an Hauptmanns dramatischem Werk, zur Verfügung gestellte Datenmaterial bildete im Vorfeld der Untersuchung die Grundlage, auf der die Rezeptionsschwerpunkte ermittelt wurden. Die daraus erstellten Aufführungsstatistiken bestätigten – konträr zu der auf marxistischer Seite immer wieder geäußerten Forderung, das Gesamtwerk zu erschließen97 – die Vermutung, dass Dramen, deren Handlungen um gesellschaftliche Missstände des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kreisen, in einem Staat sozialistischer Prägung eine besonders starke Resonanz zu erzeugen vermochten. Die im Anhang der Untersuchung versammelten Aufführungsstatistiken zu den verschiedenen kulturpolitischen Phasen sollen in diesem Sinne Rezeptionstendenzen nachzeichnen.98 Das kulturpolitische Phasenschema, das zur heuristischen Differenzierung des Rezeptionszeitraums 1945 bis 1989 herangezogen wird, orientiert sich an der Darstellung Manfred Jägers und der ihr zugrunde liegenden Annahme der wechselseitigen Durchdringung von Kultur und Politik.99 Diesem Ansatz entspre97

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Ebd.; Petr, Gerhart Hauptmanns Werke heute, in: PhP, (1964), H. 7, S. 269; Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 439. Aufgrund der teilweise lückenhaften Datengrundlage wird keine Vollständigkeit angestrebt. Aussagen über Tendenzen der Rezeption können mit einiger Aussagekraft aus den Statistiken abgeleitet werden (vgl. Anhang, S. 294 ff.). Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Köln 1982; vgl. Wolfram Schlenker, der für die Untersuchung des Umgangs mit dem Kulturerbe in der DDR eine „möglichst weitgehende Berücksichtigung des engen Zusammenhangs von gesellschaftlichen Verhältnissen, Politik und Kultur“ als Prämisse nennt (ders., Das „kulturelle Erbe“ in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945-1965, Stuttgart 1977, S. 4). Jägers Gliederung in fünf bzw. sechs Phasen wird der Dynamik der kulturpolitischen Entwicklung besser gerecht als die gängige sozialgeschichtliche Dreiteilung der DDR-Geschichte, wie sie – mit unterschiedlichen Zeitfenstern – z.B. von Jürgen Kocka, Katharina Belwe und Sigrid Meuschel angesetzt wird (Kocka, Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: APuZ, B 40 [1994], S. 34-

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chend, wird jeder Rezeptionsphase eine abrissartige Darstellung ihrer (kultur-) politischen Rahmenbedingungen vorangestellt. Sie soll jeweils zu einem besseren Verständnis der im Anschluss hieran analysierten Inszenierungskontexte und Theaterkritiken beitragen.100 Die sich in diesen methodischen Überlegungen andeutende literatursoziologische Perspektive der Untersuchung lehnt sich insofern an das Theorie-Design Pierre Bourdieus an, als dessen 1966 eingeführter Begriff des ‚literarischen Feldes’ zur Operationalisierung des Untersuchungsgegenstandes angewendet wird. Fokussiert auf die Betrachtung von Kultur als sozialem Faktum ermöglicht Bourdieus Feldtheorie die Analyse des funktionalen Zusammenhangs von Kultur und Macht, ohne – und dies macht seine Überlegungen für die Kulturwissenschaften aus Gründen der Praktikabilität sehr interessant – dabei von vornherein eine allgemeine Theorie der Gesellschaft zugrunde legen zu müssen.101 Obschon Bourdieu die Theorie des literarischen Feldes ursprünglich an den Bedingungen funktional ausdifferenzierter Gesellschaften ausgerichtet hatte, über die am ehesten kapitalistische Staaten verfügen, konnte sich seine Feldtheorie in der Anwendung auf kulturelle Prozesse in der DDR erfolgreich durchsetzen.102 Im Folgenden erweist sich Bourdieus Theorie-Design bei der Untersuchung der Interaktion zwischen Hauptmann und Becher, der Reaktionen auf

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45, hier: 40-43; Belwe, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der DDR, in: Werner Weidenfeld/ Hartmut Zimmermann [Hg.], Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 125-143, hier: 126-128; Meuschel, Wandel durch Auflehnung. Thesen zum Verfall bürokratischer Herrschaft in der DDR, in: Berliner Journal für Soziologie 1 [1991], S. 15-27; Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 3 f.). Thomas Irmer und Matthias Schmidt nehmen in ihrer Darstellung zum DDR-Theater dagegen nur eine Zweiteilung vor in „Im Rücken die Ruinen. Die frühen Jahre bis 1973“ und „Der Morgen findet nicht mehr statt. 1973 bis 1990“ (dies., Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR, hg. von Wolfgang Bergmann, Berlin 2003). Eine ähnliche Vorgehensweise wählte Dagmar Schittly (dies., Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen, Berlin 2002). Vgl. Jurt, Das literarische Feld, S. 75. Eine entsprechende Theoriekonzeption wurde in den Beiträgen des folgenden Sammelbands erfolgreich auf die Literatur der DDR angewandt: Ute Wölfel (Hg.), Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR, Würzburg 2005. Leon Hempel argumentiert hier, dass Bourdieus Ansatz gerade für die Bedingungen, unter denen in der DDR Literatur entstand, eine „relativ unbelastete, sprich ideologiefreie Möglichkeit [biete], diese auf ihre spezifische, oft widersprüchliche und komplexe Bedeutung im Hinblick auf die politische Verfasstheit der DDR-Gesellschaft und ihres Endes neu zu denken“ (ders., Die agonale Dynamik des lyrischen Terrains. Herausbildung und Grenzen des literarischen Feldes der DDR, in: ebd., S. 13-29, hier: 14, 16 f.); Henning Wrage sieht den Vorteil von Bourdieus Ansatz darin, dass es damit möglich wird, „die Zuschreibungen der bundesdeutschen Literaturwissenschaft auf die DDRLiteratur selbst zum Interpretament zu machen“ (ders., Feld, System, Ordnung. Zur Anwendbarkeit soziologischer Modelle auf die DDR-Kultur, in: ebd., S. 53-73, hier: 55, 5759). Zur Ausgestaltung des literarischen Feldes in der jungen DDR vgl. Klaus-Michael Bogdal, Alles nach Plan, alles im Griff. Der diskursive Raum der DDR-Literatur in den Fünfziger Jahren, in: Georg Mein/ Markus Rieger-Ladich (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld 2004, S. 123148.

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Hauptmanns Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft sowie der Zelebrierung der Beisetzungsfeierlichkeiten als äußert hilfreich. Ihrem methodischen Ansatz nach bewegt sich die Untersuchung somit im Überschneidungsbereich von Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Soziologie. Eine Analyse nach theaterwissenschaftlichen Gesichtspunkten wird nicht intendiert, so dass performativ akzentuierte Fragen nach Schauspielleistungen, technischen Spezifika etc. von Inszenierungen größtenteils außer Acht bleiben. Stattdessen werden im Folgenden verschiedene Materialgruppen zur Klärung bzw. Illustrierung der Rezeptionsprozesse herangezogen. Neben unpubliziertem Archivmaterial und Programmheften sind dies Berichte (über-)regionaler Tages- und Wochenzeitungen über Jahrestage sowie Kritiken zu einzelnen Aufführungen. Des Weiteren wurden Beiträge über Hauptmann in der DDR-Theaterzeitschrift Theater der Zeit erfasst, aus denen Hinweise auf die Rezeptionsfähigkeit von Hauptmanns Werk in der DDR sowie rezeptionsleitende Deutungsstrategien erschlossen werden konnten. Außerdem wurden allgemeine Untersuchungen zur Kultur- und Theaterpolitik der DDR berücksichtigt. Zur statistischen Auswertung gelangten die genannten Aufführungsdaten von Felix Bloch Erben, die mit weiteren Inszenierungsverzeichnissen abgeglichen wurden.

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I.

Grundlegungen für die Hauptmann-Rezeption in der DDR: Hauptmann in der SBZ

1.

Kulturpolitische Anfänge im Umfeld des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands

Unmittelbar nach dem Krieg initiierten die Sowjets im Osten Deutschlands eine reaktivierende kulturelle Bündnis- und Aufbaupolitik im Geiste des ‚Antifaschismus’, die im Westen ihresgleichen suchte. Schnell zeitigten die Bemühungen um den kulturellen Wiederaufbau Erfolge, wie etwa die erste Theateraufführung der Nachkriegszeit: Trotz großer materieller und organisatorischer Schwierigkeiten wurde bereits am 27. Mai 1945 Der Raub der Sabinerinnen von den Gebrüdern Schönthan im Berliner Renaissance-Theater aufgeführt.103 Die Wiedereröffnung der Theater, die seit September 1944 deutschlandweit geschlossen worden waren,104 wurde von der Bevölkerung als willkommene Ablenkung dankbar angenommen. Die Strategie der Sowjets, insbesondere die „sanfte Gewalt der schönen Literatur“105 als Instrument zur geplanten Entnazifizierung der Deutschen zu nutzen, erschien somit aussichtsreich.106 Noch stärker als im Westen Deutschlands wurde deshalb im Osten die Rückbesinnung auf das ‚humanistische Kulturerbe’ propagiert, das als primäres „Therapiekonzept“ für die Bewältigung der feldübergreifenden Geisteskrise angesehen wurde.107 Dies hatte zur Folge, dass die Besatzungspolitik der Sowjets dauerhaft immer auch untrennbar mit Fragen der Kulturpolitik verbunden sein sollte.108

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Erika Fischer-Lichte, Berliner Theater im 20. Jahrhundert, in: dies./ Doris Kolesch/ Christel Weiler (Hg.), Berliner Theater im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 9-42, hier: 28. Am 16.05.1945 hatte die SMAD, die ihren „Blick auf Berlin“ fokussiert hatte, dort die Spielerlaubnis erteilt (Werner Mittenzwei, Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1968, Bd. 1, Berlin [Ost] 1972, S. 32). Renate Ullrich, „Und zudem bringt Ihr noch den genialen Stanislawski in Verruf.“ Zur Kanonisierung einer Schauspielmethode, in: Birgit Dahlke/ Martina Langermann/ Thomas Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart, Weimar 2000, S. 104-145, hier: 105. Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000, Berlin 2003, S. 71. Magdalena Heider, Politik – Kultur – Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945-1954 in der SBZ/DDR, Köln 1993, S. 61. Waltraud Wara Wende, Kultur als Programm gegen Hitler. Diskursstrategien des Neuanfangs in der Periode zwischen 1945 und 1949, in: Hans Jörg Schmidt/ Petra Tallafuss (Hg.), Totalitarismus und Literatur, Dresden 2007, S. 135-150, hier: 141. Schittly, Zwischen Regie, S. 12.

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Im Osten Deutschlands stand der ‚humanistische Antifaschismus’ nach dem Zweiten Weltkrieg im Rang des „höchste[n] moralische[n] Kapital[s]“109 und determinierte die Rolle des Schriftstellers und Künstlers im sich neu ausprägenden kulturellen Feld. Dass der Begriff ‚Humanismus’ in dieser Zeit geradezu inflationär gebraucht wurde, kennzeichnet die tiefgreifende kulturelle Verunsicherung und den faktischen Verlust von Humanität nach sechs Jahren des Völkermords.110 Die fast verzweifelt übereifrige Reaktivierung der Deutungsmuster ‚Kultur’ und ‚Humanismus’ war Symptom eines übersprungenen kollektiven Trauer- und Aufarbeitungsprozesses.111 Als „Zukunftsbegriff“112 repräsentierte der Humanismus den Wertantipol der Kriegserfahrungen und eine neue, Hoffnung schenkende Vision von einem friedlichen, menschenwürdigen Miteinander. Weil dieser Begriff integraler Bestandteil der bürgerlichen als auch der marxistischen Menschheitsappelle wurde, zeichnete sich bald seine Verwässerung zum „variantenreich schillernde[n] Schlagwort“113 ab. Die Unterschiede zwischen bürgerlicher und proletarischer Humanismus-Semantik suchte man in der SBZ zunächst im „antifaschistischen Humanismus“ zu nivellieren114 und zur Grundlage des Wiederaufbaus zu machen.115 Dass eine Überführung des bürgerlichen HumanismusBegriffs, der die Grundlage des Kulturerbes bildete, in einen ‚realen Humanismus’ des Sozialismus allerdings ohne eine Auseinandersetzung mit den Diskrepanzen seiner klassenbezogenen Situierung unmöglich war, wurde nur von wenigen – darunter Bert Brecht und Hanns Eisler – gesehen.116 In Konsequenz setzte sich in der Ostzone wie auch in den Westzonen allmählich ein unpolitisch im-

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Ursula Heukenkamp, „Der Gegenwart verpflichtet und für die Zukunft bauend…“ Junge Literatur in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Text + Kritik, Sonderband: Literatur in der DDR. Rückblicke, München 1991, S. 23-33, hier: 23. Mechthild Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“ Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945-1949), Würzburg 1993, S. 242. Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 303 f. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Auflage Frankfurt a.M. 2000, S. 113. Rahner, „Tout est neuf ici“, S. 242. „Die KDP/SED geht mit ihrer Politik für einen kurzen Zeitraum auf die kulturelle Identität und die Bedürfnisse bürgerlicher Schichten ein – nicht nur aus machttaktischem Kalkül. Drei Traditionslinien werden aufgenommen und mit dem antifaschistischen Diskurs verbunden: der bürgerliche Humanismus der Aufklärung und Klassik; die nationalen Befreiungsbewegungen vor 1813; die Vormärzideale von 1848 […]. Auf diese Weise sollen jenseits der im Westen sich abzeichnenden Parteienstrukturen drei bürgerliche Richtungen erreicht werden, deren Traditionen bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen: das Bildungsbürgertum, Nationale und Liberale“ (Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ RiegerLadich [Hg.], Soziale Räume, S. 128). Bernhard Zimmermann, Entwicklung der deutschen Literaturkritik von 1933 bis zur Gegenwart, in: Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Geschichte der deutschen Literaturkritik (17301980), Stuttgart 1985, S. 275-338, hier: 322. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 130 f.

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prägnierter – damit aber mittelfristig wenig indentitätsstiftender – HumanismusBegriff durch.117 Zur geistigen Integrationsfigur und zum Garanten der allseits anvisierten humaneren Zukunft wurde in Ost und West der Klassiker Goethe gekürt. Beispielsweise erklärte ihn Johannes R. Becher zum Symbol eines „anderen, eines ‚besseren’ Deutschland“118. Die Idealisierung Goethes sollte bald nahezu groteske Züge annehmen und in einen vom Philosophen Karl Jaspers kritisierten Goethe-Kult inklusive unreflektierter Übernahme überkommener Goethe-Bilder entgleisen.119 Die augenscheinliche Attraktivität des zum „Geist von Weimar“120 stilisierten Goethe-Mythos lag aus kulturpolitischer Sicht damals vor allem in dem Umstand begründet, dass sich mit ihm die ideelle Einheit Deutschlands gefahrlos behaupten ließ.121 Wie groß die Bedeutung war, die man diesem Mythos beimaß, signalisiert schon der erste Besuch führender Persönlichkeiten der SBZ in Weimar: Walter Ulbricht und Wladimir Semjonow, politischer Berater der SMAD, besuchten Weimar bereits am 4. Juli 1945 und bereiteten die ideologische Aufladung der Feierlichkeiten zu Goethes 200. Geburtstag im Jahre 1949 mit vor.122 Der Goethe-Kult der Nachkriegszeit wirkte sich auch auf den Umgang mit Gerhart Hauptmann aus. Schließlich hatte er seit den 1920er Jahren immer wieder für Goethe Partei ergriffen und sich mit Spätwerken wie der Atriden-Tetralogie bemüht, dem großen Vorbild nachzueifern. In der zweiten Nachkriegszeit muss117 118

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Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 302. Lothar Ehrlich, Die „gesellschaftliche Aneignung“ der Weimarer Klassik in der DDR, in: Bollenbeck/ Thomas La Presti (Hg.), Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik II, Wiesbaden 2002, S. 143-160, hier: 146. Vgl. insgesamt: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Teil IV: 1918-1982, hg., eingeleitet und kommentiert von Karl Robert Mandelkow, München 1984; ders., Der „restaurierte“ Goethe: Klassikerrezeption in Westdeutschland nach 1945 und ihre Vorgeschichte seit 1870, in: Axel Schildt/ Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Studienausgabe, Bonn 1998, S. 541-550; Klaus Schwab, Zum GoetheKult, in: Gerhard Hay, Zur literarischen Situation 1945-1949, Kronberg i. Ts. 1977, S. 240-251; Karl Jaspers, Unsere Zukunft und Goethe, in: Wandlung, 2 (1947), H. 7, S. 563-575; Frank Thieß, Heimkehr zu Goethe, in: Nordwestdeutsche Hefte, 1 (1946), S. 29-32; Vgl. Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 212; Alexander Dymschitz, Goethe als Künder der nationalen Einheit Deutschlands, in: Neue Welt, 4 (1949), H. 16: „Der ‚größte Deutsche’, wie Engels ihn mit Recht genannt hat, gehört dem Volk. Und das Volk, das um seine nationale Souveränität und um die Einheit seines Vaterlandes kämpft, weiß in ihm besonders den großen Patrioten zu schätzen, den Künder der nationalen Einheit Deutschlands“, zit. nach: Gerhard Hay/ Hartmut Rambaldo/ Joachim W. Storck, „Als der Krieg zu Ende war“. Literarisch-politische Publizistik 1945-1950, Stuttgart 1973, S. 463 f.; vgl. Peter Merseburger, Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht, 3. Auflage Stuttgart 1999, S. 360-389. Vgl. Lothar Ehrlich, Die „gesellschaftliche Aneignung“ der Weimarer Klassik in der DDR, in: Bollenbeck/ La Presti (Hg.), Traditionsanspruch, S. 143-160, hier: 148. Vgl. Petra Stuber, Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, Berlin 1998, S. 43. Merseburger, Mythos Weimar, S. 364 f.

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ten Äußerungen Hauptmanns über Goethe nun nahezu prophetisch anmuten: So hatte er 1928 die Rückkehr der Sehnsucht nach der „warme[n] Sphäre der Humanität“123 angekündigt und vorausgesehen, dass Goethe einst Anerkennung als „einer der besten Erzieher der Deutschen“124 erfahren würde. 1932, im Jahr seiner Goethepreisträgerschaft,125 hatte Hauptmann an der New Yorker ColumbiaUniversität von Werk und Person Goethes als dem Inbegriff der guten „Seele Deutschlands“126 gesprochen. Die weit verbreitete Sehnsucht nach (geistiger) Führerschaft hatte Hauptmann bei dieser Gelegenheit ebenfalls auf Goethe übertragen: „Wenn Goethe heute lebte“, so Hauptmann, „er würde uns wieder, und heut mehr als einst, der große Führer sein“.127 Nicht nur dass Hauptmann Recht behielt, was die Wertschätzung Goethes für die Geisteshaltung der künftigen Generation anbelangte, nun wurde er selbst128 zum Wegweiser auf der Jagd nach einem ebenso omnipräsenten wie diffusen Humanitäts-Phantom ernannt. Eine Äußerung Bechers vom Oktober 1945 illustriert die Funktionalisierung Hauptmanns: „Das Lebenswerk Gerhart Hauptmanns in seinen besten Teilen auferstehen zu lassen wird unserem Volk helfen, den Weg zur Humanität zu finden.“129 Vor diesem Hintergrund bemühten sich die Sowjets gemeinsam mit zurückkehrenden Exilanten um die Reaktivierung des ‚humanistischen Kulturerbes’. Während der entscheidenden kulturellen Aufbauphase des ersten Nachkriegsjahrfünfts herrschte in der SBZ im kulturellen Feld ein „goldener Pluralismus“130 oder zumindest eine Art „geduldete Mehrstimmigkeit“131. Der sozialistische Slogan von der aufzurichtenden ‚Diktatur des Proletariats’, der bürgerliche Kreise seit jeher geängstigt hatte, schien in dem weitgehend liberalen Klima vor-

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Hauptmann, Goethe auf dem Theater. Rede zur Eröffnung der Goethe-Woche in Bochum (27.10.1928), in: ders., Um Volk und Geist, S. 142-147, hier: 144. Ebd., S. 146. Ders., Rede gehalten bei der Gelegenheit der Verleihung des Goethe-Preises im GoetheHaus zu Frankfurt a.M. (28.08.1932), in: ebd., S. 217 f. Ders., Rede gehalten an der Columbia-Universität zu New York (01.03.1932), in: ebd., S. 180-210, hier: 180. Ebd., S. 205. Dies obschon Hauptmann in seinen letzten Lebensmonaten eine ethische Wendung zum „Schillerianer“ vollzogen haben soll, vgl. Margarethe Hauptmanns Kalendernotizen (07.08.1945), in: Bernhard Zeller (Hg.), Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Eine Gedächtnisausstellung des Deutschen Literaturarchivs zum 100. Geburtstag des Dichters, Stuttgart 1962, S. 302. Johannes R. Becher, in: TR (11.10./15.11.1945), zit. nach: Tschörtner, Ungeheures erhofft. Zu Gerhart Hauptmann – Werk und Wirkung, Berlin (Ost) 1986, S. 256. Jäger, Die Kulturpolitik der DDR, in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (04.05.1993). Öffentliche Anhörung zu dem Thema „Kunst und Kultur in der DDR“, Teil 1, Bonn 1993, S. 4-27, hier: 6. Bollenbeck, Bildung, S. 297; Saadhoff, Germanistik, S. 133.

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erst vergessen.132 Die kulturpolitischen Hauptakteure, die wesentlichen Anteil an der Schaffung dieses Klimas hatten, waren russische Kulturoffiziere. In ihnen verkörperte sich die Doppelrolle der SMAD, die damals zwischen „hilfreicher Förderung und politischen Forderungen“133 schwankte. Bei den Kulturoffizieren handelte es sich größtenteils um hochqualifizierte Intellektuelle mit ursprünglich bildungsbürgerlichem, jüdischem Familienhintergrund.134 Alexander Dymschitz, der noch mehrfach ins Blickfeld treten wird, war als Sohn einer großbourgeoisen Familie und Absolvent der elitären Deutschen Reformschule von St. Petersburg einer der bekanntesten Vertreter dieser Kulturoffiziersgeneration. Ihr Bildungsniveau und Kunstverstand sollte in der Nachkriegszeit richtungweisend werden für das kulturpolitische Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht im Osten Deutschlands. Die von ihnen verehrten deutschen Kulturträger, zu denen Hauptmann gehörte, waren – wie der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch dargestellt hat – ebenso bürgerlich-traditionell wie ihre eigenen russischen Kulturleitfiguren Tolstoj und Stanislavskij.135 Dass Kulturoffiziere Inszenierungen von Hauptmann-Werken in der SBZ beförderten, war deshalb naheliegend.136 Dies musste ihnen auch von daher legitim erscheinen, als Hauptmann, wie eingangs skizziert, seit Lenins Zeiten in Russland eine exzeptionelle Hochachtung genoss. Hauptmanns Ausnahmestellung ging sogar soweit, dass man seine Stücke dort noch während des Zweiten Weltkriegs aufgeführt hatte, wie z.B. Vor Sonnenuntergang, das noch z.Z. der Belagerung Leningrads gespielt wurde – in einem Moment also, da das Deutsche auf der sowjetischen Bühne heikel geworden war.137 Zur Erklärung des kulturellen Pluralismus in der SBZ, der unter Mitwirkung der Kulturoffiziere kurzzeitig eine „gründerzeitliche Aufbruchsstim-

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Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948, München, Wien 1995, S. 122 f. Alexander Weigel, Das Deutsche Theater. Eine Geschichte in Bildern, hg. vom Deutschen Theater, Berlin 1999, S. 218. Ebd., S. 59. Ebd. Die Schauspielerin Erna Ankermann berichtet: „Ich war bis April 1949 in Stralsund, und wir haben außerdem noch von Hauptmann gespielt: Die Weber, Der Biberpelz und Elga. Das Theater musste jedes Stück, das gespielt wurde, vorher der russischen Zensurbehörde einreichen, und damit nicht genug, saßen die Russen noch in jeder Generalprobe und nervten uns mit den kuriosesten Beanstandungen. Gerhart Hauptmann ging immer glatt durch“ (zit. nach: Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 7). Tjulpanow, Vom schweren Anfang, in: WB, 13 (1967), H. 5, S. 725; Robert Enz, Sowjetische Repertoirepolitik in der Stalinzeit am Beispiel Moskauer und Leningrader Opernund Balletttheater wie Philharmonien, Heidelberg 2006, S. 116; Gerstmann, Gerhart Hauptmann, in: TdZ, 9 (1954), H. 2, S. 31-33, hier: 33

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mung“138 erzeugte, sind in der Forschung die unterschiedlichsten Erwägungen angestellt worden: Die Interpretationen reichten von der „quasi-konspirativen Tätigkeit russischer Intellektueller“ bis hin zur – angesichts stalinistischer Erfahrungen – „heimlichen Nostalgie“ für die im Nachkriegsdeutschland noch möglichen, in der Sowjetunion aber unwiederbringlichen Bedingungen eines künstlerischen Lebens.139 Darüber hinaus schien man erkannt zu haben, dass eine radikale Kehrtwende hin zu proletarisch-revolutionären Kunsttraditionen und sozialistischen Werthaltungen eher kontraproduktiv gewesen wäre.140 Eine solche Wende hätte breite Bevölkerungsschichten der SBZ eher entfremdet denn geöffnet. Auch deshalb bestand vonseiten der Sowjets und deutschen kommunistischen Führungspersönlichkeiten ein gewisses Interesse daran, die „sprichwörtliche Intelligenz- und Erbefeindlichkeit, die man der deutschen Arbeiterbewegung nachsagt[e]“, als „Legende“ zu decouvrieren.141 Ein kulturpolitisches Interesse, in das jedoch grundsätzlichere, machtstrategische Motivationen hineinspielten. Schließlich war es Stalins Absicht, ein neutrales Gesamtdeutschland zwischen den eigenen Landesgrenzen und dem westlichen Gegner zu schaffen.142 Solange also Aussicht auf eine zusätzliche Erweiterung des sowjetischen Einflusshorizontes in Richtung Westdeutschland bestand, galt es, eine Isolierung in jeder Hinsicht zu vermeiden. Anstelle eines rigorosen Durchgreifens und dem Bemühen um den Vollzug revolutionärer Brüche stand die Kulturpolitik der SBZ deshalb zunächst im Zeichen versöhnlicher Bündnisbestrebungen. Wie am Beispiel Gerhart Hauptmanns noch zu zeigen ist, bedingte diese Zielsetzung maßgeblich den Umgang mit bürgerlichen Intellektuellen. Integration aller gesellschaftlichen Schichten, nicht Konfrontation zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft war das Ziel, das das Handeln der neu entstehenden Institutionen im kulturellen Feld der frühen SBZ bestimmte. Einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Reorganisation sollte in diesem Sinne der Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands leisten, der als legitimierende Instanz für den ‚kulturellen Antifaschismus’ etabliert wurde.143 Die erste öffentliche Kundgebung des Kulturbundes fand am 4. Juli 1945 im 138

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Gerd Dietrich, Politik und Kultur in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945-1949, Berlin, Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 44. Vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 56 f.; Dietrich, Politik, S. 14. Vgl. Mittenzwei, Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR 1945-1975, Berlin (Ost), Weimar 1978, S. 16 f. Manfred Wekwerth, Erinnern ist Leben. Eine dramatische Autobiographie, Leipzig 2000, S. 58 f. Vgl. Stuber, Spielräume, S. 16. Vgl. Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich (Hg.), Soziale Räume, S. 123148, hier: 128.

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Großen Sendesaal des Berliner Rundfunkhauses statt, bei der rund 1.500 Berlinerinnen und Berliner zugegen waren.144 Als zentrales Anliegen wurde die Wiederentdeckung der „große[n] deutsche[n] Kultur, der Stolz unseres Vaterlandes“ und die Begründung eines „neue[n] deutsche[n] Geistesleben[s]“ verkündet und im Manifest des Kulturbundes festgeschrieben.145 Das ambitionierte, auf demokratische Reanimation des Geistes- und Kulturlebens zielende Konzept war neuartig, zumal es weder die Tradition bürgerlicher Kulturvereine noch die Linie proletarisch-revolutionärer Verbände fort- bzw. durchsetzen wollte.146 Die vom Kulturbund zunächst unternommene „Reformulierung der humanistischen Traditionen“ entsprach vielmehr einem gesamtgesellschaftlichen Orientierungsbedürfnis und kann, wie der Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck betont, nicht vereinfachend als „bloße Taktik kommunistischer Volksfrontpolitiker abgetan werden“147. Für diese Sichtweise spricht, dass die Kulturbund-Idee nicht im Moskauer Exil geboren worden war, sondern auf ähnliche Organisationsformen von Emigranten in England, Schweden und Mexiko zurückging.148 Aus diesem Grund schien der Kulturbund vielen das probate Medium des Antifaschismus zu sein, mit dem die Überwindung des nationalsozialistischen Gedankenguts herbeigeführt werden konnte. Entgegen seiner ursprünglich überparteilichen und interzonalen Konzeption erfuhr der Kulturbund im Zuge der sich andeutenden Systemkonfrontation eine immer stärkere Politisierung: Er entwickelte sich bald zum „wichtigste[n] kulturelle[n] Mittler und Werbeträger der SMAD“149 und trug durch eine Vielzahl an Veranstaltungen zur Etablierung eines neuen, indirekt doch auf den Sozialismus adressierten Forums der Kultur bei. Die politische Tendenz wurde – entgegen der Organisationspläne – bereits am 8. August 1945 mit der Wahl Johannes R. Be-

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Heider, Politik, S. 36; Knapp einen Monat zuvor wurde der Kulturbund initiiert. Pieck vermerkte am 06.06.1945 die „Schaffung eines Kulturbunds für demokratische Erneuerung“, der „die Vernichtung des Nazismus, geistige Neugeburt des Volkes, Förderung freier wissenschaftlicher Forschung und Popularisierung des klassischen Erbes“ zum Ziel haben sollte. Am 26.06.1945 fand in der Villa Strauss in Dahlem die Gründungsversammlung statt. Zu diesem Zeitpunkt – und dies deutet auf eine „Polit-Inszenierung“ hin – war der Bund schon von der Militärkommandantur genehmigt worden (Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 504, 506 f.; vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 119 f.). Manifest und Ansprachen gehalten bei der Gründungskundgebung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 4. Juli 1945, Berlin [ohne Jahr], S. 4 (zit. nach: Heider, Politik, S. 36). Dietrich, Politik, S. 29. Bollenbeck/ La Presti, Einleitung, in: dies. (Hg.), Traditionsanspruch, S. 7-20, hier: 11. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 28. Tjulpanow soll den Namen abgelehnt haben, weil er damit den jüdischen Arbeiterbund assoziierte und das Wort ‚Bund’ im Russischen eine umstürzlerische Konnotation habe (Dwars, Abgrund, S. 504 f.). Dietrich, Politik, S. 35.

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chers zum Präsidenten des Kulturbundes sichtbar.150 Eigentlich hatte die KPDFührung beabsichtigt, den Kommunisten Becher im Dienste der angestrebten liberalen Außenwirkung hinter dem eigentlich für das Amt vorgesehenen bürgerlichen Schriftsteller Bernhard Kellermann zu ‚verstecken’; Becher sollte im Hintergrund die Weisungs- und Leitungsbefugnis innehaben.151 Trotz der ‚eindeutiger’ ausfallenden Personalentscheidung betonte der Kulturbund nach außen hin, insbesondere wegen der Inhomogenität der verschiedenen Zielgruppen, weiterhin demonstrativ seine überparteiliche Offenheit. Diese trug er zusammen mit dem propagierten Humanitätsstreben152 als Pavese der sukzessiven Gleichschaltung der inhaltlichen Arbeit voran. Weitere Hinweise darauf, wie im Kulturbund der „Kampf um die moralische Gesundung unseres Volkes“153 geführt werden sollte, gab dessen auf dem I. Bundeskongress (20. – 21. Mai 1947) in Berlin verabschiedete Satzung. Ihr erster Leitsatz bezog sich auf die „Vernichtung der Naziideologie auf allen Lebensund Wissensgebieten“, die – sprachlich und geschichtlich unsensibel formuliert – mit einer „Säuberung und Reinhaltung des öffentlichen Lebens“ einhergehen sollte.154 Entsprechend wollte man den Kulturbund selbst ‚rein halten’: Von der Mitgliedschaft sollten all jene ausgeschlossen sein, „die als Aktivisten in der NSDAP oder einer ihrer Nebenorganisationen tätig waren, Personen, die sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligten, sowie Personen, die in Wort, Schrift oder Tat solche Verbrechen begünstigten und an der Rassenhetze oder an der Verbreitung militaristischer und imperialistischer Gedanken teilnahmen.“155 Diese ‚Reinheits’-Vorstellungen sahen des Weiteren die „Sichtung der positiven und negativen Kräfte“ vor, „wie sie auf allen Gebieten unseres geistigen Lebens wirksam waren“.156 Wie grob die Maschen des Netzes aber tatsächlich gestrickt waren, zeigt die Tatsache, dass auch ehemalige NSDAP-Mitglieder „nach einge150

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Heider, Politik, S. 38; Vgl. Dwars, Abgrund, S. 510; Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 124. Nach dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD im April 1946 wurde verstärkt an personellen Überschneidungen in kulturpolitischen Einrichtungen gearbeitet. So war z.B. das Präsidialratsmitglied des Kulturbundes, Anton Ackermann, gleichzeitig – zusammen mit Otto Meier – Leiter der in zahlreiche Arbeitsbereiche untergliederten Abteilung Kultur und Erziehung. So erreichte man bei gleichzeitiger Unterstützung und Miteinbeziehung weiterer im Aufbau befindlicher Organisationen die personelle Prägung von „Beeinflussungspfaden“ (vgl. Heider, Politik, S. 63). Einer der zentralen Leitsätze des Kulturbundes nennt die „Wiederentdeckung und Förderung der freiheitlichen humanistischen, wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes“ als Oberziel, vgl. Kulturbund (Hg.), Hinweise, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3. Ebd., § 3 der Satzung, S. 7. Ebd., S. 3.

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hender Prüfung“ aufgenommen werden konnten, wenn eine Kommission der Landesleitung dies entschied.157 In der SBZ im Allgemeinen und dem Kulturbund im Besonderen zeigte man sich hierbei gerade in Hinblick auf Schriftsteller und Künstler recht großzügig. Weil die Sowjets weniger kleinlich bei der Rehabilitierung und instrumentellen Verwendung von Künstlern waren, die über Weltruf, nicht aber über eine moralisch tadellos weiße Weste verfügten, machten sie im Wettlauf um die deutschen Berühmtheiten aus Film, Literatur und Theater oftmals das Rennen.158 Wie von amerikanischer Seite verärgert kritisiert wurde, waren diese in den Augen der Sowjets „eine besondere Art Mensch [...], die man kaum zur Rechenschaft ziehen kann“159. Neben der traditionell hohen Wertschätzung, die die Sowjets ‚Kulturschaffenden’ entgegen brachten, lagen diesem Verhalten eine gezielte Interessenpolitik und ein fortschrittsorientierter Pragmatismus zugrunde: Zum einen erhoffte man sich akzeptanzsteigernde Effekte für das eigene Image, zum anderen erkannte man, dass deutsche Integrationsfiguren unentbehrlich für die anvisierte Aufbauarbeit waren. Infolge dieser Erkenntnis war es für Oberst Sergej Tjulpanow, den Leiter der Informationsabteilung der SMAD,160 das erklärte „erste Ziel“ der Nachkriegszeit, „alle antifaschistischen Kräfte zusammenzuführen“161. Der auf Konsolidierung ausgerichteten Aufgabe widmeten sich in Tjulpanows Abteilung etwa 150 Offiziere. Da vollkommen unbelastete Persönlichkeiten des Kulturlebens rar waren, bemühten sich Tjulpanows Mitarbeiter jene „Schriftsteller zu suchen und zu finden, die nicht immer konsequent und aktiv gegen den Faschismus aufgetreten, aber den großen Idealen treu geblieben waren“162. Alles, was man von ihnen erwartete, war, dass sie sich in „die Wiederherstellung der demokratischen Kultur und in den Gesamtaufbau eingliedern würden“.163 Zur Zusammenführung aller antifaschistischen Kräfte sollte ebenfalls der Erste – und zugleich letzte – gesamtdeutsche Schriftstellerkongress nach dem 157 158 159

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Ebd. Deutschland Archiv, (1980) H. 12, S. 1306 f., zit. nach: Jäger, Kultur, S. 4. Bericht Henry C. Alters vom 18.07.1945, zit. nach: Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 84. Der Theaterregisseur Boleslaw Barlog charakterisierte Tjulpanow als „glatzköpfige[n] Dschingis-Khan“ mit „gütige[m] russische[n] Herz“ (ders., Theater lebenslänglich, München 1981, S. 84). Andernorts heißt es über Tjulpanow, er sei der „Einpeitscher der neuen SED“ gewesen, der auf „Fotos und Wochenschaubildern jener Zeit mühelos als der Mann mit der phänomenalen Glatze, den breiten Schultern und dem brutalen Charme auszumachen“ gewesen sei (Merseburger, Mythos Weimar, S. 366). Tjulpanow, Vom schweren Anfang, in: WB, 13 (1967), H. 5, S. 724-732, hier: 724; vgl. § 2 der Satzung des Kulturbundes: Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Hg.), Hinweise und Richtlinien für die organisatorische Arbeit, S. 3. Tjulpanow, Vom schweren Anfang, in: WB, 13 (1967), H. 5, S. 724. Ebd.

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Zweiten Weltkrieg (4. – 8. Oktober 1947) beitragen. Auf Anregung des Kulturbundes wurde er vom Schutzverband deutscher Autoren (SDA) im Ostsektor Berlins veranstaltet.164 Ganz Abbild der in Berlin und Deutschland herrschenden politischen Zustände, wurde der Schriftstellerkongress im Deutschen Theater von Militärvertretern der Besatzungsmächte eröffnet: Neben dem sowjetischen Kulturoffizier Dymschitz, der die Teilnehmer dazu aufrief, an der „geistigen Umerziehung“165 des Volkes mitzuwirken, waren jeweils ein Vertreter der französischen, der amerikanischen und der englischen Militärregierung anwesend.166 Wenn auch aus unterschiedlichen politischen Beweggründen waren die Kongressteilnehmer doch bemüht, der drohenden politischen Teilung mit der in der deutschen Sprache und Kultur manifesten „Einheit des Geistes“ ein „wirksames Korrektiv entgegenzustellen“.167 So hegte mancher Teilnehmer anfangs die Hoffnung, der Kongress möge tatsächlich zur Konsolidierung der ideologischen Spannungen beitragen. Ganz auf dieser Linie forderte Johannes R. Becher in seiner Rede dazu auf, „aus den Fehlern des Vergangenen [zu] lernen und sie gründlich und ein für allemal [zu] beseitigen“168. Für Becher bedeutete dies ferner, die Spaltung zwischen Schriftstellern im Exil und solchen in der inneren Emigration zu vermeiden. Ein gefährliches „Gegeneinanderausspielen“169, das in der Kontroverse zwischen Thomas Mann und Frank Thiess drohte, lehnte er entschieden ab. Ebenso warnte er davor, einen „Schriftsteller, der im guten Glauben geirrt hat, mit der lebenslänglichen Stillegung seines Werkes [zu] bestrafen“170. Mit dieser versöhnlichen Haltung war Becher, wie im nächsten Kapitel geschildert werden soll, auch Gerhart Hauptmann begegnet. Der bereits am 6. Juni 1946 verstorbene Hauptmann fand während des Schriftstellerkongresses in der Rede Günther Weisenborns Erwähnung. Weisenborn zählte Hauptmann hier zu all jenen, die „ihre Zeit in sich [trugen] […], die vergeblich nach Frieden und Menschlichkeit riefen, ein Chor der Gestorbenen, deren Wort uns tief bewegte“171. Doch es blieb nicht bei wohltemperierten Reden und berührenden Appellen. Melvin J. Lasky, amerikanischer Journalist und informeller Mitarbeiter der amerikanischen Militäradmi-

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Vgl. insgesamt: Waltraud Wende-Hohenberger (Hg.), Der erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongreß nach dem Zweiten Weltkrieg im Ostsektor Berlins vom 4. bis 8. Oktober 1947, Frankfurt a.M. u.a. 1988. Dymschitz, Die Literatur – Seele des Volkes, in: ebd., S. 16 f., hier: 17. Wende-Hohenberger, Vorwort, in: dies. (Hg.), Der erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongreß, S. V. Ebd. Becher, Vom Willen zum Frieden, in: ebd., S. 58-69, hier: 59. Ebd., 64. Ebd. Günther Weisenborn, Tod und Hoffnung, in: ebd., S. 20-25, hier: 23.

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nistration, sorgte für einen Eklat, der den Kongress beinahe sprengte: Mit seinen Äußerungen über die Unterdrückung von Schriftstellern und Künstlern in der Sowjetunion provozierte er die sowjetische Delegation zum demonstrativen Verlassen der Veranstaltung.172 Die Fragilität der nur noch mühevoll zusammengehaltenen Gesamtkonstruktion des sektoralen Berlin bzw. Deutschland hätten sich nicht eindrücklicher verdeutlichen lassen: Statt der intendierten Einheitsmanifestation wurde der Erste gesamtdeutsche Schriftstellerkongress zu einer „Abschiedszeremonie vor dem Auseinanderdriften“173. So verlor der Kulturbund am letzten Tag des Schriftstellerkongresses seinen gesamtdeutschen Geltungsanspruch und die Möglichkeit, eventuell regulierend und vereinigend wirksam zu werden. An diesem Tag wurde der Kulturbund im amerikanischen Sektor verboten, einen Monat später folgte ein entsprechendes Verbot im britischen Sektor.174 Nur die Franzosen schlossen sich in Erkenntnis der positiven Einflusskraft einer solchen Institution auf den kulturellen Wiederaufbau dem Verbot nicht an.175 Im englischen und amerikanischen Sektor galt der Kulturbund fortan als „kommunistische Tarnorganisation“176. Die Besatzungspolitik Englands und der USA positionierte sich damit ab 1947 offen antikommunistisch.177 Waren Kultur und Kunst im Kulturbund – wie von den westlichen Alliierten unterstellt – tatsächlich Waffen der ideologischen Infiltration geworden, wie dies schon von der proletarisch-revolutionären Avantgarde der späten 1920er Jahre geplant worden war?178 Von höchsten sowjetischen Stellen wurde die direkte Einflussnahme zunächst negiert und lediglich eine Anregerfunktion reklamiert.179 Welche Bedeutung man dem Kulturbund tatsächlich beimaß, zeigen aber bereits

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Melvin J. Lasky, Von der geistigen Freiheit, in: ebd., S. 45-47, hier: 46. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 53. Wende-Hohenberger, Vorwort, in: ebd., S. XXIX. Vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 52. Jäger, Kultur, S. 23. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 50. Die Broschüre Zur Kulturpolitik in der DDR der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt die Unsicherheit in der Bewertung des Kulturbundes: „Dass das vom Kulturbund verfolgte Ziel der ‚Bildung einer nationalen Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter’ eine akzeptable gesamtdeutsche Plattform war, belegt die Bereitschaft zur Mitarbeit solcher Persönlichkeiten wie des Schriftstellers Hans Fallada, des Theaterkritikers Herbert Ihering oder des Schriftstellers Heinrich Mann“ (Jürgen Koller, Zur Kulturpolitik in der DDR. Entwicklung und Tendenzen, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1989, S. 17). Obschon die Argumentation den Eindruck erweckt, als stufe man den Kulturbund als anerkennungswürdige Institution ein, wird dieser wenige Textzeilen später als „AlibiInstitution“ desavouiert (ebd.). „Ich möchte nachdrücklich sagen, dass die SMAD immer nur Anregungen gab und mehr nicht tun konnte: Die Arbeit mussten und konnten nur die deutschen Genossen und die vielen humanistisch Denkenden leisten“ (Tjulpanow, Vom schweren Anfang, in: WB, 13 [1967], H. 5, S. 732).

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die SMAD-Verordnungen,180 die die Massenorganisation mit reizvollen Privilegien und Gütern ausstattete.181 Die Bedeutung der Sowjetunion für das Selbstverständnis und die Selbstlegitimation des Kulturbundes begann sich spätestens auf dessen I. Bundeskongress 1947 herauszukristallisieren: Becher und Tjulpanow rückten bei dieser Gelegenheit die Bezugnahme auf die Sowjetunion und ihre Leistungen in den Mittelpunkt der Kulturbund-Arbeit.182 Zwei Jahre später, als die Teilungsbefürchtungen Realität geworden waren, fand die „Freundschaft mit der Sowjetunion“ offiziell Aufnahme in das auf dem II. Bundeskongress (26. November 1949) beschlossene Grundsatzprogramm.183 1958 wurde dann der Zusatz ‚zur demokratischen Erneuerung Deutschlands’ aus dem Namen des Kulturbundes gestrichen – eine Konsequenz der nun offen praktizierten sozialistischen Orientierung der Kulturpolitik.184 Das offizielle Eingeständnis, dass der Kulturbund von Anfang an ideologischen Lenkungsbestrebungen unterlegen hatte, erfolgte erst dreißig Jahre nach dessen Gründung. Wie Abusch 1975 als frisch ernannter Kulturbund-Ehrenpräsident bekannte, sei die Institution „ein Stück leninistischer Strategie in dem ehrlichen Ringen um die Vereinigung aller“ gewesen, „die nach der faschistischen Schande eine Erneuerung der Gesellschaft an Haupt und Gliedern, einen wirklichen geistigen Neubeginn erstrebten“.185 Diese Strategie hatte Becher und Dymschitz im Auftrag des Kulturbundes und im Sinne der SMAD auch zu Gerhart Hauptmann geführt.

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Vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 131. „Die Sowjets gaben sich Mühe, die bürgerlichen Intellektuellen für sich zu gewinnen. Noch herrschte starker Lebensmittelmangel. Die Präsidialratsmitglieder erhielten Pakete mit Würsten, Butter und Spirituosen, im Winter Kohlenscheine. [...] Überhaupt war der Kulturbund mit reichlichen Mitteln versorgt. So wiesen die Sowjets das Bad Ahrenshoop dem Kulturbund zu. In Bad Saarow verfügte der Kulturbund über das wunderschöne Haus ‚Eibenhof’“ (Ernst Niekisch, Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs, Köln 1974, Bd. 2, S. 53). Heider, Politik, S. 81. Engelbach/ Krauss, Der Kulturbund, in: Hay (Hg.), Zur literarischen Situation, S. 169188, hier: 179. Vgl. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 162. Abusch, Ansprache zur Festlichen Veranstaltung am 3. Juli 1975 im Apollosaal der Deutschen Staatsoper. In: Kulturbund der DDR (Hg.), 30 Jahre Befreiung – 30 Jahre Kulturbund. Ansprachen auf Veranstaltungen des Präsidialrates und des Präsidiums des Kulturbundes der DDR am 2. und 3. Juli 1975 in Berlin anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung des Kulturbundes, Berlin (Ost) 1975, S. 14-25, hier: 16. In den Ansprachen wurden die die Leistungen Bechers und der sowjetischen Kulturoffiziere mehrfach erwähnt, an den ersten Ehrenpräsidenten Hauptmann wurde dagegen nicht erinnert.

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2.

Hauptmanns Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft

Der russische Oberstleutnant und Literaturwissenschaftler Alexander Dymschitz wurde 1945 mit einer „spezielle[n] Aufgabe“186 nach Berlin geschickt: Im Dienste des sowjetischen Antifaschismus war er beauftragt, „der künstlerischen Intelligenz zu helfen und eine neue Kulturentwicklung zu fördern“187. Mittel zum Zweck war eine Rekrutierungsliste mit Namen von „Meistern der deutschen Kultur“, auf der Hauptmann nicht fehlte.188 In seinen Memoiren schrieb Dymschitz, der im November 1945 Leiter der der Informationsabteilung angegliederten Kulturabteilung der SMAD wurde,189 er habe jene Kulturproduzenten aufgesucht, „um ihnen unsere Verehrung und Achtung zu bekunden, um sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“190. Die äußerst um- wie nachsichtige Unterstützung, die Dymschitz dem greisen Gerhart Hauptmann im Werben um dessen politische Zustimmung angedeihen ließ, beinhaltete ‚Pajoks’ – zusätzliche Lebensmittelrationen – und Schutz. In dem im Zuge des Potsdamer Abkommens Polen zugesprochenen, ausgehungerten und von Marodeuren verunsicherten Schlesien bedeuteten diese Unterstützungsleistungen ein unschätzbares Gut.191 Außerdem soll Hauptmann dank sowjetischer Intervention der einzige Deutsche in Schlesien gewesen sein, dessen Telefon noch funktionierte,192 was seine Isolierung von der Außenwelt zumindest in Ansätzen aufhob. Schutzscheine vonseiten polnischer Autoritäten kamen hinzu,193 die Hauptmanns Anwesen jedoch bereits als „polnisches Staatseigentum“194 ausgaben.

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Dymschitz, Ein unvergeßlicher Frühling. Literarische Porträts und Erinnerungen, Berlin (Ost) 1970, S. 265. Ebd.; Bildete anfänglich die Sammlung berühmter Kulturschaffender die Hauptaufgabe von Dymschitz, so ging dieser zu Beginn der 1950er Jahre auch gegen vermeintliche Fehlentwicklungen des künstlerischen Schaffens vor: Als erbitterter FormalismusGegner nahm der ansonsten als „recht liberal“ (Schittly, Zwischen Regie, S. 42) geltende Dymschitz in der SBZ und frühen DDR Einfluss auf die künstlerische Produktion (vgl. Stuber, Spielräume, S. 131-133). Dymschitz bezeichnete z.B. Picasso in seinen Formalismus-Kritiken als „Abgott des westeuropäischen Formalismus“ (Dymschitz, Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei, in: TR. [19.11.1947]). Dymschitz, Ein unvergeßlicher Frühling, S. 265. Dietrich, Politik, S. 14. Dymschitz, Ein unvergeßlicher Frühling, S. 266. „Die in Polen stationierten sowjetischen Truppen mussten verständigt werden, damit ihm Hilfe geleistet werden konnte. Ich schrieb einen Brief und erhielt bald darauf die Antwort, dass Hauptmann unterstützt werde“ (ebd., S. 266). Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 294. Vgl. Stroka, Gerhart Hauptmann, in: Kuczyński/ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 167-181, hier: 168 f. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 295.

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Die Sonderbehandlung,195 die Hauptmann wiederfuhr, beruhte zum einen auf dessen Status in Deutschland, vor allem dem der Weimarer Zeit, zum anderen auf der Popularität der Weber und anderer Stücke Hauptmanns in der Sowjetunion. Dieses Popularitätsphänomen bildete einen Einstieg in die Gespräche, die Becher und Tjulpanow mit Hauptmann führten, als sie ihn Anfang Oktober 1945 (3. – 6. Oktober 1945) in seinem Haus Wiesenstein in Agnetendorf besuchten.196 Becher wurde damals – wie die Schriftstellerin Ilse Reicke, die Ehefrau Hans von Hülsens, sich erinnerte – von vielen als „das Haupt der Schriftsteller in der russischen Zone“197 angesehen. Der Besuch bei Hauptmann und das von Becher hierbei vorgebrachte Anerbieten können daher zu Recht als „symbolträchtige Geste“ bezeichnet werden.198 Sie sollte Hauptmann das Interesse der neuen Machthaber signalisieren und ihn zugleich in der neuen Situation orientieren. Mit dieser Unternehmung, wie zwiespältig sie auch sein mochte, gedachte Becher dem Kulturbund einen politisch ungetrübten, ehrwürdigen Glanz zu verleihen.199 Ziel war es, wie Schivelbusch blumig treffend formuliert, für den Kulturbund als den „große[n] Stamm, in dem die Verzweigung der deutschen Kultur nach 1933 wieder zusammenwachsen sollte, [...] eine Krone [zu finden], in der sich alle, die in diese Vereinigung eingingen, wiederzuerkennen vermochten.“200 Dem Kulturbund als dem „geistige[n] und kulturelle[n] Parlament unseres Landes“201 – wie Bernhard Kellermann das Projekt bei der ersten öffentlichen Kundgebung getauft hatte – sollte Hauptmann als repräsentatives Oberhaupt vorstehen.202 Dass dem Namen Hauptmann eine Art innerdeutsche Signalwirkung inhä195

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Auch in den letzten Kriegstagen war Hauptmann unmittelbare Hilfe durch die Wehrmacht widerfahren: Sie unterstützte seine Rückkehr von Dresden nach Agnetendorf, stellte ab Görlitz sogar ein Auto, Benzin und eine Fahrerlaubnis zur Verfügung (Gerhart Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns berichtet von Gerhart Pohl. Mit acht bisher unveröffentlichten Fotos hg. von Günter Gerstmann, Nachdruck der 1. Auflage Berlin 1953, Radebeul 2002, S. 15); vgl. Behl, Zwiesprache, S. 281). Tjulpanow, Vom schweren Anfang, in: WB, 13 (1967), H. 5, S. 725; Vgl. Behl, Nachklang. Gerhart Hauptmanns letztes Jahr und letzte Tage [München, 09.03.1948], in: ders., Zwiesprache, S. 279-290, hier: 284. Ilse Reicke, Die drei letzten Begegnungen, in: Zeller (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 376380, hier: 377. Werner Jung, „Den Weg zur Humanität finden“ – Johannes R. Becher und Gerhart Hauptmann, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218-229, hier: 218. Vgl. Dwars, Abgrund, S. 514. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 134. Der Kulturbund in Berlin, Berlin 1948, S. 11. Hauptmann scheint nach Thomas Mann, der aber schon im September 1945 eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen hatte, lediglich Bechers zweite Wahl für die Ehrenpräsidentschaft gewesen zu sein (Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 135; Dwars, Abgrund, S. 528). Diese Reihenfolge würde auch einen Imagewandel des Dichters im

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rent war, hatte Kellermann schon 1922, eingedenk der Wirtschaftskrise, erkannt.203 Den stabilisierenden und einigenden Effekt galt es in der zweiten Nachkriegszeit erneut zu beschwören, wenngleich Hauptmanns Kräfte zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich eingeschränkt waren. Wie der Romanist und Publizist Viktor Klemperer später richtig vermutete, traf Becher Hauptmann stark geschwächt an: Nach zwei Lungenentzündungen und dem Schock der Zerstörung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945, die er in einem Sanatorium im nahen Oberloschwitz miterlebt hatte, war Hauptmann nur noch „eine kümmerlich vegetierende Ruine“204. Der Bühnenautor Walter Stanietz, der Hauptmann Anfang Juli 1945 besuchte und bei dessen Anblick erschrak, hatte ihn schon damals auf der „Schwelle des Todes“ gewähnt.205 Ein weiterer Transport des Greises wäre demnach, obschon Becher mit dieser Absicht auf den Wiesenstein fuhr,206 kaum möglich gewesen. Für Becher, der in den Augen Dymschitz’ „geradezu prädestiniert [war], schöpferische Kräfte zu sammeln und zu vereinigen“,207 sollte die Wiedereingliederung bzw. Reaktivierung von (inneren) Emigranten zu einer Hauptleistung seiner Arbeit im Kulturbund werden. Sieht man vom taktischen Kalkül ab, das allen Unternehmungen dieser Art anhaftete, so barg das von ihm verfolgte „Versöhnungs-Spektrum“208 doch die einmalige Chance für das Zustandekommen einer Kultur der intellektuellen Offenheit. In Begleitung eines Fotografen, der sowjetischen Kulturoffiziere Weiss und Chanow209 sowie des Journalisten Gustav Leuteritz hatte Becher sich auf den Weg nach Schlesien gemacht.210 Leuteritz und Chanow arbeiteten für die Tägliche Rundschau, der ersten Zeitung, die nach dem

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Vergleich zur Weimarer Republik bezeichnen, als Hauptmann und nicht Thomas Mann der Favorit in Sachen staatlicher Repräsentation war: „Dass er [i.e. Ebert] den Dichter und nicht den (politisch reflektierenden) ‚Schriftsteller’ Thomas Mann zum Repräsentanten wählte, lag wohl in der damals typisch deutschen Geringschätzung des Schriftstellers gegenüber der Hochachtung vor dem Dichter begründet. Mit dem Begriff des Dichters verband sich die Vorstellung vom göttlich inspirierten Mittler, das Bild vom Propheten und Seher, etwa in der Tradition Klopstocks“ (Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 211). „Den Deutschen sagt sein Name, dass sie in all ihrer Zerrissenheit eine solch anerkannte Größe des Mittelpunktes, der Sammlung und allgemeinen Achtung besitzen“ (Bernhard Kellermann, Dem Meister und Freund!, in: Hollaender [Hg.], Festschrift, S. 15). Viktor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1949, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999, S. 146 (20.11.1945). Walter Stanietz, Das große Gesicht. Letzter Besuch bei Gerhart Hauptmann, in: Schlesien, 12 (1967), H. 3, S. 149-153, hier: 150, 153. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 137. Dymschitz, Ein unvergeßlicher Frühling, S. 294 f. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 288. Kuczyński (Hg.), „... darf ich mein Schlesien allein lassen?!“, in: ders./ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 161-166, hier: 163. Vgl. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 54; zu den Positionen der an der „Expedition“ Beteiligten vgl. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 137.

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Krieg erschien (seit dem 15. Mai 1945) und ein Organ der sowjetischen Militärbehörde zur anvisierten Umerziehung der Deutschen darstellte. Eine kontrollierte Resonanz des denkwürdigen Besuchs in Agnetendorf in der Presse war damit sichergestellt. Neben der Berichterstattung in der Täglichen Rundschau geben zwei weitere Berichte das Treffen auf dem Wiesenstein wieder: Einerseits die Erinnerungen des Kulturoffiziers Weiss211, andererseits der Bericht, der vom linksbürgerlichen Schriftsteller Gerhart Pohl212 verfasst wurde. Pohl, über den noch ausführlicher zu sprechen sein wird, wohnte im benachbarten Ort Wolfshau und konnte so die letzten Monate Hauptmanns in unmittelbarer Nähe miterleben. Der Bericht von Weiss, dessen Resonanzkalkül auf positive Darstellung des sowjetischen Vorgehens gerichtet ist, stilisiert die Anwerbungsaktion zur Rettungsmission für einen Dichter, der „materielle und seelische Not“213 gelitten habe: „Ihm zu helfen, machten wir uns so bald als möglich auf den Weg [...].“214 Becher fiel hierbei die Rolle des Retters zu, der mit dem Besuch, wie es im Kommentar seiner Gesammelten Werke heißt, „wesentlich dazu bei[trug], Hauptmann aus seiner Vereinsamung zu lösen“215. Entsprechend der großen Popularität Hauptmanns in der Sowjetunion fühlte sich Weiss überaus geehrt, „dem Einsamen und Kranken Hilfe zu leisten“216. Hauptmann erscheint in den politisch imprägnierten Schilderungen des Kulturoffiziers zuweilen als Opfer, z.B. wenn die Erlebnisse im Kontext der Bombardierung Dresdens dramatisiert werden.217 Die bewusste Viktimisierung Hauptmanns war von dem Ziel motiviert, ihn ganz eindeutig zum Objekt der NS-Herrschaft zu machen. Der Dramatiker – so die Botschaft – hat unter den Widernissen der zurückliegenden Jahre gelitten, keinesfalls hat er aktiv zur Stabilisierung der NS-Herrschaft beigetragen. Im Vorwort der DDR-Ausgabe seiner Erinnerungen von 1981 wurde Weiss – Indiz für eine veränderte Haltung gegenüber Hauptmann – für diesen Mangel an Neutralität kritisiert:

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Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 429. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 429. Ebd. Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 642. Auch der Hauptmann-Biograf Hans von Hülsen erkannte später an, dass Becher durch „manche Erleichterung seiner [d.h. Hauptmanns, P. T.] schwierigen Lage“ sich ein „unauslöschliche[s] Verdienst“ erworben habe (Geleitwort zu Gerhart Hauptmann, Sieben Reden gehalten zu seinem Gedächtnis. Im Auftrage der Freunde hg. von Hans von Hülsen, Goslar 1947, S. 6). Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 430. Ein Beispiel: „Der Luftdruck einer nahen Explosion schleuderte ihn gegen die Wand, er fiel zu Boden, von Glassplittern, Deckenputz und Staub bedeckt“ (ebd., S. 431).

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„Insbesondere gegenüber Hauptmann und Fallada gerät er dabei, von menschlichem Mitgefühl und Bewunderung erfüllt, offensichtlich auch bisweilen in die Gefahr des Heroisierens wie des Psychologisierens. Historiker oder Literaturwissenschaftler werden gewiß nicht immer einer Meinung mit ihm sein.“218 Umstritten ist besonders Hauptmanns Verhalten bei der Begrüßung der Besucher. In den von Weiss wiedergegebenen – ideologisch gefärbten – Beschreibungen gleicht das Gebaren des Dichters einem Kotau. Demzufolge wandte sich Hauptmann „in erster Linie an die Militärpersonen“219, wobei er deren Siegerschaft gepriesen haben soll: „Ich danke dem neuen siegreichen Russland, dessen Menschen die ersten waren, die mich in diesen unruhevollen und schweren Tagen meiner Einsamkeit aufgesucht haben.“220 In jedem Falle schien sich Hauptmann des Besuchsanliegens wie auch des Bekanntheitsgrades seiner Person in der Sowjetunion nicht sicher gewesen zu sein. Darauf deutet z.B. der Umstand hin, dass in der Eingangshalle des Wiesensteins russische Übersetzungen der Werke Hauptmanns, darunter die erste Gesamtausgabe von 1903, ausgelegt worden waren.221 Als Ausweis und Schutzschild in einem fungierte ebenfalls der Sammelband Russland und die Welt222, den Hauptmann den Besuchern demonstrativ entgegen gehalten haben soll. Der Dichter hatte diese Anthologie 1922 zusammen mit dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen und Gor’kij herausgegeben, um mit dem Erlös Hungernden im Wolgagebiet zu helfen.223 Dass Hauptmann den Hilfeaufruf Gor’kijs in Deutschland damals unterstützt hatte, wurde in der Nachkriegszeit von den Sowjets in der Tat 218 219 220

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Peter Theek, in: Weiss, Am Morgen, S. 13. Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 431. Ebd.; vgl. Hauptmann, [Bekenntnis zur russischen Kultur, erschienen in: TR (11.10.1945)], CA, XI, S. 1207. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 294. Ebd. Im Geleitwort Hauptmanns findet sich kein Wort über Russland, stattdessen verleiht er seiner Bewunderung für Nansen Ausdruck. Die Motivation für die Beteiligung an dem Band bezog er demnach aus seiner Wertschätzung für Nansen: „Ich habe mich dazu verstanden, dem Nachfolgenden diese Worte voranzusetzen, weil man meint, ich könne damit das Hilfswerk fördern, dem Nansen seine Kräfte widmet. Ist es so, dann sind meine Worte gerechtfertigt“ (Nansen/ Hauptmann/ Maxim Gorki, Russland und die Welt, Berlin 1922, S. 6). Einen weiteren Hinweis darauf, dass Hauptmanns Engagement bar jeglicher ideologischer Absicht war, findet sich in den Erinnerungen von Hülsens, zu dem Hauptmann nach Erhalt des Hilferufs sagte: „Teufel noch mal, sie [i.e. die Verwalter der Kornkammern der Welt] wären ungetreue Haushälter, wollten sie angesichts einer solchen Not, nur weil ihnen vielleicht das Gesicht des russischen politischen Systems nicht passt, die Türen ihrer Schatzkammern verrammeln! Wo die Menschlichkeit angerufen wird, hat politische Sympathie und Antipathie zu verstummen...“ (Von Hülsen, Freundschaft, S. 27; vgl. Johann Kraus, Im Auftrage des Papstes in Russland. Der Steyler Anteil an der katholischen Hilfsmission 1922-1924, Steyl 1970, S. 8-11).

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als ideologischer Unbedenklichkeitsausweis gedeutet: Sein Engagement wurde nicht nur als Ausdruck der freundschaftlichen Gefühle für Gor’kij und als Erweis seiner hohen Menschlichkeit ausgelegt, sondern auch als „Bekenntnis zur jungen sowjetischen Republik“224. Die Nachricht vom Kriegsende und dem Übergang in sowjetische Herrschaft war im Hause Hauptmann angstvoll aufgenommen worden. Der greise Dichter war keineswegs „überzeugt, dass ihm aus dem Lande, von dem er so manche Anregung empfangen und wo sein Werk bereits früh ein breites Echo gefunden hatte, keine Gefahr drohte“,225 wie dies der DDR-Haupmann-Experte Tschörtner später behauptete. Vielmehr beobachtete Hauptmann – wie zahlreiche Tagebucheintragungen belegen – Russland schon seit Beginn der Oktoberrevolution mit wachsendem Schrecken. Beispielsweise notierte er Ende 1918 folgendes Fazit über die Vorgänge in Russland und das Wesen der Bolschewiki: „Behüte Gott unser Volk vor russischer Sklaverei und vor den Doktrinen und Methoden dieser geistlosen, bluttriefenden russischen Heilsarmee. […] Wir brauchen weder russische Übersetzungen unser Landsleute Marx und Engels noch im eigenen Lande russische Bevormundung.“226 Nichts schien Hauptmann so sehr zu fürchten wie eine russische Besatzung und deren kulturelle Verheerungen, die Europa seiner Meinung nach in „einen geistigen Kirchhof verwandeln“227 würden. Der Sozialismus in Russland war für Hauptmann ein Rückfall in rechtlose Gewaltzeiten,228 ein Schreckgespenst, das ihn lange Jahre ängstigte. Noch 1930 gestand er in seinem Tagebuch: „Was ich fürchte ist Krieg und die Rote Armee in Deutschland.“229 Über diese schwelenden Ängste hinaus sah man auf dem Wiesenstein nach Kriegsende den anrückenden Sowjets nicht zuletzt aufgrund jüngerer Äußerungen Hauptmanns in der Öffentlichkeit mit gemischten Gefühlen entgegen. So hatte sich Hauptmann Ende März 1945 von zwei Vertretern der Gauleitung eine Protestschrift über die Zerstörung Dresdens abringen lassen.230 Dass Kritik am Vorgehen der westlichen Alliierten nicht nur in Hinblick auf den Bombenkrieg von den Sowjets durchaus gerne ge-

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Tjulpanow, Rede anläßlich des Traueraktes, in: ders., Erinnerungen, S. 15. Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 257. CA, XI, S. 923 f. Hauptmann, Tagebuchnotiz von 1919, zit. nach: Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 301; vgl. Rede zum zehnten Todestag Tolstois [erschienen in: Vossische Zeitung (21.11.1920)], in: CA, XI, S. 950-960, hier: 951. „Iwan der Schreckliche ist in Russland wieder am Ruder, mag er sich heut nennen, wie er will“ (CA, XI, S. 1099). Zit. nach: Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 294. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 23.

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sehen wurde, war damals jedoch nicht ohne weiteres zu erahnen.231 Die Stellungnahme, die „mit geschickten Kürzungen“ am 29. März 1945 im Radio verlesen worden war,232 bildete auch für den Hauptmann-Vertrauten Pohl einen Anlass zur Sorge: Er befürchtete, dass die Sowjets Hauptmann deshalb „als Faschisten abstempeln“233 würden. Hinzu kommt, dass Hauptmann im Juni 1942 über den Reichssender Breslau einen aufmunternden Gruß an die Frontsoldaten geschickt hatte,234 wodurch seine politische Gesinnung fraglich erscheinen musste. Denkbar ist, dass sich Hauptmann deshalb zu einer prophylaktischen Anbiederung an die russischen Besucher veranlasst sah. Nach Weiss soll er jedenfalls ausgiebig seine Bewunderung für die russische Literatur und Theaterkunst zu Ausdruck gebracht, seine Freundschaft mit Gor’kij deklamiert und sich obendrein als bewegter Lenin-Leser inszeniert haben: „[...] ich bin stolz auf die persönliche Bekanntschaft wie auch auf jene besondere geistige Nähe, die ich in diesem großen Schriftsteller aus dem Volke spürte. Seinerzeit war ich erschüttert von dem kolossalen epischen Bild, das Gor’kij in dem Stück Nachtasyl gezeichnet hat. Mir war das Glück vergönnt, es in der Aufführung des Moskauer Künstlertheaters zu sehen. Ich liebe auch Gor’kijs Roman Die Mutter – das ist die mit großer künstlerischer Kraft vorausgeahnte Revolution. Als ich die Briefe Lenins an Gor’kij las, war ich tief bewegt und ergriffen von der außerordentlichen Sorge des großen Führers der Revolution um die schöpferische Arbeit des Schriftstellers.“235 Äußerungen dieser Art von der Kulturgröße Hauptmann waren wertvolles Wasser auf die sowjetischen Propaganda-Mühlen, die um Vertrauen werbend gegen Vorbehalte in der deutschen Bevölkerung antraten. Aus diesem Grund wurden Hauptmanns Worte, ungeachtet der Motivation ihrer Entstehung, nur allzu gerne im Anschluss an den Besuch in der Täglichen Rundschau abgedruckt.236 Interessenswahrung und positive Selbstdarstellung prägten auch das Verhalten der Besucher auf dem Wiesenstein. Zwanzig Jahre zuvor hatte Becher noch Gerhart Hauptmann und Thomas Mann in seinem Artikel Bürgerlicher Sumpf – Bürgerlicher Kampf237 aufs Schärfste angegriffen. Becher hatte hier wohl vor allem aus Gründen der Selbstabgrenzung und Positionsbesetzung mit 231 232

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Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 293. Stroka, Der „Wiesenstein“, in: Gerhart-Hauptmann-Stiftung, S. 51-59, hier: 56; vgl. Behl, Zwiesprache, S. 282. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 25. CA, XI, S. 1187. Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 431 f. „„Die Keime, die bei uns aufgingen, stammen zum großen Teil aus russischem Boden“ [Bekenntnis zur russischen Kultur, erschienen in: TR (11.10.1945)], CA, XI, S. 1207. Johannes R. Becher, Bürgerlicher Sumpf/ Revolutionärer Kampf, in: Das Wort, 3 (07.13.02.1925).

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den „intellektuellen Hampelmännern“ abgerechnet: Mann und Hauptmann hatte er „contemplative hundertprozentige Trottelhaftigkeit allen politischen Problemen gegenüber“ und „bornierte Klassenblindheit“ vorgeworfen und sie zudem als „repräsentationslüstern“ bezeichnet.238 1932 hatte er Hauptmann dann einen Menschen genannt, „der weiter nicht interessiert“239. Hauptmann war aus Bechers damaliger Sicht „schrecklich und oftmals gestorben“ und ruhte „im Frieden, den er mit den herrschenden Mächten geschlossen“ habe.240 Im gleichen Jahr betonte der einstige Bürgerschreck Becher deshalb nochmals, dass Hauptmann keinesfalls als Vorbild für die Kulturkämpfer des Sozialismus tauge.241 Ein Angriff, der 1934 durch die verhöhnende Verserzählung Deutschland242 fortgesetzt wurde und von der Intention getragen war, die Konfrontationslinien zwischen bürgerlicher und sozialistischer Kunst abzustecken. 1945, zwei Systemwechsel und einen Karrieresprung zum Repräsentanten des ‚neuen Deutschland’ später, maß er Hauptmann nun in völliger Zurücknahme seiner bisherigen Kritik immense Bedeutung für „die Auferstehung des deutschen Geistes“ bei und bezog sich auf ihn als „die Quellkraft des Humanismus“.243 Der fast vergessene Hauptmann, „ein noch lebender Anachronismus“244, sollte Bechers Plan nach plötzlich wieder als Tröster und Erneuerer im nationalen Hoffnungsfokus stehen. Dass Becher öffentlich einen derartigen Gesinnungswandel vollzog und nunmehr unter Aufbietung aller Mittel – Kognak eingeschlossen245 – um die Gunst Hauptmanns buhlte, „entbehr-

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Ebd. Ders., Hauptmann, der Repräsentant, in: Ludwig Kunz (Hg.), Gerhart Hauptmann und das junge Deutschland, Berlin 1932, S. 9. Einen Seitenhieb auf Hauptmann enthielt schon die folgende Abgrenzung des BPRS von der bürgerlichen Literatur: „Wir umgeben uns nicht mit einem Dunst von Ewigkeit wie die bürgerlichen Literaten, die ausschließlich damit beschäftigt sind, die vorhandenen Tatsachen geistreich als ‚Schicksal’ zu beschwatzen“ (Becher, Unsere Front, in: Die Linkskurve, 1 (01.08.1929), Nr. 1, S. 1-3, hier: 1). Zit. nach: Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S.136; Eine wütende Entgegnung auf die „Lügen“ Bechers – die er darauf zurückführt, dass dieser „ein bisschen verwässerte Sowjetmilch getrunken“ habe, findet sich Mitte Juni 1932 in Hauptmanns Tagebuch (vgl. Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 262). „Das Vorbild dieser mit uns kämpfenden Schriftsteller ist nicht ein Hauptmann, nicht ein Heinrich Mann, ist nicht ein Untertan, gleichgültig, welchen pompösen Namen er trägt – ihre Vorbilder sind Marx und Lenin, ist ein Gorki und vor allem die revolutionäre Arbeiterbewegung selbst“ (Becher, Kühnheit und Begeisterung. Der 1. Mai und unsere Literatur-Revolution, in: Die Linkskurve, Nr. 5 (1932), S. 1-11, hier: 11. Vgl. Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 260. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 51. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 136. Der Kognak-Vorrat, den Hauptmann als eine Art „Lebenselixier“ zur „Anregung seiner Herztätigkeit“ täglich zu sich nahm, ging beim Besuch der Delegation zur Neige. Weiss besorgte daraufhin 20 Flaschen kaukasischen Kognak von einem russischen General in Liegnitz und andere Lebensmittel (Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 436 f.; ders., Am Morgen, S. 154 f.). Auch während des Krieges soll Hauptmann durch Lieferungen des Breslauer Gauleiters Hanke mit „schwere[m] franzö-

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te“, so der Becher-Biograf Alexander Behrens, „nicht der Peinlichkeit“246. Ob die gewandelte Einstellung – wie der DDR-Literatur- und Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei nahe legt – auf die erschütternden Erfahrungen des sowjetischen Exils, „seinen eigenen zerrissenen Seelenzustand“247, zurückgeführt werden kann, bleibt fraglich.248 Nach Tschörtner begann Bechers Gesinnungswandel schon im Oktober/November 1934249 und verlief in den Folgejahren „parallel zu seiner Klassikerrezeption“250. Einstellungen und Schicksal Hauptmanns lagen für Becher, dessen Charakter als „Mischwesen von Nationalist/Patriot und Kommunist“251 sich während des Exils noch verstärkt hatte, in diesen Nachkriegsmonaten jedenfalls nicht außerhalb seiner Empathiereichweite.252 Im Hinblick auf eine für die Jahre 1930 bis 1950 noch zu schreibende Mentalitätsgeschichte linker Intellektueller erscheint erwähnenswert, dass auch der linksbürgerliche Schriftsteller Gerhart Pohl einen ähnlichen Gesinnungswandel in Sachen Hauptmann durchlebt hatte: 1945 trat Pohl als Torwächter des Dichters auf, den er noch lange nach dem Ersten Weltkrieg wegen seiner anfänglichen Kriegseuphorie als „senile[n] Gerhart Hauptmann“ beschimpft hatte.253 Becher und Pohl trafen auf dem Wiesenstein nicht zufällig zusammen, schließlich war es Pohl gewesen, der Becher auf Hauptmanns Lage erst aufmerk-

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sische[m] Rotwein, Champagner und Cognac“ „friedensmäßig“ versorgt worden sein (Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse..., S. 78 f.) Behrens, Johannes R. Becher. Eine politische Biographie, S. 229. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 27. Interpretationen, wonach Becher in Hauptmann einen „Komplize[n] und Leidensgefährte[n]“ (Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 139) erkannt und mit dessen Konsekration seinem eigenen brüchigen Werdegang die Absolution erteilt habe (Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel [Hg.], Zeitgeschehen, S. 218-229, hier: 223 f.; Dwars, Abgrund, S. 514), wurden gerade auch in Hinblick auf Bechers Trauerreden für Hauptmann geäußert. Becher signalisiert in einem Brief vom 05.11.1934 an den Philosophen und Literaturkritiker Schmückle, die Kooperationsbereitschaft eines Gerhart H.: „In der Schweiz konnte ich längere Zeit mit Thomas Mann sprechen, [...] Eine merkwürdige Sache ist, dass Gerhart H[auptmann?] sich ebenfalls dort befindet und alle früheren, bis jetzt sorgsam von ihm gemiedenen Beziehungen wieder aufzunehmen beginnt. Wir haben auch in dieser Richtung einen Mann geschickt, um zu sondieren. Die Dinge gehen meiner Ansicht nach viel weiter, als wir sie damals gesehen haben. Größere Aufgaben, größere Möglichkeiten. Bitte, sieh doch einmal zu, dass die Grundlagen für diese Geschichten wirklich erledigt werden“ (Becher, Briefe. 1909-1958, hg. von Rolf Harder, Berlin, Weimar 1993, S. 189 f.) Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 261. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 164. Horst Görsch unterschied sechs verschiedene Stadien in der Beziehung Becher – Hauptmann, die von Vorbildwirkung über Enttäuschung, Verachtung und Gleichgültigkeit bis hin zu Nachsichtigkeit im Sinne des Bündnisinteresses reichte (vgl. ders., Gerhart Hauptmann und Johannes R. Becher, in: Referentenkonferenz 1987, S. 72-85). „Der senile Gerhart Hauptmann, der 1918 die ‚Glocken aus den Tälern’ Recht und Freiheit läuten hörte, hat bereits Hindenburg salutiert“ (Pohl/ Wilhelm Michel, Der Weg aus dem Nichts. Ein Briefwechsel, in: Die Neue Bücherschau 3 [1925], Schrift IV, S. 3-12, hier: 8).

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sam gemacht hatte.254 Beinahe hätte es sich um ein Treffen alter Freunde gehandelt, schließlich kannten sich die beiden seit der gemeinsamen Arbeit für die „kulturpolitische Kampfzeitschrift“255 Die neue Bücherschau. Pohl hatte die Zeitschrift 1923 mit der Haltung eines „Anhänger[s] des bürgerlich-kritischen Realismus“ gegründet.256 Dem 1927 einberufenen Redaktionskomitee hatte neben Kurt Kersten und Egon Erwin Kisch auch Becher angehört. Pohls hartnäckige Behauptung der politischen Unabhängigkeit des Schriftstellers sollte diesen Rahmen jedoch 1929 sprengen:257 Infolge der Debatte um eine Kritik Max Herrmann-Neißes258 über Gottfried Benns Prosa verließen Becher und Kisch die Redaktion – Kersten war bereits vorher gegangen. Abschätzigkeit prägte folglich seit Ende der 1920er Jahre die gegenseitige Meinung: Für Becher war Pohl, wie er Weiss gegenüber bemerkte, ein „Wirrkopf“, dem „alles zuzutrauen“ sei.259 Pohl wiederum charakterisierte Becher als „predigende[n] Schwärmer des Kommunismus“260, als „Propaganda-Macht“, „herzlos und rabulistisch, aber treu“.261 Die Strategie verfolgend, wonach in Freunde verwandelte Feinde „besonders Tüchtige und meist hervorragend Verlässliche“ seien,262 warb Becher auf dem Wiesenstein aber ebenfalls um Pohl. Er lockte den früheren Weggefährten mit der Leitung einer „mit großen Mitteln ausgestatteten“ Monatsschrift und anderen Angeboten.263 Pohl fühlte sich geschmeichelt, ferner erschien ihm die Aussicht auf ein geregeltes Einkommen nach den Wirrnissen der zurückliegenden Jahre durchaus attraktiv. Schließlich folgte er Becher nach Ostberlin, wo er – durch dessen Vermittlung – als Lektor wie auch bis 1950 als Redakteur der Zeitschrift Aufbau arbeitete. Abermals enttäuscht, ging Pohl 1953 in den Westen.264

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Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 136; Dwars, Abgrund, S. 514. Von Wilpert, Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte, 3., erweiterte Auflage Stuttgart 1988, S. 625. Christoph M. Hein, Der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“. Biographie eines kulturpolitischen Experiments in der Weimarer Republik, Münster 1990, S. 90. „Ein Schriftsteller muß den Kampf dort führen wo er seine Kräfte entfalten kann: in der Unabhängigkeit. Daher sind wir – unter manchem Opfer – bemüht, die Unabhängigkeit zu erhalten“ (Pohl, Über die Rolle des Schriftstellers in der Zeit, in: Die Neue Bücherschau 7 [1929], Schrift IX, S. 463-470). Max Herrmann-Neiße, Gottfried Benns Prosa, in: Die Neue Bücherschau, 7 (1929), S. 376. Weiss, Am Morgen, S. 127 [ebenfalls abgedruckt im 2. Becher-Sonderheft von SuF, 1959]. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 51. Ebd., S. 54. Zit. nach: Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neusausgabe Leipzig 1996, S. 76. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 54 f.; Weiss, Am Morgen, S. 131. Zum Verhältnis Becher-Pohl in Berlin vgl. Dwars, Abgrund, S. 637-646.

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Das für die spätere Entwicklung der Hauptmann-Rezeption in der DDR entscheidende Gespräch zwischen Becher und Hauptmann begann in der Erinnerung Pohls mit Bechers Hilfegesuch an den greisen Dichter: „Wir bitten um Ihre Hilfe... Auf Sie, Gerhart Hauptmann, schauen heute Millionen Menschen! Von Ihnen erwarten sie ein Wort, einen Zuspruch! Wir alle bedürfen Ihrer Kraft zur Aufrichtung und Stärkung Deutschlands. Wir müssen unter schwierigen Bedingungen wieder aufbauen. Es ist unser fester Glaube, dass uns das gelingen wird aus der besten Quellkraft des Humanismus. Dazu gehört Ihr Wort, Gerhart Hauptmann, und darum bitten wir Sie!“265 Indem Becher um Hauptmanns Hilfe und Zuspruch bat, trug er diesem eben jene Rolle an, die er schon einmal, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, eingenommen hatte. Damals hatte der Dichter eine Humanismus- und Pazifismusprogrammatik an den Tag gelegt, auf deren Reanimation Becher nun zu spekulieren schien.266 Parolen wie „Sucht das Kleinod der Einheit, ihr Deutschen!“267 und „Unser Volk, unser Land wird bleiben und wird nicht untergehen“268 hatten Hauptmann nach dem Ersten Weltkrieg in den Rang eines „Pater patriae“269 erhoben. Jenen Mahner zur Einheit und Visionär der Wiedergeburt von einst suchte Becher nun für den Kulturbund zu gewinnen. Wie der Bericht des Kulturoffiziers Weiss zu erkennen gibt, wusste Becher, dass der Kulturbund seine gewaltigen Aufgaben nur mit solch namhafter, krisenerfahrener Unterstützung würde bewerkstelligen können: „Wir sind von der tiefen Überzeugung erfüllt, dass unter den Trümmern, die in ganz Deutschland aufgehäuft sind, unvergängliche nationale Werte ruhen, deren Rettung gleichbedeutend ist mit der Rettung unseres Volkes aus der geistigen und moralischen Not, die uns die zwölf Jahre der Hitlerherrschaft hinterlassen haben. […] wir halten Ausschau nach denen, die aus unserer nationalen Katastrophe davongekommen sind und wir strecken jedem die Hand hin, der es verdient. […] Wir wenden uns an die Lebenden und an die Toten, an alle Menschen guten Willens, die uns in un-

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Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 57. Vgl. hierzu: Dwars, Abgrund, S. 514. Hauptmann, in: Vorwärts (17.01.1919), Nr. 29/30, zit. nach: Weimarer Republik, Manifeste, S. 7. „Die Zwietracht ist nicht nur unser stärkster innerer, sondern überhaupt unser stärkster Feind. Und er ist es vor allem, den es gilt, heute und immer zu bekämpfen“ (ders., Deutsche Einheit [Januar 1921], in: ders., Um Volk, S. 49-57, hier: 50). CA, XI, S. 898 f. Wenn der Aufruf tatsächlich – wie in der Centenarausgabe reklamiert – aus Hauptmanns Feder stammt, so wäre dies sein erster Auftritt als Sprecher der deutschen Künstlerschaft. Zu den Gegenstimmen hinsichtlich Hauptmanns Verfasserschaft vgl. Erdmann, Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? S. 150. Arthur Eloesser, Dem deutschen Dichter, in: Hollaender (Hg.), Festschrift, S. 5.

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serem schweren Kampf um unsere Wiedergeburt und unsere Existenz helfen können...“270 Mit einer beinahe ans Mephistophelische grenzenden Verführungskunst überzeugte Becher den greisen Schriftsteller zur Mitarbeit an der kulturellen Trümmerarbeit. Vor Hauptmanns geistigem Auge ließ er das Szenario eines von diesem zutiefst ersehnten, in erneutem Aufblühen begriffenen Deutschland erstehen. So berichtete Becher zunächst von den agrikulturellen Friedensvisionen Bernhard Kellermanns, dem neueröffneten Deutschen Theater Max Reinhardts und von engagierten Professoren, die gemeinsam mit hoffnungsfrohen Studenten freiwillige Arbeitseinsätze leisteten, um die Universitäten von Trümmern zu befreien. Auf diese Imagination erblühender deutscher Landschaften folgte sodann die Bitte, Hauptmann möge als Ehrenvorsitzender des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands diese vielversprechenden Ansätze einer Zukunftsarbeit unterstützen.271 Die berühmt gewordene Antwort, „Ich stelle mich zur Verfügung“, soll Hauptmann laut Pohl keineswegs enthusiastisch intoniert, sondern „nach einer langen Pause kaum hörbar“ geflüstert haben.272 In der Einverständniserklärung klingt Widerwille und Müdigkeit mit, doch von Becher bei seiner berühmten, nahezu grenzenlosen Vaterlandsliebe gepackt, musste Hauptmann einwilligen: „Zwar bürden Sie mir eine ungeheure Aufgabe auf, obwohl ich schon – auf der Schwelle stehe... Ich bin ein Deutscher, und es ist ganz klar, dass ich es bleibe. Was wir hier besprechen, ist eine Angelegenheit, die Deutschland betrifft...“273 Weiss gibt dagegen in „volksdemokratischer Terminologie“274 die folgenden, tatkräftigen Worte Hauptmanns wieder: „Ich gehe mit Ihnen... Das ist meine nationale Pflicht. Zusammen mit meinem Volk werde ich meine ganze letzte Kraft der Sache der demokratischen Erneuerung Deutschlands weihen.“275 Am Ende des Gesprächs beobachtete Pohl, dass „Becher strahlte“276. Seine Mission hatte sich offenbar erfüllt und das „absurde Theater“277 seine Wirkung nicht 270 271 272 273 274

275 276

Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 435. Ebd. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 58. Ebd. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 297; vgl. Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218-229, hier: 220. Weiss, Gerhart Hauptmann, in: Ziegengeist (Hg.), Begegnung, S. 436. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 58.

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verfehlt: Becher war es gelungen, den „zweiten Goethe“ auf die Seite des ‚neuen Deutschland’ zu ziehen. Ein Erfolg, über den in Pohls Wahrnehmung auch „die russischen Offiziere befriedigt zu sein [schienen]“278. Mit seiner Verpflichtung für den Kulturbund hatte Hauptmann schließlich den neuen Machthabern einen weiteren Baustein für die Konstruktion eines bürgerlich-humanistischen Fundaments ihrer Herrschaft in die Hand gegeben. Pohl verstand, dass der Besuch primär aus diesen kulturtaktischen Gründen erfolgt war. In seiner Beschreibung heißt es hierzu: „Mir war nach der Unterredung klar, dass Gerhart Hauptmann ein großes Aß in dem politischen Spiel der Sowjets werden sollte. Ob der Alte das merkte?“279 Ob als „Aß“ oder „nützliche Idioten“280 – die sowjetische Kulturstrategie sah die Gewinnung prominenter Vertreter des Bürgertums vornehmlich als dekorativrepräsentative Spitzen vor. Wie bereits erwähnt, wurden die eigentlichen Schlüsselstellen der Macht – auch im Kulturbund – indessen mit bewährten Kommunisten besetzt. Dass der Kulturbund nach diesem Prinzip als „Transmissionsriemen eines totalitären Regimes“281 fungieren sollte, lag allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht nur für Hauptmann außerhalb des Absehbaren. Im Ergebnis der Becher’schen Überrumplungstaktik wirkte Hauptmann auf Pohl in den Momenten nach seiner Bereitschaftserklärung „vollkommen undurchsichtig“282. Er mag angesichts der neuen Situation unschlüssig, in Anbetracht seiner Gesamtverfassung sogar überfordert gewesen sein. Dass ein neues Machtfeld mit eigenen Hierarchien im Begriff war sich zu konstituieren, dürfte der für politische Entwicklungen Empfindsame aber zweifelsohne registriert haben. Deshalb war er sich vermutlich auch darüber im Klaren, dass in dieser Zeit seine ‚geistigen Reproduktionschancen’, die Zukunft seines Werkes, auf dem Spiel standen und sein Wert aus einem politisch anders justierten Blickwinkel heraus bestimmt werden würde. Vor diesem Hintergrund muss Hauptmann mit besonderer Befriedigung registriert haben, dass man ihm kurz vor Ende seines Lebens abermals die Rolle des ‚geistigen Repräsentanten’ antrug. Der Kulturbund 277 278 279 280

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Dwars, Abgrund, S. 514. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 58. Ebd., S. 62. Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218229, hier: 219; Dwars, Abgrund, S. 510. Die situationsimmanente Erkenntnismöglichkeit unterschätzt Dwars, wenn er diese den Instrumentalisierten zum Vorwurf macht: „Warum so viele, durchaus kluge Leute so dumm waren, sich freiwillig in die Fänge einer so monströsen Maschinerie zu begeben?“ (Ders., Abgrund, S. 510). Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 62.

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verhieß ihm schließlich nicht nur die Bestätigung seiner Person und seines Werkes im sich neu strukturierenden literarischen Feld der Nachkriegszeit, vielmehr wurde er durch das angenommene Amt selbst ein Teil dieser Legitimierungsinstanz. Möglicherweise sah Hauptmann in der Roten Armee unter den gegebenen, ungewissen Umständen „die sichere und dabei doch fragwürdige Boje“283, die persönlichen Schutz, die Kontinuität seines Ansehens und vor allem die weitere Teilhabe am literarischen Feld zu gewähren versprach. Die Anwerbungsaktionen bürgerlicher Kulturgrößen durch die Sowjets implizierten somit in den meisten Fällen ein „Geschäft auf Gegenseitigkeit“284: Dafür, dass das Bildungsbürgertum den Kommunisten sein Prestige lieh, erhielt es im Gegenzug Unterstützungsleistungen, „moralische Entlastung“ als auch zukünftige Wirkmöglichkeiten.285 Hauptmann brachte ‚das Geschäft’ zudem noch die letzte Veröffentlichung ein, die zu seinen Lebzeiten erscheinen sollte. Im Zuge von Bechers Besuch auf dem Wiesenstein hatte er diesem das noch nicht für den Druck vorbereitete Manuskript der Neuen Gedichte überreicht – wohl als Zeichen seines guten Willens. Es handelte sich um zumeist nach 1942 entstandene Lyrik sowie um eine Nachlese aus den Jahren 1891 bis 1938.286 Bereits im Januar 1946 erschienen die Neuen Gedichte – mit einem Nachwort Pohls – im Aufbau-Verlag. Dass der Band in diesen Krisenzeiten mit einer für Lyrik beachtlichen Auflage von 20.000 Exemplaren erscheinen konnte,287 weist abermals auf die feldinterne Privilegierung hin, die dem Dichter in der SBZ eingeräumt wurde.288 Über den somit in vielerlei Hinsicht ergiebigen, dreitägigen Besuch auf dem Wiesenstein wurde am 11. Oktober 1945 ausführlich in der Täglichen Rundschau berichtet. In dem Bericht, der voller „Elogen auf den greisen Dichterfürs283 284 285 286 287

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Ebd., S. 63. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 129 f. Ebd. Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 130. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 299; Martin Machatzke wies allerdings daraufhin, dass es sich bei der Ausgabe lediglich um eine juristisch autorisierte, keineswegs aber um eine textlich autorisierte Fassung handelt. Schließlich zeige die „Textgestalt der einzelnen Gedichte Entstellungen“, die u.a. durch den Redaktor hervorgerufen worden seien (ders., Editorisches Nachwort, in: CA, XI, S. 1283-1331, hier: 1304). Der im August 1945 auf Initiative Bechers gegründete Aufbau-Verlag war der erste Verlag, der durch eine größere Produktionsmenge auf die Nachkriegsöffentlichkeit einwirken konnte (vgl. Horst Engelbach/ Konrad Krauss, Der Kulturbund und seine Zeitschrift Aufbau in der SBZ, in: Hay [Hg.], Zur literarischen Situation, S. 169-188, hier: 177). Für Lyrik war die Auflage beachtlich, obschon nicht zu vergleichen mit der solch belletristischer Bestseller wie etwa Theodor Plieviers Stalingrad mit 154.000 Exemplaren (ebd.). Hauptmann wusste dies zu schätzen: „Es freut mich, dass in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland verschiedene meiner Werke neu verlegt wurden, ich bin bereit, soweit meine Kräfte reichen, mich dem Wiederaufbau meiner Heimat zu widmen“ (Gerhart Hauptmanns letztes Interview, in: Start [21.06.1946], zit. nach: Tschörtner [Hg.], Gespräche, S. 175 f., hier: 176).

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ten und wiedergeborenen Goethe“289 war, wurde zunächst im Dienste einer gewollten geschichtspolitischen Entlastung klargestellt, dass Hauptmann „kein politischer Mensch im rationalen Begriff“290 sei. Vielmehr sei sein Erleben immer gebrochen durch das „Prisma seiner großen Künstlernatur“.291 Der Journalist Leuteritz berichtete von einem „herrliche[n] Auge“, das nie „feuriger“ leuchte, als wenn die Rede auf Dürer, Tolstoj und Gor’kij komme.292 „Sein Geist“, so war zu lesen, sei „wie ein Seismograph, der die feinsten Erdbeben der Epoche aufzeichnet“.293 Aufgrund dieser geniehaften Sensibilität für die Veränderungen der Zeitläufte habe Hauptmann „schon zu Beginn des Krieges […] die ungeheuerlichste Katastrophe [gewittert]“.294 Dass der Seismograph Hauptmann im ‚Dritten Reich’ allerdings nie Alarm schlug, wurde im Zeitungsbericht mit folgenden Worten gerechtfertigt: „Zwar konnte er es im Dritten Reich nicht verhindern, dass betriebsame Leute seinen Namen zu missbrauchen suchten, aber sein beredtes Schweigen dort und dann, wo andere Schriftsteller trommelten, zeigte nur zu sehr die Distanz, die er ganz bewusst den faschistischen Mächten gegenüber aufrechterhielt. Hauptmann gehörte nicht der Dichterakademie an, er weigerte sich auch konsequent, die von Goebbels inszenierten Dichtertagungen in Weimar zu besuchen. Er war einer der wenigen, die den Aufruf gegen Thomas Mann nicht unterschrieben. [...] So beschränkte man sich darauf, seinen 80. Geburtstag 1942 mit äußerster Zurückhaltung zu begehen. Leute wie Rust und Rosenberg, die doch immerhin als Repräsentanten des Nazigeistes galten, gratulierten nicht. Hitler schickte eine lahme Depesche, [...].“295 Mit jenen Worten, die zwischen Verteidigung und Mitleid changierten – der greise Dichter sei letztlich von den Kultureliten der NS-Zeit, seinem privaten Umfeld 289

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Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218229, hier: 221. Gustav Leuteritz, Gespräche mit Gerhart Hauptmann, in: TR (11.10.1945), zit. nach: Tschörtner (Hg.), Gespräche, S. 172-175, hier: 172. Ebd. Ebd. Ebd., S. 172-175, hier: 173. Interessant ist, dass der – wenn auch aus anderen Gründen – politisch ebenfalls nicht unumstrittene Autor Ernst Jünger im Kontext westdeutscher Literaturdebatten durch eine ähnliche Argumentation wieder salonfähig wurde. Auch ihm attestierte man im Rekurs auf seine von ihm selbst thematisierte Fähigkeit, „Taifune“ nur vorhergesehen, nicht aber evoziert zu haben, immer wieder eine verantwortungsferne Seismographenfunktion (vgl. Ernst Jünger, Tagebücher II. Sämtliche Werke, Stuttgart 1980, S. 13; zur Kanonisierung vgl. die konservative Jünger-Lektüre von Hans-Peter Schwarz, Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers, Freiburg i. Br. 1962). Leuteritz, Gespräche, in: TR (11.10.1945), zit. nach: Tschörtner (Hg.), Gespräche, S. 172-175, hier: 173. Ebd., S. 174; Ein fast identischer Entschuldungskatalog findet sich bei Grigorij Weiss, Am Morgen, S. 144-149. Wesentliche Entschuldungsargumente referiert Reichart in seinem Aufsatz, vgl. ders., Gerhart Hauptmann since 1933 (1946), in: ders., Ein Leben für Gerhart Hauptmann, S. 59-63, hier: 61.

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und seinen Söhnen schmählich im Stich gelassen worden296 –, wurde Hauptmann öffentlich als Kulturbund-tauglich ausgewiesen. Der in der Täglichen Rundschau dargebotene Entschuldungskatalog, der den argumentativen Grundstock der Hauptmann-Rezeption in der DDR bilden sollte, enthielt zudem die folgenden Elemente: So habe sich Hauptmann geweigert, „in die von den deutschen Armeen unterworfenen Gebiete zu reisen“, wo man seine Stücke, z.B. in Krakau und Paris297, aufführte und den Dichter angeblich gerne dabei gehabt hätte.298 Dass diese Reisen nicht stattfanden, wurde als Akt der politischen Distanznahme gedeutet. Außerdem wurde behauptet, dass der Dichter aufgrund seines Verhaltens und seines Werkes im ‚Dritten Reich’ in Gefahr geschwebt habe: Diese wären ihm, so war zu lesen, „teuer zu stehen gekommen“, wenn der „Weltruhm Hauptmanns geringer gewesen“ wäre.299 Auf die übertriebene Reinwaschung, die zu den später zu skizzierenden wütenden Reaktionen kommunistischer Kulturproduzenten beitrug, folgte – quasi als Fazit – ein ‚Je ne regrette rien’-Diktum Hauptmanns: „Ich kann wohl sagen, ich habe nichts zurückzunehmen.“300 Nach einigen Zitaten aus der späten Gelegenheitslyrik Hauptmanns, die die Weitsicht des „große[n] Realist[en]“ illustrieren sollten, „der niemals vor den Tatsachen der Geschichte die Augen verschlossen“ habe,301 folgten schließlich die entscheidenden Worte: Leuteritz’ Bericht endet mit Hauptmanns Bereitschaftserklärung, auf die man aufzubauen gedachte: „Ich stehe zur Verfügung der demokratischen Erneuerung Deutschlands.“302 Auch Hauptmann selbst wandte sich in jener Ausgabe der Täglichen Rundschau an das „deutsche Volk“. Wie nach dem Ersten Weltkrieg sprach Hauptmann von seinem „feste[n] Glaube[n] an Deutschlands Neugeburt“ und äußerte die Hoffnung, „noch an der allgemeinen Wiedergeburt voll teilnehmen zu

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„Seine vier Söhne wohnen jenseits der Zonengrenze, sein Sekretär Dr. C. F. W. Behl ging den Fluchtweg nach Bayern“ (Leuteritz, Gespräche, in: TR [11.10.1945], zit. nach: Tschörtner [Hg.], Gespräche, S. 172-175, hier: 172 f.). Peter Delvaux spricht angesichts der Hauptmann-Aufführungen im Paris des Jahres 1943 von einer „Nachfeier von Gerhart Hauptmanns 80. Geburtstag“: Rose Bernd wurde im Théâtre National Populaire bzw. Théâtre Chaillot gespielt, Fuhrmann Henschel im Odéon sowie Iphigenie in Delphi im Théâtre Français (ders., Antiker Mythos und Zeitgeschehen. Sinnstruktur und Zeitbezüge in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, Amsterdam, Atlanta 1992, S. 37). Leuteritz, Gespräche, in: TR (11.10.1945), zit. nach: Tschörtner (Hg.), Gespräche, S. 172-175, hier: 174. Ebd. Ebd. Ebd., S. 172-175, hier: 175. Ebd.

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können“.303 Diese Botschaft an den Kulturbund wurde im Oktober 1945 nochmals im Aufbau – der ersten kulturpolitischen Nachkriegszeitschrift304 – abgedruckt. Ein Umstand, der abermals die den Worten Hauptmanns beigemessene Bedeutung illustriert: „Ich begrüße das Bestreben des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und hoffe, dass ihm seine hohe Aufgabe gelingen wird, eine geistige Neugeburt des deutschen Volkes herbeizuführen. – Meine Gedanken und Wünsche sind in diesem Sinne bei ihm.“305 Mit seiner Bereitschaftserklärung bestätigte Hauptmann den neuen kulturpolitischen Kurs nachdrücklich und leistete der politischen Clique im Einflussbereich der Sowjets einen außerordentlichen, legitimatorischen Dienst. Über seinen Besuch in Schlesien hinaus blieb Becher, der von Pohl306 über die Geschehnisse vor Ort weiter informiert wurde, mit Hauptmann in – einseitigem – Briefkontakt. Aus einem Brief Bechers vom April 1946 geht hervor, dass er seit der Abreise fünf Briefe an Hauptmann geschrieben hatte, von denen er jedoch aufgrund ausbleibender Antworten annahm, dass sie ihn nie erreicht hätten.307 Interessant sind diese Briefe insofern, als sie neben den höflichen Gesundheitsanfragen Informationen über den weiteren Umgang mit der Person Hauptmanns in der SBZ enthalten. So berichtet Becher, dass man Hauptmanns 83. Geburtstag „im Deutschen Theater würdig gefeiert“ und Bernhard Kellermann die Eröffnungsrede gehalten habe.308 Der Etablierung Hauptmanns zur Kulturikone, zu der die Geburtstagsfeierlichkeiten beitragen sollten, dienten die Worte Bechers über den Jubilar, die gleichzeitig im Rundfunk übertragen wurden. Doch war es nicht Becher selbst, sondern der Schauspieler und Regisseur Paul Bildt, der dessen Botschaft im Deutschen Theater verlas.309 In gedruckter Form wurden diese Worte erst vier Jahre nach Bechers Tod, im Kontext des 100. Geburtstags Hauptmanns im Jahre 1962 im Neuen Deutschland veröffentlicht. 303

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Hauptmann, in: TR (11.10.1945), CA, XI, S. 1206. Brescius bezeichnete diese Stellungnahme als „gedankenarm“, eine Schwäche, die in dieser Zeit durch die beispielhafte Bekenntnisstärke ausgeglichen wurde (Brescius, Gerhart Hauptmann, S. 347). Horst Engelbach/ Konrad Krauss, Der Kulturbund und seine Zeitschrift Aufbau in der SBZ, in: Hay (Hg.), Zur literarischen Situation, S. 169-188, hier: 169. CA, XI, S. 1207. Vgl. Brief von Gerhart Pohl an Becher vom 08.11.1945, in: Becher, Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, hg. von Rolf Harder, Berlin u.a. 1993, S. 185-187. Brief von Becher an Hauptmann vom 01.04.1946, in: Becher, Briefe. 1909-1958, hg. von Rolf Harder, Berlin, Weimar 1993, S. 289. Brief von Becher an Hauptmann vom 26.11.1945, in: ebd., S. 271. Bei dieser Feierlichkeit am 15.11.1945 wirkten auch die berühmten Theaterschauspieler Eduard von Winterstein und Paul Wegener mit (ebd., S. 598, Anm. 271). Vgl. Brief von Becher an Hauptmann vom 01.04.1946, in: ebd., S. 289; ebd. S. 600 (Anm. 289).

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Hauptmanns zeitweiliges „Schwachwerden“310 im ‚Dritten Reich’, das Becher nun zu thematisieren begann, milderte er in der Geburtstagsrede mit dem Hinweis ab, dass „das Verhängnis Nietzsches in Hauptmanns Werk keinerlei Spuren hinterlassen“311 habe.312 Da Nietzsche im Osten immer mehr als Präfiguration der faschistischen Geisteshaltung geschmäht und zum ‚Outcast’ des Nationalkulturerbes gestempelt wurde, hätte eine Engführung Hauptmanns mit dem Philosophen des „Willens zur Macht“ im Munde Bechers damals fatale Folgen für die Hauptmann-Rezeption gehabt. Stattdessen aber bescheinigte Becher Hauptmann lutherische Standhaftigkeit, was gleichsam von der Entschlossenheit zeugt, den gewonnenen Repräsentanten im Sinne des humanistischen Ethos einzusetzen und nicht durch nachträgliche Kolportagen desavouieren zu lassen. Nicht zuletzt spiegelt Bechers Wortwahl das vorrangige Bedürfnis der Nachkriegszeit nach Stabilität, Halt und Orientierung wider: „Gerhart Hauptmann: das war eine feste Burg, eine humanistische Feste, ein Bollwerk der Freiheit – und möge noch dieses und jenes aus dem Werke Gerhart Hauptmanns im Verlauf der Zeit herausbröckeln – ein Felsen steht.“313 Entsprechend dieser grundlegenden Bedeutung forderte Becher in seiner Geburtstagsrede zu einer versöhnlichen Bewertung von Hauptmanns Verhaltens auf und begann unter den Irritationen der letzten Jahre die Konturen des zukünftigen Hauptmann-Bildes freizulegen: „Werden wir also nicht ungerecht dem Werk Gerhart Hauptmanns gegenüber und lassen uns nicht irreführen und verbittern dadurch, dass Gerhart Hauptmann in den letzten Jahren [eine] Haltung eingenommen hat, die wir – gerade in Übereinstimmung und im Interesse seines Werkes – [...] missbilligen [...]. Nein, wir wollen zu dem Fehler Hauptmanns nicht noch unsere Fehler dazumachen und uns dadurch den klaren Blick für Gerhart Hauptmann trüben lassen. Wir neigen uns in Ehrfurcht auch vor einem verdunkelten und vielfach gebrochenen Wollen, wenn es so rein und leidenschaftlich einsetzte wie dieses.“314

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[Ein großes Wollen…], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 65-68, hier: 65 [ND, 17.11.1962, Beilage Nr. 46]. Ebd., S. 67. In der Tat hatte Hauptmann die Hybris des nationalsozialistischen Menschenbildes und dessen – nach sozialistischer Lesart – in der Philosophie Nietzsches verorteten Grundlagen nie geteilt, sondern der nietzscheanischen Willensmetaphysik, wie er selbst sagte, den „Goetheschen Übermenschen“ vorgezogen (Behl, Zwiesprache, S. 252 [Agnetendorf, 24.10.1944]). [Ein großes Wollen…], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 66. Ebd., 67 f.

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Ein weiterer Grund, weshalb die Wahl für die Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft auf Hauptmann gefallen war, wurde spätestens hier deutlich. Becher, der zunächst die Versäumnisse Hauptmanns und seiner Gesinnungsgenossen rügte, präsentierte ihn in einem zweiten Schritt quasi als „Integrationsfigur zur Aussöhnung der deutschen Kultur“315: „Die geistige Großmacht, die Gerhart Hauptmann darstellte, erklärte sich nur allzu oft als unpolitisch und neutral und entmachtete sich dadurch selbst. [...] Der Weg zur Humanität, zu der der beste Teil seines Werkes aufrief [...] [war] in vielem, was der Dichter wider den Geist der Barbarei zu tun unterließ [...] oft kaum noch sichtbar, und er führte, in den Irren und Wirren der Zeit mitverdunkelt, bis nahe an den Abgrund heran und wollte sich schon in unfruchtbarer Resignation und Vereinsamung verlieren.“316 Wie zuvor im Falle der zur Rettungsmaßnahme für den kooperationsbereiten Hauptmann umgedeuteten Schlesien-Expedition, so wertete Becher nun den Beitritt zum Kulturbund für alle vorbelasteten Interessenten zur Rettungsmaßnahme auf bzw. um. Die Absolution, die Hauptmann erteilt wurde, besaß somit Stellvertretercharakter. Mit Hauptmann als Kulturbund-Ehrenpräsidenten hoffte man auch all jene zu erreichen, die sich in der NS-Zeit „nahe am Abgrund“ bewegt hatten. Hauptmann wurde zu einem „Modell von Katharsis, mit dem sich die vielen anderen Mitläufer identifizieren können sollten“317. Durch seine Bereitschaftserklärung lebte Hauptmann diesen Mitläufern die Verhaltensfigur des Irrens und Umkehrens vor. Ein Verhalten, das – so die Absicht von Becher – zur Nachahmung anregen sollte. Bezeichnenderweise brachte Hauptmann die besten Voraussetzungen hierfür mit: Schon in der Weimarer Republik fungierte er als eine „Integrationsfigur ohnegleichen“318, die seither im Besitz des „nationale[n] Vertrauen[s]“319 war. Die außerordentliche Beliebheit wurde u.a. auch mit einem gewissen Reliktcharakter Hauptmanns zu begründen versucht. So habe er in seinem Habitus „vom Bürgertum erinnerte Traditionen aus der Kaiserzeit“ fortgeführt,320 die sich in der vielfach auf ihn angewandten Königstitulatur wiederspiegelten. Dieser personifizierte Traditionszusammenhang habe in der Weimarer 315 316

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Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 138. Becher, Über Kunst und Literatur, Berlin (Ost), Weimar 1962, S. 862, zit. nach: Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 139. Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 139. Leppmann, Am Ende, in: Koopmann/ Muenzer (Hg.), Wegbereiter, S. 27-46, hier: 32; vgl. Klaus Hildebrandt, Gerhart Hauptmann in der Zeit der Weimarer Republik, in: JSFWUB, (1993), 34, S. 207-230, hier: 213; Erdmann, Vom Naturalismus, S. 164. „Er steht für uns alle, ein deutscher Meister und nachgerade etwa wie ein Vater des Volks“ (Thomas Mann, in: Hollaender [Hg.], Festschrift, S. 8). Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 211.

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Republik versichernd gewirkt und so Hauptmanns Vorbildcharakter geprägt. Ein Deutungsmuster, das gleichfalls auf Bechers Lenkungsbemühungen und die zeitgeistigen Rahmenbedingungen in der Nachkriegszeit angewandt werden kann: Auch in dieser Umbruchszeit verkörperte Hauptmann eine Vergangenheit, die einem Großteil der Bevölkerung emotional und rational Halt zu geben versprach. Angesichts des Zusammenbruchs des bis dahin gültigen politisch-sozialen Herrschafts- und Wertesystems war die Sehnsucht nach solchen Orientierungsgrößen allgegenwärtig.321 In seiner Geburtstagsrede fuhr Becher deshalb fort, all das aufzuzählen, wofür Hauptmann seiner Meinung nach in der Nachkriegszeit stand. Entsprechend seiner Vorliebe für die Siebenzahl322 fasste er diese Repräsentationsmomente in seinen sieben „Willenselementen“ des Hauptmann’schen Werkes wie folgt zusammen: 1. „In Gerhart Hauptmann verkörpert sich Sehnsucht und Traum der Menschheit nach einem Reich der Freiheit. 2. In Gerhart Hauptmanns Werk verkörpert sich der Wille seines Volkes zur sozialen Freiheit. 3. In Gerhart Hauptmanns Werk ist der Wille der Deutschen lebendig zu einer wahrhaft nationalen Einheit. 4. In Gerhart Hauptmanns Werk ist der schöpferische Wille der Deutschen lebendig, die Problematik des Zeitlichen zu gestalten und es zugleich aus seiner zeitlichen Bedingtheit herauszuheben, indem das Zeitliche vorbildlich gestaltet wird…323 5. Gerhart Hauptmanns Werk ist Menschengestaltung. Die Gestaltwerdung eines Menschen – nicht gut gemeinte Deklamation über das Wesen der Menschen – stellt das eigentliche Schöpferische dar […] und gerade im Menschengestalter Gerhart Hauptmann hat das Beste vom deutschen Wesen Widerstand geleistet gegenüber den Gewalten der Verdinglichung und Entmenschlichung […] 6. Gerhart Hauptmanns Werk verkörpert den Willen zur Form, den Willen zum Guß – er bewahrt und bereichert die Kunstformen, wie sie ja keine zufälligen, sondern ebenso naturhaft bedingte, wie geschichtlich und gesellschaftlich gewachsene sind. In dieser Bewahrung und Bereicherung der Form liegt ebenfalls eine nicht geringe Widerstandskraft gegenüber den vernunftzerstörenden Tendenzen seines Jahrhun321

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Die damals herrschende Dynamik und die Hauptmann hieraus erwachsende Bedeutung beschrieb der Theaterwissenschaftler Rolf Rohmer 1987 folgendermaßen: „Nach der Zerschlagung des Faschismus konnte Hauptmann zu einem Leitbild für die Sammlung aller Kräfte des deutschen Volkes werden, die an einer humanistischen Wiederbesinnung und antifaschistischen Orientierung in Deutschland interessiert waren. Die sowjetischen Behörden, vertreten vor allem durch Alexander Dymschitz, […] waren bereit, Hauptmann in der historischen Stunde des Neubeginns wiederum Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Rohmer, Gerhart Hauptmann, S. 86). Zuvor hatte Becher sieben Thesen einer freiheitlichen Ideologie und sieben Leitsätze des Kulturbundes formuliert (vgl. Dietrich, Politik, S. 19, 28 f.). Die Auslassungszeichen ohne eckige Klammern resultieren aus unleserlichen Stellen im Manuskript Bechers vgl. Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 642.

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derts – und [er] bekannte sich als Meister der Form zu vernünftiger Ordnung der Dinge […] 7. In Gerhart Hauptmanns Werk lebt der Wille zum Volk. […] Er hat Volksstücke geschaffen, aber nicht solche, wo dem braven Volk […] auf die Schulter geklopft wird – sondern er hat das unbekannte Große der schöpferischen Volkskraft entdeckt oder von neuem wieder entdeckt – und er hat Leben und Gesundheit des Volkes den entscheidenden Platz zugewiesen […].“324 Es dürfte wenig überraschen, dass Becher, nachdem er die „Chiffre Hauptmann“ derart mit Bedeutung aufgeladen hatte, dem Dichterfürst den ‚kulturellen Persilschein’ ausstellte: Er bescheinigte ihm, obschon dieser „nicht dem Unheil der vergangenen Jahre in einer Art und Weise [widerstanden habe], wie es der wesentliche Inhalt seiner Werke gefordert hätte“325, „ein bestes deutsches Wollen“326. Als Beweis musste abermals der Umstand herhalten, dass sich Hauptmann bei Bechers Besuch auf dem Wiesenstein angeblich „zu einem neuen Deutschland bekannte“327.

3. Widerstände gegen die Restituierung der Dichter-Ikone Hauptmann In all den geschilderten deutungskämpferischen Ausführungen ist Bechers Bestreben augenfällig, die Entscheidung für Hauptmann als sinnvoll zu verteidigen. Becher hatte zwar das Rennen um die Goethe-Verkörperung Hauptmann und dessen ‚großen Namen’ gemacht, doch erntete er hierfür in den eigenen Reihen fast nur Unverständnis. Gerade die Erwartungen der Linksintellektuellen und kommunistischen Schriftsteller, die auf ein gesamtgesellschaftliches Erneuerungsprogramm gerichtet waren, hatte er massiv enttäuscht. Die Nachsicht, mit der Becher um Hauptmann, Wilhelm Furtwängler, Gustav Gründgens u.a.328 – ungeachtet ihres z.T. die Grenzen eines nach allgemeinem Nachkriegskonsens tolerierbaren Opportunismus überschreitenden Gebarens im ‚Dritten Reich’ – geworben hatte, war für engagierte Kommunisten nur schwer ertragbar. Für jene, die den Zusammenbruch 1945 nicht als nationale Katastrophe betrachteten, sondern ihn als die Befreiung vom Faschismus ersehnt hatten, war die Zukunft nicht

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[Ein großes Wollen…], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 65 f. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 68. Dwars, Abgrund, S. 533 f.

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als evolutionäre Kulturentwicklung denkbar.329 Der Traditionsabbruch war ihnen näher als die Repristination alter Ideale. Deshalb kritisierten sie die Verteilungsstruktur, die sich im neu entstehenden literarischen und kulturellen Feld abzuzeichnen begann, zumal diese Kräfteverhältnisse nicht ihren Vorstellungen entsprachen. Die Zeichen standen auf Kampf zwischen den Inhabern diametral entgegen gesetzter Positionen der Kulturproduktion um die Zugehörigkeitsvoraussetzungen und die Platzierungen im neuen literarischen Feld. In diesen Distinktions- und Deutungsauseinandersetzungen der Nachkriegszeit bildete Hauptmann ein populäres Objekt der Ereiferung, da für ihn von politischer Seite eine Vorrangstellung im kulturellen Feld reserviert worden war. Besonders vorwurfsvoll reagierten die Schriftsteller F. C. Weiskopf und Hans Lorbeer. Beide waren mit Becher in den 1920er Jahren im Bund Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) für die Durchsetzung der proletarischen Literatur eingetreten. Lorbeer schrieb Anfang Dezember 1945 entrüstet an den einstigen Kampfgenossen Becher: „Ich weiß auch, daß Du einen literarischen Friedhof vorgefunden hast. Ob aber Männer wie Gerhart Hauptmann noch zeugungsfähig genug sind, neues Leben in die Welt zu setzen, das zweifele ich stark an. Du hast ihn besucht, den Mann der Weber und des ‚eh ich nicht durchlöchert bin, kann der Feldzug nicht geraten’. --- Als Portier empfing Dich einer der windigsten Gesellen der vergangenen ‚deutschen volkhaften Dichtung’, Herr Gerhart Pohl, es war damit auch klar, bei wem Du angemeldet wurdest ... die Worte des Alten waren dann auch dürftig genug. Aber jenun: Du warst bei Ihm! Und mit Dir war Herr Gustav Leuteritz, der vordem auch anderes konnte...“330 Für Lorbeer, den ehemaligen KZ-, Zuchthaus- und Moorlagerhäftling, war die Entwicklung besonders enttäuschend. Er, der 1945 vom Rote Fahne-Autor und Agitator zum Bürgermeister seiner Geburtsstadt Piesteritz mutiert war, stand damals auf dem kulturellen Abstellgleis. Lorbeer kritisierte Bechers Kulturdiplomatie331 vor allem, weil er einen Wiederaufbau des Geisteslebens unter restaurativen Auspizien fürchtete. Im Falle Lorbeers kam darüber hinaus die begründete Angst hinzu, selbst zu kurz zu kommen und mit dem eigenen proletarischen Hintergrund letzten Endes von den großen bürgerlichen Literaten abgeurteilt zu werden: 329

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Vgl. Bernd Hüppauf, Einleitung: Schwierigkeiten mit der Nachkriegszeit, in: ders. (Hg.), „Die Mühen der Ebenen.“ Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945-1949, Heidelberg 1981, S. 7-29, hier: 13. Hans Lorbeer an Becher, [Anfang Dezember 1945], in: Becher, Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, S. 194-198, hier: 195 f. Vgl. Anekdoten über Bechers Diplomatencharakter bei Lukács, Gelebtes Denken, S. 155 f. Lukács bezeichnete Becher darüber hinaus auch als einen „sehr feige[n] und impressionable[n] Mensch[en]“ (ebd., S. 180).

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„Wenn ich nicht immer mehr erkennen müsste, dass ich auch dieses Mal wieder ‚zu spät kommen’ werde. Die Herren nehmen ihre Plätze schon ein. Sie werden den Ton angeben, den Text bestimmen. Ich würde mich nicht wundern, wenn auch die Herren Pohl, Barthel, Binding, von der Vring und ähnliche sich einfänden. Herr Fallada ist ja schon da, Herr Heinrich Mann, der der ‚demokratischen’ Gummiknüppelpolizei im schönen Preußenland damals so hochherzige Worte zu sagen wusste, Herr Hauptmann und wie sie alle heißen. Vor ihnen wird man eines Tages, wenn man den Bürgermeister abgelegt hat und den Poetenrock wieder anziehen möchte, kaum Gnade finden.“332 In seinem Antwortschreiben an Lorbeer sah sich Becher veranlasst, Hauptmann, Fallada und Mann in Schutz zu nehmen. Er wehrte sich dagegen, dass diese mit einem Renegaten wie Max Barthel, der sich vom Arbeiterdichter zum NS-Barde gewandelt hatte, gleichgesetzt wurden: „Nein, lieber Hans, ein Barthel wird nie und nimmer mehr in unseren Reihen auftauchen, aber dass gewisse Unterschiede sind zwischen Hauptmann, Fallada und Barthel, das wirst Du sowohl gesinnungsmäßig wie auch der literarischen Qualität nach begreifen. Und wie Du über Heinrich Mann schreibst, ist ganz und gar abwegig, [...].“333 Wie Lorbeer konnte Becher nicht ahnen, dass die Tage Hauptmanns und Falladas zu diesem Zeitpunkt bereits gezählt waren. Auch Heinrich Mann, den Becher – mit ähnlicher Motivation wie Hauptmann – zum Präsidenten der neuen Deutschen Akademie der Künste zu gewinnen hoffte,334 sollte nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Ungeachtet der Kritik hielt Becher an seiner weitgefassten, auf der Volksfrontstrategie der 1930er Jahre fußenden Bündniskonzeption fest. Defensiv argumentierend rang er in seinem Brief an Lorbeer hierfür um Erklärungen, die auf einen Wettkampf335 um die Gewinnung von Geistesgrößen hi-

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Lorbeer an Becher, [Anfang Dezember 1945], in: Becher, Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, S. 197. Brief Bechers an Hans Lorbeer vom 21.01.1946, in: Becher, Briefe. 1909-1958, S. 277. Dwars, Abgrund, S. 612 f. Auch Viktor Klemperer, der im Januar 1946 in die Landesleitung des sächsischen Kulturbundes gewählt wurde und von 1947 bis 1960 Präsidialratsmitglied des Kulturbundes war, erinnert sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen daran, wie Becher das Zusammentreffen mit Hauptmann und dessen Anwerbung mit folgenden Worten verteidigte: „Ich war in Agnetendorf. Hauptmann hat doch nun einmal den großen Namen. Wenn wir ihn nicht für uns nehmen, spannten ihn andere vor. Es drängen und bemühen sich so viele dort oben...“ Mit entrüstetem Erstaunen stellte Klemperer fest, dass Becher aus Hauptmanns Einverständnis „nicht etwa den Schluß einer gewissen Intransigenz“ gezogen hatte (ders., So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1949, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 1999, S. 230 [20.04.1946]).

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nausliefen. Er glaubte, Lorbeer trotz dessen „Verbitterung“ dazu bewegen zu können, die Dinge doch „ein bisschen nüchtern und objektiv zu sehen“:336 „Als ich nun zurückkehrte, war es meine Hauptaufgabe, so rasch wie möglich alle diejenigen an uns zu binden und zu sammeln, die schwankend waren, die von heute auf morgen wieder in irgendwelche feindlichen Hände geraten konnten und die, so gut es ging, irgendwie uns zu verpflichten. Dieses ‚uns’ allerdings bedeutet kein uns im engeren Sinne, […]. So ergab es sich, dass diejenigen, auf die man sich fest verlassen konnte, wie Du, nicht sozusagen zuerst zum Zuge kamen, was notwendigerweise, das verstehe ich sehr gut, bei dem und jenem Verbitterung auslösen musste.“337 Nicht nur Lorbeer galt es zu beschwichtigen. Noch härter ging F. C. Weiskopf, der das ‚Dritte Reich’ in Prag und später in den USA überdauert hatte, mit Hauptmann – aber auch mit Becher selbst – ins Gericht. Auf Hauptmanns seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder an den Tag gelegte Wendigkeit anspielend, verspottete Weiskopf in einem Brief an einen Freund in Mexiko die Charakterlosigkeit des Arrangements: „Hauptmann stellt sich natürlich wieder mal zu Verfügung und wird dafür zum Literaturgott erster Klasse befördert. Die ganze Kulturwelt blickt auf ihn […], behauptet Becher, der u.a. ausführt, dass ‚wir Deutschen an Seele und Geist arm geworden’ sind. Das Letztere stimmt in diesem Fall. Es ist zum Kotzen. So was ist doch nicht nötig.“338 Inwiefern Hauptmann ein „Gewinn“, sein Werk von eminenter kulturpolitischer Relevanz sein könnte und warum man sich so sehr um ihn bemüht hatte, blieb für Weiskopf fraglich. Im Januar 1946 machte Weiskopf seiner Wut deshalb nochmals Luft – in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Friedrich Wolf: „Diese Grenzen sind im Fall Hauptmann überschritten worden, würdelos und, wie sich zeigen dürfte, ohne Gewinn. Was insbesondere die ‚Weltöffentlichkeit’ anlangt, von der behauptet wurde, dass sie auf Hauptmann blickt, so blickt sie, wenn überhaupt, mit Hohn und Abscheu auf diesen Überlebenden seiner selbst, auf diesen Gallerthampelmann und Immerzuverfügungsteller.“339

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Brief Bechers an Hans Lorbeer vom 21.01.1946, in: Becher, Briefe. 1909-1958, S. 277. Ebd. Zit. nach: Behrens, Johannes R. Becher, S. 229. F.C. Weiskopf an Friedrich Wolf (18.01.1946), Archiv Akademie der Künste der DDR, Friedrich-Wolf-Archiv, Mappe 322a), zit. nach: Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 138.

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Wie ein Brief Bechers an den Verleger Wieland Herzfelde verrät, ging die scharfe Kritik auch an Becher nicht spurlos vorbei. Er kämpfte mit der Verbitterung,340 darüber hinaus vielleicht auch mit jenen Zweifeln, die Erich Weinert damals beschäftigten. Der „Dichter und Volkstribun“341 Weinert, der dem Kulturbund demonstrativ fernblieb, gab im Frühjahr 1947 in Bezug auf diesen Problemkomplex zu bedenken: „Vielleicht sind wir in gewissen Fällen, wie im Fall Hauptmann, Fallada und ähnlichen, mit dieser Nachsicht weitergegangen, als sie es verdienten. Aber man war der Meinung, dass die junge Demokratie dadurch weniger Schaden erleidet, als wenn sie mit pedantischer Vorsicht zwischen unbedingter und bedingter Schuld unterscheidet.“342 1951 war es Alfred Döblin, der Becher in seinem Gratulationsbrief zu dessen 60. Geburtstag nochmals auf seine „Aussöhnung“ mit Hauptmann ansprach. Döblin formulierte hier mehrere kritische Fragen, die viele Zeitgenossen umtrieben, die miterleben mussten, wie bruchlos sich so manche Karriere über die Zäsur 1945 hinweg fortsetzen ließ. Auch der Alexanderplatz-Autor zeigte sich über den Vorrang strategischer Überlegungen gegenüber moralischen Fragen verwundert: „Und als Sie zurückkehrten, haben Sie Gerhart Hauptmann seinen Verrat nicht nachgetragen?“343 Eine direkte Antwort Bechers auf diese Frage ist nicht bekannt. Doch fügte Döblin selbst, die Situation des Heimkehrers Becher imaginierend, die folgende Erklärung hinzu, die eine Entschuldigung vorwegnahm: „Sie waren, fast wie betrunken, voll von Deutschland, das Ihnen wieder offenstand.“344 Bechers Handeln sollte im Fall Hauptmann letztlich in der DDR noch eine späte Anerkennung erfahren: 1987 wurde ihm das Verdienst zugesprochen, mit der Anwerbung Hauptmanns sowohl einen „große[n] Erfolg“ als auch einen „signalgebende[n] Durchbruch weitreichender Bündnisbemühungen“ erzielt zu ha340

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Becher schrieb am 12.07.1946 an seinen Freund, den im New Yorker Exil lebenden Verleger Wieland Herzfelde: „[...] offen gesagt, hat mich auch der Brief unseres Freundes F. C. an F. Wolf über Hauptmann etwas verbittert. Die Vergangenheit lehrt uns unter anderem auch, dass man vorsichtig sein muß bei der Beurteilung der Verhältnisse, die man aus eigener Anschauung nicht kennt. Wir verstehen außerordentlich gut Eure Schwierigkeiten, aber bitte, auch ein wenig Verständnis für die unseren, die, kurz gesagt, nicht ‚von Pappe’ sind“ (Becher, Briefe. 1909-1958, S. 302). Abusch, Ansichten über einige Klassiker, Berlin (Ost), Weimar 1982, S. 9. Erich Weinert, Rede gehalten am 17. Mai 1947 auf der Generalversammlung des Schweizerischen Schriftstellerverbandes in Schaffhausen, in: NDL, 4 (1980), S. 23 f., zit. nach: Jäger, Kultur, S. 6. Brief von Alfred Döblin an Becher vom 22.05.1951, in: Becher, Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, S. 411-413, hier: 413. Ebd.

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ben.345 Becher habe damit den „Aufbau einer ausgewogenen, produktiven und nicht denkmalpflegerischen Haltung gegenüber Hauptmann ein[ge]leitet“346.

4.

Der verstorbene Dichterfürst als legitimatorische Stütze

Der Entrüstungssturm, der die Reaktivierung Hauptmanns für die „demokratische Erneuerung“ unter linksintellektuellen und kommunistischen Schriftstellern ausgelöst hatte, berührte den greisen Dichter nicht – wahrscheinlich erreichte er den entlegenen Wiesenstein nicht einmal. Ohnehin war Hauptmann in seinen letzten Lebensmonaten – neben der Arbeit an einer Rede an die Welt347 – viel zu sehr damit beschäftigt, sich abzusichern. Weil er sich offenbar nicht ausschließlich auf die sowjetische und polnische Protektion verlassen wollte, soll er im Frühjahr 1946 Anstrengungen unternommen haben, den Wiesenstein unter schweizerische Hoheit zu stellen. Darüber hinaus bemühte er sich, seine Kontakte in die USA aufzufrischen.348 Sowjets und Polen wollten den greisen Dichter dagegen so schnell wie möglich aus Schlesien entfernen, wozu ihm verschiedene Sonderzugofferten, Geleit und die Mitnahme aller Besitztümer – abermals unglaubliche Privilegien vor dem Hintergrund der Vertreibung – unterbreitet wurden. Im mittlerweile polnischen Schlesien war Hauptmanns trotziges Ausharren ein Ärgernis, das die Widerstandskräfte und letzten Hoffnungen der dort verbliebenen Deutschen nährte.349 Ganz anders die Situation in der SBZ: Hier wollte man Hauptmann aus den oben dargelegten Gründen unbedingt in Empfang nehmen – tot oder lebendig.350 Schließlich bestand zudem Anlass zur Sorge, Hauptmann könnte durch das Eingreifen seines jüngsten Sohnes Benvenuto gar in den amerikanischen Sektor verbracht werden.351 345

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Horst Görsch, Gerhart Hauptmann und Johannes R. Becher, in: Referentenkonferenz 1987, S. 72-85, hier: 73. Paul-Gerhard Wenzlaff, Gerhart Hauptmanns Werk in unseren Verlagen, in: ebd., S. 4651, hier: 47. Vgl. Behl, Nachklang. Gerhart Hauptmanns letztes Jahr und letzte Tage (München, 09.03.1948), in: ders., Zwiesprache, S. 279-290, hier: 286. Den Amerikanern jedoch soll Hauptmanns willfährige Kooperation mit der sowjetischen Besatzungsmacht ein Dorn im Auge gewesen sein vgl. Reichart, Gerhart Hauptmann since 1933 (1946) in: ders., Ein Leben für Gerhart Hauptmann, S. 59-63, hier: 60; Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 296. Ebd., S. 302. Vgl. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 168. Der Durchschlag eines vermutlich von Becher stammenden Briefes an Tjulpanow vom 27.02.1946 beweist die Sorge, Hauptmann an den Westen zu verlieren. Der im Brief erwähnte Bericht Benvenuto Hauptmanns ist nicht erhalten: „Anbei sende ich Ihnen einen kurzen Bericht über das Befinden Gerhart Hauptmanns. Der Bericht stammt von seinem

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Dass Hauptmann vor Antritt der Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft am 6. Juni 1946 an den Folgen mehrerer Lungenentzündungen und Fiebererkrankungen sowie an altersbedingter Schwäche verstarb, vermochte die Pläne Bechers nicht nachhaltig zu durchkreuzen.352 Im Gegenteil, der Verstummte konnte sich der Einverleibung in die sozialistische Kulturmaschinerie, deren Anfänge sich in den Trauerreden abzeichnen, nicht mehr verweigern. Hauptmanns Einstellung zum ‚neuen Deutschland’, die sich im Laufe der weiteren, damals nicht absehbaren Entwicklung der deutschen Frage vermutlich noch geändert hätte, konnte so zu einer Konstante des Aufbaus zementiert werden. Es war nun ein Leichtes, Hauptmanns zögerliche Zusage zu seiner letzten Freude und Hoffnung zu stilisieren.353 Sozialistisch gewendet, sollte der verstorbene Hauptmann zur Herstellung eines humanistischen Kontinuums beitragen, das von der bürgerlichen Gesellschaft in die neue kommunistische Ära führen sollte. Entsprechend groß war die Resonanz, die Hauptmanns Tod vonseiten der kulturpolitischen Elite der SBZ wie auch in deren publizistischen Organen sowie im Radio354 widerfuhr. Im Aufbau gedachte man dem verstorbenen „Volksdichter“ als einem klassenübergreifenden Garanten des Erneuerungswillens:

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Sohn Dr. Benvenuto Hauptmann. Ich glaube, man müsste in dieser Angelegenheit unbedingt und unverzüglich etwas unternehmen, umsomehr als in dem zweiten Teil des Briefes der Vorschlag gemacht wird, Gerhart Hauptmann in die amerikanische Zone von Berlin zu überführen“ (SAPMO – BArch, DY 27/508). Hauptmann selbst hatte beabsichtigt, sich im Sommer 1946 in Berlin in ärztliche Behandlung zu begeben, die Genehmigung für die anschließende Rückkehr auf den Wiesenstein hatte er sich von der polnischen Regierung frühzeitig geben lassen (Gerhart Hauptmanns letztes Interview, in: Start [21.06.1946], zit. nach: Tschörtner [Hg.], Gespräche, S. 175 f., hier: 176). Kronenberg, Viel bewundert und viel gescholten, in: Praxis Geschichte (1994), H. 1, S. 23-27, hier: 23; Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 309. So konnte Abusch später behaupten, Hauptmann „starb im Glauben an eine Erneuerung Deutschlands durch uns“ (ders., Mit offenem Visier. Memoiren, Berlin [Ost] 1986, S. 227). Er habe, nach den Finsternissen der NS-Zeit, „das Neue noch aufstrahlen [sehen]“ und dem Kulturbund ein Telegramm geschickt, in dem „ein Bekenntnis zur antifaschistisch-demokratischen Ordnung, zum ersten Schritt in ein glückliches Morgen“ unternommen werde (GzVwK/ DKB, Konzeption für die Hauptmann-Referentenkonferenz am 25.05.1962 in Berlin, gezeichnet mit 14.04.1962 Thi/Ze, S. 1 [SAPMO – BArch, DY 27/167] [nachfolgend abgekürzt als: Referentenkonferenz 1962]). Am 30.07.1946 übertrug Radio Berlin einen rund 45minütigen Zusammenschnitt der Beisetzungsfeierlichkeiten von Stralsund und Hiddensee. Die Rundfunkreportage vereinte die Gedenkworte von Wilhelm Höcker, von der SMAD eingesetzter Präsident der Landesverwaltung Mecklenburg-Vorpommerns, von Paul Wandel, damals Präsident des Deutschen Zentralverbandes für Volksbildung in der SBZ, wie auch jene von Karl Maron, dem Stellvertretenden Oberbürgermeister von Berlin. Hinzu kamen die Grabreden von Becher, Pieck und Tjulpanow. Die bei gleicher Gelegenheit gehaltenen Reden der Kirchenvertreter wurden indessen nicht aufgezeichnet. Dies war „kein Zufall“, wie Sonja Kühne, Leiterin der Hauptmann-Gedenkstätte in Kloster, im Begleitheft einer in der Gedenkstätte erhältlichen Audiokassette die kirchenkritische Zensurpolitik kommentierte (vgl. Audiokassette „Gerhart Hauptmann“, Seite B. Begleithefttext von Sonja Kühne).

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„Gerhart Hauptmann starb, Deutschlands großer Dichter. [...] ein wahrhafter Volksdichter, […], der zahllose Menschenschicksale, stille und bewegte, so zu gestalten und zu deuten wusste, dass alle, die seine Bücher lesen und seinen Bühnenstücken zusehen, von ihm verzaubert werden: Arme und Reiche, Junge und Alte. [...] Er hat auch in dieser Notzeit bekannt, dass seine letzten Gedanken seinem Lande galten, und seine Besucher haben es bestätigt, dass er an eine deutsche Wandlung und Läuterung und an eine bessere Zukunft glaubte.“355 Die Berliner Halbmonats-Zeitschrift Illustrierte Rundschau bot in ihrem Nachruf eine ähnliche Vielzahl an bedeutungssteigernden Titeln für Hauptmann auf: So sei er ein „großer Realist“ gewesen, ein „großer Mitfühlender und Eindrucksfähiger“, geradezu ebenbürtig mit dem „Proteus-Shakespeare“.356 Angesichts der beschriebenen Goethe-Fixierung der Nachkriegszeit durften Vergleiche mit dem Klassiker nicht fehlen: Hauptmann wurde deshalb nicht nur zum „Weltbürger und Humanist aus der Nachfolge Goethes“ erklärt, sondern auch sein dichterischers Können mit dem Goethes gleichgesetzt:357 „Seit Goethes Tod hat wohl keiner so sehr das Bild der Umwelt zum Sinnbild gesteigert wie Gerhart Hauptmann.“358 Zentrales thematisches Element dieses Nachrufs – wie vieler anderer359 – war jedoch Bechers Besuch auf dem Wiesenstein und die Bereitschaftserklärung des Greises. Besondere Wertschätzung wurde deshalb für die angeblich „bekennerische Persönlichkeit Gerhart Hauptmanns“360 zum Ausdruck gebracht. Hauptmanns Ableben empfand man in der Illustrierten Rundschau aufgrund es ungünstigen Zeitpunkts sogar als „tragisch“: Schließlich sei er gerade in dem Moment gestorben, „als er sich entschlossen hatte, nach Berlin überzusiedeln, um so noch 355

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Arnold Bauer, Gerhart Hauptmann zum Gedenken, in: Aufbau, 2 (1946), H. 6, S. 551, zit. nach: Hay/ Rambaldo/ Storck, „Als der Krieg zu Ende war“, S. 164. Ltz, Abschied von Gerhart Hauptmann, in: Illustrierte Rundschau, 3 (Juli 1946), S. 6 f., hier: 6. Ebd. Ebd. Vgl. u.a. Gerhart Hauptmanns letztes Interview, in: Start (21.6.1946), zit. nach: Tschörtner (Hg.), Gespräche, S. 175 f., hier: 176. Einen interessanten Spiegel weiterer Reaktionen auf die Todesnachricht gab Lilly Becher, Johannes R. Bechers dritte Ehefrau: „Der Tod Hauptmanns hat – wenn man nach der Berl. Presse urteilen darf, – nicht die große Erschütterung hervorgerufen, die ich erwartet hätte. Nur Tägl. Rundschau sehr repräsentativ, Tagesspiegel u. Kurier mit starkem Gefühl, alle andern matt oder zurückhaltend. Den verwaisten Platz in der dtschen. Literatur wird nun wohl Ricarda Huch einnehmen...“ (Brief von Lilly Becher an Johannes R. Becher vom 12.06.1946, in: Becher, Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, S. 258). Ricarda Huch entzog sich übrigens der Umwerbung durch ihre Übersiedlung nach Frankfurt am Main. Im Oktober 1947 kam die 83-Jährige noch einmal in den Ostsektor Berlins – anlässlich des Ersten gesamtdeutschen Schriftstellerkongresses, als dessen Ehrenvorsitzende sie auftrat. Bald nach ihrer Rückkehr, am 17.11.1947, verstarb sie in Kronberg-Schönberg. Ltz, Abschied, in: Illustrierte Rundschau, 3 (Juli 1946), S. 6 f., hier: 6.

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intensiver am großen deutschen Erneuerungswerk teilhaben zu können“.361 Die Mahnung, sein Vermächtnis zu erfüllen, erhielt hierdurch zusätzliche Verbindlichkeit. Im Aufbau war entsprechend zu lesen: „Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands hat besonderen Anlass, um Gerhart Hauptmann zu trauern. Er war Ehrenpräsident unseres Bundes. Als ihn Johannes R. Becher in Agnetendorf aufsuchte, bekannte sich Hauptmann in einem Aufruf zu den Bestrebungen des Kulturbundes. Hauptmann, […], hat in seinen letzten, wie ein Vermächtnis an uns gerichteten Worten von seinem Glauben an die freiheitliche geistige Neugeburt Deutschlands gesprochen. Dieses Vermächtnis gilt es zu erfüllen.“362 Das pathetisch konstruierte Vermächtnis war ebenfalls das beherrschende Thema der Trauerfeierlichkeiten, von denen im Sommer 1946 gleich mehrere abgehalten wurden. Die erste Trauerfeier für Gerhart Hauptmann fand am 9. Juni im Arbeitszimmer des Verstorbenen statt. Neben der Witwe und Pohl waren Stefan Górka, Vorsitzender des Bezirksrates von Hirschberg (Jelenia Góra), und Oberst Wassilij Sokolow aus dem sowjetischen Hauptquartier in Liegnitz anwesend. Sokolow, der einen regen Kontakt zu Hauptmann gepflegt und der den Schutz des Wiesensteins garantiert hatte,363 betonte in seinen kurzen Gedenkworten die Zukunftsfähigkeit Hauptmanns. Dieser habe, so Sokolow, „der Welt noch viel zu sagen“364. Die Formung, Präsentation und politische Kontextualisierung der Hautpmann’schen Botschaften oblag nun jedoch anderen. Nach dieser ersten Gedenkfeier sorgte die Uneinigkeit darüber, wo man den Dichter beerdigen solle,365 für erhebliche Verzögerungen im weiteren Ablauf

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Ebd., S. 7. Botschaft des Kulturbundes, in: Aufbau, 2 (1946), H. 6, S. 552, zit. nach: Hay/ Rambaldo/ Storck, „Als der Krieg zu Ende war“, S. 164 f. Kuczyński (Hg.), „... darf ich mein Schlesien allein lassen?!“, in: ders./ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 161-166, hier: 163. Stroka, Der „Wiesenstein“, in: Gerhart-Hauptmann-Stiftung, S. 51-59, hier: 57. Hauptmanns Wunsch, im Park des Wiesensteins bestattet zu werden, wurde nicht entsprochen, weil Pläne der Leichenfledderung durch Polen bekannt wurden. Pohl schildert, dass auf Hauptmanns Ableben eine „Rüpelei der örtlichen Miliz“ einsetzte, die mit Kindertrompeten, Topfdeckeln und Trillerpfeifen durch den Ort ziehend „eine ohrenbetäubende Katzenmusik des Triumphes aufgeführt“ habe (vgl. Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? S. 79); Im Kontext der Beisetzung seiner Schwester Lotte auf dem Friedhof in Schreibhau, wo auch sein Bruder Carl Hauptmann beerdigt worden war, sagte Hauptmann: „Ich möchte zu meinen Eltern heimkehren und auf dem Warmbrunner Friedhof liegen, ganz außerhalb literarischer Gesellschaft“ (Behl, Zwiesprache, S. 183 [Agnetendorf, 08.12.1943]). Vgl. außerdem die Erinnerungen der Bediensteten Hauptmanns, Maxa Mück: dies., Gerhart Hauptmanns letzte Tage in Schlesien, in: Kulturpolitische Korrespondenz, (1986) 53, S. 30, zit. nach: Kuczyński (Hg.), „... darf ich mein Schlesien allein lassen?!“, in: ders./ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 161-166, hier: 165; Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 305.

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der staatlich geplanten Abschiedsrituale. Erst am 19. Juli366 wurde der Zinksarg von Agnetendorf nach Berlin überführt. In Begleitung einer russischen Eskorte367 traf er dort am 21. Juli ein. Wieder bot sich die Gelegenheit zu Ansprachen, die der Berliner Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner nutzte. Unterdessen wurden Hauptmanns mitgeführte Besitztümer in „zwei Garagen“ zwischengelagert.368 Erst am 26. Juli wurde die Zugfahrt nach Stralsund fortgesetzt, wo der Sarg „bei Fackelschein“ in den Rathaussaal gebracht und mit einer symbolisch zusammengestellten Ehrenwache aus Aktivisten, Neusiedlern, Lehrern und Studenten umgeben wurde.369 Kein geringerer als Becher selbst war bei dieser Gelegenheit unter den Sargträgern.370 Auch ließ Becher es sich nicht nehmen, bei der offiziellen Trauerfeier am 27. Juli im Stralsunder Rathaus als Redner aufzutreten. Die Sprache, der er sich bediente, um die überragende und in Zukunft fortbestehende Bedeutung Hauptmanns auszudrücken, unternahm hyperbolisch die Überhöhung des verstorbenen Greises: „So halten wir, von der Unruhe um das Schicksal unseres Volkes getrieben, nur einen Augenblick Rast, um das, was sterblich an dir war, der Erde zu übergeben. Indessen aber bist du längst auferstanden in deiner Unsterblichkeit. Du gehst deinen Gang durch Zeit und Ewigkeit unaufhaltsam.“371 Vermutlich war es Bechers Faible für christliche Metaphorik, das – gerne auch auf die „Wiederauferstehung“ Deutschlands bezogen372 – ihn so weit gehen ließ, sogar die Abendmahlsworte auf Hauptmann zu adaptieren. Eine Rhetorik, durch die der in Hauptmann verkörperte und zur Grundlage des Neuaufbaus bestimmte Humanismus zu einer halt- und wertgebenden Ersatzreligion transzendiert wurde:

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Kuczyński (Hg.), „... darf ich mein Schlesien allein lassen?!“, in: ders./ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 161-166, hier: 166; Stroka nennt dagegen den 21.07.46 als Tag, an dem der Sonderzug Schlesien verließ (vgl. dies., Gerhart Hauptmann, in: Kuczyński/ Sprengel [Hg.], Gerhart Hauptmann, S. 167-181, hier: 171). Auch polnische Eskorten werden in der Hauptmann-Literatur erwähnt (vgl. Lubos, Gerhart Hauptmann, S. 160). Diese bewachten jedoch in erster Linie die Räumung des Anwesens und den Abtransport der Güter (vgl. Lubos, Gerhart Hauptmann, S. 160). Laut Daiber wählte Sokolow persönlich sechs polnische Zugbegleiter aus (Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 308). Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 309. Ebd.; vgl. Der Prophet der Demokratie und Humanität. Die Trauerfeier für Gerhart Hauptmann im Stralsunder Rathaus, in: ND (30.07.1946). Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 259; Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218-229, hier: 222. [Trauerrede für Gerhart Hauptmann], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17: Publizistik III 1946-1951, Berlin, Weimar 1979, S. 55. Vgl. Dietrich, Politik, S. 25.

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„Wo immer Menschen im Zeichen der Wahrheit versammelt sind, wo immer ein menschliches Wort wirkt, ist es Wort von deinem Wort! Wo immer Menschen versammelt sind, in des Guten und des Schönen Namen, ist dein guter Genius unter ihnen, und es ist dein Segen, der sie segnet. […] Du bist mit deinem Werk in unserer Not einer der Berge geworden, von denen es heißt: Wir richten unsere Augen [auf] zu den Bergen, von denen Hilfe kommt.“373 Die ‚Chiffre Hauptmann’ wurde zu einem humanistischen Fixstern des Neubeginns bestimmt. Als „guter Geist unseres Volkes“374 sollte der verstorbene Hauptmann den Deutschen, die sich in einer materiellen wie moralischen Ruinenlandschaft zurecht finden mussten, eine ins Metaphysische gesteigerte Orientierungsmöglichkeit bieten. Nach dem Trauerakt im Stralsunder Rathaus wurde der Sarg noch am 27. Juli auf die Insel Hiddensee eingeschifft. Eine im Hauptmann-Museum in Kloster, dem ehemaligen Sommersitz des Dichters auf Hiddensee, zu besichtigende Fotografie dokumentiert diese Überfahrt. Sie zeigt im Bildvordergrund den mit Blumenschmuck überhäuften Sarg und dahinter die Witwe Margarete Hauptmann, Becher und Pohl, auf Stühlen an der Reling sitzend. In der Mitte der Gebinde fällt ein Kranz ins Auge, dem ein Sowjetstern mit den sozialistischen Kollektivsymbolen Hammer und Sichel eingewunden war. Offenkundig handelte es sich hierbei um einen letzten Gruß von Vertretern der SMAD bzw. des ‚neuen Deutschland’. Zu erkennen sind zudem Kranzschleifen, die Hauptmann als „Demokraten, Humanisten und Kämpfer“ erinnern.375 Ebenso wie die Grabreden der führenden (Kultur-) Politiker Pieck und Tjulpanow, auf die im Folgenden noch näher einzugehen ist, so manifestierte der Trauerschmuck sowohl die politische Inbesitznahme Hauptmanns wie auch dessen sozialistische Konsekration. Die Beanspruchung Hauptmanns für das „neue sozialistische Reich“376 lief bei der Beerdigung somit bereits auf Hochtouren. Am 28. Juli 1946 – 52 Tage nach seinem Tode – wurde Hauptmann auf dem Friedhof von Kloster in symbolträchtiger Weise kurz vor Sonnenaufgang beerdigt.377 Seine Dichtung Der große Traum und seine Ausgabe des Neuen Tes-

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[Trauerrede für Gerhart Hauptmann], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 56. Ebd. Von denjenigen, die Hauptmann diesen letzten Gruß widmeten, sind auf der Fotografie indessen nur die Buchstaben „OSSE“ zu erkennen, das für „Genossen“ stehen könnte (vgl. Abb. in: Bernhardt, Gerhart Hauptmanns Hiddensee, S. 125). Jung, „Den Weg zur Humanität finden“, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 218229, hier: 223. Eine ikonografische Lektüre der Beerdigungsszenerie ergibt einen Hinweis auf das von den beiden Elementen Tod und Auferstehung bestimmte Geschichtsnarrativ der künftigen DDR. Krieg, Zerstörung und der Tod Hauptmanns fallen zusammen und werden –

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taments, die ihn durchs Leben begleitet hatte, nahm er mit ins Grab.378 Die Grabrede des späteren DDR-Staatspräsidenten Wilhelm Pieck schrieb, dem Symbolcharakter der Situation entsprechend, den religiös-mystifizierenden Duktus der vorausgegangenen Rede Bechers fort. Pieck stilisierte Hauptmann ebenfalls zu einer Art Schutzgott, der die Durchsetzung der neuen Ziele unterstützen sollte: „Sein Werk und seine Ideale sollen in unserer Arbeit fortwirken und unser Volk zum Siege über die Mächte der Reaktion und der Zerstörung führen und uns helfen, ein neues Deutschland der Demokratie und des Friedens zu schaffen. Das sei der Abschiedsgruß der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, mit dem wir die Verpflichtung zur Verbreitung seiner Werke verbinden.“379 Pieck sprach von Hauptmann als von „unserem großen entschlafenen Freund“ und versicherte der Witwe nachhaltige Unterstützung bei der Pflege seines Andenkens: „Finden Sie, verehrte Frau Hauptmann, Trost in dem Bewusstsein, daß mit Ihnen unser ganzes Volk, die ganze fortschrittliche Menschheit trauert über den Tod dieses teuren Mannes, […]. Gemeinsam mit Ihnen wollen wir das Werk unseres großen Freundes hüten und lebendig erhalten. Mit diesem Gelöbnis nehmen wir Abschied von dem Freunde der Menschheit, von unserem Gerhart Hauptmann.“380 Dass mit Oberst Tjulpanow einer der ranghöchsten Offiziere der SBZ sowohl dem Trauerakt als auch der Beerdigung beiwohnte und so Hauptmanns Inthronisierung als „Prophet der Humanität und Demokratie“381 unterstützte, führt abermals die ihm beigemessene Wichtigkeit vor Augen. Es ist unwahrscheinlich, dass Hauptmann ein derartiges Ehrenbegräbnis erhalten hätte, wenn er sich gegenüber Becher und der sowjetischen Delegation im Spätherbst 1945 nicht kooperativ verhalten hätte. So mag es diese vordergründig sozialismusfreundliche Bereitwil-

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dargestellt im kommenden Sonnenaufgang – in der Hoffnung auf eine gute Zukunft im Arbeiter- und Bauernstaat überführt. In gleicher Stoßrichtung setzt die spätere DDRNationalhymne, für die ebenfalls Becher verantwortlich war, programmatisch die Fomulierung „auferstanden aus Ruinen“ an den Beginn des östlichen deutschen Teilstaats. Vgl. Behl, Nachklang. Gerhart Hauptmanns letztes Jahr und letzte Tage (München, 09.03.1948), in: ders., Zwiesprache, S. 279-290, hier: 289. Feierliche Bestattung Gerhart Hauptmanns, in: TR (30.07.1946). Über 40 Jahre später, in der Flaute der Hauptmann-Rezeption, nahm Helmut Praschek Bezug auf die Grabrede und die Autorität Piecks, um zu multimedialer Erbepflege zu ermahnen: „Diese Worte waren und sind auch eine Forderung an alle, die ‚zur Verbreitung seiner Werke’ ihren Beitrag zu leisten haben, an Verlage und Bühnen, an Film, Funk und Fernsehen, an Kulturpolitiker und Kulturfunktionäre, an Forschungseinrichtungen und Universitäten, an Hauptmann-Kenner und -freunde“ (ders., Hauptmann-Forschung in der DDR – zur Sekundärliteratur in unseren Verlagen, in: Referentenkonferenz 1987, S. 52-61, hier: 52). Feierliche Bestattung Gerhart Hauptmanns, in: TR (30.07.1946). Tjulpanow, Rede anläßlich des Traueraktes, in: ders., Erinnerungen, S. 13.

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ligkeit gewesen sein, durch die Hauptmanns Name für Tjulpanow, wie dieser es formulierte, in der Nachkriegszeit „einen neuen Klang“382 erhalten hatte. In diesem Sinne konnte Tjulpanow Hauptmann in seiner Trauerrede als „fortschrittlichen Geist“ und „weise[n] Patriarch[en] der deutschen Literatur“ rühmen,383 seine letzten Verlautbarungen zur Konsequenz seines Schaffens und seiner Überzeugung stilisieren. Die „Stellungnahme Hauptmanns in seinem letzten Lebensjahr“ sei deshalb „keineswegs zufällig“ gewesen.384 „Der Autor der Weber“, so Tjulpanow, „konnte nicht anders handeln“. 385 Schließlich habe er sich der Welt mit den Webern „als Revolutionär und Demokrat“ offenbart, indem er „jene Weber verherrlicht[e], die auch Heine besungen und verherrlicht hat, über die Marx und Engels mit solcher Würde gesprochen haben und die die Pioniere der deutschen revolutionären Arbeiterbewegung waren“.386 Mit seiner Verpflichtung für den Kulturbund schloss sich aus Tjulpanows Sicht somit der Gesinnungs- und Schaffenskreis des Dichters: Gerhart Hauptmann, so die ideologische Interpretation, war nach Phasen eines bürgerlichen Lebenswandels letztlich doch noch in den Schoß der Arbeiterbewegung zurückgekehrt. Die so teleologisch hergeleitete Parteinahme legitimierte die Vertreter der Arbeiterbewegung dazu, das Erbe des „sozialistischen Hauptmanns“ anzutreten und zur weiteren Aus- und Verwertung seines Werkes voran zu schreiten. Die Eile der von Tjulpanow in diesem Sinne verkündeten Verwertungspläne zeugt davon, dass bereits bei der Beerdigung der Verwertungswettlauf um das Erbe des „letzten deutschen Klassikers“387 – wie Hauptmann schon kurz nach seinem Tode genannt wurde – einsetzte. Im größeren Kontext des „kulturellen Wettkampf[s] der Systeme“388 sind vor diesem Hintergrund so auch die folgenden Ausführungen zu sehen: „Man muß ihm ein würdiges Denkmal errichten, seine sämtlichen Werke müssen herausgegeben werden, seine Archive, sein Briefwechsel, sein großer literarischer Nachlaß müssen sorgfältig erforscht und studiert werden, sowohl in Instituten wie auch außerhalb. Das ist gewiß wichtig. Aber noch wichtiger ist es, ausgewählte Werke in Massenauflagen schnellstens 382

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Ders., Deutschland nach dem Kriege (1945-1949). Erinnerungen eines Offiziers der Sowjetarmee, hg. von Stefan Doernberg, Berlin (Ost) 1986, S. 291. Ders., Rede anläßlich des Traueraktes, in: ders., Erinnerungen, S. 13 f. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Behl, Der letzte deutsche Klassiker (1946), in: ders., Wege, S. 49-56, hier: 49; Herbert Pfeiffer, Der letzte Magier ist tot, in: Der Tagesspiegel (Berlin, 12.06.1946). „Er war, so scheint mir, der letzte große deutsche Dichter, ja einer der letzten Deutschen überhaupt, dem sein Deutschsein so selbstverständlich und unproblematisch vorkam wie sein Wuchs oder seine Haarfarbe“ (Leppmann, Am Ende, in: Koopmann/ Muenzer [Hg.], Wegbereiter, S. 27-46, hier: 28). Jäger, Kultur, S. 55 f.

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zu drucken, damit sie zum Gemeingut des schaffenden Volkes werden und die Dichtung Hauptmanns nicht zum toten Museum wird, sondern eine fortwirkende Kraft in den Reihen der Lebenden bleibt. Diese Pläne zu verwirklichen ist eine Ehrenaufgabe für das deutsche Volk.“389 Das politische Potenzial der „Chiffre Hauptmann“ für die Untermauerung der eigenen Legitimation im Auge behaltend, versprach Tjulpanow „[s]eitens der Sowjetischen Militärverwaltung […] jede Hilfe, die für die Realisierung dieser Aufgaben benötigt wird“390. Hauptmanns Witwe Margarete hingegen ließ sich von all diesen Ehrungen und Absichtserklärungen wenig beeindrucken. Auch die ihr aus strategischen Gründen angetragene Leitung einer Gedenkstätte für Hauptmann hatte nicht vermocht, sie in der SBZ zu halten: Kurz nach der Beisetzung siedelte sie „mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsbehörden“ nach Bayern über, wo Sohn Benvenuto lebte.391 Inwiefern sie in das nachfolgend zu schildernde Vorgehen Benvenutos in Sachen Nachlass einbezogen war, ist unklar. Jedenfalls erhielt sie am 13. Januar 1955 für „ihre Verdienste um die Pflege des Hauptmannschen Geisteserbes“ das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.392 Laut Vorschlagsbegründung wurde ihr diese Auszeichnung deswegen zuteil, weil es ihr „zu verdanken“ sei, „dass die nachgelassenen Schriften und Aufzeichnungen aus der Ostzone in Sicherheit gebracht […] werden konnten“.393 „Damit konnte“, so die Begründung, „der Nachwelt wertvollstes Schriftgut erhalten werden“394 – der Verbleib des Nachlasses in der SBZ/DDR wäre aus westlicher Sicht demnach seiner Vernichtung gleichgekommen. Entsprechend der ehrgeizigen Pläne von Becher und Tjulpanow, hatte man sich in der SBZ den Hauptmann-Nachlass keinesfalls entgehen lassen wollen. Dieser sollte aus den oben genannten Gründen dazu beitragen, die Legitimationsgrundlage des sozialistischen Staatsprojektes zu stärken und die SBZ als Kulturstandort zu etablieren. So wurde die Gründung einer Hauptmann-Stiftung in Berlin erwogen, „die alles, was mit dem Werk des Dichters in Verbindung steht, in ihre Obhut nimmt und der Öffentlichkeit zugänglich“395 machen würde. Unter Bezugnahme auf das noch unveröffentlichte Testament, dessen Text dem 389 390 391 392

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Tjulpanow, Rede anläßlich des Traueraktes, in: ders., Erinnerungen, S. 15. Ebd. Von Hülsen, Freundschaft, S. 215, 221. Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 (25.04.1962), S. 56-69, hier: 59; Vgl. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 313. Vorschlagsliste 876/Bayern (Archiv-Nr. 38489, BARCH/B 122). Ebd. Aktennotiz über die Sitzung beim Kunstamt des Magistrats der Stadt Berlin, 29.10.1946, S. 2 (SAPMO – BArch, DY 27/508). Pohl war als Vertreter des Kulturbundes anwesend.

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Berliner Magistrat lediglich durch Pohls Aussagen bekannt war, suchte man dieses Vorhaben zu verwirklichen. Der mit dem Wegzug seiner Frau gewachsenen „Gefahr einer unrechtmäßigen Verwendung des Nachlasses von Gerhart Hauptmann“396 sollte durch die Unterbringung der Besitztümer in standesgemäßem Rahmen begegnet werden. Doch die Suche nach einer geeigneten Örtlichkeit im zerstörten Berlin erwies sich als schwierig: Aus dem Bericht über den Fortgang der Verhandlungen für die Gerhart-Hauptmann-Stiftung geht hervor, welche Standorte der Berliner Magistrat in Erwägung zog und welchem Zeitdruck diese Bemühungen unterlagen: „Es wäre nun wichtig, Frau Margarethe Hauptmann konkrete Vorschläge für ein Gebäude zur Unterbringung der Hauptmann-Stiftung zu machen. […] Wir fragen hiermit an, ob es evtl. möglich wäre, das Schloss Niederschönhausen für diesen Zweck zu erhalten. Bisher befand sich in diesem Schloss ein Internat für Kinder von Angehörigen der Sowjetischen Militär-Verwaltung. […] Das wäre die eine und, wie wir glauben, die beste Möglichkeit, […]. Eine andere Möglichkeit wäre ebenfalls im Rayon Pankow zu finden und zwar im sogenannten Bürgerpark in Niederschönhausen. Dieses Gebäude ist viel bescheidener als das Schloss und müsste auch renoviert werden. Es würde auch wahrscheinlich zur Einrichtung eines Hauptmann-Museums ausreichen. In diesem Haus, das in einem Park gelegen ist, könnte auch Frau Hauptmann, wenn sie sich auf einige Zimmer beschränkte, noch Wohnung nehmen. Für die Verhandlung in der Angelegenheit ist es von großer Wichtigkeit, baldigst Antwort auf die hier gestellten Fragen zu bekommen, damit wir entsprechende Schritte unternehmen können.“397 Auch das Humboldt-Schloss in Berlin-Tegel wurde von Becher, der sich „immer wieder nachdrücklich für die Verwirklichung dieser Pläne“ einsetzte, als Standort für den Hauptmann-Fundus vorgeschlagen.398 Als ‚Retter’ Hauptmanns fühlte sich Becher schließlich bemüßigt, nun dessen adäquate Nachwirkung sicherzustellen. Dass die ambitionierten Pläne für die Hauptmann-Stiftung wie auch für die Aneignung und Verwertung des Hauptmann’schen Nachlasses letztlich doch scheiterten, lag größtenteils an den kurz vor Kriegsende von Hauptmann selbst getroffenen Sicherheitsmaßnahmen. Es waren die Mitarbeiter und Freunde C. F. W. Behl und Felix A. Voigt, die – von Hauptmann autorisiert – die „Schätze

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Ebd. Bericht über den Fortgang der Verhandlungen für die Gerhart-Hauptmann-Stiftung von Heinz Willmann an Major Patent/ Berlin-Karlshorst (18.11.1946), S. 1 (SAPMO – BArch, DY 27/508). Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 168 f.

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des Agnetendorfer Archivs“399 vor den Kriegswirren retteten.400 Unzählige Tageund Notizbücher, Manuskripte, Fragmente etc.401 brachten sie auf Erich Ebermayers Schloss Kaibitz bei Kemnath in der Oberpfalz.402 Die Entscheidung hierzu hatte Hauptmann Anfang Januar 1945 gefasst – während eines Besuchs des befreundeten Juristen und Drehbuchautors Ebermayer auf dem Wiesenstein.403 Den Erinnerungen Ebermayers zufolge war es die Angst, sein Archiv könne in russische Hände fallen, die Hauptmann zur Evakuierung veranlasst hatte: „Damit könnt Ihr machen, was Ihr wollt! Man soll es verpacken und rechtzeitig wegschaffen. Am besten bringt man es zu Ihnen nach Bayern. Dort werden wohl später die Amerikaner oder Engländer sein. Das Archiv könnten die Russen verbrennen, Soldaten, die mich nicht kennen. Mich verbrennt keiner.“404 Der Transport des Hauptmann-Archivs erfolgte schließlich Ende Februar 1945 in einem vom NS-Propagandaministerium gestellten Lastwagen, der neben den Schätzen Hauptmanns auch Dokumente Goebbels in Sicherheit schaffen sollte.405 Der zu Hauptmann gehörende Teil der Fracht erreichte Schloss Kaibitz erst am 7. März 1945. Ein endgültiger, geschweige denn sicherer Standort war aber noch lange nicht gefunden. Die Odyssee des Hauptmann-Nachlasses, quasi ein Unterkapitel im Wettstreit um das Erbe, nahm ihren Lauf. Wenig später, am 19. April 1945, wurden die Archivkisten von den Amerikanern auf der Suche nach versteckten Waffen aufgebrochen.406 Wenngleich die Unterlagen keinen Schaden nahmen, sah sich Benvenuto Hauptmann dennoch gezwungen, einzugreifen. Zu den Sicherheitsbedenken, mit denen er sein Handeln rechtfertigte,407 gesellten sich gleichwohl persönliche Belange. Schließlich schwelte zwischen ihm und Ebermayer schon seit langem eine heimliche Konkur-

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Behl, In Gerhart Hauptmanns Werkstatt (1943), in: ders., Wege, S. 81-85, hier: 83. Ders., Zwiesprache, S. 6. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 166; Vgl. Inventar des Nachlasses bei Rudolf Ziesche, Die Erschließung von Hauptmanns Nachlass – Die Überlieferung von Vor Sonnenuntergang als Beispiel, in: Sprengel/ Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 150-158. Von Hülsen, Freundschaft, S. 108; Stroka, Der „Wiesenstein“, in: Gerhart-HauptmannStiftung, S. 51-59, hier: 53 f.; Vgl. insgesamt Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 (25.04.1962), S. 56-69, hier: 61-67. Zu Ebermayers Werdegang vgl. das Vorwort von Dirk Heißerer, in: Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse..., S. 7-28, hier: 12 f. Als Autor von Die Mädels vom Immenhof gelang es Ebermayer auch nach dem Krieg, seinen Erfolg in der Unterhaltungssparte fortzusetzen. Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse..., S. 81. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 292. Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse..., S. 81 f. Schließlich waren die „Truppenbewegungen an der nahen östlichen Zonengrenze noch nicht zum Stillstand gekommen“ (Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 [25.04.1962], S. 56-69, hier: 62).

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renz um die Gunst des Greises, der Ebermayer immer wieder als „Wahlsohn“ tituliert hatte.408 Noch zu Lebzeiten Hauptmanns, im Dezember 1945, holte Benvenuto das Archiv deshalb mit Unterstützung der amerikanischen Besatzungsmacht aus Ebermayers Schloss. „[A]us eigenem Entschluß“409 – so die allgemeine Darstellung – brachte er die Kisten sodann nach Garmisch in die Villa von Richard Strauss.410 Aber auch jene in der SBZ übrig gebliebenen Alltagsreliquien des Dichters, die nach dessen Tod in Berlin eingelagert wurden, nahm Benvenuto wenig später kurzerhand an sich. Nur einen Rest ließ er im Herbst 1946 in Müggelheim „for show“ zurück, um keine „politische Affäre“ zu provozieren.411 Entsprechend groß war die Enttäuschung des Berliner Magistrats bei der Sichtung des Fundus im Oktober 1946: Ernüchtert musste man feststellen, dass alles, „was aus dem Nachlass des Dichters irgendwie wertvoll ist, auf Veranlassung von Herrn Dr. Benvenuto Hauptmann bereits weggeführt und angeblich nach Berlin-Tempelhof auf Speicher gebracht worden sei“412. Laut Protokoll der betreffenden Magistratssitzung taugte die magere Ausbeute nicht für eine repräsentative Verwertung: „Zurückgeblieben sind einige Möbelstücke aus dem Arbeitskabinett von Gerhart Hauptmann sowie eine größere Anzahl von Büchern, die aber nicht unmittelbar mit dem Werk des Dichters in Beziehung stehen, […]. Zum Aufbau eines Gerhart-Hauptmann-Museums, wie es sich die Vertreter des Kulturbundes, der Zentralverwaltung für Volksbildung und des Magistrats der Stadt Berlin gedacht hatten, reichen diese Restbestände nicht aus.“413 In einem Brief an Becher, der dem Magistrat vorgelegt wurde, versuchte Benvenuto zwischenzeitlich, sein Vorgehen zu erklären und die Wogen der Entrüstung zu glätten.414 Der mangelnde Handlungsspielraum trug zusätzlich dazu bei, dass 408

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Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse..., S. 41, 46. Ebermayer selbst bezeichnete Benvenuto dagegen als „arbeitsscheu“ aber auch „ungewöhnlich klug“ und „geistig rege“ (ebd., S. 36). Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 168. Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 (25.04.1962), S. 56-69, hier: 64; Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 302. Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 311 f.; Vgl. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders., (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 168 f. Aktennotiz über die Sitzung beim Kunstamt des Magistrats der Stadt Berlin (29.10.1946), S. 1 (SAPMO – BArch, DY 27/508). Ebd. „Herr Dr. Hauptmann behauptet, er sei in Berlin so krank gewesen, daß er nicht einmal einen Besuch machen oder annehmen konnte. Es steht aber fest, daß er in dieser Zeit Gelegenheit gefunden hat, den gerade heute sehr schwierigen Abtransport der vielen Kisten und Kästen, die in Müggelheim lagerten, zu veranlassen, zu organisieren und zu überwachen. Er hat die Zeit des Berliner Aufenthaltes, […], um alles, was im Nachlass seines Vaters irgendwie von Wert war, aus dem Hause Müggelheim, Grünstädter Weg 10, wohin der Nachlass auf Veranlassung der SMA gebracht worden war, wegzubringen. Nach

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sich die erhitzten Gemüter jedoch kaum beruhigen ließen. Zu Gegenmaßnahmen, die man nur allzu gerne ergriffen hätte, fehlte in der SBZ allerdings die Handhabe. So erwog man, den Geburtstag Hauptmanns dazu zu nutzen, das Verhalten der Erben öffentlich bekannt zu machen und „damit einer eigensüchtigen Verwendung des Nachlasses vorzubeugen“415. Doch die Hoffnung, wenigstens ein ideologisches Glanzstück aus dem Nachlass zu erhalten, sorgte dafür, dass eine öffentliche Eskalation des Gerangels ausblieb. Objekt der sowjetischen Begierde war ein angeblich existierender Briefwechsel von Gor’kij und Hauptmann. Diesen hoffte man als Schenkung der Witwe an das Gor’kij-Museum Moskau in Empfang nehmen zu können – quasi „als Dank für die ihr von der Sowjetischen Militär-Verwaltung geleistete Hilfe“416. Der Briefwechsel wäre einer einzigartigen Manifestation von Hauptmanns Sozialismusaffinität gleichgekommen und hätte sich außerdem zum Grundstein einer deutsch-sowjetischen Verbundenheit stilisieren lassen. Entsprechende Meldungen waren bereits lanciert, als sich der vermeintliche Schatz im Juli 1947 als Ente entpuppte.417 In der SBZ/DDR musste man folglich mit dem Wenigen vorlieb nehmen, was übrig geblieben war. Wie im Folgenden noch ausführlicher darzustellen ist, sollten sich gleich mehrere Museen um jene Restbestände kümmern. Das Herzstück des Hauptmann’schen Nachlasses lagerte indessen zwischen 1949 und 1959 in der Nähe von Zürich. Wie Benvenuto später mitteilte, war das Archiv in dieser Zeit „bei einer sehr wohlhabenden und literarisch interessierten Dame“418 untergebracht. Nach einer fast fünfzehnjährigen Odyssee fanden der jüngste Sohn Hauptmanns und das von ihm gehütete Archiv 1959 schließlich in Ronco, nahe Ascona, ein neues Zuhause. Die eigentümlich besitzergreifende und zurückhaltende Art seiner Nachlasspflege sorgte nicht nur in der SBZ/DDR, sondern gera-

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Meinung des Berichterstatters besteht die Gefahr, dass der Nachlass Gerhart Hauptmanns aus eigensüchtigen Motiven, entgegen dem Willen des Dichters, verwandt wird“ (ebd.) Ebd., S. 2. Bericht über den Fortgang der Verhandlungen für die Gerhart-Hauptmann-Stiftung von Willmann an Patent/ Berlin-Karlshorst (18.11.1946), S. 1 (SAPMO – BArch, DY 27/508). Vgl. Brief von Willmann an Tjulpanow vom 18.07.1947: „[W]ir haben uns etliche Male an Frau Margarethe Hauptmann gewandt und sie an die Übersendung des in ihrem Besitz befindlichen Telegramm- oder Briefwechsel mit Maxim Gorki erinnert. Wie sich herausstellte, handelt es sich aber nur um ein Telegramm, das Gerhart Hauptmann von Maxim Gorki erhalten hat und dieses Telegramm wurde seinerzeit an das Auswärtige Amt weitergeleitet. Im Besitz von Gerhart Hauptmann blieb nur die Abschrift des Telegramms und der Text der von ihm gesandten Antwortdepesche. Dieses Material legen wir hier zusammen mit der Abschrift eines Briefes, den Frau Margarethe Hauptmann an Johannes R. Becher geschrieben hat, bei und fügen dem Material auch noch die Abschrift einer Schilderung von Hans von Hülsen bei, der beim Eintreffen des Telegramms von Maxim Gorki auf dem Wiesenstein war.“ (SAPMO – BArch, DY 27/508). Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 (25.04.1962), S. 56-69, hier: 67.

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de auch im Kreise der alten ‚Hauptmann-Herolde’ Voigt, Behl, von Hülsen und Pohl für nachhaltigen Groll. Schließlich entzog das eifersüchtige Sendungsbewusstsein Benvenutos, selbst Gralshüter sein zu wollen, dem Nachlass über Jahre hinweg die notwendigen Wirkmöglichkeiten. Erst nach Benvenutos Tod im Jahre 1965 konnte die Rückkehr des Archivs in die Öffentlichkeit angebahnt werden. Benvenutos Witwe Barbara Hauptmann verkaufte den Nachlass 1968 schließlich für 3,8 Millionen DM an die westdeutsche Stiftung Preußischer Kulturbesitz der Berliner Staatsbibliothek.419 Dies war der „höchste Kaufpreis, der bisher in Deutschland für einen Dichternachlaß aufgebracht wurde“420. Während man sich im Westen über „eine der wichtigsten Erwerbungen“421 der Staatsbibliothek freuen konnte, hoffte man im Osten, dass „der Nachlaß dieses großen humanistischen Dichters der Nation nicht noch für den kalten Krieg ausgenutzt“ und „auch für die Hauptmann-Forschung in unserer Republik zugänglich“ sein werde422. Welche Dynamiken sich in der weiteren Beschäftigung mit Hauptmann zwischen BRD und DDR ergeben und welche Rezeptionsstrategien und -realisate zutage treten sollten, ist Gegenstand der nachfolgenden Kapitel.

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Von Hülsen, Freundschaft, S. 108; Stroka, Der „Wiesenstein“, in: Gerhart-HauptmannStiftung, S. 51-59, hier: 53 f.; Vgl. Ziesche, Die Erschließung von Hauptmanns Nachlass, in: Sprengel/ Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 149-158, hier: 150. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 169; Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 65. „Hauptmanns gesamter Nachlaß kommt an eine deutsche Bibliothek – vor Jahren wäre diese Nachricht eine Sensation gewesen. Und heute? Hauptmanns Erben sind nicht unschuldig daran, daß das Interesse an diesem Dichter von Jahr zu Jahr abgenommen hat. Die Streitereien zwischen den von Hauptmann am 2. Februar 1945 mit einer Vollmacht ausgestatteten Archivar Dr. C. F. W. Behl und Hauptmanns Sohn aus zweiter Ehe, Benvenuto, der sich in den Besitz der berüchtigten ‚Kisten’ zu bringen wusste […], haben dazu geführt, daß sich die Konturen von Hauptmanns Gestalt und Werk zu einer Zeit verfestigten, da es noch möglich gewesen wäre, dieses Bild durch die unübersehbare Menge unbekannter Manuskripte, die im Krieg nicht veröffentlicht werden konnten, zu ergänzen, zu vertiefen, der Wahrheit näherzubringen. […] In den letzten Jahren haben sich gesellschaftskritisches Bewußtsein in der Öffentlichkeit und Selbstverständnis der germanistischen Wissenschaft so gründlich verändert, daß der Jubel einer weniger sorgenvollen, den ‚Dicher’ als Ausnahmeerscheinung respektierenden Zeit schon angesichts der enormen Kaufsumme für so viel totes, nur von wenigen Gelehrten und Liebhabern zu erweckendes Papier nicht aufkommen will“ (Rolf Michaelis, Gerhart Hauptmanns späte Heimkehr. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz erwirbt den Nachlaß für die neue Staatsbibliothek in Berlin, in: FAZ, Nr. 32 [07.02.1969], S. 32). Werner Knopp, Vorwort, in: Lauterbach/ Sieber, Wirklichkeit und Traum, S. 5 f., hier: 5. H. D. Tschörtner 1962 in Der Morgen, zit. nach: Michaelis, Gerhart Hauptmanns späte Heimkehr, in: FAZ, Nr. 32 (07.02.1969), S. 32. Der Autor des FAZ-Artikels beantwortete die Sorge Tschörtners folgendermaßen: „Das dürfte keine Schwierigkeiten machen – wenn Ostberlin den Besuch im Westen erlaubt“ (ebd.).

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Das Spielplandilemma der Nachkriegszeit: Diagnosen und Reaktionen im Theater der Zeit

Ästhetisch wie politisch diametrale Auffassungen über die Bestimmung und die Inhalte des Theaters prallten in der Nachkriegszeit aufeinander. Die Vehemenz, mit der über die Zukunft des deutschen Theaters – offen wie verdeckt – gestritten wurde und die allgemeine „Verachtung des Nachkriegskulturbetriebs“423 sollten sich über Jahre hinweg als unproduktiv erweisen. Das Bestreben, Anschluss zu finden an die „positiven Kräfte vor 1933“424, war der kleinste gemeinsame Nenner in diesen Auseinandersetzungen. Darüber, wie jene Kräfte aussehen sollten, gingen die Ansichten der Konservativen, Linksintellektuellen und Kommunisten freilich weit auseinander.425 Die Unsicherheit über den zu gehenden Weg führte vielerorts dazu, dass man vor allem die Stücke zur Aufführung brachte, die im ‚Dritten Reich’ verboten oder keinem breiteren Publikum bekannt geworden waren.426 Hier hatte sich, wie insgesamt in der Theater- und Schauspieltheorie, ein immenser Nachholbedarf eingestellt.427 Beim zweifelsohne besonders kritischen Theatermann Bertolt Brecht riefen diese Theaterverhältnisse noch 1948 Entsetzen hervor: So soll Brecht, laut einer Anekdote von Max Frisch, nach einem gemeinsamen Theaterbesuch in Konstanz konsterniert ausgerufen haben: „Hier muß man ja wieder ganz von vorne anfangen!“428 Angesichts dieser schwierigen Ausgangsbedingungen trat im Juli 1946 die Zeitschrift Theater der Zeit mit dem Anspruch auf den Plan, zukunftsleitende Sinnstrukturen für ein neues Theaterleben zu etablieren. Fritz Erpenbeck, der erste Chefredakteur von Theater der Zeit wollte, wie er in der ersten Ausgabe der Zeitschrift ankündigte, „mithelfen, dass wir wieder zu einer wahrhaft großen, echten dramatischen Dichtung kommen“429. Erpenbeck brachte hierzu insofern gute Voraussetzungen mit, als er vor dem Krieg Assistent bei Erwin Piscator, dem wichtigsten Avantgardist des politischen Theaters in der Weimarer Repu423 424

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Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 42. Falk Harnack, Aufgaben des deutschen Theaters in der Gegenwart, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10. „Furtwängler, Langgässer, Suhrkamp vermissten nach 1945 die großen Leistungen traditioneller Hochkultur, Ihering, Kortner, Kästner das Experimentell-Moderne, mit dem sie sich in den 20er Jahren identifiziert hatten“ (Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 42). Vgl. Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f. Ullrich, „Und zudem bringt Ihr noch den genialen Stanislawski in Verruf.“ In: Dahlke/ Langermann/ Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR, S. 104-145, hier: 111. Auf dem Spielplan stand Frischs Santa Cruz, vgl. Max Frisch, Erinnerungen an Brecht, Berlin 1968, S. 14; vgl. insgesamt Hüppauf, Krise ohne Wandel. Die kulturelle Situation 1945-1949, in: ders. (Hg.), „Die Mühen der Ebenen“, S. 47-112, hier: 64. Fritz Erpenbeck, Stoff, Inhalt, Form, in: TdZ, 1 (1946), H. 2, S. 1-3, hier: 1.

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blik, gewesen war. Voller Tatendrang war Erpenbeck schließlich als erster der Gruppe Ulbricht Ende April 1945 aus Moskau zurückgekehrt, wo er an der Konzeptionierung der deutschen Nachkriegskultur beteiligt gewesen war.430 Im Nachkriegsdeutschland angekommen, sah sich Erpenbeck einer „Krise des Theaters“ gegenüber, die zwar in erster Linie eine „Krise der Spielplangestaltung“ darstellte, abstrakter perspektiviert nichtsdestotrotz eine ernsthafte „ideelle Krise“ der „am meisten gesellschaftlich gebundene[n] Kunstgattung“ offenbarte.431 Dabei lagen die Dinge nicht nur auf den Bühnen bzw. in der Institution Theater im Argen, sondern auch beim Publikum. Erpenbeck stellte fest, dass die „Bereitwilligkeit, ja die Fähigkeit zu einer so tiefgreifenden Gefühls- und Bewußtseinsänderung bei einem Publikum, das zwölf Jahre Nazismus und den barbarischsten Eroberungskrieg hinter sich hat, noch nicht sehr groß sein kann“432. Weil das „Bewusstsein des deutschen Theaterbesuchers [...] sich nicht von heute auf morgen grundlegend gewandelt“433 habe, konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die gespielten Stücke beim Publikum die erhofften Erkenntniseffekte erzielen. Weil die Masse der Theaterbesucher seiner Einschätzung nach „noch kein demokratisches Bewusstsein“434 besaß, sah er Vorsichts- und Vorbildungsmaßnahmen geboten – dies gerade auch aufgrund der neuen und nicht mehr so ohne weiteres als homogen zu bezeichnenden Zielgruppe der Osttheater. Schließlich sollte nicht mehr nur für eine Gruppe Privilegierter gespielt werden, sondern für die breite Masse des Volkes. Dieses neue Massen-Publikum stellte sich allerdings als „zerspalten“ und „uneinheitlich“ dar: nicht nur in Hinblick auf die Vorbildung, sondern vor allem auch was die Traditionsverwurzelung und divergierende Kriegserfahrungen betrifft.435 Vor diesem Hintergrund wurde vonseiten der Kulturpolitiker und Theatertheoretiker der Ruf nach volkspädagogischen „Erziehungsstücken“ laut: Die Bühne sollte wieder zur Schiller’schen Erziehungsanstalt werden, mit „Werke[n], die den Menschen erziehen, ohne dass er es bemerkt, ohne dass mit erhobenem Finger doziert wird“.436 Wie bereits 1944 in Moskau geplant, sollte das Theater zu einem wichtigen Faktor der geistigen Erneuerung werden und die geforderte

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Schnivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 73, 117. Erpenbeck, Krise des Theaters? [veröffentlicht in: Einheit, März 1947] In: Elimar Schubbe [Hg.], Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 69-71, hier: 69 [Dok. 7]. Ebd. Erpenbeck, Surrealismus und was man dafür hält, in: TdZ, 1 (1946), H. 6, S. 1-8, hier: 1. Ebd. Herbert Ihering, Berliner Dramaturgie, Berlin 1948, S. 121 f. Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 10.

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„Umbildung der deutschen Volksseele“437 maßgeblich befördern. Entsprechend war der Umerziehungsauftrag des Theaters auf die individuelle wie nationale Katharsis ausgerichtet: „[W]ir brauchen mit allen Fasern unseres Wesens die Erziehung zur Menschlichkeit und zur Menschenwürde.“438 Derartige volkspädagogische Erwägungen und Ambitionen hatten ihre Grundlage in dem gerade in Krisenzeiten virulenten menschlichen Bedürfnis nach Normalität und Ablenkung, das dem Theater in der Nachkriegszeit erst seine überragende Resonanzkraft verlieh:439 Die Theaterlust der Deutschen nahm damals zum Teil nie gekannte Dimensionen an. Für eine Vielzahl kriegsgebeutelter Menschen wurde das Theater zum „Surrogat für ein besseres Leben“440, das die graue Trümmerwirklichkeit zumindest für die Dauer einer Vorstellung auszublenden versprach. Aus der übergeordneten gesellschaftlichen (Umerziehungs-)Problematik ergab sich die speziellere der Spielplanfrage. Die Spielplangestaltung, so war im Theater der Zeit zu lesen, sei „in der heutigen Zeit […] eine der diffizilsten Aufgaben, die man sich vorstellen kann“441. Auf die drängenden Fragen, „Wie kann man das Publikum erwecken? Was soll man spielen?“442, fanden sich deshalb wenig experimentelle, sondern vor allem zweckmäßige Antworten. Im volkspädagogischen Interesse erklärte man so die folgenden Inhalte für aufführungsrelevant: „Humanität und Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, Klärung der Beziehungen von Mensch zu Mensch und Verständnis anderer Völker sind die großen Themen, die in ernster oder heiterer Form auf die Bretter, die wirklich die Welt bedeuten, gebracht werden müssen.“443 437

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Maxim Vallentin, Einleitende Bemerkungen zur Ausarbeitung von Richtlinien (Theater). Besprechung bei Wilhelm Pieck am 25.09.1944, Hotel Lux, Sitzung mit Schriftstellern über Kulturfragen im neuen Deutschland, in: Stuber, Spielräume, S. 257-261, hier: 261 (Dok. 1). Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 10. Vgl. insgesamt Fischer-Lichte, Unterhaltung – Verstörung – Orientierung. Zur Funktionsbestimmung des Theaters in der Nachkriegszeit (bis 1960), in: Lars Koch (Hg.), Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 19451960, Bielefeld 2007, S. 181-213. Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 8. Ebd., S. 10; Hedwig Rohde, Was wollen wir? Die Stimme des Publikums, in: TdZ, 3 (1948), H. 1, S. 14 f.; Friedrich von Zglinicki, Fragen des Spielplans, in: TdZ, 3 (1948), H. 9, S. 32-34; Erpenbeck, Zur Theatersituation in der Ostzone, in: TdZ, 3 (1948), H. 10, S. 1-9; ders., Literatur oder Theater? Einige Gedanken zur Spielplangestaltung unserer Bühnen, in: TdZ, 3 (1948), H. 12, S. 1-10; ders., Enge und Verarmung. Spielplansorgen einmal anders betrachtet, in: TdZ, 4 (1949), H. 1, S. 1-6. Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 8. Ebd., S. 11.

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Doch woher sollte man ein solches Repertoire nehmen? Ein Teil der Kulturproduzenten und Theaterkritiker beschwor in dieser Situation die Renaissance des „Zeitstücks“, das in der späten Weimarer Republik mit der Authentizität seiner politischen wie gesellschaftlichen Problemaussprache zu informieren und zu aktivieren gesucht hatte.444 Das „Zeittheater und ausschließlich das Zeittheater“ war deshalb ihre Forderung, „[a]lles andere sei verstaubt und vermottet“.445 Der Radikalismus der Zeittheater-Befürworter war Erpenbeck, der selbst einst als BPRSGründungsmitglied zu den Literaturstürmern der Weimarer Republik gezählt446 hatte, in der Nachkriegszeit, in der er für eine kalkulierte Mischung aus viel Klassik und hochwertiger Fortschrittlichkeit eintrat, nun jedoch „verdächtig“: Seiner Meinung nach zeugte die geforderte Einseitigkeit von einer „bedenkenlosen Verflachung der Probleme“ und von „mangelhaftem Nachdenken über die Fragen der Kunst“.447 Aus diesem Grund unternahm Erpenbeck eine Klärung des ZeittheaterBegriffs, mit dem er Verständigungsprobleme als auch Meinungsverschiedenheiten ausräumen wollte: „Was versteht man unter Zeittheater? Solche Werke, die ihren Stoff und damit ihre Problemstellung aus der Gegenwart beziehen. [...] Die Problematik des Werks hat gegenwartsnah zu sein; sein Inhalt muß eine starke Beziehung zum Heute haben. Dann ist es Theater der Zeit.“448 Diese Definition schien oberflächlich betrachtet den Radikalen unter den Theatererneuerern zu entsprechen, doch Erpenbeck folgerte aus seiner Begriffs- und Inhaltsbestimmung, dass diese „für jedes wahre und große Kunstwerk zu[treffe]“ – so also auch für die Stücke „alle[r] großen Dramatiker“, womit Hauptmann wieder im Rennen war.449 Der junge Hauptmann fand so seinen Platz gleich neben Ibsen, Björnson, Strindberg, Tolstoij, Gor’kij und Shaw. Über diese Kulturgrößen schrieb der Regisseur Falk Harnack450 Ende 1946 im Theater der Zeit, dass sie „in schärfster Form gesellschaftskritische Problemstücke auf die Bühne 444

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Vgl. Hermand/ Frank Trommler, Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 246-256; Christina Jung-Hofmann, Wirklichkeit, Wahrheit, Wirkung. Untersuchungen zur funktionalen Ästhetik des Zeitstückes der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1999, S. 64 f. Erpenbeck, Zeittheater oder Theater der Zeit? In: TdZ, 1 (1946), H. 1, S. 1 f., hier: 1. Hein, Der „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands“, S. 290. Erpenbeck, Zeittheater oder Theater der Zeit? In: TdZ, 1 (1946), H. 1, S. 1 f., hier: 1. Ebd. Ebd. Harnack selbst führte Regie bei der ideologisch brisanten Inszenierung von Konstantin Simonows Die russische Frage; das antiamerikanische Stück, das den sozialistischen Aufbau verklärte und den Amerikanern Meinungsmanipulation vorwarf, feierte am 03.05.1947 Premiere am Deutschen Theater (vgl. Friedrich Michael/ Hans Daiber, Geschichte des deutschen Theaters, Frankfurt a.M. 1990, S. 138; Stuber, Spielräume, S. 3537).

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brachten und so ihren Beitrag leisteten, die menschliche Gesellschaft auf neue Wege zu führen“.451 Ausschlaggebendes Kriterium für die Spielplantauglichkeit ihrer Stücke sowie der deutschen Klassiker452 war für Harnack dabei deren „hohe Verpflichtung dem Volk gegenüber“453. De facto hatte man aber gar keine andere Wahl, als den Begriff des ‚Zeittheaters’ so weit zu fassen und den Kanon der brauchbaren Stücke auch auf die Werke vergangener Epochen auszudehnen. Obschon diese für manche zwischenzeitlich ihr „wesentliches Element eingebüßt“ hatten, das einst in ihrem „Bezogensein auf die unmittelbare Gegenwart“ bestand.454 Die Suche nach dem allseits geforderten ‚lebendige Theater’ erwies sich somit als schwierig. Nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern auch noch 1947 war der zu verzeichnende Prozentsatz aktueller Zeitstücke, so Erpenbeck, „verschwindend gering“455. Eklatant war der Mangel an ästhetischer und inhaltlicher Qualität jener Arbeitsproben junger Schriftsteller und Regisseure, die in der Redaktion von Theater der Zeit eingingen.456 Erpenbeck musste feststellen, dass diesen „jungen Dramatikern“ „die Fähigkeit zur Gestaltung durchweg fehlt“ und die „nazistische Sprachverhunzung“ weiter nachwirkte.457 Noch dazu seien, so Erpenbeck, jene Arbeitsproben durch die „Tendenz- und Moralsprüche im Zeitungsdeutsch aller Parteirichtungen oder im Kanzelton der Kirchen“ dominiert und damit schlicht unbrauchbar.458 Mit der Forderung nach einem aktuellen, den Aufbau optimistisch fördernden und gesellschaftliche Unzulänglichkeiten geißelnden Themenspektrum war der Großteil der eingesandten Stücke demnach nicht vereinbar. Die Ausbeute, die Erpenbeck im Mai 1947 zu bewerten versuchte, war katastrophal: „Es gibt unter diesen rund sechzig, siebenzig Arbeiten keinen Versuch, ein charakteristisches Jugendthema anzupacken. Es gibt kein Stück mit bäuerlicher Thematik. Es gibt keinen Versuch, in satirischer Form Zeit451 452

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Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 11. Hierzu zählte Harnack u.a. Lessing, Lenz, Goethe, Schiller und Büchner, zu denen einige internationale Klassiker von Aischylos, Molière und Goldini kamen (ebd., S. 10 f., hier: 10); vgl. u.a. Rudolf Freese, Die Problematik des Zeitstücks, in: TdZ, 4 (1949), H. 3, S. 7-12, hier: 10; Erpenbeck, Das Publikum, in: TdZ, 2 (1947), H. 8, S. 1-7, hier: 4. Harnack, Aufgaben, in: TdZ, 1 (1946), H. 5, S. 10 f., hier: 11. Freese, Die Problematik, in: TdZ, 4 (1949), H. 3, S. 7-12, hier: 8 f. Erpenbeck, Krise des Theaters? In: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 69-71, hier: 70 [Dok. 7]. So ist bei der Zeitkritik von Theater und Zeit immer zu bedenken, dass diese aus einem ideologiegeleiteten Blickwinkel argumentiert und das Stückeangebot selektiv wahrnimmt. Ein Stück wie Borchardts Draußen vor der Tür, das durchaus dem Kriterium Zeitbezug bei gleichzeitiger ästhetischer Dichte entsprach, musste aber aufgrund seiner fatalistischen Absage an Weltanschauungen insgesamt dem Verdikt mangelnder Qualität unterliegen. Erpenbeck, Und abermals die jungen Dramatiker, in: TdZ, 2 (1947), S. 1-4, hier: 1 f. Ebd.

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missstände (wie Bürokratismus, nazistische Überbleibsel, politischen Opportunismus oder dergleichen) anzugreifen. Es gibt keinen Versuch, den stillen Helden der Wiederaufbauarbeit dramatisch mit einem seiner bekanntesten Gegenspieler oder auch nur den gesellschaftlichen Widerständen und Schwierigkeiten zu konfrontieren.“459 Die angesichts der unbefriedigenden und zudem stagnierenden dramatischen Gegenwartsproduktionen460 oftmals naheliegende Hinwendung zu Klassikern der Vergangenheit wie auch zu Werken zeitgenössischer Kulturgrößen barg allerdings ebenfalls unabschätzbare Tücken. Im Zwiespalt der Forderungen zwischen Klassik und Zeittheater, aktiv-klärender Problembewältigung und ablenkender Unterhaltung schien es auf Seiten der Verantwortlichen nicht selten an resonanzkalkulierender Sensibilität zu mangeln.461 Der fehlgeleitete Blick für die Bedürfnisse des Volkes prägte so auch eine der frühesten Hauptmann-Inszenierungen nach dem Tod des Dichters in der SBZ. Am 10. September 1947 wurden in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Hauptmanns Alterswerke Agamemnons Tod und Elektra – die beiden Mittelstücke der Atriden-Tetralogie462 – unter der Intendanz von Wolfgang Langhoff uraufgeführt463. Die Repertoireentscheidung besaß vordergründig mehrere Reize: zum einen entsprach sie dem allgemeinen Goethe-Trend und der politisch protegierten Hauptmann-Ehrung, zum anderen schien ein aktueller Bezug à la Zeitstück konstruierbar und nicht zuletzt ließ sich mit einer Welturaufführung des Nobelpreisträgers Hauptmann die kulturelle Standortqualität der SBZ be-

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Ebd., S. 1-4, hier: 2. Ders., Das Publikum, in: TdZ, 2 (1947), H. 8, S. 1-7, hier: 4; vgl.: „Wir sprechen von Kunstwerken. Von Zeitstücken, die Kunstwerke sind, so wie es zu ihrer Zeit beispielsweise die Orestie des Aischylos, die Komödien des Aristophanes, Calderons Richter von Zalamea, Beaumarchais Ein toller Tag, Schillers Kabale und Liebe, Büchners Woyzeck, Hebbels Maria Magdalena, Ibsens Nora, Hauptmanns Weber und Biberpelz waren“ (ders., Das Publikum, in: TdZ, 2 [1947], H. 8, S. 1-7, hier: 4). Becher gab kurz nach seiner Rückkehr nach Berlin seine Winterschlacht an den frischgegründeten Aufbau-Bühnen-Vertrieb, allerdings wollte niemand das „für Kriegszwecke geschriebene Durchhaltestück“ (Rohrwasser, Der Weg nach oben. Johannes R. Becher. Politiken des Schreibens, Frankfurt a.M. 1980, S. 83) direkt nach dem überstandenen Krieg aufführen; der Sinn des Publikums stand nicht nach „Weltkrieg als Familientragödie“ (ebd., S. 84), sondern nach Nathan der Weise und viel Operette (Dwars, Abgrund, S. 532, 679). Die rahmenden Tragödien der Atriden-Tetralogie, Iphigenie in Aulis und Iphigenie in Delphi, waren hingegen noch im Dritten Reich recht erfolgreich zur Aufführung gekommen: Iphigenie in Delphi wurde am 15.11.1941 in Berlin uraufgeführt, Iphigenie in Aulis am 15.11.1943 im Wiener Burgtheater. Beide Stücke wurden noch bis Kriegsende mehrfach gespielt (vgl. Delvaux, Antiker Mythos, S. 35 f.). Agamemnons Tod wurde zuvor bereits am 28. Juli 1946 „über den Drahtfunk des amerikanischen Sektors urgesendet“ (G. Rühle, Hauptmanns Atriden, in: Zeit und Theater, Bd. 6, Frankfurt a.M. u.a. 1980, S. 848-860, hier: 859, zit. nach: Daria Santini, Gerhart Hauptmann zwischen Modernität und Tradition. Neue Perspektiven zur AtridenTetralogie, Berlin 1998, S. 101, Anm. 11).

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haupten. Doch überforderten die zwischen 1942 und 1945 entstandenen Stücke mit ihrem blutrünstigen Geschehen die Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit des Nachkriegspublikums. Der Eindruck, den sie beim Publikum hinterließen, war, so Peter Delvaux in seiner Darstellung über die Sinnstruktur und Zeitbezüge der Atriden-Tetralogie, „unvermeidlich ein befremdlicher und bedrückender“464. Schon Erpenbeck stellte aufgrund der zwangsläufig irritierenden Wirkung der Werke für ein „nicht literarisch infiltriertes Publikum“465 die sich aufdrängende Frage: „Wozu das?“466 Ähnlich vernichtende Einschätzungen begegneten in der Tagespresse, deren Stimmen im Theater der Zeit zusammengefasst wurden. In der Neuen Zeit sah man die Aufführung sogar die Grenzen der Pietät gegenüber Hauptmann überschreiten: „Pietätvoller“, so war dort zu lesen, wäre es gewesen, „wenn man manches nicht der Öffentlichkeit preisgibt, was im Nachlaß nur nachlassende dichterische Kraft verrät“.467 Im Telegraf wurde die Aufführung als „permanentes Geschrei“ zerrissen, das von einem „überlebte[n] Pathos“ getragen gewesen sei.468 Am härtesten ging Wolfgang Harich in der Täglichen Rundschau mit Hauptmann und seinen Altersdramen – wie auch mit jenen, die diese auf die Bühne gebracht hatten und sie nun zu verteidigen suchten469 – ins Gericht. Mit dem Antikeaufguss habe sich Hauptmann als „greiser Olympier“ versucht, das Ergebnis sei jedoch ebenso fatal wie die Handlung selbst.470 Für Harich gehörten diese Alterswerke, in denen er eine „Zumutung“ für das Publikum sah, „unter Glas ins Museum, aber nicht auf die Bühne“471. Da half es wenig, dass Gerhart Pohl sich im Programmheft zur Aufführung gemüht hatte, die Verwurzelung der Goethe-Bearbeitungen in der erlebten Gewaltherrschaft herauszukehren: „Die Atriden-Tragödie ist die kultische Beschwörung des Genius Hauptmann gegen die barbarische Entfesselung des Dämons Hitler, das durch Form gebannte Grauen der Dichtung gegen das formlos chaotische Grauen der Wirklichkeit.“472 464 465

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Ebd., S. 39. Erpenbeck, zit. nach: Kleine Chronik deutscher Uraufführungen, in: TDZ, 2 (1947), H. 9, S. 35. Ebd. Werner Fiedler, in: ebd. Fritz Schwiefert, in: ebd. Auf Pohls Versuche, den Werken Zeitnähe und -relevanz zu bescheinigen, reagierte Harich abschätzig: „Als ob Hitler ein ‚Dämon’ und kein wild gewordener Spießer gewesen wäre! Als ob Mythologisierung nicht die gefährlichste Art der Geschichtsverfälschung wäre! Schlimm genug, uns Hauptmanns senile Olympierambitionen vorzusetzen. Aber dass man damit dann auch noch ‚zeitnah’ zu sein meint, ist unverzeihlich“ (Wolfgang Harich, in: ebd., S. 36). Ebd. Ebd. Pohl, zit. nach: Kleine Chronik deutscher Uraufführungen, in: TDZ, 2 (1947), H. 9, S. 35.

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Wenngleich die „kultische Beschwörung des Genius Hauptmann“ ihre intendierte Wirkung durch „zuviel an klassizistischer Konvention“473 verfehlte, sollte diese Inszenierung dennoch indirekt weichenstellend für die Hauptmann-Rezeption in der SBZ/DDR werden. Im Scheitern dieser und weiterer Aufführungen des klassizistischen Alterswerks474 fanden all jene Bestätigung, die fortan nur noch auf den frühen Hauptmann zurückgreifen wollten. Nicht nur Paul Rilla veranlasste das Atriden-Debakel zu dem Schluss, dass die Verpflichtung, die dem Theater aus Hauptmanns Gesamtwerk erwachse, „nur in der Besinnung auf eine Welt der sozialen Dichtung bestehen [könne], als deren Schöpfer Gerhart Hauptmann ‚klassisch’ fortleben“ werde.475 Infolge der vernichtenden Reaktionen und Kritiken in der SBZ sollte die Atriden-Tetralogie in der DDR schließlich nie auf den Spielplänen erscheinen.476 Auch im Westen Deutschlands gehörte die AtridenTetralogie nicht zu den beliebtesten Werken Hauptmanns. Nach der ersten, westdeutschen Gesamtaufführung aller vier Teilstücke durch Piscator 1962 am Berliner Theater am Kurfürstendamm477 wurden die Tragödien nur noch vereinzelt gespielt.478 Das Theaterleben der SBZ blieb noch 1948 weit hinter den Ansprüchen von Erpenbeck zurück – eine Situation, die dieser im Januar 1948 als „armselig, beschämend für eine Nation, deren Theaterkunst einst Weltruf genoß“479 geißelte. Sein Fazit über die weitere Entwicklung des Theaters fiel auch noch im Dezember 1948 negativ aus: „Es ist eine allgemein anerkannte ärgerliche Tatsache, dass so viele unserer Bühnen bei der Spielplangestaltung versagen. Eigentlich ist niemand recht einverstanden mit dem, was gegeben wird.“480

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Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 312. Vgl. Santini, Gerhart Hauptmann, S. 101 f., 122. Rilla, Gerhart-Hauptmann-Uraufführung. Kammerspiele: Agamemnons Tod und Elektra, erschienen in: BZ (12.09.1947), in: ders., Theaterkritiken, hg. und mit einem Vorwort versehen von Liane Pfelling, Berlin 1978, S. 224-227, hier: 226. Eine Stralsunder Aufführung der Atriden von 1987 wich in ihrer Text- und Sinnstruktur so stark von Hauptmann ab, dass, so Delvaux, „die Frage erlaubt erscheint, inwiefern noch von der Aufführung eines Werkes von Gerhart Hauptmann die Rede sei; mit mehr Recht könnte man vielleicht Hugo von Hofmannsthals Elektra als ein Werk des Sophokles bezeichnen“ (ders., Antiker Mythos, S. 43) Piscators Deutungstendenz der Atriden hin zu einer „antifaschistischen Widerstandsdichtung“ erachtete Hilscher für „zu weit gehend“ (ders., Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier: 15). Agamemnons Tod wurde insgesamt sechsmal inszeniert, Elektra immerhin dreimal, Iphigenie in Aulis lediglich einmal und Iphigenie in Delphi sogar neunmal. Zur Rezeption in der BRD vgl. Delvaux, Antiker Mythos, S. 39-44. Erpenbeck., Theaterwissenschaft – Wissenschaft vom Leben, in: TdZ, 3 (1948), H. 1, S. 1-9, hier: 4. Ders., Literatur oder Theater? In: TdZ, 3 (1948), H. 12, S. 1-10, hier: 1.

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Veränderungen machten sich in dieser Zeit nicht in der Hebung der gebotenen ästhetischen Qualität, sondern vor allem durch die ideologische Überwucherung der Kultureinrichtungen bemerkbar. Sichtweisen der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie wurden stärker auf die Theaterkunst angewandt, deren Kernanliegen nunmehr darin gesehen wurde, „den Proletarier als Repräsentanten der historisch fortschrittlichsten Klasse künstlerisch zu gestalten“481. Entsprechend bildete die Aktivierung der ‚Werktätigen’ die neue Priorität in der Aufgabenordnung der Theater.482 Zwar dauerte die Umbruchsituation an, doch an die Stelle der anfänglichen künstlerischen Offenheit traten zunehmend ideologische Schranken und Richtlinien. Noch im März 1949 sah man das Theaterleben, das stellvertretend für alle kulturellen wie gesamtgesellschaftlichen Interaktionsprozesse stand, in einem unguten Zustand: „[W]ir stehen mit unserem Theater inmitten einer Krise, wobei diese allgemeine Formulierung zugleich einen Hinweis darauf gibt, dass es sich nicht schlechthin um eine Krise etwa des Theaters handelt. Wir stehen alle mitten in einer Wende, und so ist es gar kein Wunder, dass ein so empfindliches Barometer für das menschliche Klima wie das Theater Schwankungen aufweist.“483 Die Artikulation dieser Krisenstimmung zieht sich durch die Theater der ZeitHefte bis etwa Mai 1949. Angesichts der Staatsgründungen 1949 änderte sich dann schlagartig der Ton, Optimismus war nunmehr Programm. Die entstehende DDR war von Anfang an darum bemüht, sich als das bessere Deutschland zu präsentieren, das selbstverständlich von sich behaupten wollte, eine bessere Kulturpflege zu betreiben. Plötzlich rühmte man die neuen Schauspielschulen484 und zeigte sich stolz darauf, dass „das Theater in der sowjetischen Besatzungszone im steten Aufbau“485 befindlich sei. Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit gegenüber den Sowjets wurden propagiert, die zwar systematisch ganze Industrieanlagen hatten verschwinden lassen, dafür aber andernorts einige Spielstätten neu entste-

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Ders., Enge und Verarmung, in: TdZ, 4 (1949), H. 1, S. 1-6, hier: 2. Vgl. Friedrich von Zglinicki, Der Glaube an die theatralische Sendung, in: TdZ, 3 (1948), H. 2, S. 17-19, hier: 19; „Es kommt jetzt auf nichts mehr und nichts weniger an, als mit den Mitteln lebendiger, zeitverbundener Kunst die schöpferischen Kräfte des arbeitenden Volkes zu wecken, zu entwickeln und zusammen mit diesem Volk die Kunst des Volkes zu schaffen!“ (Erpenbeck, Zur Theatersituation in der Ostzone, in: TdZ, 3 [1948], H. 10, S. 1-9, hier: 3). Freese, Die Problematik, in: TdZ, 4 (1949), H. 3, S. 7-12, hier: 7 f. Vgl. Max Burghardt, Schauspielernachwuchs in der sowjetischen Besatzungszone, in: TdZ, 4 (1949), H. 6, S. 30-35. Erdmann H. Treischke, Aufbau und Ausbau. Neue Bühnenhäuser in der sowjetisch besetzten Zone, in: TdZ, 4 (1949), H. 5, S. 4 f., hier: 4.

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hen ließen.486 Auch für die Funktionäre und Verantwortungsträger, die in der SBZ kulturpolitisch den Ton angaben, bedeutete die Staatsgründung eine Zäsur in der Art und Weise, wie sie öffentlich agieren konnten. Gegenwartskritik wurde immer weniger geduldet. Das sozialistische Kunstverständnis verfestigte seine – das Beispiel Erpenbeck deutet dies an – schon bestehenden konservativen und rückwärtsgewandten Tendenzen. Nur folgerichtig stieg Erpenbeck entsprechend seiner politisch konformen Verdienste um die neue Theaterkultur im März 1953 zum Leiter der Hauptabteilung Darstellende Kunst und Musik der Kunstkommission auf.487 Aktiv gestaltend wirkte er infolge u.a. als Chefdramaturg der Ostberliner Volksbühne am Luxemburgplatz (1959-1962) auf das Theaterleben in der DDR ein.

II.

Zur Rezeptionslage in der DDR

Wie intensiv das Werk eines ‚Kulturschaffenden’ in der DDR rezipiert wurde hing davon ab, welcher Wert diesem Werk öffentlich beigemessen wurde. Im Laufe der Jahre wurde der volkspädagogische Mehrwert eines ästhetischen Produkts zum zentralen Förderungs- bzw. Verhinderungskriterium. Kunst und Literatur wurden in der Kunstauffassung der DDR mit der zunehmenden Verquickung von ästhetischem Urteil und Produktion immer mehr durch Aspekte der Nützlichkeit determiniert. Elementen des Kulturerbes wurden entsprechende „Prädikate der Nützlichkeit“488 zugeordnet, die ihre Werthaftigkeit kennzeichneten und den offiziellen Status des jeweiligen Gegenstandes positiv wie auch negativ prägen konnten. Status erhöhend wirkten z.B. Prädikate wie wertvoll, humanistisch, volkstümlich bzw. volksverbunden, realistisch, sozialistisch und revolutionär. Deklassifizieren konnten dagegen Prädikate wie dekadent, volksfremd, formalistisch, anti-national, imperialistisch und reaktionär. Wie ein Werk offiziell bewertet wurde, hing stark vom kulturpolitischen Kontext und der Feldposition der ‚Juroren’ ab, die sich in einer konkreten Situation zu einer positiv oder negativ akzentuierten Kritik bemüßigt fühlten. Texte oder – in einem größeren 486

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„Aber in der Ostzone wurde und wird weiterhin dank der weitgehenden Unterstützung durch die Besatzungsmacht, die Länder, Stadtverwaltungen und Gemeinden der Kunst eine rechte Heimstätte gegeben. Den dort Schaffenden muß es nun mehr denn je angelegen sein, sich dieser Förderung würdig zu erweisen“ (Treischke, Aufbau und Ausbau, in: TdZ, 4 [1949], H. 5, S. 4 f., hier: 5). Heider, Politik, S. 131. Klaus Dautel, Zur Theorie des literarischen Erbes in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ der DDR: Rezeptionsvorgabe und Identitätsangenbot, Stuttgart 1980, S. 14. Der Erbe-Begriff fungierte selbst als positives „Wertungsprädikat“ (ebd., S. 130 f.).

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Maßstab – Autoren wurden so zu Medien, in denen grundsätzliche Deutungs- und Weltanschauungsdiskussionen ausgetragen wurden.489 Diese politisch determinierte, pragmatische Bedeutungsdimension von Kunst stellte Johannes R. Becher bereits in seiner auf dem II. Bundeskongress des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (24. November 1949) gehaltenen Rede in den Vordergrund: Damals bezeichnete Becher die Kunst als ein „Lebensmittel“, das nicht nur den „geistigen und moralischen Ernährungszustand eines Volkes [entscheidend mitbestimmt]“, sondern auch die „Arbeitsleistung, die ein Volk hervorbringt“.490 Die Rezeption der Werke Hauptmanns in der DDR besaß dadurch, dass Becher, Pieck und gerade auch Tjulpanow mit ihrem Verhalten und ihren Reden in der SBZ deren hohen ‚Nährwert’ behauptet hatten, äußerst günstige Ausgangsbedingungen. Welche Entwicklungen in dieser Wertschätzung bis 1989 zu verzeichnen sind und in welchen Formen sie sich niederschlugen, soll in den nachfolgenden Kapiteln gezeigt werden.

1.

Wahrnehmung und Würdigung der Person Gerhart Hauptmanns

1.1.

Materielle Konkretisationen der Hauptmann-Ehrung

Die einer Persönlichkeit des kulturellen Lebens beigemessene Bedeutung schlägt sich für gewöhnlich in einer ihr öffentlich entgegengebrachten Vielfalt und -zahl an Konsekrationsformen nieder. Einmal in den „Kreislauf der Konsekration“491 eingetreten, kann der Geehrte fast damit rechnen, dass seinen persönlichen Festtagen die Aufmerksamkeit höchster staatlicher Kreise widerfahren, ihm unzählige Ämter, Titel, Aufzeichnungen und Preise zuteil werden und selbst profane Gegenstände seines Alltags wie Reliquien behandelt werden. Der Tod setzt diesen Würdigungen kein Ende, sondern kann sie, je nach Bedeutungsintensität des Verstorbenen, auf ein neues Konsekrationsniveau transponieren. Gerhart Hauptmann trat in den „Kreislauf der Konsekration“ um die Jahrhundertwende ein: Spätestens von dieser Zeit an ist er als kanonisierter Literaturproduzent zu betrachten, der das Feld der Produktion und seine Gesetze be489

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Diese Einsicht gilt prinzipiell für die Kunst- und Literaturfelder in allen gesellschaftlichen Konstellationen. In im weitesten Sinne demokratischen Gesellschaften fallen solche Deutungsdiskussionen allerdings deutlich pluralistischer aus, als dies in geschlossenen Feldern wie dem der DDR zu beobachten war. Befreiung. Deutsche Kultur und nationale Einheit, in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 271-333, hier: 323 f. Bourdieu, Die Regeln, S. 272, 356.

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herrschte.492 Zu den symbolischen Profiten und Anerkennungen, die Hauptmann seither erhielt, zählen z.B. die Ehrendoktorwürden von Oxford (1905), Leipzig (1909), Prag (1922), New York (1932) und Breslau (1942), nicht zu vergessen die Aufnahme in die deutsche Konsekrationsinstitution schlechthin, die Sektion für Dichtkunst der Akademie der Künste zu Berlin (1928).493 Als oberstes Emblem bürgerlicher Ehrentbietung mag jedoch die Verleihung des Literaturnobelpreises gedeutet werden, die Hauptmann 1912 erlebte. Wie eingangs skizziert, bildete sich der Hauptmann beigemessene Wert vor allem auch in den Geburtstagsfeierlichkeiten ab, die u.a. in der Weimarer Republik für ihn zelebriert wurden. So erklärte Reichspräsident Friedrich Ebert 1921 in Hinblick auf Hauptmanns 60. Geburtstag: „Mit einer Ehrung Gerhart Hauptmanns ehrt das deutsche Volk sich selbst.“494 Die Monumentalisierung jener Geburtstage geschah – wie Fritz Strich, Literaturhistoriker und Zeitgenosse Hauptmanns, schon damals anmerkte – „mehr aus Gründen der politischen Repräsentation nach innen und nach außen hin und nicht aus einem zärtlichen Gefühl des Staates für den Dichter“495. Den Feierlichkeiten lag aufseiten der Politiker somit die Hoffnung zugrunde, „etwas Glanz möge auch auf sie zurückfallen, wenn man Gerhart Hauptmann so großartig feierte und ehrte“496. Das sich hierin andeutende nationallegitimatorische Denk- und Inszenierungsmuster feierte nach 1945 bzw. 1949 Renaissance: Auch in der DDR bildeten Hauptmanns Geburtstage die Höhepunkte der Aufmerksamkeit, die seinem Werk und Andenken wider492

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Von dem Jahr 1900 an lieferte Hauptmann bis 1924 jährlich eine Uraufführung – Ausnahmen bilden nur die Jahre 1904 und 1910. Zur Theorie der Konsekration vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 119; Die Aufnahme in die Akademie der Künste hatte Hauptmann 1926 zunächst abgelehnt, im Januar 1928 dann aber doch akzeptiert. Sein Verhalten veranlasste Zeitgenossen zu politischen Mutmaßungen: „War es nur dies, dass er empfand, in Deutschland, wo sich alles gegen geistige Normierung und Zusammenfassung auflehnt, sei solche Gründung fehl am Platz? […] War es nicht mehr wohl das Gefühl, der Dichter gerade dürfe sich nicht dem Staat, dem modernen Staat, verschreiben, weil zwischen ihnen ein Abgrund klaffe und es mit seiner dichterischen Sendung gerade nicht verträglich sei, das Amt zu übernehmen, mit dem der Staat vielleicht nur, klug berechnend, die drohende Gefahr der Dichtung bannen will?“ (Fritz Strich, Der Dichter und der Staat, in: ders., Dichtung und Zivilisation, München 1928, S. 219-248, hier: 219). Vgl.: „Nichts, aber auch nichts, so erklärte er, liege ihm ferner, als eine Geste gegen irgendeine Institution des Staates oder gar gegen den Staat selbst zu machen. Hauptmann nimmt lediglich für sich das Recht in Anspruch, auf eine Ehrung zu verzichten, weil sie für ihn eine Fessel bedeuten würde. Hauptmann befürchtete aus der Annahme des Antrages eine Beendung seiner vollen Freiheit und damit eine Beeinträchtigung seiner Schaffenskraft“ (Der Fall Gerhart Hauptmann. Ein Interview mit dem Dichter, in: Berliner Lokal-Anzeiger [30.05.1926], zit. nach: Tschörtner [Hg.] in Zusammenarbeit mit Sigfrid Hoefert, Gespräche und Interviews mit Gerhart Hauptmann [1894-1946], Berlin 1994, S. 81 f., hier: 82); Die Erklärung zur Annahme der Ehrung erschien im Berliner Tageblatt (22.01.1928), CA, XI, S. 1068 f. Zit. nach: Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 200. Strich, Der Dichter, in: ders., Dichtung, S. 219-248, hier: 219. Hildebrandt, Gerhart Hauptmann, in: JSFWUB, (1993), 34, S. 207-230, hier: 212.

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fuhren. Das Würdigungsanliegen schlug sich – in ähnlicher Absicht wie in der Weimarer Republik – in Feierlichkeiten und Sondervorstellungen in Theatern nieder, sowie in einer Vielzahl zusätzlicher, materieller Äußerungsformen, auf die hier zunächst einzugehen ist. Noch in der SBZ zog Hauptmanns Tod neben den bereits dargestellten verbalen Ehrungen weitere Würdigungen nach sich. Sie seien aufgrund ihrer Nachwirkung auf die DDR-Rezeption an dieser Stelle kurz erwähnt. Beispielsweise benannte das Theater der Stadt Görlitz sich im Juli 1946 auf einstimmigen Beschluss des Stadtrates in Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz497 um. Ein Akt, den der damalige Oberbürgermeister mit der nationalen Verpflichtung begründete, den Status als „Restgebiet Schlesiens“ dokumentieren zu müssen.498 Wie das Gedenkbändchen der Nachkriegsspielzeit 1946/47 betont, verband man dort mit dem Namen ‚Hauptmann’ eine „tiefere Bedeutung“ 499: Sein „überzeitiger Name“ wurde als ein dauerhaftes „Symbol unseres künstlerischen Wollens“ begriffen.500 Die Festschreibung des Dichters auf eine einseitig-politische Rolle zeitigte hier erste Konkretisationen: Man wollte mit der Namensänderung den ‚Arbeiterdichter’ Hauptmann ehren, der sich „immer tiefer beschäftigt [habe] mit dem Gedanken der Ausbeutung des hilf- und rechtlosen Arbeiters durch den Großkapitalisten“501. Jenen Hauptmann also, der „aus übervollem Herzen […] das Treiben dieser Klasse Zeitgenossen“ gebrandmarkt habe.502 Ende 1948 wurde Hauptmann eine besondere Ehrung zuteil, die – wie die situative Rahmung andeutet – ebenfalls dem vermeintlichen Arbeiterdichter in ihm gewidmet war: Hauptmanns Antlitz wurde auf einer der ersten in der SBZ geprägten Briefmarken mit Porträts berühmter Persönlichkeiten dargestellt. Die Briefmarke mit dem damaligen Postwert von sechs Pfennigen zeigt Hauptmanns Kopf, mit wehendem Haar und Goetheanischem Gesichtsausdruck, vor einem lila Hintergrund.503 Weitere Briefmarken der Serie zieren z.B. die Köpfe von Karl 497

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Umbenennungen waren auch in der Weimarer Republik ein beliebtes Konsekrationsmedium, z.B. wurde 1922 die Breslauer Oberrealschule nach Hauptmann benannt, die allerdings 1933 in Horst-Wessel-Oberschule umgewidmet wurde, vgl. Hauptmanns Reden zu den entsprechenden Anlässen in: Hauptmann, Um Volk und Geist. Ansprachen, Berlin 1932, S. 92-97; Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 280. Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 51. Edi Weeber, Gerhart Hauptmann, in: Ein Jahr Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz. 1946/47, hg. von der Intendanz der städtischen Bühnen Görlitz, Intendant Willy Bodenstein, [Görlitz 1947], S. 17 f., hier: 18; vgl. außerdem 100 Jahre Görlitzer Theater. Gerhart Hauptmann und seinem Werk verpflichtet, in: Die Union (Dresden, 01.09.1951). Ebd. Ebd., S. 17. Ebd. Das Postwertzeichen ist Teil einer Serie von acht Marken, die ab dem 11.10.1948 in der SBZ erhältlich waren (vgl. Michel. Deutschland-Katalog 1988/89, München 1988,

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Marx, August Bebel, Friedrich Engels, Rudolf Virchow und Ernst Thälmann, wobei letztere den höchsten Wert trägt (vierundzwanzig Pfennige). Die Briefmarken repräsentieren künstlerische Leistungen wie auch politische Haltungen und – im Falle Virchows – medizinische Errungenschaften. Da Briefmarken offizielle Embleme des Selbstbewusstseins und der Selbstdarstellung eines Staates darstellen, kommt der Aufnahme Hauptmanns in den genanten Personenkreis eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Die porträtierten Personen waren nicht nur von offizieller Seite, also der SMAD, anerkannt, sondern gaben zudem als personelle Repräsentanten der sich zunehmend verstaatlichenden SBZ ein Gesicht. Die Gerhart-Hauptmann-Briefmarke ist deshalb als ein zentrales Konsekrationselement zu deuten, das Hauptmanns Platz im kulturellen Feld der Nachkriegszeit und seine Kanonisierung als kulturelles Traditionsgut der entstehenden DDR belegt. Im Kontext staatlicher Symbolproduktion ähnlich bedeutungsmächtig ist das „konservative Kunstobjekt“504 der Medaille. Die Tradition dieser Konsekrationsobjekte reicht im Fall Hauptmann bis in die Zeit um 1900 zurück und wurde in den nachfolgenden Dekaden hauptsächlich anlässlich besonderer Geburtstage belebt.505 Die erste Hauptmann-Medaille der Nachkriegszeit zeigt auf der Vorderseite das Antlitz des Verstorbenen, wie es die vom Bildhauer Ernst Rülke abgenommene Totenmaske verewigt hatte.506 Die Rückseite dieser „äußerst seltenen Medaillendarstellung“507 schmückt eine deutsche Eiche, die als „Weltenbaum im Zeitendickicht“508 gedeutet wurde. Insgesamt musste die Hauptmann-Medaille als ein „Denkmal von menschlichem Leid“, als ein „Totenbild voll des Aufbruchs“ erscheinen.509 Das Antlitz Hauptmanns wurde durch derartig pathetische Interpretationen zu einem Abbild der Lage Deutschlands nach Kriegsende überhöht. We-

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S. 428). Der Hauptmann-Briefmarke geht im Wert die Briefmarke für Käthe Kollwitz voraus (zwei Pfennige). Max Bernhart, Medaillen und Plaketten, 3. Auflage Braunschweig 1966, zit. nach: Paul Dziallas, Medaillen und Plaketten Gerhart Hauptmanns, München 1969, S. 33. Bei den ersten Objekten handelte es sich vor allem um Bronze-Gussplaketten, die auf der Vorderseite Hauptmanns Kopf im Profil und auf der Rückseite – sofern mit Prägung versehen – Theatersinnbilder, Szenen bzw. Verse aus berühmten Hauptmann-Werken oder die Wappen der jeweils ehrenden Stadt zeigten, vgl. ebd., S. 12-18. Ebd., S. 19; Otto Marzinek, Gerhart Hauptmann auf dem Totenbett [gest.] 6. Juni 1946, in: Berliner numismatische Zeitschrift 3, Bd. 74 (1959), H. 3, S. 167-169. Eine dieser Medaillen ist im ehemaligen Arbeitszimmer Hauptmanns im Haus Seedorn auf Hiddensee ausgestellt. Dziallas, Medaillen, S. 19. Marzinek, Gerhart Hauptmann, in: Berliner numismatische Zeitschrift 3, Bd. 74 (1959), H. 3, S. 167-169, hier: 168. Ebd., S. 167.

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niger spektakuläre Hauptmann-Medaillen wurden in der DDR noch anlässlich des 95. Geburtstages 1957 sowie des 40. Todestages 1986 geprägt.510 Im Kontext materieller Manifestationen der Würdigung ist abschließend ebenfalls die Gerhart-Hauptmann-Büste von Karla L. Friedel zu erwähnen, die in „den Jahren des demokratischen Neuaufbaus nach 1945“ in MecklenburgVorpommern als „Wanderpreis für fortschrittliche Theaterarbeit“ vergeben wurde.511 Hier wird nochmals der Trophäencharakter einsichtig, der die Sammlungsbemühungen Bechers in den ersten Jahren der SBZ geprägt hatte: Jene Kulturrepräsentanten, die sich im Wettstreit der Weltanschauungen für eine sozialistische Zukunft hatten gewinnen lassen, wurden danach als Symbole eines ersten ideellen Sieges über die westdeutsche Parallelunternehmung im Lande herumgereicht – wenn sie noch lebten in persona, wenn nicht, in Form von Büsten, Medaillen etc. Erst 1984 wurde die letztgenannte Hauptmann-Büste vom damaligen Ersten Bundessekretär des Kulturbundes Karl-Heinz Schulmeister im Rekurs auf die sinkende Bedeutsamkeit dem kulturpolitischen Rundlauf entzogen und in den Fundus der Hauptmann-Gedenkstätte Erkner übergeben.512

EXKURS: Die Grabstätte Gerhart Hauptmanns Die Hauptmann-Rezeption der DDR besaß auch insofern ideale Ausgangsbedingungen, als sich die Grabstätte des Dichters auf ostdeutschem Territorium befand. Wie Becher schon in seiner Grabrede betont hatte, sollte sie ein „Wallfahrtsort“513 und eine Attraktion des ‚neuen Deutschland’ werden. Doch entgegen dieser frühen Bedeutungszuweisung, die durch einen riesigen Findlingsblock als 510

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1957 prägte man in West- wie Ostdeutschland eine eigene Gedenkmedaille: die Wetzlarer Buderus-Eisenwerke eine einseitige Eisen-Gussplakette, die als „Neujahrsplakette“ verzeichnet wurde (Dziallas, Medaillen, S. 19 f.), in der DDR dagegen eine SilberSerienmedaille. Wie Marzinek zu Rülkes Medaille vermerkt, habe auch die GerhartHauptmann-Gesellschaft angestrebt, „daß die Bundesrepublik Deutschland auf den Dichter eine Schaumünze präge“ (Marzinek, Gerhart Hauptmann, in: Berliner numismatische Zeitschrift 3, Bd. 74 (1959), H. 3, S. 167-169, hier: 168). Das Projekt scheiterte unter „unverständlichen Begründungen“, obwohl die Münze „ein Ruhm für den jungen Staat gewesen“ wäre (ebd.). Der Kulturbund der DDR widmete 1986 seinem einstigen Ehrenpräsidenten als „Ehrengabe“ ein Abzeichen aus Bronzeguss (Kurt Harke, Medaillen, Plaketten, Abzeichen, Ehrengaben und Auszeichnungen des Kulturbundes der DDR. II. Teil: Kulturbund der DDR – Allgemein, Numismatische Hefte 46 [1987], S. 27). Erdmann, Zum Nachlaß Gerhart Hauptmanns – Gedenkstätten und Museen in der DDR, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34, hier: 32; ders., Das Gerhart-HauptmannMuseum. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente – neue Aspekte. Vorträge im Gerhart-Hauptmann-Museum Erkner, Berlin 1992, S. 161-175, hier: 173. Ebd. [Trauerrede für Gerhart Hauptmann], in: Becher, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 56.

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Grabstein symbolisches Gewicht erhalten hatte, fiel das Grab zunächst der Vernachlässigung anheim. Erst ein im November 1950 in der Zeitung Der Morgen514 veröffentlichter Bericht über Die Insel Gerhart Hauptmanns lenkte die Aufmerksamkeit höchster Staatskreise auf diesen Missstand. Einer ausführlichen Beschreibung der Insel und der Inspirationskraft, die sie einst auf Schriftsteller und Künstler ausübte, folgte in dem Zeitungsartikel eine betrübliche Schilderung der dortigen Hauptmann-Stätten: „Um so bedauerlicher ist es, wie Hauptmanns Haus heute verödet in dem verwilderten Garten liegt. Scheu suchen die Vorbeikommenden einen Blick in das dichtverhängte Arbeitszimmer des Dichters zu werfen. Auf dem Dorffriedhof von Kloster suchen sie nach seinem Grabe, das zwar durch einen riesigen, von der Rostocker Studentenschaft gespendeten Granitblock kenntlich ist, aber immer noch keinen Namen trägt. Die Hauptschuld hat hier wohl der Sohn Benvenuto, der an der von seinem Vater so geliebten Insel keinerlei Interesse bekundet, sondern mit dem kostbaren Nachlaß, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen, in die Schweiz abgewandert ist. Desto mehr müssten hier andere Stellen Initiative beweisen.“515 Kein geringer als der kunst- und kulturinteressierte DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck persönlich fühlte sich durch den Bericht in die Pflicht genommen. Die Hauptmann-(Grab-)Pflege wurde infolge zur Staats- bzw. Ehrensache erklärt. Aus einem Brief von Piecks Staatssekretär an Paul Wandel, den damaligen Minister für Volksbildung und Jugend der DDR, geht hervor, mit welcher Entschlossenheit Pieck Maßnahmen zur Rettung von Hauptmanns Andenken in die Wege leitete. Demzufolge habe Pieck „den Wunsch geäußert, daß die Grabstätte Gerhart Hauptmanns auf Hiddensee regelmäßig gepflegt, der Grabstein mit Namen versehen und das frühere Wohnhaus Gerhart Hauptmanns in Ordnung gehalten und geschützt werden möchte“516. Weil Pieck außerdem eine Prüfung wünschte, „inwieweit die Angaben des Aufsatzes zutreffen“, wurde der persönliche Sekretär des Ministers nach Hiddensee entsandt, um infolgedessen „alles danach Erforderliche zu veranlassen“.517 Die Indizien dafür, dass das Grab „seit der Beisetzung Gerhart Hauptmanns stark vernachlässigt“ worden war, reichen in den Kulturbund-Akten bis

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Erich Krafft, Die Insel Gerhart Hauptmanns. Das Heim des Dichters auf Hiddensee die gegebene Gedenkstätte für ihn, in: Der Morgen (12.11.1950). Ebd. Brief von Dr. Geyer an Minister Wandel vom 02.12.1950 (SAPMO – BArch, NY 4090/549). Ebd.

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Anfang 1948 zurück.518 Damals war es der anstehende Besuch Ivo Hauptmanns gewesen, der den Kulturbund Mecklenburgs dazu veranlasst hatte, das Grab „instand setzen [zu] lassen“ sowie die „Wirkungsgruppe Bergen“ damit zu beauftragen, „um eine fortlaufende Pflege des Grabes bemueht zu bleiben“.519 Auch auf die Fragen nach der Kostenübernahme für die Grabpflege520 und der allgemeinen Zuständigkeit wurden damals von der Kulturbund-Landesgruppe – wie Piecks Eingreifen signalisiert – aber nur vorläufige Antworten gefunden. Mitte Dezember 1950 legte der entsandte Sekretär schließlich eine Art Bestandsanalyse vor, die einen Eindruck vom Zustand der Hauptmann-Stätten auf Hiddensee vermittelt. Beim Besuch der Grabstätte bot sich dem Sekretär laut Bericht folgendes Bild: „Die Grabstätte macht einen bescheidenen aber durchaus gepflegten Eindruck. Eine ca. 30 cm hohe Hecke umgibt das 2m mal 3m große Geviert, in dessen Mitte sich der flache Efeuhügel des Grabes befindet. Der Hügel war mit einem Kranz und einigen Blumen geschmückt. Die umgebende Bodenfläche war geharkt. Am Kopfende ist eine kleine Tanne aus Agnetendorf eingepflanzt. Zu Häupten des Grabes, außerhalb der Hecke, ist ein monumentaler Findling aufgerichtet. Höhe ca. 2m, mittlere Breite ca. 1,70m. Der Findling ist noch nicht beschriftet. Das Grab wird von der Gemeindeverwaltung in Kloster gepflegt. Die Errichtung des Steines erfolgte auf einen Beschluß der Studentenräte der Universitäten und Hochschulen, der am 19. und 20. Mai 1949, anlässlich einer Tagung in Kloster auf Hiddensee, gefasst wurde. Die Mittel stellte die Studentenschaft aller Universitäten und Hochschulen.“521 Dass der Findling522 fast viereinhalb Jahre nach der Beisetzung Hauptmanns noch seiner Beschriftung harrte, wurde mit dem zögerlichen Verhalten der Witwe er-

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Brief an die Zentralleitung des Kulturbundes von Pfarrer Karl Kleinschmidt [Kulturbund Landesleitung Mecklenburg] vom 27.01.1948 (SAPMO – BArch, DY 27/900). Ebd. „Wir bitten um Mitteilung, ob die Zentralleitung bereit ist, die Kosten der Pflege zu übernehmen, da es sich um den verstorbenen Ehrenpräsidenten des Kulturbundes handelt bzw. ob sie es fuer geraten haelt, die Angehoerigen mit diesen Kosten zu belasten“ (ebd.). Im Antwortbrief von Heinz Willmann vom 07.02.1948 wurde die Kostenübernahme durch die Kulturbundleitung zugesichert (SAPMO – BArch, DY 27/900). Ebenfalls am 07.02.1948 wandte sich der Inselpfarrer Gustavs an den Kulturbund Mecklenburgs, um mit den Vernachlässigungsgerüchten aufzuräumen: „Wenn Ihnen mitgeteilt worden ist, daß sich der Grabhügel nicht immer in einem würdigen Zustande befunden habe, so entspricht das nicht dem Tatbestande. Es ist nur nicht möglich gewesen, bei dem ungewöhnlich trockenen Sommer 1947 das Grab immer ausreichend mit frischen Blumen zu versehen.“ Bis dato hatte Frau Gustavs die Grabpflege besorgt (ebd.). Dr. Ludwig, Ministerium für Volksbildung, Bericht über den Zustand des GerhartHauptmann-Grabes und seines Hauses in Kloster auf Hiddensee (15.12.1950), S. 1 (SAPMO – BArch, NY 4090/549). Daiber behauptet, der Findling sei nur von Studenten der Universität Greifswald gestiftet worden (Daiber, Gerhart Hauptmann, S. 311). Wie der Sekretär außerdem erwähnt, wurde jener Findling durch den Heimatforscher Dr. Adler „beschafft“, der sich aber „inzwischen nach dem Westen abgesetzt“ habe (ebd.).

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klärt. Im Mai 1949 habe man sie über die Absicht informiert, den Findling – Hauptmanns Wunsch entsprechend – ausschließlich mit dessen Namenszug zu beschriften. Margarete Hauptmann soll entgegnet haben, dass sie „die Ausgestaltung des Grabes nach Plänen bedeutender Bildhauer aus eigenen Mitteln vornehmen möchte“ und der Findling für sie „nur ein Provisorium“ darstelle.523 Dies hatte zur Folge, dass die Landesleitung des Kulturbundes und das Volksbildungsministerium die Beschriftung des Steines nicht in eigener Verantwortung durchsetzen konnten.524 In Sachen Grabstein vorerst resignierend, nahm der Sekretär Hauptmanns Haus Seedorn in Augenschein. Das Anwesen erschien ihm insgesamt „durchaus zur Ausgestaltung einer Gedächtnisstätte geeignet“525. Dahingehende Überlegungen des Sekretärs wurden vom Inselpastor Arnold Gustavs genährt, der bestätigte, dass „bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung und auswärtiger Gäste das Bedürfnis vor[liege], das Haus sowie das Grab Gerhart Hauptmanns zu besichtigen“526. So überrascht es nicht, dass Haus Seedorn im 8Punkte-Maßnahmenplan des Sekretärs eine eminente Rolle spielen sollte: Nicht nur wurde Haus Seedorn infolge am 8. März 1951 unter Denkmalschutz gestellt527, im Übrigen wurde für die dort untergebrachte Familie eine anderweitige Bleibe gesucht und der Ankauf des Anwesens vorbereitet. Doch wie schon beim Nachlass, gab es auch hier Probleme mit den Erben: Die Witwe erhob „vorsorglich Einspruch“528 gegen die Denkmalsschützung. Insgesamt wurde die Durchführung aller weiteren Maßnahmen dadurch erschwert, dass „ganz besonders der Sohn, Benvenuto Hauptmann, eine den Vorschlägen der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber ablehnende Haltung“529 an den Tag legte. Wie aus einem Arbeitsprotokoll des Sekretariats des ZK der SED hervorgeht, entschied sich die Parteileitung dennoch, die „Renovierung und Ausgestaltung des stark reparaturbedürftigen Altbaus“ zu finanzieren.530 Die zu gestaltende Gedenkstätte sollte 523 524

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Ebd., S. 1 f. Dies obschon die Genossenschaftsreederei in Hiddensee sich bereiterklärt hatte, die durch die Beschriftung entstehenden Kosten zu tragen (ebd., S. 2). Ebd. Pastor Gustavs, der „nach seinen Äusserungen und seinem Verhalten absolut zur Deutschen Demokratischen Republik“ stehe, habe, so der Sekretär, zudem großes Interesse daran gezeigt, „im Sinne einer Gerhart-Hauptmann-Forschung, eine peinlich genaue Ausarbeitung aller ihm bekannten Tatsachen niederzuschreiben“ (ebd., S. 2, 4). Die Darstellung erschien 1962 in größerer Auflage: Arnold Gustavs, Gerhart Hauptmann und Hiddensee. Kleine Erinnerungen. Mit Briefen von Gerhart und Margarete Hauptmann und einem Nachwort von Gustav Erdmann, Schwerin 1962. Vgl. Harry Stehen, Wann wird Seedorn Hauptmann-Gedenkstätte? In: NZ (24.12.1950). Brief von Ludwig an Tzschorn [persönlicher Referent des Ministerpräsidenten] vom 11.05.1951 (SAPMO – BArch, NY 4090/549). Ebd. Das Ministerium für Volksbildung der DDR beauftragt, in Verbindung mit dem Kulturfond, DM 20.000,- für die Renovierung zu „beschaffen“, vgl. Zentralkomittee der SED –

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fortan dem Ministerium für Volksbildung des Landes Mecklenburg unterstellt werden,531 auf ihre letztendliche Ausgestaltung und Bedeutung wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Entsprechend der Empfehlungen des Sekretärs wurden darüber hinaus Maßnahmen zur Anbahnung eines Kulturtourismus um Hauptmann ergriffen: Am Hotel zur Ostsee in Vitte auf Hiddensee, wo Hauptmann einst an der Versunkenen Glocke sowie an Schluck und Jau gearbeitet hatte, wurde eine Gedenktafel angebracht.532 Auch die Dampfer, die nach Hiddensee fuhren, wurden mit Hinweisen auf die Gedächtnisstätte versehen.533 Eine Gedenktafel am Gasthof Schliecker am Bollwerk in Kloster, wo Hauptmann erstmals auf Hiddensee übernachtete, sollte noch folgen.534 Zu guter Letzt lösten sich auch die Grabstein-Probleme: „[I]m Einvernehmen mit der Witwe des Dichters“ wurde doch noch der Name Hauptmanns „eingehauen“.535 Anlässlich der fünften Wiederkehr des Begräbnistages konnte so endlich am 28. Juli 1951 die „feierliche Enthüllung des Grabsteines“ stattfinden.536 Auch Margarete Marschalk sollte schließlich ihre letzte Ruhestätte auf Hiddensee finden: Die Urne von Hauptmanns Witwe, die am 17. Januar 1957 in Ebenhausen bei München verstarb,537 wurde allerdings erst 1983 nach Kloster überführt,538 wo das Behältnis am 37. Todestag des Dichters539 zu dessen Füßen beigesetzt wurde.

1.2.

Die Inszenierung von Jubiläen und Geburtstagen nach 1949

Die Art und Weise, wie nach 1949 mit Geburtstagen Gerhart Hauptmanns umgegangen wurde, gibt Aufschluss über den Wert, der dem Dichter im jeweiligen zeitlichen bzw. kulturpolitischen Kontext in der DDR beigemessen wurde. Die hier zu skizzierende Kette von Ehrungen begann mit einem Gedächtnisabend, der

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Internes Parteiarchiv. Bestand: Sekretariat, Arbeitsprotokoll Nr. 85 (12.07.1951), S. 3 (SAPMO – BArch, DY 30/J IV 2/3A/197). Bei der Sitzung anwesend waren u.a. Dahlem, Schön, Baumann, Axen, Rentzsch; Ulbricht kam erst hinzu, als der TOP GerhartHauptmann-Gedächtnisstätte auf Hiddensee längst abgehandelt war. Ebd. Brief von Ludwig an Tzschorn vom 21.06.1951 (SAPMO – BArch, NY 4090/549); Zentralkomittee der SED – Internes Parteiarchiv. Bestand: Sekretariat, Arbeitsprotokoll Nr. 85 (12.07.1951), S. 3 (SAPMO – BArch, DY 30/J IV 2/3A/197). Brief von Ludwig an Tzschorn vom 11.05.1951 (SAPMO – BArch, NY 4090/549). Rüdiger Bernhardt, Gerhart Hauptmanns Hiddensee, 3. Auflage Hamburg 2004, S. 10. Brief von Ludwig an Tzschorn vom 11.05.1951. Zentralkomittee der SED, Arbeitsprotokoll Nr. 85 (12.07.1951), S. 3. Lubos, Gerhart Hauptmann, S. 157. Stroka, Der „Wiesenstein“, in: Gerhart-Hauptmann-Stiftung, S. 51-59, hier: 57. Rüdiger Bernhardt, Gerhart Hauptmanns Hiddensee, 3. Auflage Hamburg 2004, S. 129.

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anlässlich des 87. Geburtstages Hauptmanns am 15. November 1949 in Dresden stattfand.540 Eine Veranstaltung, die repräsentativ für das weitere Ehrungsverhalten in der DDR ist, weil die Initiative zur Gestaltung des Gedächtnisabends von der dortigen Ortsgruppe des Kulturbundes ausgegangen war. Der Kulturbund begriff die Ausrichtung derartiger Gedenktage als eine seiner Hauptaufgaben.541 Im Falle Hauptmanns war es die Kulturbund-Ehrenpräsidentschaft, die den Jubiläen und Geburtstagen des Dichters besonderes Gewicht verlieh. 1952 wurde der 90. Geburtstag Hauptmanns – in Ost und West – mit zahlreichen offiziellen Popularisierungsmaßnahmen begangen. In der BRD wurde z.B. im Vorfeld der Feierlichkeiten, am 6. Juli 1952, in Baden-Baden die GerhartHauptmann-Gesellschaft gegründet.542 Anlässlich des Festtages beschrieb u.a. Gerhart Pohl – nunmehr im Auftrag des Westberliner Senats und damit unter gegenläufigen systempolitischen Vorzeichen – den Dichter als ein „Sinnbild des deutschen Schicksals“.543 Pohl schilderte bei dieser Gelegenheit die sowjetischen Umwerbungsversuche und stellte die Frage in den Raum, „[o]b der Begriff der Humanitätsschurkerei, den Gerhart Hauptmann überraschend prägte, darauf an-

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Vgl. Veranstaltungsplakat (Berlin, DHM, Inventar-Nr. 90/6450). Auf dem Program standen u.a. szenische Darbietungen aus Rose Bernd und Iphigenie in Delphi. Insgesamt wurde Hauptmann in Dresden aufgrund der starken persönlichen Bindung schon in der SBZ stark rezipiert. Doch schien Hauptmann in Dresden nicht unumstritten zu sein, wie z.B. der apologetische Ton des Rose Bernd-Programmzettels aus der Spielzeit 1945/46 andeutet: Der Verfasser spricht davon, dass „es jüngst Mode geworden sei“ Hauptmann „voreingenommen und einseitig [zu] beurteilen“ (Programmzettel der Bühnen der Landeshauptstadt Dresden: Rose Bernd. Schauspiel in fünf Akten von Gerhart Hauptmann, Spielzeit 1945/46 mit einem Programmtext von Wolf Goette, R: Albert Fischel, P: 30.11.1945 [THA DD]). Die Vermutung liegt nahe, dass die angedeuteten Beurteilungen mit Hauptmanns Verhalten im ‚Dritten Reich’ zu tun hatten. Jedenfalls warnt der Verfasser des Programmzettels vor der „vorschnelle[n] Aburteilung“ – auch in Hinblick auf eine selektive Rezeptionsweise (ebd.). Zur Entkräftung eventueller Zweifel an der Aktualität des Dramas wird hier die Bandbreite der sozialen Handlungsdynamiken des Stücks ins Feld geführt: „Sind nicht in diesem Drama menschliche Verstocktheit und Brutalität, Mangel an Aufrichtigkeit und bewusste Verlogenheit, Selbstsucht und Standesdünkel, Unduldsamkeit und Pharisäertum, als wesentliche Grundübel unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens auch in dieser Zeit, [...] dargestellt?“ (ebd.) Als Hauptmann starb, veranstaltete das Staatstheater Dresden eine Gedenkfeier, bei der ebenfalls eine Rose Bernd-Aufführung im Mittelpunkt stand. Der Dank an den Dichter, den der Schauspieler Erich Ponto sprach, betonte die Verbindung zwischen Hauptmann und Dresden und die Auferstehungshoffnung – bezogen auf den Dichter und das zerstörte Dresden. „Besondere Anlässe unserer kulturpolitischen Arbeit sind die Gedenktage, die wir hervorragenden Persönlichkeiten widmen. […] Welcher bürgerliche deutsche Dramatiker der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts auch hervortrat, er konnte nur neben Gerhart Hauptmann genannt werden. Keiner vermochte den Ruf dieses Meisters zu verdunkeln“ (Referentenkonferenz 1962, Unterstreichungen im Original). Der Sitz der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft wurde 1972 nach Westberlin verlegt (Klaus Hildebrandt, Über die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft, http://www.gerharthauptmann-museen.de/gesellschaft.html) [30.05.2007]. Pohl, Gerhart Hauptmann. Sinnbild des deutschen Schicksals [Auszüge aus dem Festvortrag, gehalten im Auftrag des Berliner Senats zu Hauptmanns 90. Geburtstag], in: Zeller (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 9-16, hier: 16.

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zuwenden“544 sei. Nicht ohne Seitenhiebe auf die gleichzeitig vonstatten gehenden Jubiläumsfeierlichkeiten in der DDR rief Pohl die „von Höflichkeit verdeckte geistige ‚Gigantenschlacht’“545 der Sowjets in Erinnerung, die – wie solche Feierlichkeiten zeigen – noch lange nicht ausgefochten war. Auch der Literaturkritiker und Philosoph Ludwig Marcuse beteiligte sich an den Ehrungen: Im Westberliner Schiller-Theater hielt er eine Rede, in der er Hauptmann als den „Einzige[n]“ bezeichnete, der „das Massengrab des Naturalismus“ überlebt habe. Im Anschluss an den nicht unumstrittenen Vortrag, auf den etliche Zuhörer mit „Aufhören!“Rufen reagiert haben sollen, fand im Schiller-Theater die 50. Aufführung der Weber statt.546 Auf positivere Resonanz stieß der bekannteste Hauptmann-Redner zum 90. Geburtstag: Thomas Mann hielt am 9. November 1952 eine Gedenkansprache in Frankfurt/Main, mit der er quasi eine persönliche Tradition fortführte, zumal er bereits Hauptmanns 60. und 70. Geburtstag entsprechend gewürdigt hatte. Selbst der Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer lobte Manns Ansprache als eine „ergreifende, tief erschütternde und tiefheitere Rede“547. In der DDR zeigte die Deutsche Akademie der Künste zu Ostberlin eine Gedächtnisausstellung zum 90. Geburtstag Hauptmanns.548 Darüber hinaus organisierten unzählige Ortsgruppen des Kulturbundes in der ganzen DDR größere und kleinere Gedächtnisfeiern. Die der Bezirksgruppe Chemnitz fand z.B. „im Saale des Altersheimes (Karl-Marx-Platz)“ statt,549 wobei die Ortswahl bereits signalisiert, dass die Werke Hauptmanns vor allem einer Generation am Herzen lagen, deren kulturelle Sozialisation sich noch zu Zeiten des Kaiserreichs vollzogen hatte und die allmählich in die Jahre kam. Der heranwachsenden ‚AufbauGeneration’ fehlte der zeitgeistig-kulturelle, zum Teil nostalgisch bedingte Konnex zu Hauptmanns Werk, was sich in der Rezeptionspraxis zunehmend als Herausforderung auswirken sollte.550 Die meisten Kulturbund-Veranstaltungen dieser Art waren, wie zum besseren Verständnis der Rezeptionssteuerung zu ergänzen ist, keineswegs freiwillig-spontane Festivitäten. Das Bundessekretariat des Kul544 545 546 547

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Ebd. Ebd. Berlin ehrt Gerhart Hauptmann, in: Der Abend (17.11.1952). Hans Mayer, Zu einem Brief Thomas Manns an Gerhart Hauptmanns, in: SuF 4. Jg. 1952) H. 6, S. 9-22, hier: 20. Vgl. Ausstellungsplakat (Berlin, DHM, Inventar-Nr. P 90/1619). Vgl. Ausstellungsplakat (Berlin, DHM, Inventar-Nr. P 90/2184), s. Abb. 1 im Anhang, S. 285. Hilscher kommentiert diese Entwicklung 1987 folgendermaßen: „Heute scheint vor allem die junge Generation keinen rechten Zugang mehr zu Hauptmann zu finden.“ Grund dafür sei u.a. der Umstand, dass Hauptmann kein „obligatorisches Bildungsgut unserer Schulen“ sei (ders., Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier: 3).

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turbundes hatte vorab alle Bezirks- und Kreisleitungen instruiert, „zu diesem Gedenktag Veranstaltungen durchzuführen, die der Würdigung vor allem des dramatischen Schaffens Hauptmanns gewidmet“551 sein sollten. Der kulturelle Dirigismus schloss selbst Verpflichtungen zur Teilnahme552 und Vorgaben über den Veranstaltungsablauf ein: „Diese Feiern sollten außer einem Referat Leseproben aus den Werken Hauptmanns bringen. Als besonders geeignet erscheinen hierfür die Dramen Florian Geyer, Die Weber und Der Biberpelz. Außerdem sollte Die Untat von Dresden verlesen werden, die im Aufbau, Jahrgang 1950, Heft 2, Seite 109, abgedruckt ist. […] Nachfolgend haben wir einige Stellen aus den oben angeführten Werken herausgesucht, die für Lesungen innerhalb der Feierstunden besonders geeignet sind: […]“553 In einer Ostberliner Zeitung erschien außerdem ein Geburtstagsartikel, der Hauptmann unter der Überschrift An das Kommende glauben als einen Visionär feierte, der, „als der Präsident des Kulturbundes ihn mitzuarbeiten aufforderte“, „in Bechers Hand ein[schlug]“.554 Neben dieser Wunschgeste der Tatkraft, zu der der geschwächte Dichter kaum mehr in der Lage gewesen wäre, suggerierte die ausführliche Schilderung von Gor’kijs Hilfsaktion Hauptmanns Sympathie für den Sozialismus und die Sowjetunion. Dass man Hauptmann in die Tagespolitik hineinziehen wollte, verdeutlicht ein Stalin-Zitat vom XIX. Parteitag der KPdSU (Moskau, 5. – 15. Oktober 1952), das als Einschub mitten im Geburtstagsartikel platziert wurde.555

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Brief von Helmut Kaiser an alle Bezirks- und Kreisleitungen des Kulturbundes vom 20.10.1952 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Anweisungen des Kulturbundes hatten ihren Ursprung zumeinst im Kulturministerium. So wurde z.B. das mangelnde Interesse an einer Hauptmann-Referentenkonferenz 1962 heftig gerügt: „Der noch lückenhafte Überblick über die bisher eingegangenen Teilnehmermeldungen bzw. Delegierungen zur Gerhart-Hauptmann-Referenten-konferenz […] läßt erkennen, daß einige Bezirke von dieser im Gerhart-Hauptmann-Jahr 1962 einmaligen Gelegenheit zur Schulung von Vortragsreferenten nur ungenügend nützen [handschriftliche Korrektur in: „bekannt machen“]“ (Schreiben von Abteilungsleiter Kühne an das Bezirkssekretariat des Deutschen Kulturbundes, Entwurf vom 15.05.1962, handschriftlicher Vermerk „Durch Eilboten“, S. 1 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Deshalb wurde dazu aufgefordert, „nochmals alle Bezirke auf die Gerhart-HauptmannReferentenkonferenz besonders hinzuweisen“ (ebd.). „Es ist erwünscht, daß möglichst viele berufene Literaturpropagandisten an der Hauptmann-Ehrung 1962 mitwirken (ebd.). Brief von Helmut Kaiser an alle Bezirks- und Kreisleitungen des Kulturbundes vom 20.10.1952 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Peter Nell, An das Kommende glauben. Der Dichter der Weber an Maxim Gorki. Zum 90. Geburtstag Hauptmanns, in: Bez am Abend (14.11.1952). „Unsere Partei und unser Land brauchten stets das Vertrauen, die Sympathie und die Unterstützung der Brüdervölker jenseits der Grenzen unseres Landes und werden sie immer brauchen. Die Besonderheit dieser Unterstützung besteht darin, daß jede Unterstützung der friedliebenden Bestrebungen unserer Partei seitens einer jeglichen Bruderpartei gleichzeitig die Unterstützung ihres eigenen Volkes in seinem Kampf für die Erhaltung

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Aus der Reihe der zahlreichen weiteren Veranstaltungen, die unkritisch an der staatlich verordneten sozialistischen Eingemeindung Hauptmanns partizipierten, fiel indes die Geburtstagsrede von Ottofritz Gaillard. In seiner im Deutschen Nationaltheater Weimar gehaltenen Rede würdigte der Regisseur und Mitbegründer des Deutschen Theater-Instituts Weimar Hauptmann zwar dafür, dass seine Figuren mit dem erwachenden Bewusstsein der Arbeiterklasse „untrennbar verbunden“ seien,556 schlug ansonsten aber überraschend kritische Töne an. Obschon Hauptmann „schmerzlich unter dem Klassenunrecht“ gelitten habe,557 sei er doch ein „Gefangener der zum Sterben verurteilten Kräfte seiner Klasse und ihrer letzten Endzeit“558 gewesen. Noch dazu habe Hauptmann, so Gaillard in Rekurs auf Mehring, mit Stücken wie Hannele dem „Selbstverrat des bürgerlichen Humanismus“559 Vorschub geleistet und mit Till Eulenspiegel gar ein „grausiges Werk des Antihumanismus“560 verfasst. Im Gegensatz zu Gor’kij, den Gaillard mehrfach zum Vergleich heranzog, habe sich Hauptmann zunehmend auf die „ästhetisierende Lüge von der Vergoldung des grauen Alltags“561 eingelassen und seine gesellschaftliche Verantwortung negiert. Gaillards Geburtstagsrede, die passagenweise einer provozierenden Anklage glich, gipfelte in der „Tragödie Gerhart Hauptmanns“, die dieser in Hauptmanns später Goethe-Kritik ausmachte: Die „beschämenden Verse“ eines im April 1945 entstandenen Gedichts562 sah Gaillard als Indiz dafür, dass „[d]ie bürgerliche Welt nicht imstande war, ihre besten Werte zu bewahren“563. Aus diesem Grunde sei der Arbeiterklasse „die historische Aufgabe zu[gefallen], alle menschlichen Werte der Vergangenheit in ihre Hände zu nehmen […] und sie zu ihrer Waffe zu machen“.564 Damit griff Gail-

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des Friedens bedeutet. J. W. Stalin (Aus der Rede in der Schlußsitzung des XIX. Parteitages der KPdSU)“ (Nell, An das Kommende glauben, in: Bez am Abend (14.11.1952). Ottofritz Gaillard, Gerhart Hauptmann. Vortrag zu seinem 90. Geburtstag, gehalten im Deutschen Nationaltheater Weimar, Weimar 1952, S. 1. Ebd., S. 6. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Ebd., S. 10. „Entschuldige, Goethe, / Ich nenne nicht mehr deine Historie ein Wunder, / Sondern Plunder. / Die Welt ist zu blutig und zu dumm: / Wir kommen um diesen Punkt nicht herum. / Einzelheiten – o Gott – sie schreiten / Unerkannt in Qual und Blöße / Und damit in ihrer Größe. / Ich halte dein Bändchen in der Hand, / O, du ahnungsloser Spießer: / Was ist heute ein Weltgenießer, / Wo der einzige Gedanke der Zeit / Heißt: Vergessenheit!“ Dieses Gedicht, dass Hauptmanns Abkehr von Goethes Weltbürgertum und Humanismus im Angesicht der Europäischen Katastrophe markiert, zeigt, indem es mit dem zeitgeistigen Misskredit Goethes zugunsten Schillers konform geht, wieder einmal Hauptmanns Opportunismus im Umgang mit populären – und das heisst nach 1940 in Deutschland – massiv auf nationalstaatliche Konfrontation ausgelegten Werturteilen (CA, XI, S. 749). Gaillard, Gerhart Hauptmann, S. 23. Ebd.

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lard den Vorwurf einer unzureichenden Erbepflege durch das Bürgertum auf, den Pieck bereits auf der ersten zentralen Kulturtagung der KPD im Februar 1946 vorgebracht hatte.565 Zu guter letzt fand aber auch Gaillards unkonventionelle Rede den Weg zurück zur opportunen Hommage für Hauptmann, in dessen Werken er trotz der zuvor vorgebrachten Einwände einen „großartige[n] klassische[n] Besitz der Nation“ realisiert sah, von dem „unsere Dramatiker“ allerhand lernen könnten.566 Im Kontext der Feierlichkeiten zum 91. Geburtstag Hauptmanns 1953 wurde durch den Westberliner Verein der Freien Volksbühne erstmals der Gerhart-Hauptmann-Preis vergeben, der ein Jahr zuvor initiiert worden war.567 Der westdeutsche Zweig der Volksbühnenbewegung, die in der Nachkriegszeit ihre eigene Teilungsgeschichte durchgemacht hatte,568 wollte mit dem GerhartHauptmann-Preis seine dauerhafte Verbindung mit dem Dichter bekräftigen. Schließlich hatte die Volksbühnenbewegung in den 1880er Jahren dem jungen Hauptmann einst zum Durchbruch verholfen und war wiederum selbst stark von ihm geprägt worden. Der Gerhart-Hauptmann-Preis stellte ein traditionsversicherndes Konsekrationselement dar,569 bei dem es sich de facto um eine Reklamation Hauptmanns für das politisch-kulturelle Selbstverständnis der jungen BRD handelte. Stimmen aus der DDR, die die Einrichtung des Preises als hilflose Geste im Kampf gegen den Erbeverlust zu verunglimpfen suchten, blieben daher nicht aus.570 Der von Siegfried Nestriepke, dem Leiter der Westberliner Freien 565

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Vgl. Wilhelm Pieck, Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Rede auf der ersten zentralen Kulturtagung der KPD in Berlin am 3. Februar 1946, in: ders., Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908-1950, Bd. II, Berlin (Ost) 1952, S. 34-55, hier: 34. Folgende Werke führte Gaillard als „Nationalbesitz“ an: Vor Sonnenaufgang, Einsame Menschen, Die Weber, Der Biberpelz, Florian Geyer, Elga, Fuhrmann Henschel, Michael Kramer, Rose Bernd, Und Pippa tanzt!, Die Ratten, Der Bogen des Odysseus, Dorothea Angermann, Vor Sonnenuntergang (ebd., S. 24). Mit Spendenaufruf, Spendenmarken und „Abgabepfennig“ wurde die Preisgeldkasse gefüllt. Der mit 3.000 DM dotierte Preis ging 1953 an Claus Hubalek für seine Tragikomödie Der Hauptmann und sein Held – eine „Köpenickiade des zweiten Weltkriegs“, in der ein schwächlicher Rekrut durch eine erschwindelte Auszeichnung aufsteigt und in den letzten Kriegstagen durch amerikanische Gefangennahme vor der Exekution gerettet wird (Florian Kienzl, Zwischen Lachen und Gruseln. Der Hauptmann und sein Held von Claus Hubalek, in: Der Tag, 19.01.1954). 1947 gründete sich die Berliner Volksbühne im Stammhaus am Ostberliner Luxemburgplatz neu (Siegfried Nestriepke, Neues Beginnen. Die Geschichte der Freien Volksbühne Berlin 1946 bis 1955, Berlin 1956, S. 27-32). Aufgrund von Kriegsschäden musste das Theater am Schiffbauerdamm bis 1954 als Ausweichstätte dienen. Der Westberliner Gegenpart, die Freie Volksbühne, nutzte zwischen 1949 und 1962 das Theater am Kurfürstendamm als Spielstätte (ebd., S. 231 f.). Vgl. http://www.lustaufkultur.de/ueberuns/geschichte/gesch06.html (07.04.2007). Zur festlichen Preisverleihung 1954 war zu lesen: „Auf die mit Blumen und Lorbeerbäumen überreich geschmückte Bühne trat zuerst Robert Lindner und las einen Abschnitt aus einer Festrede, die Hauptmann zum 40. Gründungstag der Freien Volksbühne 1930 gehalten hat. Hier wurde wiederum deutlich, wie weit sich die Volksbühne im Laufe der

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Volksbühne, angeregten Neuauflage571 des Preises kam in der BRD der 1950er Jahre als Medium der Nachwuchsförderung einige Bedeutung zu.572 Ziel war es, „junge Autoren zu fördern und das demokratische Schaffen anzuregen“573. Bei der Bewertung der eingesandten Stücke wurde entsprechend darauf geachtet, dass diese „[e]in Bekenntnis zu der Würde des Menschen, zur sozialen Gerechtigkeit und zum Streben nach Freiheit […] ausstrahlen“574. Die ersten mit dem GerhartHauptmann-Preis ausgezeichneten Stücke besaßen in ihrer oftmals politisch gefärbten Thematik durchaus den nicht nur im Osten gefragten Zeitstückcharakter, damit aber auch öffentliches Konfliktpotenzial.575 Beispielsweise wurde dem 1954 ausgezeichneten Stück Generationen576 von Gert Weymann vorgeworfen, Hauptmanns Andenken zu besudeln:

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Jahre von den Ideen, Idealen und insbesondere der Praxis ihrer Begründer entfernt hat. Doch dürfte wohl das Bewusstsein der Entfernung vom ursprünglichen Sinn und Zweck der Freien Volksbühne dazu beigetragen haben, den Gerhart-Hauptmann-Preises für junge deutsche Dramatiker zu schaffen“ (Kurt Habernoll, Gerhart-Hauptmann-Preis verliehen. Eine Feierstunde am Kurfürstendamm, in: Die Neue Zeitung, Berlin [16.11.1954]). Die ursprünglich erstmals 1925 vergebene Auszeichnung war in der Weimarer Republik – so Hans Daiber – „kein repräsentativer Preis“ (ders., Gerhart Hauptmann, S. 231). Vgl. z.B.: „Ist diese Auszeichnung einer jener vielen Preise, die gegenwärtig zur Verteilung gelangen? Oder kommt ihm eine Sonderstellung zu? Nun, der Gerhart-HauptmannPreis ist rasch populär geworden, und die jährliche starke Anteilnahme beweist, dass hier eine Einrichtung entstanden ist, die durchaus einen praktischen wie verdienstvollen Zweck erfüllt. Immerhin gab sie uns Gewissheit in einem Punkt: der vielgeschmähte und schon totgesagte deutsche Bühnenautoren-Nachwuchs kann sich durchaus sehen lassen“ (H. W. Corten, Wozu Gerhart-Hauptmann-Preis? Eine Auszeichnung, die immer mehr von sich reden macht, in: Welt am Sonntag [25.11.1956], S. 18). Volksbühne verlieh Hauptmann-Preis, in: Nacht-Depesche, Berlin (14.11.1955). Preisträger der Volksbühne. NWDR-Autor Leopold Ahlsen erhielt den GerhartHauptmann-Preis, in: Hamburger Echo (14.11.1955). Beispielsweise arbeitete Stefan Barcava mit Die Gefangenen seine Leidenszeit in russischer Gefangenschaft auf (2. Platz, 1953; vgl. Der Gerhart-Hauptmann-Preis. Zum erstenmal verliehen von der Freien Volksbühne, in: Der Tag, 17.11.1953). Leopold Ahlsens Schauspiel Philemon und Baukis thematisierte den Partisanenkrieg im Griechenland des Jahres 1944. Das alte Ehepaar der antiken Sage lässt verwundeten deutschen Soldaten seine Gastfreundschaft zugute kommen und wird dafür von den Partisanen gehängt (vgl. u.a. Hauptmann-Preis für Leopold Ahlsen, in: Der Tagesspiegel, 15.11.1955). Joachim Wichmanns Zeitstück Wenn der Weg endet adaptierte die Heimkehrerthematik auf eine aus Russland zurückkehrende Frau, deren Mann im Begriff ist, eine neue Ehe einzugehen. (Vgl. insgesamt: Presseinformation zum Gerhart-Hauptmann-Preises der Freien Volksbühne 1955; H. Grothe, Dramatische Hoffnungen? Die Träger des Berliner Gerhart-Hauptmann-Preises, in: Deister- und Weserzeitung, Hameln, 15.11.1955). Im Mittelpunkt des Stücks steht das Karrierestreben eines ehemals nationalsozialistischen Gymnasialprofessors, der mittels neuer Parteikontakte seine Beförderung in Angriff nimmt. Der Skandal um seinen verschollenen, im Zweiten Weltkrieg zum Kameradenmöder gewordenen Sohn behindert dieses Vorhaben. Als der Sohn unverhofft heimkehrt, beobachtet er angewidert die Renormalisierungsfarce und geht schließlich ins Ausland. Im Theater der Zeit wurden z.B. die „bewußtseinsmäßigen Unklarheiten des Autors“ und die in der „mangelnden Parteinahme“ liegende „grundsätzliche Schwäche“ von Generationen bemängelt. Allerdings erkannte man in dem Stück gleichfalls einen „kleine[n] Ansatz“ zur Befreiung der „westdeutschen Dramatik“ von der „Überfremdung durch die westliche ausländische Dekadenz“ (Martin Linzer, Generationen von Gert Weymann im Theater am Kurfürstendamm Berlin, in: TdZ, [1955], H. 4).

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„[…], dass die Freie Volksbühne Berlin sich nicht geschämt hat, den Namen eines unserer großen deutschen Dichter, den Namen Gerhart Hauptmanns, dadurch zu schänden, dass sie Weymann für dieses Machwerk einen Preis verlieh, der Gerhart-Hauptmann-Preis genannt wird. Derart ist dieser Dichter wohl noch nie mit Schmutz beworfen worden.“577 Schädlicher für den Ruf des Gerhart-Hauptmann-Preises bzw. des Dichters selbst war jedoch der Skandal um den „Hitlerjugend- und SA-Dichter“578 Hans Baumann, der sich unter einem Pseudonym mit dem Stück Im Zeichen der Fische erfolgreich um den Preis beworben hatte. Noch peinlicher war, dass in der Aufregung um den Verfasser des SA-Liedes Es zittern die morschen Knochen bekannt wurde, dass der Leiter der Kommission zur Verleihung des Preises, Prof. Hans Knudsen, „im Dritten Reich durch Publikationen zum NS-Theater und als Theaterwissenschaftler penetrant im gleichen Sinne aktiv geworden war“579. 1959 fiel daraufhin die Preisverleihung ins Wasser, und Knudsen nahm seinen Hut. Das nächste wichtige Datum im Hauptmann-Festkalender markierte der 100. Geburtstag, der 1962 auf beiden Seiten der Mauer feierlich begangen werden sollte. Die Planungen für das Centenarium setzten in der DDR im Sommer 1961 ein,580 gerieten jedoch mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 mehrfach ins Stocken. Ende Oktober 1961 schlug der Kulturbund dem Deutschen Friedensrat581 vor, Hauptmanns Geburtstag als „kulturelle[n] Gedenktag der Weltfriedensbewegung“582 zu feiern, worauf der Kulturbund seinerseits beim Kulturministerium anregte, zur „Vorbereitung und Koordinierung aller Vorhaben“ ein „Gerhart-Hauptmann-Komitee der DDR“ zu bilden.583 Was aber an

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Friedrich Fast, Spekulationen eines Faschisten. Generationen im Theater am Kurfürstendamm, in: Deutsche Zeitung Berlin (27.2.1955). Vgl. z.B. Nazi-Poet spielte den Nachwuchsautor. Berlins Volksbühne zieht Preis für den Texter des NS-Liedes Es zittern die morschen Knochen zurück, in: Süddeutsche Zeitung (25.11.1959); M.S., Nicht im Sinne Gerhart Hauptmanns. Die Hintergründe der abgesagten Preisverteilung, in: Die Welt (24.11.1959); F. R., Beschämend und feige! „Hauptmann-Preis“ – nicht für Baumann? In: BZ (23.11.1959). H. G. Sellenthin, Zum zehnten Male Gerhart-Hauptmann-Preis, in: Berliner Allgemeine Wochenzeitung der Juden (20.04.1962). Das NSDAP-Mitglied Knudsen hatte in der NSZeit am Institut für Theaterwissenschaft der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Karriere gemacht und dessen Begründer Max Hermann als Leiter ersetzt, der 1942 im KZ Theresienstadt umkam. Vgl. Brief des Bundessekretärs des Kulturbundes Henninger an Prof. Dr. Henrik Becker von der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 24.10.1961 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Die 1949 gegründete, seither mehrfach umbenannte Organisation nannte sich ab 1963 Friedensrat der DDR. Brief des Bundessekretärs des Kulturbundes Henninger an Prof. Dr. Henrik Becker von der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 24.10.1961 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Brief des 1. Bundessekretär Karl-Heinz-Schulmeister an Staatssekretär Erich Wendt (Ministerium für Kultur) vom 10.11.1961 (SAPMO – BArch, DY 27/167).

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Hauptmann-Feierlichkeiten und Mitglieder-Spektrum584 des Komitees angedacht war, begann kurz darauf aus dem Ruder zu laufen: So verschob sich – trotz ungeduldiger Nachfragen585 – die Gründung des Komitees erheblich. Aus Meldungen des Kulturdienstes der DDR-Nachrichtenagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (adn) geht hervor, dass die „erste Beratung des Gerhart-HauptmannKomitees der DDR“ schließlich erst am 27. August 1962 im Foyer der Volksbühne am Luxemburgplatz stattfand.586 Im Faktum der Zusammenkunft bildet sich – nach der durch den Mauerbau ausgelösten Konfusion der politischen sowie kulturpolitischen Deutungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata – aber auch eine zentrale Etappe im allgemeinen Konsolidierungsprozess ab. In den Wirren des Spätsommers 1961 waren Hauptmann und dessen bevorstehendes Centenarium zunächst von nachgeordneter bzw. unklarer Bedeutung gewesen. Nachdem eine neue Normalität ansatzweise etabliert worden war, griff man 1962 den Hauptmann-Geburtstag mit zielgerichteter Verve erneut auf: Er bot die Gelegenheit zu kulturnationaler Repräsentation und zur Kontinuitätsbezeugung. Wenige 584

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„Neben hervorragenden Persönlichkeiten des Theaterlebens (Prof. Langhoff, Prof. Heintz, Prof. Rodenberg, Gen. Bork, Gen. Ihering u.a.) und der Literatur (Arnold Zweig, Anna Seghers, Prof. Hans Mayer u.a.)“ sollten auch Vertreter der kulturpolitischen Elite dem Gerhart-Hauptmann-Komitee angehören. Diese waren Heinz Schnabel (stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst), Max Burghardt (Vorsitzender des Deutschen Kulturbundes) und Karl-Heinz Schulmeister (Erster Bundessekretär des Deutschen Kulturbunds); außerdem sollten Hans Bentzien, seit 1961 Kulturminister, sowie dessen Vorgänger im Amt, Alexander Abusch – damals stellvertretender Ministerpräsident der DDR –, und der TdZ-Redakteur Rainer John mit von der Partie sein (Kühne [Abteilung Kunst und Literatur des Kulturministeriums], Notiz: Rücksprache mit Kollegen Elsholz, Ministerium für Kultur, Abteilung Literatur und Buchwesen am 19.01.1962 wegen der Gerhart Hauptmann-Ehrung in der DDR, 26.01.1962, S. 1 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). „Ich erwiderte, daß langsam aber sicher die Zeit drängt, daß von Görlitz bis Putbus schon allerhand geschieht, […]“ (Kühne, Notiz: Rücksprache mit Kollegen Elsholz am 15.06.1962 zu Fragen Gerhart Hauptmann-Komitee vom 19.06.1962 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Indessen beklagte sich der Bundessekretär des Kulturbundes bei Kulturminister Bentzien darüber, dass auf „wiederholte Anfragen […] uns zwar geantwortet [wurde], daß diese Vorschläge berücksichtigt worden seien, daß aber das Komitee selbst aus verschiedenen Gründen noch nicht gebildet werden konnte“ (Brief von Bundessekretär Henniger an Bentzien vom 22.06.1962 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Deshalb regte er für den Fall an, dass „das Ministerium gehindert sein [sollte], die ersten Schritte zur Bildung des Komitees und zur Arbeit seines Sekretariats zu tun“, zu prüfen, „ob nicht die Initiative zur Bildung des Komitees vom Präsidenten des Deutschen Kulturbundes, Professor Max Burghardt, ausgehen sollte“ (ebd.). Ende Juli 1962 wurde diskutiert, wer für die eklatanten Verzögerungen verantwortlich sei: „Genosse Staatssekretär Wendt erklärte auf meine Frage, daß im Minisiterium für Kultur der Abteilung Theater, Genossen Bork, die Aufgabe der Bildung des Hauptmann-Komitees übertragen wurde. Auf meinen Einwand, daß sich nichts tue, daß auch Genosse Dr. Piens auf entsprechende Schritte warte, obwohl inzwischen entsprechend dem ursprünglichen Maßnahmenplan vielerorts sich schon Aktivität regt, entgegnete Genosse Wendt, daß schon auf den Brief des Genossen Henniger an Minister Bentzien die Abteilung Theater aufgefordert worden sei, zu handeln“ (Kühne, Notiz: Rücksprache mit Genossen Staatssekretär Wendt und Genossen Werner Baum 20.07.1962 wegen Gerhart Hauptmann-Komitee vom 21.07.1962 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Pressespiegel vom 27.08.1962 (SAPMO – BArch, DY 27/167).

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Wochen nach der ersten Zusammenkunft des Komitees wurde in diesem Sinne eine Erklärung publik gemacht, „in der Leben und Werk Gerhart Hauptmanns umfassend eingeschätzt“587 wurden. Diese Erklärung des Komitees ist von besonderer Bedeutung, da sie in der vorgenommenen Kontextuierung von Hauptmanns Schaffen den Fokus der damaligen Hauptmann-Wahrnehmung zu erkennen gibt.588 Hauptmanns Wert für die DDR wurde wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit – und mit weitgehend identischen Argumenten589 – daran festgemacht, dass er sich gegenüber Becher, dem „Abgesandte[n] des Neuen Deutschland“, bereit erklärt habe, „an der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuwirken“.590 Die hiermit zum Staatsbesuch stilisierte Anwerbungsaktion lässt die Eigenlogik kulturpolitischen Denkens erkennen: Arbeit am Kulturerbe hat über das kulturelle Feld hinaus immer eine dezidiert politische Implikation. Gerade vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz öffnete sich der Handlungsraum der Kultur nahezu zwangsläufig zur Sphäre symbolischer Politik. Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass die DDR gerade zu diesem Zeitpunkt ihren (vermeintlichen) Anspruch auf Hauptmann verteidigte:

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„Auszugsweise Abschrift aus Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst“ – Kulturdienst – (Jg. 1962/Nr. 256, Bl. 5 – 14.09.1962), S. 1 / 707: Erklärung des Gerhart HauptmannKomitees der DDR) (SAPMO – BArch, DY 27/167). „In den Jahren, da die deutsche Arbeiterbewegung ihre Kräfte erprobte, bewies sich seine Gestaltungskraft in dem Schauspiel Vor Sonnenaufgang und steigerte sich in den Webern und im Biberpelz zu realistischen Meisterwerken. Mit diesen Dramen, die eine starke sozialkritische Wirkung auf breite Schichten des Volkes ausübten, trug er unmittelbar zu Klärung der Klassensituation in Deutschland bei und verhaf [sic!] zugleich der realistischen Theaterkunst zu neuem Aufschwung. Der Einfluß, den der Opportunismus in der Arbeiterbewegung gewann, erschwerte der Intelligenz eine konsequente, demokratische Entwicklung. Hauptmann blieb mit Werken wie Fuhrmann Henschel, Rose Bernd und den Ratten seinem Schaffensprinzip treu, Menschen aus dem Volke lebenswahr zu gestalten. Er vermochte jedoch nicht den Weg Gorkis zu gehen, der, mitgerissen von der russischen revolutionären Arbeiterbewegung, den sozialistischen Realismus begründete“ (ebd.). Dass Hauptmann hinter Gorki zurückstehen musste, entsprach der sozialistischen Kulturhierarchie mit ihrer sowjetischen Fortschrittlichkeitshegemonie. So wurde sein Eintreten für ein „friedliches Zusammenleben aller Völker“ unter dem Hinweis betont, dass er „mit einem Aufruf die junge Sowjetmacht [unterstützte], als Russland 1921 durch die Raubzüge der Interventen von einer Hungersnot betroffen war“ (ebd., S. 2 / 708). Darüber hinaus habe er in dem Requiem Die Finsternisse, dem Versepos Der große Traum und der Atriden-Tetralogie „seinen inneren Protest gegen die faschistische Herrschaft [gestaltet]“ (ebd.). Auch die sozialistische Legende von der agitatorischen Intention des Weber-Dichters wurde rekapituliert und Hauptmann als Wegbereiter des sozialistischen Realismus dargestellt: „Damit stellte Hauptmann die Literatur und das Theater in den Dienst der entscheidenden Auseinandersetzung seiner Zeit und leistete einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des sozialistischen Realismus: Zum ersten Mal erschien auf der Bühne eine gemeinsam handelnde Gruppe proletarischer Helden. […] Die große Anteilnahme der deutschen Arbeiterklasse am Theaterleben datiert aus dieser Zeit“ (ebd., S. 3 f. / 710). Ebd., S. 3 / 709.

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„Sein Werk ist zum Bestandteil unserer sozialistischen Nationalkultur geworden. […] In der Deutschen Demokratischen Republik haben der Dichter und sein Werk ihre Heimstatt gefunden.“591 Das Gerhart-Hauptmann-Komitee bekräftigte mit diesen Schlusssätzen seiner Erklärung ausdrücklich das kulturelle Sendungsbewusstsein der DDR, Gralshüter und rechtmäßiger Erbe von Hauptmann zu sein. Zahlreiche Festaktivitäten wurden infolge für Hauptmanns 100. Geburtstag auf die Beine gestellt – ein Privileg, das den Jubilaren Georg Trakl und Georg Heym 1962 nicht widerfuhr.592 Ein Ergebnis der Komitee-Bemühungen war so z.B. die Durchführung einer „Festwoche“ in Ostberlin (14. – 21. November 1962), an der sowohl das Märkische Museum, die Deutsche Akademie der Künste wie auch etliche Theater und Schauspielvereine beteiligt waren.593 Bei der Eröffnung der Feierlichkeiten im Märkischen Museum wurde der DEFA-Dokumentarfilm Gerhart Hauptmann zum 100. Geburtstag uraufgeführt. Während des Festaktes in der Volksbühne am Luxemburgplatz hielt der ehemalige Kulturminister Alexander Abusch in seiner Funktion als Vorsitzender des Gerhart-Hauptmann-Komitees eine für die weitere Hauptmann-Rezeption in der DDR programmatische Rede, auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Aber auch außerhalb der DDR-Hauptstadt wurden Veranstaltungen durchgeführt, die Hauptmann landesweit als kulturelle Gallionsfigur des sozialistischen Deutschlands positionieren sollten. So war etwa in der Orangerie von Putbus anlässlich des Geburtstages eine Ausstellung über „Gerhart Hauptmann und das Theater“ zu sehen.594 Eine „bescheidene Ausstellung mit Andenken an Gerhart Hauptmann“ wurde selbst auf dem Wiesenstein gezeigt – in Verbindung mit einer Gedenkfeier in Jelenia Góra, „auf der neben Vertretern der polnischen Kultur auch Gäste aus der DDR den Dichter würdigten“.595 Polnische Künstler und Ensembleangehörige des Görlitzer GerhartHauptmann-Theaters lasen bei dieser Feier aus Hauptmanns Werken.596 Wenngleich darüber hinaus in der Volksrepublik Polen „der Ertrag dieses Gedenkjahres recht gering“ gewesen sein soll, boten Ausstellung und Gedenkfeier doch einen

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Ebd., S. 4 / 710. Aufgrund ihres in der DDR verfemten Expressionistenstatus widerfuhr weder Trakl noch Heym zum 75. Geburtstag 1962 eine vergleichbare Ehrung, vgl. Dieter Schlendstedt, Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus im Literaturkanon der DDR, in: Dahlke/ Langermann/ Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR, S. 33-103, hier: 73 f. Vgl. Veranstaltungsplakat (Berlin, DHM, Inventar-Nr. P 90/1620). SAPMO – BArch, DY 27/167 Stroka, Gerhart Hauptmann, in: Kuczyński/ Sprengel (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 167181, hier: 172. Ebd.

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Anlass, die kulturelle Verbindung der ‚Bruderstaaten’ zu betonen.597 Über weitere Feiern auf Hiddensee und Rügen wurde in der Neuen Zeit unter der Überschrift „Heiterkeit und Zukunftsglaube“598 berichtet – worin einerseits Hauptmanns Lebensmotto der festivitas, aber andererseits auch Erwartungen an einen weiter voran schreitenden sozialistischen Aufbruch anklungen. Das in diesem Artikel wiedergegebene Gästespektrum der Feier im Haus Seedorn bietet ein gutes Beispiel für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung, die dem Centenarium beigemessen wurde: Nicht nur Kunstinteressierte und „Freunde Gerhart Hauptmanns, unter ihnen die hochbetagte Witwe des unvergessenen ‚Inselpastors’“ waren zugegen, sondern auch „Vertreter des Staates“ und der „Nationalen Front“.599 Der Theaterdienst verkündete, dass selbst das kleine „Elbe-Elster-Theater Wittenberg eine literarisch-musikalische Feierstunde“ veranstaltete, wobei betont wurde, dass diese, zusammen mit dem Kulturbund veranstaltete „Hauptmann-Feierstunde auch in einigen Orten des Kreises Wittenberg und in der Farbenfabrik Wolfen durchgeführt“ würde.600 Die gesellschaftsübergreifende Dimension und Allgegenwärtigkeit der Hauptmann-Pflege sollte mit derartigen Meldungen zum Ausdruck gebracht werden. Einige Städte nahmen das Hauptmann-Jahr in diesem Sinne sogar zum Anlass, Straßen nach Hauptmann zu benennen.601 In den Zeitungen wiesen Schlagzeilen wie etwa Lebendige Hauptmann-Pflege602, Dichterkönig des Volkes603 oder Sein Herz schlug für das Volk604 auf das Centenarium hin. Außerdem erschien 1962 im Aufbau-Verlag605 eine achtbändige Ausgabe von Ausgewählten Werken Hauptmanns,606 wie auch eine von Tschörtner „für die Jugend“ heraus-

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Stroka erwähnt die Aufführung des Hamlet in Wittenberg in Szczecin (Stettin) im Rahmen eines Kulturaustausches mit Rostock und die Übersetzung von Beiträgen Thomas Manns und Hans Mayers über Hauptmann ins Polnische (ebd., S. 167-181, hier: 172). RDM, Heiterkeit und Zukunftsglaube. Gerhart-Hauptmann-Ehrungen auf Hiddensee und Rügen, in: NZ (19.06.1962). Ebd. Theaterdienst (Nr. 46) vom 10.11.1962 (SAPMO – BArch, DY 27/167). Vgl. z.B. Volksstimme Halberstadt (12.11.1962) (SAPMO – BArch, DY 27/167). Alexander Münch, Lebendige Hauptmann-Pflege, in: Die Union (14.11.1962). „Dichterkönig des Volkes“ Aus einem Essay von Prof. Dr. Hans Mayer – zum 100. Geburtstag von Gerhart Hauptmann, in: Die Union (14.11.1962). Tschörtner, Gerhart Hauptmann zum 100. Geburtstag. Sein Herz schlug für das Volk, in: BZ (15.11.1962). Vgl. insgesamt bibliografische Angaben von: Praschek, Hauptmann-Forschung in der DDR – zur Sekundärliteratur in unseren Verlagen, in: Referentenkonferenz 1987, S. 5261. Hans Mayer (Hg.), Gerhart Hauptmann. Ausgewählte Werke, Bd. 1: Vor Sonnenaufgang, Das Friedensfest, Bd. 2: Der Biberpelz, Der rote Hahn; Bd. 3: Rose Bernd, Und Pippa tanzt!, Bd. 4: Der weiße Heiland, Indipohdi; Bd. 5: Der Narr in Christo Emanuel Quint; Bd. 6: Atlantis, Im Wirbel der Berufung; Bd. 7: Das Abenteuer meiner Jugend; Bd. 8: Erzählungen, Berlin (Ost) 1962. Bei der Ausgabe von 1962 handelt es sich um eine Vereinigung der jeweils vierbändigen Werksammlungen von 1952 und 1956, wobei

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gegebene Auswahl aus Hauptmanns Gedichten607 und ein Arbeitsmaterial für das Vortrags- und Veranstaltungswesen608. Der Theaterwissenschaftler Rolf Rohmer, der letztgenanntes Kulturbund-Arbeitsmaterial zusammengestellt hatte, veröffentlichte außerdem eine populäre Bildbiografie über Hauptmann.609 Hinter dem Feuerwerk an Hauptmann-Feierlichkeiten in der DDR konnte die BRD nicht zurückstehen: Auch hier fand 1962 eine Vielzahl an Veranstaltungen zu Ehren des Centenariums statt, von denen nur die wichtigsten schlaglichtartig erwähnt werden sollen. Beispielsweise sei auf die Jahrhundertfeier für Hauptmann in Köln (15. – 21. November 1962)610 sowie auf die Gedächtnisausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar611 verwiesen. Außerdem schaffte es Hauptmann als Titelgeschichte in den für die BRD der 1960er Jahre durchaus als neues Leitmedium des politischen Journalismus zu bezeichnenden Spiegel. Ein Elf-Seiten-Bericht rekapitulierte dort die verworrene Geschichte des Nachlasses und zollte dem „Gedenkauftrieb“ Tribut.612 Die westdeutsche Schallplattenfirma Electrola brachte zu Hauptmanns 100. Geburtstag sogar dessen Stimme wieder zum Ertönen: Aufzeichnungen aus der „früheren Reichsrundfunk-Gesellschaft“ sollten den „Poeten Hauptmann ebenso zeig[en] wie den Erzähler und den eng mit dem politischen Geschehen verbundenen deutschen Dramatiker“.613 Den Glanzpunkt aller Ehrungsbemühungen und Veröffentlichungen in der BRD stellt jedoch das Erscheinen der großen

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als DDR-Erstdruck Die Finsternisse hinzugefügt wurden (vgl. Wenzlaff, Gerhart Hauptmanns Werk, in: Referentenkonferenz 1987, S. 46-51, hier: 48 f.). Gerhart Hauptmann, Auswahl für die Jugend. Ausgewählt und mit einer Einleitung versehen von H. D. Tschörtner, Berlin (Ost) 1962; Tschörtner, Gerhart Hauptmann. Ein bibliographischer Beitrag zu seinem 100. Geburtstag, Berlin (Ost) 1962. Rolf Rohmer, Gerhart Hauptmann 1862-1962: Ein Arbeitsmaterial für das Vortrags- und Veranstaltungswesen. Auswahl der Proben und Zitate in Zusammenarbeit mit Rolf Rohmer, Berlin (Ost) 1962. Ders., Gerhart Hauptmann. Sein Leben in Bildern, 1. Auflage Leipzig 1958. Vgl. Dokumentationsband: Jahrhundertfeier für Gerhart Hauptmann 15.-21. November 1962. Veranstaltet von der Stadt Köln in Verbindung mit der Gerhart HauptmannGesellschaft, der Bundesregierung und dem Lande Nordrhein-Westfalen (Red. Kurt Hackenberg, Helmut May, Ruprecht Gier), Köln 1962. Vgl. Dokumentationsband: Bernhard Zeller (Hg.), Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Eine Gedächtnisausstellung des Deutschen Literaturarchivs zum 100. Geburtstag des Dichters im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 13. Mai bis 31. Oktober 1962; im Overstolzenhaus der Stadt Köln vom 15. November bis 16. Dezember 1962, Stuttgart 1962. Hauptmann-Nachlass. Ungeheures durchgemacht, in: Der Spiegel, Nr. 17 (25.04.1962), S. 56-69, hier: 56. Anzeige auf der Rückseite des Programmzettels der Freien Volksbühne zur Verleihung des Gerhart-Hauptmann-Preises 1962 (17.11.1962). Stolz wurde in der Werbung verkündet: „Es ist das erste Mal, dass eine Schallplatte die Stimme Gerhart Hauptmanns wiedergibt“ (ebd.).

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Werkausgabe, der so genannten Centenarausgabe, dar.614 Die Anfänge der Centenarausgabe reichen bis um 1960 zurück, als Benvenuto Hauptmann die Rechte am Werk seines Vaters dem Propyläen Verlag übertrug, um dieses der Öffentlichkeit endlich mittels einer „verläßlichen Leseausgabe“ zugänglich zu machen.615 Aufgrund der Fülle von Hauptmann-Werken konnten 1962 jedoch nur zwei Bände der Centenarausgabe von Hans-Egon Hass (Freie Universität Berlin) herausgegeben werden. Nach dessen Tod 1969 setzte Martin Machatzke die Arbeit am Editionsprojekt fort, so dass schließlich 1974 der elfte und letzte Band erscheinen konnte.616 Bemerkenswert erscheint, dass zur Erstellung der Centenarausgabe zudem auf in der DDR befindliche Unterlagen zurückgegriffen werden konnte.617 Die Bemühungen um Hauptmann – bei aller Konkurrenz in der Vollstreckung des Erbes – bildeten somit eine Art deutsch-deutsche Brücke. So erfuhr das Erscheinen der Centenarausgabe auch von DDR-Germanisten wie Tschörtner Anerkennung als „ein literarisches Ereignis ersten Ranges“618, obschon sie alle DDR-Editionen in den Schatten stellte. Wie Paul-Gerhard Wenzlaff vom AufbauVerlag 1987 eingestand, sei angesichts der Centenarausgabe die DDR-Version der Ausgewählten Werke in acht Bänden „kaum noch auf[zu]legen“619. Das im Kontext des Centenariums gegründete Gerhart-HauptmannKomitee der DDR blieb nicht das einzige (erfolglose) Unterfangen, die Hauptmann-Pflege zu institutionalisieren. Nachdem sich im Kulturbund 1954 ein Thomas-Mann-Arbeitskreis konstituiert hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Gründung eines Gerhart-Hauptmann-Arbeitskreises in Erwägung gezogen wurde. Aus Kulturbund-Akten geht hervor, dass dieser Zeitpunkt Ende der

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Die Centenarausgabe war wesentlicher Gegenstand der internationalen GerhartHauptmann-Tagung, die Anfang März 1962 in Westberlin stattfand. Bei dieser Gelegenheit vollzogen die bis dato verfeindeten Parteien im Streit um den Hauptmann-Nachlass – Benvenuto Hauptmann und Carl Haensel einerseits sowie Behl, Voigt und Pohl andererseits – eine versöhnliche Annäherung (Hauptmann-Nachlass, in: Der Spiegel, Nr. 17 [25.04.1962], S. 56-69, hier: 66, 69). Martin Machatzke, Editorisches Nachwort, in: CA, XI, S. 1283-1331, hier: 1283. Insgesamt erhob die Centenarausgabe keinen Absolutheitsanspruch, sondern wollte als ein „bestimmte[r] Ausschnitt aus der Geschichte der Edition und Rezeption Hauptmanns“ gelten (ebd., S. 1290). „Die Akademie der Künste der DDR in Berlin erlaubte wie schon für Band VIII so auch für Band XI die Benutzung ihres Gerhart-Hauptmann-Archivs. Das Märkische Museum machte dem Herausgeber die Bestände seiner Gerhart-Hauptmann-Gedächntnis- und Forschungsstätte zugänglich“ (ebd., S. 1330). Laut Tschörtner ist die Centenarausgabe „eine wissenschaftlich fundierte und umfassende, den Nachlaß weitestgehend präsentierende Ausgabe, wie sie nur wenigen Autoren des 20. Jahrhunderts zuteil wurde“ (Tschörtner, Veröffentlichungen aus dem Nachlaß Gerhart Hauptmanns, in: Referentenkonferenz 1987, S. 34-46, hier: 41, 44). Wenzlaff, Gerhart Hauptmanns Werk, in: ebd., S. 46-51, hier: 50.

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1960er Jahre erreicht war: Eine maßgeblich von H. D. Tschörtner620 geprägte Gründungsinitiative wurde dort wohlwollend aufgenommen, zumal es sich bei Hauptmann um den ersten Ehrenpräsident des Kulturbundes handelte.621 Ende September 1970 wurde ein Strategiepapier mit „Vorschlägen für Aufgaben und Arbeitsweise eines Gerhart-Hauptmann-Arbeitskreises im Deutschen Kulturbund“ vorgelegt. Das Konzept sah vor, das literarische Werk Hauptmanns „als ein Paradigma – im Positiven wie im Negativen – für bestimmte Probleme dieser Zeit“622 in den Mittelpunkt intensiver Reflexionen zu stellen. Zu diesem Zweck sollte eine enge „Verbindung zu Theatern“ gesucht werden, „die repräsentative Beispiele für eine kritisch-schöpferische Hauptmann-Pflege gegeben haben“.623 Doch musste man eingestehen, dass diese Beispiele bereits Jahre zurück lagen und somit von einer kontinuierlichen Werkexegese nicht die Rede sein konnte. Hier sah man im Arbeitskreis einen entsprechenden Bedarf, „darauf hinzuwirken“, dass die DDR-Bühnen – insbesondere das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau und das Staatsschauspiel Dresden – „sich ihrer besonderen Verpflichtung für Gerhart Hauptmann bewusst werden“.624 Aus der schlechten Rezeptionslage wurde – unter Bezugnahme auf Piecks Grabrede und die in ihr artikulierte Verpflichtung zur Verbreitung von Hauptmanns Werk – somit erst recht eine Existenzberechtigung des Arbeitskreises abgeleitet: „Aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt aus der Situation der Werkrechte heraus, konnte Hauptmann bisher nicht in wünschenswertem Umfang zum geistigen Besitz unserer Bürger werden. Hier liegt eine bedeutende kulturpolitische Aufgabe für den anlässlich Hauptmanns 25. Todestag gebildeten Arbeitskreis des Kulturbundes.“625 Mit Blick auf besagten 25. Todestag Hauptmanns, der am 6. Juni 1971 bevorstand, sollte der Arbeitskreis „die Rolle eines gesellschaftlichen Partners“ der Theater sowie Gedenkstätten bzw. Museen übernehmen und hierdurch die 620

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Involviert waren ebenfalls die Hauptmann-Experten Gustav Erdmann, Alfred Dreifuss, Rolf Rohmer, Erich Ebermayer, Karl S. Guthke und Walter A. Reichart (SAPMO – BArch, DY 27/2623). „Da Gerhart Hauptmann seine Bereitschaft bekundet hat, im Deutschen Kulturbund mitzuwirken und erster Ehrenpräsident des Kulturbundes war, erscheint es opportun, daß das Präsidium einen Aufruf zur Gründung eines Zentralen Arbeitskreises Gerhart Hauptmann erlässt“ (Aktennotiz über das Gespräch mit Tschörtner über die Bildung eines Zentralen Arbeitskreises Gerhart Hauptmann am 20.08.1970, gez. Haines, Berlin, 21.08.1970, S. 1 f. [SAPMO – BArch, DY 27/6272]). Entwurf: Vorschläge für Aufgaben und Arbeitsweise eines Gerhart-HauptmannArbeitskreises im Deutschen Kulturbund (24.09.1970), S. 1 (SAPMO – BArch, DY 27/6272). Ebd. Ebd., S. 2 f. Ebd.

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Hauptmann-Rezeption unterstützen.626 Im Sinne der Ausgestaltung des offiziösen Hauptmann-Bildes selbst aktiv werden wollte man durch die Konzeption und Organisation von „Vorträge[n], Literaturgespräche[n], literarisch-musikalische[n] Veranstaltungen, Referentenkonferenzen, wiss. Kolloquien usw.“627 Darüber hinaus beabsichtigte man laut Konzept, direkte Kontakte zu „Persönlichkeiten und Institutionen“ des Kulturlebens aufzubauen – und dies „vor allem in der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern, namentlich der VR Polen“628. Wie die mehr als dürftige Quellenlage nahelegt, scheint der Gerhart-HauptmannArbeitskreis trotz all dieser Zielsetzungen nie seine Arbeit aufgenommen zu haben. Vieles weist darauf hin, dass die Bedeutungsregression Hauptmanns zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit fortgeschritten war, um von einem Arbeitskreis bewältigt werden zu können. Dieses neue Stadium der Hauptmann-Rezeption trat spätestens seit dem 30. Todestag 1976 deutlich zu tage. Neben bzw. anstelle von Gedenkfeiern, Kranzniederlegungen und „literarischen Feierstunden“ zu denen anlässlich des 20. Todestages noch die Präsidenten des Deutschen Kulturbundes und der Deutschen Akademie der Künste eingeladen hatten,629 gewannen nun wissenschaftliche Konferenzen im Kontext von Jahrestagen an Bedeutung. Mit diesen „Referentenkonferenzen“630 ging eine Verwissenschaftlichung631 der Auseinandersetzung mit Hauptmann und der Übergang hin zur kulturellen Archivierung einher. Die Hauptmann-Rezeption erlangte damit eine neue diskursive Ebene, auf der der Dichter nicht mehr ausschließlich als Repräsentant des ehrwürdigen Kulturerbes, sondern als wissenschaftlicher, kritikfähiger Gegenstand wahrgenommen wurde. Der sich vertiefende zeitliche Graben, der Hauptmann von der DDR-Realität trennte, bildete sich so auch in dem Thema der Referentenkonferenz ab, die aus

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Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 4. Abusch sprach als Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates wieder einmal „Worte zum Gedenken“ (SAPMO – BArch, DY 27/3443). Bereits im Kontext des Centenariums wollte man mehrere Referentenkonferenzen durchführen, um eine systemkonforme Hauptmann-Lektüre in aktualisierter Form landesweit durchzusetzen. Hierzu sollten „etwa 250 bis 300 Germanisten, Deutsch-Lehrer, Bibliothekare, Buchhändler usw., mit einer wissenschaftlich einwandfreien Konzeption für die Ehrungen Gerhart Hauptmanns ausgerüstet werden“ (Kühne [Abteilung Kunst und Literatur], Notiz: Rücksprache mit Kollegen Elsholz, Ministerium für Kultur, Abteilung Literatur und Buchwesen am 19.01.1962 wegen der Gerhart Hauptmann-Ehrung in der DDR, 26.01.1962, S. 2 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Letztlich fand nur eine Veranstaltung am 25.05.1962 im „Haus der Offiziere“ (Halle) statt (Referentenkonferenz 1962; GzVwK/ DKB, Konzeption für die Hauptmann-Referentenkonferenz am 25.05.1962 in Halle/S. [Berlin durchgestrichen] vom 17.04.1962 [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Zur Tendenz der Verwissenschaftlichung der Kulturpolitik nach 1967 vgl. Dautel, Zur Theorie, S. 50-54.

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Anlass des 30. Todestages in Lietzow (7. Mai 1976) stattfand. Diese von der Bezirkskommission Kunst und Literatur bei der Bezirksleitung Rostock veranstaltete Konferenz beschäftigte sich mit dem Thema „Gerhart Hauptmann und die Nachwelt“.632 Deutlich wurde dabei, dass sich Hauptmanns Bedeutung für die sozialistische Nachwelt zunehmend auf die eines Chronisten des bürgerlichen Verfalls verengte, der in seinem Werk „eine Art enzyklopädische Totalität, die differenzierte Gesamtproblematik einer Klasse und der von ihr dirigierten Gesellschaft“ abgebildet habe, welche „die letzte Phase ihrer historischen Entwicklung durchmacht“.633 Die Erinnerungsrelevanz Hauptmanns machte der Theaterwissenschaftler Rohmer in seinem in Lietzow gehaltenen Vortrag somit an dessen künstlerisch materialisierten Zeitzeugenschaft fest: „Uns gibt das Beispiel Gerhart Hauptmann heute, so glaube ich, ein Beispiel von einer bestimmten historischen Größe, widerspruchsvollen historischen Größe, an die uns zu erinnern wir zweifellos gut tun.“634 Repräsentativ für die wachsende Kritik an Hauptmann erscheint Rohmers Vortrag insofern, als er sich darin eben nicht nur „tief bewegt“635 zeigt vom Schicksal des Dichters, sondern die „Widerspruchsstruktur“636 von Werk und Leben Hauptmanns thematisiert. So kritisierte Rohmer, dass er kein Beispiel „des Widerstandes gegen jene äußerste Rechte, den Faschismus, in der spätbürgerlichen Zeit“637 abgegeben habe. Auch die seit Mitte der 1960er Jahre stark zurückgegangene Hauptmann-Rezeption bot Anlass zur Kritik: Konsterniert wies Rohmer darauf hin, dass nur „eine relativ geringe oder kaum eine Nachwirkung Gerhart Hauptmanns in Bezug auf die Gesamtentwicklung unserer Literatur“638 zu verspüren sei – eine Feststellung, die durch die Einbeziehung der Vergleichsgrößen Goethe und Schiller erneut die hohe Erwartungshaltung illustrierte, mit der man Hauptmann gegenüber getreten war. Dieses „ausgesprochene Manko“639 zwang 632

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Stenografische Niederschrift der Referentenkonferenz zum 30. Todestag Gerhart Hauptmanns veranstaltet von der Bezirkskommission Kunst und Literatur bei der Bezirksleitung Rostock des Kulturbundes der DDR. Thema: Gerhart Hauptmann und die Nachwelt am 7. Mai 1976 in Lietzow (SAPMO – BArch, DY 4919/51) [nachfolgend abgekürzt als: Referentenkonferenz 1976]. Erschienen als: Rolf Rohmer, Gerhart Hauptmann und die Nachwelt, in: Kulturbund der DDR (Präsidialrat, Zentrale Kommission Literatur), Gerhart Hauptmann und die Nachwelt. Arbeitsmaterial für die literaturpropagandistische Arbeit im Kulturbund der DDR. Beiträge der Referentenkonferenz zum 30. Todestag Gerhart Hauptmanns, o.O. Mai 1976, S. 1-22. Konferenzbeitrag Rolf Rohmer, in: Referentenkonferenz 1976, S. 35. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 1. Ebd., S. 17. Ebd.

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zur Suche nach Gründen und Verantwortlichen, wobei für Rohmer klar war, dass die Rezeptionskrise „nicht aus vernachlässigter Verantwortung zuständiger Kulturpolitiker, Literaturpropagandisten und Theaterleute“640 resultieren könne. Als Ursache verwies er vielmehr auf Hauptmanns eigene Widersprüchlichkeit, die man nun angeblich virulent wahrnahm. Die „mangelnde Traditionsbildung“ müsse, so Rohmer, „offensichtlich in der dem dichterischen Werk selbst immanenten Problematik zu finden sein“.641 Im Kontext des 30. Todestages wurde nicht nur die Krise der Hauptmann-Rezeption in der DDR offengelegt, sondern Hauptmann selbst wurde hierfür verantwortlich gemacht. Noch tiefer sollten die Risse im Hauptmann-Bild allerdings 1987 werden, mit dem später zu thematisierenden Erscheinen von Eberhard Hilschers642 Hauptmann-Biografie, die bisher unveröffentlichte Materialien aus dem Nachlass heranzog. Die 125. Wiederkehr von Hauptmanns Geburtstag 1987 gab Veranlassung zur letzten großen Würdigung des Dichters, die vor dem Zusammenbruch der DDR begangen wurde. Angesichts der auch im Bereich der Kulturpolitik zunehmenden Instabilität wurde dieses Jubiläum, dem in der BRD z.B. die Wanderausstellung „Wirklichkeit und Traum“ der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz gewidmet wurde,643 in der DDR gleichwohl mit weniger Feierlichkeiten bedacht. Einer Ostberliner Aufführung von Der rote Hahn, die zentraler Mittelpunkt der Ehrungen war, soll indes die Partei- und Staatsführung beigewohnt haben.644 Darüber hinaus veranstaltete der Bezirksrat von Frankfurt/Oder zusammen mit der Galerie Junge Kunst eine Ausstellung über Reflexionen zu Hauptmanns Werk in der bildenden Kunst. DDR-weit wurde entsprechendes Bildmaterial zusammengetragen, vor allem Darstellungen von Käthe Kollwitz, weil deren Darstellungen „auch heute noch von der anregenden Wirkung Hauptmannscher Drama-

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Ebd., S. 10. Ebd. Diese Problematik glaubte Rohmer aus einer ideologischen Unbehaustheit Hauptmanns erklären zu können: „Mir scheint, dass bei zunehmender Unsicherheit um so dringlicher und umfassender die Versuche wurden, durch die Aufarbeitung von geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Traditionen eine Orientierung zu suchen, die er in den konkreten sozialen Kämpfen und Auseinandersetzungen seiner Zeit persönlich nicht fand“ (ebd., S. 16). Hilscher, Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Mit bisher unpublizierten Materialien aus dem Manuskript-Nachlass des Dichters, Berlin (Ost) 1987. Ulrich Lauterbach/ Eberhard Sieber, Wirklichkeit und Traum. Gerhart Hauptmann 18621946. Ausstellung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Berlin 1987. Diese Ausstellung wurde gezeigt in Hannover (15.11.1987 – 17.01.1988), Westberlin (21.04.1988 – 11.06.1988), Bonn (07.07.1988 – 04.09.1988) und Selm (15.09.1988 – 13.11.1988). Diese Aufführung findet sich nicht in der Statistik des Verlags Felix Bloch Erben, wird aber erwähnt bei: Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 39.

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tik, Poesie und Epik, wie der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit künden“645. Mit dem Umstand, dass die behauptete Wirkung Hauptmanns in der „realpolitischen“ Rezeptionspraxis zu wünschen übrig ließ, beschäftigte sich dagegen eine weitere literaturwissenschaftliche Referentenkonferenz. Ihr Tenor entsprach der Entwicklung, die in der Hauptmann-Spezialforschung als Teil der DDR-Germanistik zwischenzeitlich vonstatten gegangen war. Zwar praktizierten die Beiträge jener Referentenkonferenz, die am 13. März 1987 im Club der Kulturschaffenden ‚Johannes R. Becher’ in Ostberlin stattfand, noch die opportune Bekenntnisrhetorik im Zeichen des Marxismus-Leninismus – dies jedoch reduktiv und quasi als Alibi für beherzt vorgebrachte Kritik am Gegenstand selbst und am Umgang mit diesem in den zurückliegenden Jahrzehnten. Helmut Praschek warf z.B. in seinem Beitrag zum Veröffentlichungsaufkommen in Sachen Hauptmann der frühen DDR-Forschung vor, dass einerseits „die vorhandenen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft worden [seien]“ und andererseits manche Veröffentlichungen „unter einer Blickfeldverengung, der Überbewertung des Frühwerks und der Geringschätzung oder Ignorierung der späteren Dichtungen [leiden]“.646 Diese und andere (Selbst-)Kritik647 am ideologisch motivierten Tunnelblick zeugen insgesamt vom gewachsenen Selbstbewusstsein und -anspruch der Hauptmann-Forschung vor dem Hintergrund einer DDR-Germanistik, deren Eigenständigkeit durch personeninduzierte Professionalisierungs- und Entdogmatisierungsprozesse in den 1980er Jahren zunahm.648 Gleichwohl sah sich die Hauptmann-Forschung bis zuletzt nicht nur der Wissenschaft verpflichtet, sondern betonte – orientiert am realistisch-sozialistischen Paradigma der Volksverbundenheit –, dass sie „nie elitäre

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Gabriele Kukla, Das Werk im Bild, in: Gerhart Hauptmann. Werk und Gestalt. Ausstellung der Galerie Junge Kunst Frankfurt/Oder im Alten Rathaus Fürstenwalde vom 14.11.1987 bis 14.12.1987, Frankfurt/Oder 1987, S. 4-9, hier: 4. Praschek, Hauptmann-Forschung in der DDR, in: Referentenkonferenz 1987, S. 52-61, hier: 60. Hilscher kritisierte z.B. während der Konferenz den grundsätzlichen Rezeptionsskopus: „Weil dies [i.e. der Umstand, dass Hauptmanns Werk gesamthaft vom humanistischrealistischen Grundanliegen geprägt sei] zu wenig beachtet wurde, begnügen sich Kommentatoren und Editoren in der DDR seit Jahrzehnten mit der Popularisierung von Hauptmanns frühem Schaffen, dem man in Literaturgeschichten und Sammelausgaben eindeutig den Vorrang einräumt. […] Doch vor unserer Gemanistik, die bedauerlicherweise hinter der internationalen Spezialforschung zurückblieb, steht die Aufgabe, endlich auch Hauptmanns späteren Schriften zur Geltung zu verhelfen […]. Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen. – Weitgehend unentdeckt sind zum Beispiel die zeitkritische Inquisitions-Tragödie Magnus Garbe von 1915, das Antikriegsstück Herbert Engelmann und der Roman Die Insel der großen Mutter von 1924 und das Versepos Der große Traum von 1942. Sie blieben in der DDR bisher sämtlich ungedruckt, […]“ (Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: ebd., S. 2-26, hier: 13). Vgl. insgesamt Saadhoff, Germanistik.

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Züge hatte oder sich in fachwissenschaftliche Esoterik verlaufen“649 habe. Gerade die Adressierung hin zu einem „breite[n] Lesepublikum“650 verlieh aber dem konstatierten Relevanz-Schwund von Hauptmanns Sozialkritik651 umso größeres Gewicht. Bemühungen, den „geänderten Bedarf“ des Publikums als Resultat des nach 1960 veränderten „historische[n] Koordinatensystems“ darzustellen, dessen Niederschlag in Theaterspielplänen „nicht als Beschränkung“ aufzufassen sei, sondern eine Stabilisierung markiere, konnten jedoch die Tatsache nicht verschleiern, dass es in den 1980er Jahren „gar keine Annäherung an Hauptmann“ mehr gab.652 So musste sich Hauptmann in der letzten Referentenkonferenz, die sich in der DDR mit ihm und seinem Werk beschäftigte, statt der Würdigung Beanstandungen gefallen lassen: Die historischen Spiegelungen – an denen man noch in den 1950er und 1960er Jahren den Wert seines Schaffens festzumachen pflegte – waren nunmehr nichts als „‚geronnene Geschichte’“, an seinen Werken wurde moniert, dass sie im Sinne interpretativer Lenkung „immer ‚aufgepumpt’ werden [müssten]“, weil sich diese Teilmenge des Kulturerbes in „seinen historischen und ästhetischen Grenzen“ oftmals als „sperrig“ erweise und kaum Angebote zur „dialogischen Aneignung“ biete.653 Deshalb seien, so Rohmer, die „Schwierigkeiten […] heute größer als [die] Möglichkeiten“654. Die nach 1962 immer dürftigere Theaterbilanz verursachte vor dem Hintergrund der allgemeinen Trendwende in Sachen Hauptmann nicht nur bei Theaterleuten „so etwas wie [ein] schlechtes Gewissen“655. Auch auf Verlagsseite sorgte die veränderte Rezeptionslage für Unsicherheit. Wie Paul-Gerhard Wenzlaff in seinem Beitrag erläuterte, hegte man im Aufbau-Verlag schon „[s]eit längerer Zeit“ das Vorhaben einer „erstmals auch gründlich kommentierende[n] Ausgabe“ von Hauptmanns Werken, deren Umfang auf „12 dicke Bände zu mindestens 850 Seiten“ kalkuliert wurde.656 Allerdings war man mit dem Großprojekt „nicht recht glücklich“, weil man fürchtete, dass sich nicht genügend Käufer „für ein solch kostspieliges Unternehmen“ finden würden.657 So schwebte über dem Vorhaben die „Gefahr, Hauptmann sozusagen ein Staatsbegräbnis zu bereiten“.658 Der Grat zwischen

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Praschek, Hauptmann-Forschung in der DDR, in: Referentenkonferenz 1987, S. 52-61, hier: 60. Ebd. Rohmer, Gerhart Hauptmann auf den Bühnen der DDR, in: ebd., S. 61-72, hier: 68. Ebd., S. 64 f., Ebd., S. 69-71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 62. Wenzlaff, Gerhart Hauptmanns Werk, in: ebd., S. 46-51, hier: 50. Ebd., S. 51. Ebd.

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Renommierobjekt und Totgeburt war plötzlich eng geworden: Obschon sich mit der Umsetzung des Vorhabens die Hauptmann-Rezeption in der DDR hätte krönen und die konkurrierende Centenarausgabe hätte überholen lassen, schien ein solches Projekt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um jeden Preis erwünscht bzw. möglich zu sein. Als Abuschs 1962 formulierte Hoffnung auf eine HauptmannRenaissance nun offen als ein „heroischer und zugleich liebenswürdiger Irrtum“659 belächelt wurde, befanden sich nicht nur die Rezeption der Werke Hauptmanns, sondern auch die DDR und ihre Kulturpolitik längst in einer Sackgasse. Das Hauptmann-Bild war unterdessen immer unklarer geworden, mit einiger Resignation musste kurz vor Ende der DDR festgestellt werden, dass „der Dichter überhaupt nicht eindeutig festzulegen ist“660. War Hauptmann ehedem als ein Sympathisant des Proletariats und seiner Emanzipationsbestrebungen gewürdigt worden, so war er aus der Perspektive der DDR-Germanistik inzwischen zu einem „‚Mann der Mitte’“661 verblasst, der nicht ins „wissenschaftliche Zeitalter“ zu passen schien.662 Aus der einstigen humanistischen Integrationsfigur, dem Genius des kulturellen Wiederaufbaus, war „eine Art Symbolfigur für die Wehrlosigkeit des deutschen Bürgertums gegenüber dem Faschismus“663 geworden, die keine kulturpolitische Priorität mehr genoss.

1.3.

Gerhart-Hauptmann-Museen

Paradoxerweise folgten in Hinblick auf das ortsgebundene Erinnern an Gerhart Hauptmann in der DDR zwei konträre Problemsituationen aufeinander: Zunächst führten die geschilderten Nachlass-Streitigkeiten in den ersten Nachkriegsjahren dazu, dass kein zentrales Hauptmann-Museum in der SBZ/DDR geschaffen werden konnte. Das Hauptmann-Archiv der Stadt Radebeul, das im November 1948 ins Leben gerufen und am 3. Todestag Hauptmanns 1949 feierlich eingeweiht wurde,664 mühte sich, in dieser Situation wenigstens einen kleinen Ersatz zu bie659 660 661

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Rohmer, Gerhart Hauptmann auf den Bühnen der DDR, in: ebd., S. 61-72, hier: 61. Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: ebd., S. 2-26, hier: 24. Ebd., S. 25. Tschörtner bezeichnete Hauptmann bei gleicher Gelegenheit als „sensible[n] und eigenwillige[n] Zeitgenosse[n] liberal-bürgerlicher Prägung“ (ders., Veröffentlichungen, in: ebd., S. 34-46, hier: 45). „Es fehlt, was Zeitgenossen heute zunehmend verlangen, es fehlt die intellektuelle Klarheit und Schärfe. Man kann keinesfalls behaupten, daß Gerhart Hauptmann der Dichter des beginnenden wissenschaftlichen Zeitalters war!“ (Wenzlaff, Gerhart Hauptmanns Werk, in: ebd., S. 46-51, hier: 51). Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: ebd., S. 2-26, hier: 25. Gustav Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, in: Gustav Erdmann (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier:

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ten. Aufgrund der sich konsolidierenden kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen begannen in den 1950er Jahren Hauptmann-Gedenkstätten dann jedoch wie Pilze aus dem Boden zu schießen, so dass eine „uneffektive Zersplitterung der in der DDR vorhandenen Mittel und Möglichkeiten“665 der HauptmannPflege drohte. Anlässlich des 90. Geburtstages Hauptmanns 1952 wurde im Märkischen Museum in Ostberlin ein „Gerhart-Hauptmann-Gedächtnisraum“ eingerichtet, der 1958 zu einer kleinen „Gerhart-Hauptmann-Forschungs- und Gedenkstätte mit drei Räumen“ ausgebaut wurde.666 Dort wurden die Totenmaske sowie das Mobiliar des Agnetendorfer Arbeitszimmers und weitere Bestände des 1946 zunächst in Müggelheim zwischengelagerten Nachlasses untergebracht. Zum 10. Todestag Hauptmanns 1956 wurde schließlich der Sommersitz des Dichters auf Hiddensee zur „Gerhart-Hauptmann-Gedächtnisstätte Kloster“667 erklärt. Im Kontext des 100. Geburtstages 1962 nahm die Berliner Gerhart-Hauptmann-Gedenkstätte Erkner ihren Betrieb auf, deren Anfänge gleichfalls bis 1952 zurückreichen und 1954 noch durch ein konkurrierendes Museums-Projekt gefährdet worden waren: Das ebenfalls nahe Berlin gelegene Friedrichshagen wollte mit Unterstützung des Kulturbundes Erkner die Gerhart-Hauptmann-Gedenkstätte streitig machen.668 In Friedrichshagen hatte sich ab 1890 der so genannte Friedrichshagener Dichterkreis um Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und die Gebrüder Hart gebildet, mit dem der damals in Erkner lebende Hauptmann in seiner naturalistisch geprägten Schaffenszeit verkehrte. Das Vorhaben einer Hauptmann-Gedenkstätte stieß in Friedrichshagen auf „ein begeistertes Echo“, die auf geschichtliche Gründe gestützte Argumentation der Erkner-Fraktion empfand man dort deshalb als „nicht angemessen“.669 Abermals setzte ein Wettrennen um Hauptmann ein, das nach

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170 [erneut abgedruckt in: Gustav Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner. Mit einem Beitrag von Sabine Seifert, Berlin 1994, S. 16-19]; vgl. Alexander Münch, Lebendige Hauptmann-Pflege, in: Die Union (14.11.1962). Das HauptmannArchiv Radebeul befand sich im ‚Hohenhaus’, dem Elternhaus von Hauptmanns erster Ehefrau Marie Thienemann. Erdmann, Zum Nachlaß, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34, hier: 31. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 170 f. Ebd., S. 311; vgl. ders., Zum Nachlaß, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34. Auf dem IV. Bundestag des Kulturbundes im Februar 1954 in Dresden fasste man den Beschluss, „in Friedrichshagen bis spätestens 1956 eine Gerhart-HauptmannGedenkstätte zu errichten“, wozu man eine vierköpfige Kommission gründete (Kulturbund, Ortsgruppe Friedrichshagen. Bericht der Kommission: Gerhart-HauptmannGedenkstätte in Friedrichshagen (24.05.1954), unterzeichnet von Richard Böttcher [SAPMO – BArch, DY 27/167]). Ebd. Im Kommissionsbericht hieß es weiter: „Die Versammlung sprach sich für Friedrichshagen aus und schlug vor, die Hauptmann-Gedenkstätte mit einer solchen für den

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wie vor von der Angst geprägt war, die Erben könnten die bis dahin eher provisorisch untergebrachten Nachlassreste zurückfordern: „Da diese Verpflichtung [d.h. die im Testament bestimmte Zentrierung des Nachlasses, P. T.] bis heute und nach dem Verlauf von Jahren noch nicht erfüllt ist, besteht die Gefahr, daß die Erben den Nachlaß zurückfordern, was zur Folge haben könnte, daß das unschätzbare Kulturgut für die Deutsche Demokratische Republik verloren geht. Es ist also Eile geboten, und wir bitten, sich der Sache schnellstens und mit Eifer und Nachdruck anzunehmen.“670 Dass schließlich Erkner den Zuschlag erhielt, lag nicht nur an der historischen Authentizität der Gründerzeitvilla in Erkner, die Hauptmann Produktionsstätte und Lebensraum in einem gewesen war. Man hatte in Erkner auch dadurch Fakten geschaffen, dass dort seit 1957 im Obergeschoss jener Villa Lassen, deren Erdgeschoss Hauptmann von 1885 bis 1889 mit seiner ersten Frau Marie Thienemann bewohnt hatte, ein Zimmer als Gedenkraum genutzt wurde. Im Jahr des Centenariums 1962 bot sich folgende Situation: Die DDR verfügte über zwei „Forschungsarchive“671 – in Radebeul und der Deutschen Akademie der Künste in Ostberlin – und drei Gedenkstätten für Gerhart Hauptmann: im Märkischen Museum Berlin, in Erkner und in Kloster auf Hiddensee. All diese Stätten, so das Fazit von 1987, trugen dazu bei, „Hauptmanns Werk zu einem Aktivposten sozialistischer Kulturpolitik werden zu lassen“672, allerdings barg die Fülle der Gedächtnisorte im Hinblick auf eine staatlich konzertierte Gedenkpolitik einige Probleme. Mit der stark aufgesplitterten Situation des Hauptmann-Gedächtnisbetriebs setzte sich zu Beginn seiner Literaturwissenschaftler-Karriere auch Wolfgang Spiewok auseinander, dessen Fachgebiet später jedoch in der Mediävistik liegen sollte. Im Rahmen der anlässlich des 30. Todestages Hauptmanns 1976 veranstalteten Referentenkonferenz nannte er das sich abzeichnende Problem beim Namen: „Es erhebt sich nun die Frage, wer macht das Rennen. Sollen alle diese Stätten blühen und gedeihen, oder soll man Hauptmann konzentrieren. Der letztere Weg ist das Vernünftige und einzig Machbare. Wie die Entscheidung fallen wird, weiß ich nicht. Auf jeden Fall haben wir in Kloster eine umfangreiche und wichtige Gedächtnisstätte.“673

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Friedrichshagener Dichterkreis, dem Gerhart Hauptmann angehörte, zu verbinden“ (ebd.). Ebd. DDR richtet 1979 zentrales Gerhart-Hauptmann-Museum ein, in: Unser Mecklenburg. Heimatblatt für Mecklenburger und Vorpommern (Sept./Okt. 1978), Nr. 5, S. 1. Erdmann, Zum Nachlaß, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34, hier: 31. Referentenkonferenz 1976, Beitrag von Prof. Spiewok, S. 40.

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Die kostspielige Streuungsproblematik lief darauf hinaus, dass Erkner und Kloster sich letztlich mit dem Wirkfaktor ihrer Authentizität gegen die anderen Hauptmann-Stätten in der DDR durchsetzen konnten. Doch war die Ausstattungsituation der Gedächtnisstätte Kloster, obschon sie „im Jahr über 40.000 Besucher“ anzog, vergleichbar mager.674 Für den Bedeutungszuwachs, den Kloster erfahren sollte, sprach allerdings auch, dass den Besuchern dort ab 1976 eine neue Ausstellungskonzeption geboten wurde. Neue Präsentations- und Inszenierungsformen verfolgten das Ziel, „G. Hauptmanns aussagereiches humanistisches Werk allen Bürgern und Besuchern unseres Staates als lebendig wirkendes Erbe vorzustellen, das bei uns seine Heimstatt gefunden hat“675. Zu dieser programmatischen „Ausstellungsmentalität“676 trugen 22 Komplexe bei, die markante Überschriften677 im Sinne der sozialistischen Programmatik trugen: z.B. Komplex 6 zu Florian Geyer „Vision von der Einheit der Nation unter revolutionären Vorzeichen“ oder Komplex 7 „Werke der satirischen Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft“ (u.a. bezogen auf Der Biberpelz, Der rote Hahn).678 Der Ausstellungsführer ging sogar soweit, in Hinblick auf die „Werke der Jugendjahre“ dezidiert von den „zeitgenössischen Wirkungen der sozialistischen Dramen G. Hauptmanns“679 zu sprechen und diese als sozialistische Literatur zu deklarieren. Einige Ausstellungskomplexe behandelten in besonderem Maße den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Werke. Hieraus resultierte in Kloster eine Ausstellungsästhetik, die weitestgehend dem zentralen Bildungsauftrag der DDRMuseen untergeordnet war und die Vermittlung des sozialistischen Menschenbil-

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Spiewok äußerte dementsprechende Begehrlichkeiten: „Also Kloster selbst ist schwach ausgestattet. Als ich die Märkischen Museen gesehen habe, gingen mir die Augen über, und ich war neidisch und hätte am liebsten einen großen Transport fertig gemacht von Berlin nach Kloster. Ich hoffe, daß ich in der Zusammenarbeit in den Besitz der Dinge komme, die Kloster nicht hat“ (ebd., S. 40). Spiewok, Gerhart-Hauptmann-Gedächtnisstätte Kloster auf Hiddensee. Führer durch die Ausstellung, hg. vom Rat des Kreises Rügen, Abt. Kultur, Bergen 1976, S. 3. Sabiene Autsch, Einleitung, in: dies. (Hg.), Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern, Bielefeld 2005, S. 9-12, hier: 9. „Da haben wir zum Beispiel darüber stehen – das ist für den Rennfahrer gedacht, der da durchrennt –: Die Weber, ‚das erste revolutionäre Massendrama in der deutschen Literatur’. Da hauen wir kräftig auf den Tisch. Das war nicht einfach, solche orientierende Titel zu finden, vor allem wenn man weiß, da geht auch ein Fachmann durch, das kann peinlich werden. Es stimmt schon alles. Aber mancher wird lächeln“ (Referentenkonferenz 1976, Beitrag Spiewok, S. 48). Ebd., S. 43 f. Spiewok, Gerhart-Hauptmann-Gedächtnisstätte Kloster, S. 6. In gleicher Intention wurde betont, dass der Dichter „in unerhört eindrucksvollen dramatischen Bildern die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung der brüchig gewordenen bürgerlichkapitalistischen Wirklichkeit sichtbar“ gemacht habe (ebd., S. 3).

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des auf der Grundlage des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes vorsah.680 So wurden Gerhart-Hauptmann-Museen und das in ihnen gebotene Gesamtarrangement als wichtige Katalysatoren der ‚sozialistischen Persönlichkeit’ – der kommunistischen Bildungsutopie schlechthin – angesehen. Die didaktische Motivation bezog sich hier einerseits auf die Vermittlung von Geschichtsbewusstsein, andererseits darauf, „dieses Bewußtsein im Sinne sozialistischer Persönlichkeitsbildung produktiv werden zu lassen“681. Selbstverständlich durfte in der Ausstellung im Hauptmann-Museum auf Hiddensee der Bezug zur Sowjetunion nicht fehlen: Nachdem bereits Komplex 18 „Gerhart Hauptmann und sein Werk im Reflex großer Zeitgenossen“ – womit Thomas Mann und Maxim Gorki gemeint waren – präsentiert hatte, widmete sich Komplex 19 ausführlich dem Thema: „Gerhart Hauptmann, die russische Kunst und die Sowjetunion.“ Für Komplex 20 zur „Gerhart-Hauptmann-Pflege in der DDR“ wurden in einer Vitrine des Kreuzgangs „Ergebnisse der Pflege des Werkes Gerhart Hauptmanns in der Deutschen Demokratischen Republik“ ausgebreitet.682 Allerdings beschränkte sich die „empfehlende Bibliographie“ auf „Werkausgaben von DDR-Verlagen“ und drei „literaturwissenschaftliche Gesamtdarstellungen von DDR-Autoren“.683 Bald jedoch kam man in Kloster nicht mehr umhin festzustellen, dass die Erweiterung der ursprünglich „kleine[n] Ausstellung“ nicht nur „[a]uf Kosten der historischen Substanz“ des Hauses Seedorn ging, sondern dieses mit der „Doppelfunktion eines Memorials und eines Literaturmuseums überfordert“ war.684 Weil in der Museumskonzeption angeblich keine der beiden Funktionen „angemessen zur Geltung“ kam, wurde beschlossen, den „reinen Memorialcharakter von Haus ‚Seedorn’ wiederherzustellen“.685 Dafür sprach ebenfalls manch anderer Nachteil wie die räumliche Beengtheit des Hauses und Standortnachteile der Insellage, d.h. „das für handschriftliches Material usw. ungünstige Seeklima, die

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Gabriele Speckels, Volkskultur? Erbepflege in der DDR, in: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.), Kultur und Kulturträger in der DDR. Analysen, Berlin 1993, S. 133-160, hier: 143-145. Erdmann, Zum Nachlaß, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34, hier: 34. Referentenkonferenz 1976, Beitrag Spiewok, S. 44. Angeführt wurden: Hilscher, Gerhart Hauptmann, 2. Auflage Berlin (Ost) 1974, Rohmer, Gerhart Hauptmann, 3. Auflage Leipzig 1974 sowie Heft 8 der Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“, 4. Auflage Berlin (Ost) 1961 (vgl. Spiewok, Gerhart-HauptmannGedächtnisstätte Kloster, S. 17). Haus „Seedorn“ wird Memorial. Bemühungen um ein zentrales Gerhart-HauptmannMuseum der DDR, in: Norddeutscher Leuchtturm (Wochenendbeilage der NdZ), 13.10.1978, Nr. 1326, S. 1. Ebd.

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verkehrsmäßige Randlage der Insel und nicht zuletzt der intime und sehr persönliche Charakter des Hauses ‚Seedorn’“686. Im Zuge der Umformung des Gedenkstätten-Charakters von Haus Seedorn wandte man sich der übergeordneten Gedenkpolitik und somit wieder der Frage nach einer möglichen Zentrierung des Hauptmann-Gedächtnisbetriebes zu. Nun wurde Erkner zum Favoriten erklärt, nicht zuletzt deshalb, weil die Hauptmann-Gedenkstätte in unmittelbare Nähe Ostberlins, des politischen wie kulturellen Zentrums der DDR, vorrücken konnte. Während der ersten Jahrestagung des Internationalen Komitees für Literaturmuseen im Internationalen Museumsrat (ICOM), die Ende August 1978 in Weimar stattfand, referierte der HauptmannExperte Gustav Erdmann über das Projekt eines zentralen Gerhart-HauptmannMuseums der DDR.687 Die 15 Zimmer der Gründerzeitvilla Erkner boten, so Erdmann, „genügend Platz […] für eine großzügige Gestaltung als Forschungs- und Gedenkstätte in zentraler Lage“, welche man ab 1979 in Angriff nehmen wollte.688 Das Nachsehen hatten die überzähligen Gedenk- und Forschungsstätten: 1982 wurden das ehemalige Hauptmann-Archiv Radebeul sowie 1984 die Bestände des Märkischen Museums Berlin im Kontext dieses Vorhabens nach Erkner überführt.689 Die feierliche Eröffnung der ständigen Ausstellung des GerhartHauptmann-Museums Erkner, als dessen Leiter Erdmann fungieren sollte, fand indes erst am 14. November 1987, am Vorabend von Hauptmanns 125. Geburtstage, statt.690 Eine Konzentrierung des Hauptmann-Erbes auf einen topografisch vorteilhaften wie biografisch authentischen Ort war damit vollzogen. Ein Museum entstand, das „nicht nur eine museale Leitfunktion“ in Hinblick auf das Leben und Werk Hauptmanns, sondern auch „positive Auswirkungen auf andere Bereiche des Kulturlebens“ entfalten sollte.691

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DDR richtet 1979 zentrales Gerhart-Hauptmann-Museum ein, in: Unser Mecklenburg. Heimatblatt für Mecklenburger und Vorpommern (Sept./Okt. 1978), Nr. 5, S. 1. Haus „Seedorn“ wird Memorial, in: Norddeutscher Leuchtturm (13.10.1978), Nr. 1326, S. 1. Vgl. ebd. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Neue Akzente, S. 161-175, hier: 172. Erdmann, Das Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner, S. 19; Michael Grisko, Gerhart Hauptmanns Häuser, Berlin 2004, S. 20. Erdmann, Zum Nachlaß, in: Referentenkonferenz 1987, S. 26-34, hier: 32.

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1.4.

Wertungen in der Literaturgeschichtsschreibung – ein Beispiel

Neben der öffentlichen Würdigung in Form von Gedenktagen und Jubiläen, der institutionellen Memoralisierung durch Museen und der gegenwartsbezogenen Kontextuierung der Werke Hauptmanns im Sinne einer sozialistisch induzierten Aufführungspraxis verfügte auch die DDR-Literaturgeschichtsschreibung über einen „wert-setzenden Zugriff“692. Qua dieser Deutungsmächtigkeit gibt die in der DDR vorgenommene literaturhistorische Verortung Hauptmanns einen wichtigen Fingerzeig darauf, wie der Dramatiker und sein Werk aus der Perspektive der marxistisch-leninistisch orientierten Kulturpolitik beurteilt wurden. Obwohl eine wissenschaftliche Wertungsgeschichte Hauptmanns in der DDR nicht im eigentlichen Fokus dieser Arbeit liegt, ist es daher dennoch sinnvoll, zumindest ein Leitmedium der DDR-Literaturgeschichtsschreibung auf die dort vorgenommenen Wertungen und Argumentationsfiguren hin zu befragen.693 Das Literaturgeschichtswerk Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart erschien zwischen 1963 und 1983 in 12 Bänden und stellt eine der zentralen literaturgeschichtlichen Kanonisierungs- und Wertungsunterfangen der DDR-Literaturpolitik dar. Welche Bedeutung dem Literaturgeschichtswerk von offizieller Seite beigemessen wurde, wird u.a. dadurch illustriert, dass Klaus Gysi als Herausgeber fungierte.694 Gysi war innerhalb des Erscheinungszeitraums Minister für Kultur der DDR (1966-1973) und kann auch wegen seiner ehemaligen Tätigkeit als Geschäftsführer des Aufbau-Verlags als wichtiger Repräsentant der SED-Kulturpolitik gelten. Der Stellenwert, den das Kompendium innerhalb der DDR-Literaturwissenschaft markierte, zeigt sich zudem darin, dass es in der Fachöffentlichkeit als „große Literaturgeschichte“695 galt. Schließlich hatte es sich bei dem Projekt gleichfalls um, wie es später hieß,

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Dautel, Zur Theorie, S. 225. In der Wissenschaftsgeschichte Germanistik in der DDR ist zu Recht betont worden, dass eine direkte ideologische Gleichsetzung von Machtapparat und Wissenschaft zu kurz greift und demgegenüber bestimmte feldspezifische Ressourcenkonstellationen, Brechungsmächte und Eigenlogiken des Fachs ins Kalkül gezogen werden müssen (vgl. hierzu Saadhoff, Germanistik). Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Rezeptionsgeschichte Hauptmanns erscheint es der Verfasserin dennoch legitim, eine prominente Literaturgeschichte als paradigmatischen Wertungsprozess in das Ensemble der Untersuchungsgegenstände einzufügen. Von Gysi und Kurt Böttcher, einer der Mitarbeiter im Autorenkollektiv dieser Literaturgeschichte, stammt außerdem eine Biografie Hauptmanns, die 1964 ebenfalls im Verlag VEB „Volk und Wissen“ veröffentlicht wurde (Gysi, Klaus/ Böttcher, Kurt: Gerhart Hauptmann. Schriftsteller der Gegenwart, Berlin [Ost] 1964). Thomas Höhle, Goethe in der DDR. Einführung. Standpunkte, in: Herbert Mayer u.a. (Hg.), Goethe in der DDR. Konzepte, Streitpunkte und neue Sichtweisen. Konferenzbeiträge, Berlin 2003, S. 5-13, hier: 10.

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ein „große[s], alle Anstrengungen absorbierende[s] Literaturgeschichtsunternehmen“ gehandelt.696 Das Hauptmann-Bild der Geschichte der deutschen Literatur ist über alle einschlägigen Einlassungen hinweg von einer spezifischen Dichotomie gekennzeichnet: Zum einen agiert hier der junge Hauptmann als begnadeter, avantgardistischer Dramatiker mit ausgeprägter gesellschaftlicher „Oppositionshaltung“697, der sich der Klassenlage des Volkes zuwandte und sich weitestgehend auf einer Linie mit der deutschen Arbeiterbewegung befand. Zum anderen erscheint der späte Hauptmann als Relikt der alten Zeit, als hilfloser Vertreter des bürgerlichen Literatentums, das aufgrund mangelnder ideologischer Erkenntnisfähigkeit – so der Argumentationsgang – zwangsläufig zum Opfer seiner selbst und zur leichten Beute des Faschismus werden musste. Zumal diese Wertungshaltung in vielerlei Hinsicht als paradigmatische Rezeptionsvorgabe verstanden werden kann, soll ihre Argumentationslinie nachfolgend etwas näher beleuchtet werden. Mit Hauptmann begann, so die marxistisch-leninistische Schilderung seiner ersten Schritte auf dem literarischen Parkett, ein neues Zeitalter der sozialinteressierten Literatur. Der junge Dichter machte sich in dieser Sichtweise daran, jene Lücke in der Literatur zu schließen, die nach dem obrigkeitskritischen Autor Georg Büchner klaffte.698 So habe „allein er“ es verstanden, „dem unvergleichlichen Vorbild Büchners zu folgen“.699 Damit verwies er nicht nur die alte bürgerliche Realistengarde um Raabe, Keller und Fontane auf die Plätze, sondern grenzte sich auch von seinen naturalistischen Schriftstellerkollegen dadurch ab, dass er „die Grenzen der naturalistischen Wirklichkeitsaneignung durchbrach“700. Ohnehin wird der Naturalismus in der Geschichte der deutschen Literatur als eine „Übergangserscheinung“701 wahrgenommen, die lediglich dort auf Akzeptanz stößt, wo sie „Volksgestalten“ hervorbrachte, „deren menschliche Überlegenheit zur 696

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Wolfgang Thierse/ Dieter Kliche, DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur Entwicklung ihrer Positionen und Methoden, in: WB 31 (1985), S. 267-308, hier: 269. Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. VIII, 2: Von der Pariser Kommune und der Gründung des preußisch-deutschen Reiches bis zur Konsolidierung des Imperialismus. 1871 bis zum Ausgang des Jahrhunderts, Berlin [Ost] 1975), 2. Teilband, S. 1088. „Zwischen Büchners Woyzeck und Hauptmanns Webern entstand kein soziales Drama, das den realen Klassenverhältnissen auch nur annähernd gerecht wurde. Die junge proletarische Literatur, die sich in den sechziger Jahren neu zu sammeln begann, vermochte sich die Großform des Dramas noch nicht anzueignen“ (Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. VIII, 1: Von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Berlin [Ost] 1975, S. 680). Bd. VIII, 2, S. 1086. Bd. VIII, 2, S. 728. Bd. VIII, 2, S. 1000.

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praktischen Überlegenheit führte“.702 Wenngleich dem Naturalismus die „Eroberung“ der „ungeschminkten und ungekürzten Lebenswirklichkeit“ gelungen sei,703 so hätten sich die Naturalisten jedoch in „der Welt zerfallener ‚Übergangsmenschen’“ verzettelt, welche sie „oftmals von sich ab[ge]leitet“ hätten.704 Gemäß der programmatischen Antipathie gegenüber dem deutschen Naturalismus überrascht die Wertung nicht, wonach Hauptmann sich „[d]em Beispiel Zolas und Ibens, dem die meisten vergebens nachgeeifert hatten, sowie Tolstois […] als einziger adäquat anzuschließen“705 vermocht habe. Positiv vermerkt wird, dass er sich in dieser Schaffensphase Gorki „produktiv“ zuwandte.706 Die Wertschätzung für diesen Hauptmann wird deutlich an der Überschrift des bebilderten Kapitels, das sich im zweiten Teilband von Band 8 der Literaturgeschichte mit ihm befasst: Quasi als krönender Abschluss der Darstellung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird „Gerhart Hauptmanns Vordringen zu weltliterarischer Leistung“707 beschrieben. Im Mittelpunkt jenes Kapitels stehen das „Revolutionsdrama Die Weber“ und die „politische Komödie Der Biberpelz“, die als „bedeutendste Leistungen“ Hauptmanns vorgestellt werden.708 Die in diesen Kategorisierungen sich bereits andeutende Politisierung erreicht einen kritischen Punkt, wenn sie unmittelbar mit ideologischen Deutungen des Geschichtsverlaufs im Allgemeinen, wie der Literaturgeschichte im Besonderen verknüpft wird.709 Die Propagierung einer „Anlehnung“ an bzw. teilweisen Abhängigkeit der „fortschrittlichen“ Literaten des späten 19. Jahrhunderts von der „im Aufschwung begriffene[n] revolutionäre[n] Arbeiterbewegung“710 stellt eine Amalgamierung von Bekenntnisrhetorik und konstruierten teleologischen Kausalitäten in der Literaturentwicklung dar. So findet sich in der Geschichte der deutschen Literatur z.B. die Behauptung, wonach die „Maßstäbe seiner sozialen Orientierung und Sympathieverteilung“ Hauptmann in „Widerspruch zu kapitalistischer Ausbeutung und preußischdeutscher Obrigkeitsstaatlichkeit“ gebrachten hätten, ihn regelrecht „an die Seite der Unglücklichen [gedrängt] und ihn zur Solidarisierung mit dem Proletariat als der im höchsten Grade von Menschenwürde und Menschenglück ausgeschlosse702 703 704 705 706 707 708 709

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Bd. VIII, 2, S. 1017. Ebd. Ebd. Bd. VIII, 2, S. 1086. Bd. VIII, 2, S. 728. Bd. VIII, 2, S. 1085-1102. Bd. VIII, 2, S. 1085. „Vor allem lösten die Parteinahme für die Unterdrückten und Ausgebeuteten sowie der Appell an die oppositionellen Schichten eine Bewegung aus, in der das Theater endlich wieder als ein Organ gesellschaftlicher Verständigung und mitunter der sozialen Aktion begriffen werden konnte“ (Bd. VIII, 2, S. 757). Bd. VIII, 2, S. 1000.

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nen Klasse heraus[gefordert]“ hätten.711 Diese ideologisierte Deutung kehrt in der Interpretation der Stücke wieder, wenn postuliert wird, dass jene angeblichen „Maßstäbe seiner sozialen Orientierung und Sympathieverteilung“ entscheidend zur Entstehung der Weber beigetragen hätten: „Im Verein mit den Eindrücken, die der Aufschwung der deutschen Arbeiterbewegung hinterließ, führten ihn diese Maßstäbe in den Webern bis zur Entdeckung der neuen Menschlichkeit, die das Proletariat im Klassenkampf hervorbringt.“712 Die Handlung der Weber wird hier zu einem Exempel für „kollektives revolutionäres Handeln“, das „als Ansatz menschlicher Erneuerung und neuer Gemeinschaftsbeziehungen auf der Grundlage gemeinsamen Klasseninteresses“ verstanden wird.713 Damit erhalten die Weber quasi den Status einer literarischen Urszene des revolutionären Sozialismus. Hauptmann markiert für die Autoren der Geschichte der deutschen Literatur eine Zäsur in der politischen Kultur Deutschlands im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Weber erscheinen als Bebilderung der Bewusstwerdung der proletarischen Massen, ihr Autor wird zunächst als ein Erzähler des ‚sozialistischen Sonnenaufgangs’ präsentiert, dessen Bemühungen nun – sozusagen im ‚Mittagslicht’ der DDR – zu würdigen sind. Der Umschwung von der Bewunderung für den jungen Hauptmann hin zum begrenzten Respekt für den – vor allem auch sozial – gealterten Hauptmann erfolgt in Band 9: Unter der Überschrift „Gerhart Hauptmann nach der Blütezeit des Naturalismus“714 befasst sich das Literaturgeschichtswerk nochmals ausführlich mit dem Dichter, insbesondere mit dessen „Verhältnis zum Proletariat“715. War die „überlegene Lebens- und Volksverbundenheit“716 zuvor als der eigentliche Schlüssel seines Erfolges identifiziert worden, so stellt man hier nun allerdings fest, dass sich „dieses Verhältnis veränderte“717 – und zwangsläufig der Hauptmann beigemessene Wert. Die sich angeblich um die Jahrhundertwende verändernde Einstellung des Dichters zum Proletariat wird u.a. am Bauernkriegsdrama Florian Geyer festgemacht: „Das große soziale Experiment eines primitiven Kommunismus in der Münsterschen Bewegung interessierte Hauptmann überhaupt nicht. Er 711 712 713 714

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Bd. VIII, 2, S. 1086 f. Bd. VIII, 2, S. 1087. Ebd., S. 1017. Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX: Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin (Ost) 1974, S. 253-262. Bd. IX, S. 253. Bd. VIII, 2, S. 1986. Bd. IX, S. 253.

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wollte sich die Kräfte, […], in religiös-mystischen Vorstellungen klarmachen und verdunkelte sie damit. Seine Ratlosigkeit wuchs mehr und mehr in eine Furcht vor dem selbständigen Handeln der Massen hinüber. Die reine Idee der Gerechtigkeit sah er beschmutzt und entstellt, sobald plumpe plebejische Hände sie berührten und in Wirklichkeit verwandeln wollten.“718 Florian Geyer wird nicht nur vorgeworfen, in seiner „historischen Gesamtkonzeption verfehlt“719 zu sein, sondern auch eine wachsende Angst Hauptmanns vor der Masse720 abzubilden. Diese Angst, so ist zu lesen, habe dazu geführt, dass sich der sozial arrivierte Hauptmann in seinen späteren Texten auf die Schilderung individualistisch übersteigerter Künstlerschicksale und in eine weltverklärte Neoromantik zurückgezogen habe. Entsprechend hart ist das am „RomantikVerdikt“721 der Ulbricht-Ära geschulte Urteil, das die Traumdichtung Hanneles Himmelfahrt trifft.722 Romantisierende Verklärungstendenzen in späteren Werken werden nicht als Aspekte einer eigenständigen literarischen Entwicklung, sondern als enttäuschende Abkehr vom Proletariat aufgefasst. Eine Enttäuschung, die u.a. aus dem Umstand resultiert, dass Hauptmann im „Bannkreis des bürgerlichen Theaters“723 verharrte und trotz seiner vielversprechenden Anfänge nicht zum Anhänger der ‚Sozialistischen Revolution’ wurde. Daher rührt der Vorwurf, wonach seine tiefgreifende bürgerliche Denkhaltung sogar auf seine proletarischen Figuren abgefärbt habe: Zwar finden sich weiterhin Figuren „die nach Herkunft und Entwicklung den unterdrückten und ausgebeuteten Schichten verbunden waren“724. Kritisch anzumerken sei nun aber, dass diese „nicht gemäß einem neuen sozialen und moralischen Anspruch handelten, der dem Proletariat anstünde“.725 Derartige „volksfremde“ Gestaltungstendenzen widersprechen dem Dogma des sozialistischen Realismus, weshalb sie in der Geschichte der deutschen Literatur als Ansätze einer „Moral des Kapitalismus“726 diffamiert werden. Ein derartiges Interpretationsvorgehen, das den Rahmen einer zumindest der Tendenz nach auf 718 719 720

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Bd. IX, S. 256. Bd. IX, S. 255. Diese Abneigung ging angeblich soweit, dass Hauptmann den alten Glasbläser Huhn aus Und Pippa tanzt! der Figur des Caliban aus Shakespeares Sturm nachbildete, wodurch „Hauptmann dem Proletariat die Gestalt des Halbtiers“ verliehen habe (Bd. IX, S. 259). Saadhoff, Germanistik, S. 343-349. „In Hannele war von der historischen Potenz des Proletariats nichts mehr sichtbar; geblieben war nur seine Hässlichkeit, der die Schönheit des Phantasiehimmels gegenübergestellt wurde. […] Und so großartig Hauptmann zu gestalten vermochte, was er im Leben vorfand, so peinlich ist sein Versagen überall, wo er eine poetische Welt spekulativ zu erfinden suchte“ (Bd. IX, S. 257). Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. X: 19171945, Berlin (Ost) 1973, S. 618. Bd. IX, S. 260. Ebd. Ebd.

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Ausgewogenheit abzielenden Wertungspraxis zerbricht, findet im Fortgang auch Niederschlag in der kritischen Reflexion über die „moralische Substanz“727 der ‚sozialistisch verwertbaren’ Stücke Fuhrmann Henschel, Rose Bernd, Der rote Hahn und Die Ratten.728 Wenngleich die Geschichte der deutschen Literatur vom Bemühen zeugt, zeitkritische Nuancen in Hauptmanns Werk nach wie vor als „Kapitalismuskritik“ zu deklarieren, so ist die Unzufriedenheit über das von Hauptmann (nicht) erreichte ideologische Reflexionsniveau doch allgegenwärtig.729 Das Drama Vor Sonnenuntergang erfährt so Kritik, weil es sich um die nur „unscharf wahrgenommene Krise der bürgerlichen Welt“730 handele: Das Stück offenbart dieser Gesamtdeutung nach „eine ungenügende Beachtung der realen gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart“731 durch den bürgerlich entrückten Hauptmann und markiert in dieser Sichtweise deshalb selbst nur eine „glanzvolle Kehrseite“732 der im Verfall begriffenen bürgerlichen Gesellschaft. Eine nochmalige Kursänderung in der Hauptmann-Bewertung lässt die Geschichte der deutschen Literatur in Hinblick auf die letzte Lebensphase Hauptmanns in der NS-Zeit erkennen. Zwar erfährt Hauptmanns Illusion von einer „Harmonisierung der Widersprüche“733 Spott und Tadel, dennoch werden seine letzten Werke unter der Überschrift „Der Beitrag bürgerlich-humanistischer Künstler zu einer antifaschistisch-kämpferischen Dramatik“ subsumiert. Als Ausweis seiner prinzipiellen Unbescholtenheit dient der Abdruck der „Verfügung von Goebbels wegen der Ehrungen zu G. Hauptmanns 80. Geburtstag“734. Das Schriftstück sollte belegen, dass Hauptmann trotz einiger Verfehlungen privatgesellschaftlicher Natur als Schriftsteller der NS-Ideologie gegenüber in weiter Ferne stand und vom NS-Regime schikaniert wurde. Ebenfalls entlastend wirkt die schwerpunktmäßige Betrachtung – unter Rekurs auf Bechers Äußerungen von

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Bd. IX, S. 261. Bd. IX, S. 260-262. „[…] das mangelnde Verständnis des Dichters für die fundamentale Tatsache, daß eine neue Epoche begonnen hatte, seine nebelhaften Vorstellungen von einer kontinuierlich zu erhaltenden Bürgerlichkeit wirkten sich dahingehend aus, daß auch seine Kapitalismuskritik das Spezifische der neuen Zeit nicht traf, sondern – […] – die Fragestellungen von 1900 oder 1910 reproduzierte“ (Bd. X, S. 250). Bd. X, S. 251. Bd. X, S. 250. Bd. X, S. 251. So wird Hauptmann u.a. vorgeworfen, dass er mit Die Tochter der Kathedrale NaziDeutschland kurz nach Kriegsausbruch eine „Disharmonisches harmonisch“ auflösende Uraufführung beschert habe (Bd. X, S. 617 f.). „Da er die immer wieder registrierten Widersprüche im Imperialismus nicht als historisch-gesellschaftliche zu begreifen vermochte, entzog er sie dem realgeschichtlichen Eingriff, […]. Und so akzeptierte er sie. Sein Versuch, humanistische Positionen zu bewahren, war behaftet mit diesem – apologetisch wirkenden – Merkmal illusionärer Überwindung der Widersprüche“ (ebd.). Ebd., S. 616.

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1945 – der in der NS-Zeit entstandenen Werke Die Finsternisse, Der große Traum und Atriden-Tetralogie. Diese Texte werden als „Versuche der Auseinandersetzung mit dem Faschismus und der Distanzierung von ihm“ gewertet.735 Gerade die Atriden-Tetralogie lege Zeugnis ab von Hauptmanns „fortschreitende[r] Desillusionierung über den Faschismus“.736 Er habe aus der „Position absoluter Perspektivlosigkeit“ heraus die „Wirkungsweise der faschistischen Demagogie zu denunzieren“ versucht und gezeigt, „wie die herrschenden Ideologen es verstehen, reale Forderungen der Volksmassen als Werkzeug ihrer eigenen kriegerischen Politik zu missbrauchen“.737 Letztlich erscheint Hauptmann in diesem Literaturgeschichtswerk als ein ursprünglich der Arbeiterklasse zugetaner, bürgerlicher Schriftsteller, der – in die Widersprüche seiner Zeit verstrickt – den Kontakt zum Proletariat verlor und damit zwangsläufig in einem politisch unbrauchbaren „Gefühl ohnmächtigen Leidens an der Welt“738 verharrte. In gewisser Weise war Hauptmann damit als ein doppeltes Medium sozialistischer Volkspädagogik einsetzbar. In ihm sah die DDR-Kulturpolitik lange Zeit sowohl die guten Anlagen wie das Scheitern des bürgerlichen Humanismus verkörpert. Die ‚Chiffre Hauptmann’ diente der Geschichte der deutschen Literatur so einerseits als Personifizierung der eigenen kulturellen Ursprünge, andererseits machte seine weitere Werkgenese in sozialistischer Perspektive deutlich, wo die Insuffizienzen der bürgerlichen Literatur lagen, und wo ein neues, sozialistisches Schreiben notwendig wurde.

2.

Ideologie und Ästhetik des Programmhefts

Da im nächsten Kapitel dieser Untersuchung die Präsenz von sozialkritischen Dramen Hauptmanns auf DDR-Bühnen im Mittelpunkt stehen wird, scheint es lohnenswert, zunächst den zentralen Paratext jeder Inszenierung in den Blick zu nehmen: das Programmheft. Als materielles Medium der ideologisch-lenkenden Vermittlung von Aufführungstext und gesellschaftlichem Kontext stellt das Programmheft ein zentrales kulturpolitisches Instrument zur gezielten Verortung des Hautmann’schen Oeuvres in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der DDR dar. Wie im Folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt werden soll, formuliert das Programmheft auf dem Wege textueller und visueller Verstehenshilfen ein ästhe735 736 737 738

Ebd., S. 615 f. Ebd. Ebd., S. 618. Ebd.

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tisch-politisches Bedeutungsgewebe, in das die Zuschauer die Aufführung einordnen sollen. Aufgabe des Programmhefts ist es, knappe Informationen bereitzustellen und Einblicke zu gewähren, die den Kunstgenuss des Zuschauers steigern, indem sie sein Verstehen vertiefen und ihn auf das betreffende Stück einstimmen bzw. im Nachhinein seinen Blick auf das erlebte Theaterereignis schärfen. Dies kann z.B. durch einen historischen Abriss zur Entstehungszeit des Stückes und/oder seiner Handlungszeit geschehen. Auch biografische Skizzen, die relevante Beweggründe des Autors und lebensweltliche Bedingungen seiner Zeit vermitteln, und entsprechendes Bildmaterial gehören zum Standardrepertoire des Programmhefts. Das Programmheft als „Kunstwegweisers“739 soll dabei zumeist einen doppelten Brückenschlag bewerkstelligen: Einerseits führt es den Zuschauer zum Stück, „damit er darin sucht, worauf es der Bearbeitung angekommen ist“, andererseits führt es „ihn zugleich über das Stück hinaus, damit er folgert, worauf es in der Wirklichkeit ankommt“.740 Das Programmheft bietet dem Theaterbesucher nicht nur Verstehenshilfen für das Bühnengeschehen, sondern auch eine ergänzende Sicht auf die eigene Lebenswelt. Aufgrund der herrschenden Papierknappheit waren in der Nachkriegszeit „Schlichtheit und Sachlichkeit“ der Programmhefttexte in besonderem Maße geboten: So konnte man im Juni 1948 im Theater der Zeit Folgendes über die Aufgaben des „Theaterzettel“-Verfassers – unmittelbar nach dem Krieg ersetzten oftmals Handzettel die ausführlicheren Programmhefte – lesen: „In gedrängter Fülle und äußerster sprachlicher Disziplin, ohne jede hohltönende Phrase sollte er dem Publikum das Wesentliche über das Stück und seinen Verfasser mitteilen.“741 Die erwartete Neutralität derartiger Informationen täuscht allerdings darüber hinweg, dass es sich beim Programmheft selbst um ein Primärzeugnis der historischen Rezeption im Sinne der von Genet analysierten „Paratexte“742 handelt. Das Programmheft atmet den weltanschaulichen Geist seiner Zeit und zeigt in der ihm zugedachten Aufgabe der impliziten Rezeptionslenkung oft deutlicher als manche Inszenierung selbst, wie man ein Stück verstanden wissen wollte. Wie darzustellen ist, waren die Inhalte, die Eingang in Programmhefte zu Hauptmann-

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Bär, Das Programmheft, in: TdZ, 6 (1951), H. 1, S. 24 f., hier: 24. Ebd. Rudolf Schmoll, Der Theaterzettel, in: TdZ, 3 (1948), H. 6, S. 23. Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001.

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Inszenierungen fanden, ihrem Charakter nach oftmals (semi-)politische Beglaubigungstexte.743 Durch sie sollten die neuen Theaterbesucher, „Millionen unverbildeter, empfänglicher Werktätiger“744, nicht nur als „Freunde“ des „arg gebeutelte[n] deutsche[n] Theaters“ gewonnen werden. Im Sinne der Affirmation des sozialistischen Gesellschaftsanspruchs sollte auf dieses Publikum volkspädagogisch eingewirkt werden: „Das Programmheft“, so hieß es 1951 im Theater der Zeit, dürfe man auch deshalb „getrost als Propagandaschrift ansprechen“.745 Die politische Dimension des Programmhefts betont das Berliner Ensemble in seinem Dokumentations- und Theorieband Theaterarbeit von 1961. Die Hauptfunktion des Programmhefts zu Brechts Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Biberpelz und Roter Hahn – eine Rezeptionsleistung, auf die noch ausführlich zurückzukommen ist – wird hier folgendermaßen umrissen: „Das Programmheft will – wie die Bearbeitung – hauptsächlich das Stück politisch stützen.“746 Die „Stützfunktion“ bezieht sich in diesem Fall jedoch nicht nur auf die Handlung der von Brecht bearbeiteten Hauptmann-Stücke, sondern auch auf das politische Handeln des Zuschauers selbst, das es zu aktivieren gilt.747 Das Programmheft verfolgt in der Auswahl der abgedruckten Texte und Abbildungen bei Helene Weigel und Bertolt Brecht einen an sozialistischen Deutungsmustern orientierten, 743

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Die einzige Auseinandersetzung mit DDR-Programmheften zu HauptmannInszenierungen findet sich bislang bei Zappel und Hüther. Das gesammelte Material wird dort allerdings nur oberflächlich und verehrungszentriert betrachtet, z.B. heißt es über die Darstellungstendenz der Programmhefte: „Beachtlich und sympathisch ist die positive und doch objektive Darstellung der Person und der Werke Gerhart Hauptmanns. […]. Hauptmanns politisches oder besser gesagt unpolitisches Verhalten in den zwanziger Jahren und nach 1933 wird sachlich dargestellt. In dieser Beziehung unterscheiden sich diese Veröffentlichungen in der ehemaligen DDR wohltuend von manchem, was in der Bundesrepublik von einigen Journalisten teils aus Ignoranz, teils als bewusste, bösartige Diskriminierung erschienen ist“ (dies., Gerhart Hauptmann, S. 16). Unwissenschaftlich wird auf die Wiedergabe negativer Wertungen reagiert: „Die Volksbühne Berlin kann es zwar nicht lassen, im Programmheft zu Der rote Hahn (Spielzeit 1987/88), die elenden Worte von Alfred Kerr von 1933 über Gerhart Hauptmann zu zitieren, bringt aber auf der nächsten Seite die Meinung von Abusch zu Hauptmanns politischer Einstellung. Vielleicht war dieses Zitat von einer Persönlichkeit wie Abusch, dessen bewegtes Leben die Problematik jener Jahrzehnte offenbart, als eine Richtigstellung der Kerrschen Hetze gedacht“ (ebd., S. 17; vgl. insgesamt S. 16-25). Zwar wird erkannt, dass „Auswahl und Aussage“ der Programmhefte z.T. „unausgewogen und einseitig“ sind, dieser Umstand wird jedoch wie folgt entschuldigt: „Das alles mag aus dem Zwang und dem Geist jener Zeit, in der die sozialistische Ideologie bestimmte, was angebracht und was erwünscht war, durchaus verständlich sein“ (ebd., S. 19). Bär, Das Programmheft, in: TdZ, 6 (1951), H. 1, S. 24 f., hier: 25. Ebd. S. 24. Das Programmheft, in: Helene Weigel (Hg.), Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1961, S. 225. „ER [i.e. der Zuschauer] wird vorbereitet nicht mehr nur auf eine im Grunde unverbindlich gewordene, sozial entschärfte Diebskomödie, sondern auf ein politisches theatralisches Ereignis, das auch bei ihm eine politische Haltung provoziert“ (ebd).

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historisch-kritischen Ansatz. Ihre Herangehensweise zielt auf die Erhellung „geschichtlicher Realitäten“, indem sie die unsichtbaren Machtlinien einer Zeit durch Konfrontation ihrer äußeren Symptome erkennbar machen will. Im Hinblick auf die Biberpelz-Adaption Brechts resultiert aus der historisch-kritischen Methode eine Fokussierung auf die „Geschichte der Arbeiterbewegung, die revolutionäre Epoche der Sozialdemokratie zur Zeit des Sozialistengesetzes“748. Dabei soll die „Erinnerung an revolutionäre Traditionen“749 aufgefrischt, nicht aber eine Identifikation angebahnt werden. Im Gegenteil sucht man gerade mit dieser Darstellungstendenz zu verhindern, dass der „Zuschauer die Sozialdemokratie von 1878/90 unhistorisch gleichsetzt mit der Sozialdemokratie von 1951“750. Das Programmheft soll in dieser Hinsicht die kritische Distanz erzeugen helfen und en passant ebenfalls die behauptete Weiterentwicklung des organisierten Sozialismus vor Augen führen. Standards setzten Weigel und Brecht auch in der Technik der historischen Gegenüberstellung in Text, Bild und Schrift. So wie man antiquierten „Schrifttype[n] im Zeitcharakter“ die entsprechenden Gegenwartstexte bezeichnenderweise im Schrifttyp Futura gegenüberstellte, verfuhr man mit Zeichnungen und Fotografien: „[D]en Simplizissimus-Karikaturen stehen im Programm Biberpelz und Roter Hahn Fotografien aus der Gegenwart gegenüber. Zeigte z.B. eine Karikatur den König, der angesichts einer Demonstration von revolutionären Arbeitern ausruft: ‚Das wird niemals, niemals, niemals …’, so zeigte das gegenübergestellte Bild eine Aktivistenbesprechung in einem volkseigenen Betrieb. Die Jahreszahlen waren markiert: 1900-1951.“751 Diese Montagetechnik, die ihre Wurzeln in den satirischen Collagen der 1920er Jahre haben dürfte, beruht auf einem Modus der Verdichtung, der letztlich alles mit allem in Beziehung setzt und so die historische Dynamik hin auf die sozialistische Gegenwart veranschaulicht. Brechts Verfremdungstheorie erfährt hier eine Erweiterung, indem historische und aktuelle Momentaufnahmen ihres bloßen Abbildungscharakters entkleidet und auf eine symbolische Ebene gehoben werden. Der Zuschauer soll so den gesellschaftlichen Fortschritt erkennen, der in der materialistischen Geschichtsauffassung als Direktive ausgegeben wurde. Als in

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Dresden Die Weber 1953 – „sechzig Jahre nach der Entstehung des Werkes“752 – neu inszeniert werden, entscheidet man sich auch dort in der Programmheftgestaltung für jene Praxis der traditionsnahen Transponierung des Werkgegenstandes in die sozialistische Gegenwart. Nach der Darstellung der historischen Lebensumstände der schlesischen Weber, einem Ausschnitt aus einer Weber-Kritik von Franz Mehring, einer mit Bildern von Lenin, Stalin, Engels, Marx und Pieck gespickten Zeittafel der europäischen Sozialismusgeschichte, sowie zahlreichen Gorki-Zitaten wird der Leser des Programmhefts auf den letzten beiden Seiten zurück in die Gegenwart der DDR geführt. Unter der Überschrift Der Arbeiter in der neuen Gesellschaft werden ein Gesetzestext und eine Festrede als Indikatoren der Veränderung in das Weber-Programmheft eingebunden:753 Es handelt sich um einen Auszug aus dem „Gesetz der Arbeit, zur Förderung der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten“ aus dem Jahre 1950 sowie um einen Ausschnitt aus der „Festrede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zum zweiten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik“ von 1951. Hauptmanns Schilderung des Weberelends und -protests dient in dieser Herangehensweise als Negativfolie und insofern als Bestätigung des sozialistischen Fortschritts. Die Weber geraten zu einem Medium der Selbstglorifizierung der jungen DDR. Der eher schlecht als recht organisierten Weberbewegung wird die Erfolgsgeschichte der „Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung“ als „neue gesellschaftliche Kraft“ in der DDR gegenübergestellt.754 Die Weber werden dem Leser des Programmhefts – und damit dem Theaterbesucher – als Porträt jener schaurigen Gesellschaftszustände präsentiert, die im Zeitraum vor der ‚Sozialistischen Revolution’ herrschten. Hierdurch sollte eine Art motivierendes Triumphgefühl erzeugt werden, zumal jene grauen Vorzeiten als längst überwunden galten. Zur Illustration der Gegensätze bzw. Entwicklungssprünge zeigt jenes Dresdner Weber-Programmheft diverse Fotografien: Darunter ein lächelnder Wilhelm Pieck „im Gespräch mit dem jüngsten Mitglied unserer Volkskammer“755 und eine jun752

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Staatstheater Dresden, Generalintendant Karl Görs, Spielzeit 1953/54, Gerhart Hauptmann: Die Weber, Dresden 1953 (THA DD). Vgl. Abb. 2 im Anhang, S. 286. Zitat aus: Gesetz der Arbeit, zur Förderung der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten (1950), in: Staatstheater Dresden, Generalintendant Karl Görs, Spielzeit 1953/54, Gerhart Hauptmann: Die Weber, Dresden 1953 (THA DD). Derartige Konstruktionen werden bei Zappel und Hüther mit Hilflosigkeit registriert: „Ein wenig ratlos ist der neutrale Leser über nicht wenige Beiträge in Programmheften von Theatern der ehemaligen DDR, die weder mit Gerhart Hauptmann noch mit dem jeweiligen Stück noch mit Literatur überhaupt etwas zu tun haben. Es handelt sich um rein propagandistische Sprüche des klassischen Sozialismus oder der kommunistischen Aera

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ge Frau beim Überwachen der Spulen an einer modernen Webmaschine. Die Rückseite des Programmhefts756 ziert die Fotografie eines farbigen Mannes, der von zwei Jungen – einer davon in FDJ-Uniform – freundschaftlich umarmt wird. Den Blick gen Osten, d.h. in Richtung Moskau, gewandt, strahlen sie, einen Strauß Blumen im Arm, der Zukunft entgegen. Denkbar ist, dass es sich bei dem Farbigen um einen kubanischen Baumwollpflücker handeln soll, in jedem Falle aber soll die Abbildung die verbindende Kraft des Sozialismus illustrieren. Unterhalb dieser symbolhaften Darstellung des Völkerfriedens im Geiste des Sozialismus wurde zudem noch das als FDJ-Lied in der DDR berühmt gewordene Gedicht Du hast ja ein Ziel vor den Augen757 des kommunistischen Schriftstellers Louis Fürnberg abgedruckt. Mit dem Gedicht Fürnbergs endet das Dresdner Weber-Programmheft in einer volkspädagogischen Einschwörung auf das sozialistische Sendungsbewusstsein. Die Assoziation eines anderen Huldigungsgedichts Fürnbergs lag für die Programmheft-Leser wohl auf der Hand: Für den III. Parteitag der SED im Juli 1950 hatte Fürnberg das Lied von der Partei geschrieben, das infolge bei allen offiziellen Anlässen gesungen wurde und in dem das „geschmiedete Glück“ allein auf die Errungenschaften der Partei zurückgeführt wird.758 Das Programmheft der Dresdner Weber-Inszenierung von 1953 griff bewusst intertextuelle Bezüge zur kommunistischen Propaganda-Literatur auf, die dazu beitragen sollten, den bei Hauptmann nur ansatzweise vorhandenen revolutionären Impetus zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus halfen derartige BildLyrik-Collagen dabei, auf einprägsame Weise die gewünschten Kontinuitäten im Geschichts- und Weltverständnis zu vermitteln. Auch im Programmheft der Weber-Inszenierung der Städtischen Bühnen Erfurt (Spielzeit 1959/60) wird das Schema der dichotomischen Gegenüberstellung eingesetzt. Wieder einmal soll das Schema die historische Entwicklungsdynamik zwischen einem schlechten Vergangenheit und einer guten Gegenwart visualisieren. Unter dem Florian Geyer-Zitat „Die Enkel fechtens besser aus“ wird hier eine Verbindung zwischen Weberaufstand und DDR-Wirklichkeit hergestellt. Die Arbeiterschaft in den DDR-Textilfabriken erscheint als überlegene

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dieses Jahrhunderts. Man kann sich kaum vorstellen, daß die an den Theatern für die Abfassung eines Programmheftes Verantwortlichen solche Beiträge ohne direkten oder indirekten Zwang aufgenommen haben“ (dies., Gerhart Hauptmann, S. 23). Vgl. Abb. 3 im Anhang, S. 287. „Du hast ja ein Ziel vor den Augen, / damit du in der Welt dich nicht irrst, / damit du weißt, was du machen sollst, / damit du einmal besser leben wirst. // […] // Fassen die Hände / den Hammer und Spaten: / Wir sind Kameraden, / schmieden das Glück!“ Vgl. Abdruck aller drei Strophen und Interpretation in: Helmut Fuhrmann, Vorausgeworfene Schatten. Literatur in der DDR – DDR in der Literatur. Interpretationen, Würzburg 2003, S. 14-22.

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Erbengeneration, die stolz sein kann auf die Tradition, in die sie gestellt ist, und auf den seither erreichten technischen Fortschritt. Das Erfurter WeberProgrammheft stimmt in die seit Ende der 1950er Jahre verstärkte Propagierung der ‚wissenschaftlich-technischen Revolution’ ein und kommt in seinen Schlussfolgerungen gleichsam den gesellschaftspolitischen ‚Forderungen des Tages’ nach: „Das, wofür die Weber im Jahre 1844 kämpften, bluteten und starben, all’ ‚ihrer Sehnsucht Verlangen’, wird in unserer Deutschen Demokratischen Republik mit dem Aufbau des Sozialismus Wirklichkeit.“759 Angesichts der rückständigen DDR-Situation in den Jahren vor dem Mauerbau, die vom West-Exodus der Fachkräfte geprägt war, ist offensichtlich, dass mit diesem und anderen Programmhefttexten versucht wurde, die Theaterbesucher propagandistisch zu beeinflussen. Indirekt wird dazu aufgefordert, der DDR die Treue zu halten. Im Hinblick auf die in ihr entstehende neue sozialistische Gesellschaft wird versprochen, dass sie nach der mühsamen Aufbauphase alle „Sehnsüchte“ ihrer Bürger erfüllen werde.760 Ein politischer Deutungsansatz der Weber, der in analoger Stoßrichtung übrigens auch gegen die BRD eingesetzt wurde.761 Besagten Freiheits- und Wohlstandsversprechungen sind im Erfurter Programmheft zwei Illustrationen beigegeben, die die Suggestion der lebens- und arbeitswerten DDR, des Fortschritts und der Arbeiterfreundlichkeit untermalen sollen. Die Abbildungen762 zeigen Webmaschinen im VEB Baumwollenwerk Clara Zetkin (Mühlhausen) und im VEB Cunnersdorfer Wirkwarenfabriken (Cranztal/Erzgebirge). Die dargestellte Technik763 – Symbol der am Fortschritt orientier759

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Programmheft der Städtischen Bühnen Erfurt, Die Weber, Spielzeit 1959/60, Intendant: Albrecht Delling, S. 17 (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner). In einem einige Jahre älteren Programmheft zu einer Weber-Inszenierung des Landestheaters Halle ist – quasi als Steigerung der skizzierten Sehnsuchts- und Fortschrittsmetapher – ein Arbeitsbericht aus den sowjetischen Spinnereien in Kupawna mit dem glorifizierenden Titel Weber im kosmischen Zeitalter überschrieben (Landestheater Halle, Programmheft Die Weber, Spielzeit 1962/63, s. Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner). Im Weber-Programmheft der Berliner Volksbühne ist zu lesen: „Darum kämpfen heute in Westdeutschland die Arbeiter wie gestern und wie vor hundert Jahren gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Darum können wir sagen: Der Kampf der Weber von 1844 ist von erschreckender Aktualität und wird aktuell bleiben, solange noch das Kapital in einem Teile Deutschlands herrscht!“ (Jürgen Kuczynski, Einführung, in: Programmheft, Die Weber, Volksbühne Berlin, Spielzeit 1957/58, zit. nach: Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 24). Vgl. Abb. 4 im Anhang, S. 288. Bemerkenswert sind die ausführlichen Erläuterungen zur Arbeitswelt und Technik der DDR im Programmheft: „Im VEB Baumwollenwerk ‚Clara Zetkin’ in Mühlhausen leistet die Verdiente Aktivistin Liesbeth Kühnel hervorragende Qualitätsarbeit. Sie und ihre Arbeitskollegen arbeiten in vorbildlich ausgestatteten, hygienisch einwandfreien und vol-

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ten DDR – erscheint hier mit der historischen Weberthematik – als Konsekutiv der vergangenen Arbeitswelt – in Einklang gebracht. Die Einbindung der Abbildungen in das Programmheft spiegelt das damalige kulturpolitische Bestreben wieder, eine Einheit von wissenschaftlich-technischer und sozialistischer Kulturrevolution herzustellen.764 War es bei Weber-Inszenierungen die DDR-Textilindustrie, die durch den Abgleich mit der Vergangenheit aufgewertet werden sollte, so wurde für die Florian Geyer-Inszenierung der Ostberliner Volksbühne am Luxemburgplatz (Spielzeit 1962/63) eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft als realsozialistisches Vergleichsobjekt herangezogen. Unter dem Titel Florian Geyer lebt in Albinshof wurde im Programmheft die „LPG Florian Geyer“ in Albinshof/Mecklenburg als agrarwirtschaftliches und soziales Paradebeispiel des DDRFortschritts – mit Zweieinhalbzimmerwohnungen für Genossenschaftsmitglieder, neuem Ledigenwohnheim, Kulturhaus etc. – vorgestellt.765 Diese Errungenschaften im Kontext der damals programmatisch betriebenen „Hebung der Massenkultur“766 kommentiert der LPG-Vorsitzende Joachim Fischer im Programmheft gemäß der Vollstreckertheorie: „Wovon Florian Geyer einst träumte, daß die Menschen frei sein sollen und für ihr eigenes Wohl schaffen können, ist in unserer Republik Wirklichkeit geworden. Wir ehren diesen aufrechten, tapferen Bauernführer, indem wir sein Vermächtnis erfüllen und unsere Errungenschaften schützen.“767 Durch den erreichten Fortschritt, so ist in diesem Florian Geyer-Programmheft zu lesen, habe die Genossenschaft den „Name[n] Florian Geyer mit neuem Inhalt erfüllt und durch die Dörfer unserer Republik getragen“768. So spreche man nun „über unsere Grenzen hinaus […] mit Achtung von der LPG Florian Geyer“, was dem LPG-Vorsitzenden Anlass zum pathetischen Fazit bot: „Florian Geyer lebt

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len Arbeitsschutz gewährenden Produktionsstätten. In ihrer Freizeit genießen sie und ihre Familien die zahlreichen sozialen und kulturellen Errungenschaften unseres Arbeiterund-Bauern-Staates. Das gilt auch für Meister Hunger und die Kollegin Handschuh, die unser Bild bei der Überprüfung der Qualität einer neuen Fertigung von Handtüchern im VEB Cunnersdorfer Wirkwarenfabriken Cranzal/Erzgebirge zeigt. Gewebt wird hier auf einer neuentwickelten Malimo-Maschine. Diese in der Welt vollkommen neue Hochleistungsmaschine ersetzt den Webvorgang durch Vernähen der Kett- und Schlussfäden. Sie übertrifft die Leistung eines mechanischen Webstuhls um mehr als das Zwanzigfache“ (Programmheft der Städtischen Bühnen Erfurt, Die Weber, Spielzeit 1959/60, S. 17 f.) Vgl. u.a. Scharfenschwerdt, Literatur, S. 46. Renate Apitz, Florian Geyer lebt in Albinshof, in: Programmheft der Volksbühne am Luxemburgplatz, Florian Geyer, Spielzeit 1962/63, Redaktion Fritz Marquardt (Dramaturg), S. 14 f. (Inszenierungsmappe zu Florian Geyer, ThA Volksbühne Berlin). Vgl. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 144 f. Apitz, Florian Geyer lebt, in: Programmheft der Volksbühne, Spielzeit 1962/63, S. 15. Ebd.

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mit uns.“769 Erwähnenswert erscheint auch die Gestaltung der Rückseite dieses Programmhefts: Wurde die Aussageintention im Falle des Dresdner WeberProgrammhefts durch ein kommunistisches Huldigungsgedicht pointiert, so wählte man beim Berliner Florian Geyer-Programmheft ein Zitat vom XXII. Parteitag der KPdSU, der im Oktober 1961 in Moskau stattgefunden hatte. Zitiert wird Nikita Chruschtschow und dessen Vorstellung von einem siegreichen, menschenwürdigen Sozialismus: „Seit Jahrhunderten träumte die Menschheit von einer Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung, keine soziale und nationale Unterdrückung geben wird, in der über den Köpfen der Menschen nicht die blutige Geißel des Krieges geschwungen wird. Viele Helden sind im Kampf für die Sache des Volkes den Tod der Tapferen gestorben. […] Die Größe der marxistisch-leninistischen Lehre besteht darin, daß sie einen realen Weg zur Verwirklichung der Hoffnungen der arbeitenden Menschen gewiesen hat.“ Als letztes Beispiel für die Gegenüberstellung von Texten und die suggestive Einbindung von Fotografien in Programmhefte sei die Ratten-Inszenierung der Bühnen der Stadt Gera genannt. Das Stück feierte dort unter der Regie Rüdiger Volkmers am 30. Juni 1977 Premiere. Das dazugehörige Programmheft enthält u.a. Textauszüge aus der Tragikomödie Hauptmanns:770 Beispielsweise zeigt eine Doppelseite auf der linken Seite eine Textpassage aus jener Szene des II. Aktes, in der der abgehalfterte Theaterdirektor Harro Hassenreuter771 dem Maurerpolier John zu seinem Stammhalter gratuliert: „Bravo! Der Kaiser braucht Soldaten, und Sie hatten einen Stammhalter nötig, Herr John! Gratuliere Ihnen von ganzem Herzen!“ (CA II, 760) Das Kind, das Frau John dem polnischen Kindermädchen Piperkarcka abgeschwatzt und als ihr eigenes ausgegeben hat, bezeichnet Hassenreuter in wilhelminischer Manier hier als „[a]cht Pfund und zehn Gramm frisches deutschnationales Menschenfleisch!“ (CA II, 760). Der Text des Programmhefts fährt mit einem weiteren Bruchstück aus der Unterhaltung zwischen Hassenreuter und 769 770

771

Ebd. Bühnen der Stadt Gera, Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold, Leitung: Heinz Schröder, Spielzeit 1976/77, Gerhart Hauptmann, Die Ratten, hg. von der Intendanz, Abteilung Dramaturgie (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner). Hassenreuters Name spiegelt die mentale Grundstruktur des Ressentiments als soziopolitischer Hintergrund, die die Figur im Sinne des wilhelminischen ‚Übergangsmenschen’ als Zeitgenossen Diederich Heßlings aus Heinrich Manns Der Untertan ausweist. Zur Übermenschentypologie und dem Beispiel Diederich Heßlings (vgl. Koch, Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne, S. 63 ff.).

137

John fort. Nun steht die politische Haltung Johns, d.h. dessen Bismarckverehrung, zur Disposition. Voll von Militarismusstolz behauptet Hassenreuter an dieser Stelle, dass die „neue künftige Generation [...] wissen [werde], was sie dem Schmiede der deutschen Einheit, dem gewaltigen Heros schuldig ist“ (CA II, 761). Den Textauszügen aus Hauptmanns Die Ratten ist eine die ganze rechte Seite einnehmende Fotografie gegenübergestellt.772 Die Abbildung zeigt einen kleinen Jungen in HJ-Uniform, der in seiner linken Hand eine Hakenkreuzfahne hält und seine rechte Hand zum Hitlergruß erhebt. Flankiert wird der Junge von einem Schutzmann, dessen Uniform noch aus der Weimarer Republik zu stammen scheint. Im Hintergrund sind junge Männer und ein weiterer Uniformträger zu erkennen, so dass die Szene an einen Demonstrationsmarsch erinnert. Kommentare, Überschriften oder historische Informationen zum Bildmaterial fehlen indes gänzlich. Für den zur Sinnrekonstruktion aufgeforderten Betrachter entsteht der Eindruck, dass es sich bei dem Hitlerjungen um eben jenes „deutsch-nationale Menschenfleisch“ handelt, von dem Hauptmann den Theaterdirektor sprechen lässt. Dem Text Hauptmanns, der ein eher unbewusstes, mentalitätsbestimmtes Zeitbild des Kaiserreichs darstellt, werden damit präfigurative Eigenschaften unterstellt. Die Fotografie bildet die fatalen Auswüchse einer Geisteshaltung ab, die Hauptmann, als er 1911 Die Ratten schrieb, nicht antizipieren konnte – auch wenn ihm diese prophetische Haltung oftmals zugeschrieben wurde.773 Zur Zeit der Abfassung war noch nicht einmal absehbar, dass die Militär-Manie in den Ersten Weltkrieg mit all seinen katastrophalen Folgen münden würde. Eine andere Doppelseite des Programmhefts774 zeigt ebenfalls die beschriebene Anordnung im Dienste einer schlagbildhaft argumentierenden Kritik am preußisch-deutschen Militarismus und seinen in die NS-Zeit mündenden Traditionslinien: Links oben sieht man nun Kaiser Wilhelm II. bei der Belobigung von Zivilisten. Dieser Abbildung steht auf der rechten Seite eine Fotografie gegenüber, die Goebbels – wohl auf Frontbesuch – beim Abschreiten einer Soldatenreihe zeigt. Unterhalb des Kaiserbildes ist in der linken Bildhälfte ein weiterer Ratten-Textauszug ohne Kontextualisierung abgedruckt. Es handelt sich um Hassenreuters Tirade gegen die ‚Rattenplage’ aus dem III. Akt, in der er den Pastorensohn Erich Spitta ver-

772 773

774

Vgl. Abb. 5 im Anhang, S. 289. Zu einer Ratten-Premiere der Berliner Volksbühne (Spielzeit 1956/57) hieß es z.B.: „Das Kaiserreich – Hauptmann bemerkte längst alle Anzeichen dafür – schickt sich an, sein Ende mit der Walpurgisnacht eines Weltkriegs blutig zu begehen“ (Claus Hammel, Die Ratten. Hauptmanns Berliner Tragikomödie in der Volksbühne, in: ND [12.04.1956]). Vgl. Abb. 6 im Anhang, S. 290.

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höhnt, einen verkrachten Theologiestudenten, der sich der Schauspielerei wie auch Hassenreuters Tochter zugewendet hat: „Sie sind eine Ratte! Aber diese Ratten fangen auf dem Gebiete der Politik – Rattenplage! – unser herrliches neues geeinigtes Deutsches Reich zu unterminieren an. Sie betrügen uns um den Lohn unserer Mühe, und im Garten der deutschen Kunst – Rattenplage! – fressen sie die Wurzeln des Baumes des Idealismus ab: sie wollen die Krone durchaus in den Dreck reißen. – In den Staub, in den Staub, in den Staub mit euch!“ Auf gleicher Höhe des Zitats zeigt die gegenüberliegende Seite eine Fotografie aus der Nachkriegszeit. Ein Straßenzug mit amerikanischem Panzer und bewaffneten amerikanischen Soldaten ist zu sehen. Niedergestreckt, im Staub der Straße, liegen dicht aneinandergereiht Menschen, die die Arme hinter ihren Köpfen verschränkt halten. Um sie herum sind einige Wachsoldaten positioniert, die jene Menschen zuvor zusammengetrieben zu haben scheinen. Auch auf dieser Doppelseite fehlen weiterführende Informationen, doch die intendierten Assoziationen sind offensichtlich: Für einen Programmheft-Betrachter, der zumindest ansatzweise mit der marxistisch-leninistischen Sicht auf die jüngste deutsche Geschichte, insbesondere den Ersten und Zweiten Weltkrieg, vertraut ist, müssen Wilhelm II. und Goebbels durch die beschriebene illustrative Kontextualisierung als ‚Ratten’ bzw. ‚Rattenfänger’ erscheinen, die die Einheit ihres Landes zerstört haben. Hauptmanns Ratten werden in dieser Lektüre zu einer Tätertypologie, die im Sinne sozialistischer Geschichtsschau die Verantwortlichen des „deutschen Sonderwegs“ benennt und nebenbei zugleich das deutsche Volk in toto als Masse der Verführten von konkreten Verantwortlichkeiten entlastet. Das letzte Bild allerdings lässt zwei Deutungen zu: In Analogie zum Vorausgegangenen könnte geschlossen werden, dass es sich bei den in den Staub geworfenen Gefangenen gleichfalls um eben jene ‚Ratten’ handelt; auch sie wären dann als Nationalsozialisten zu identifizieren, die von den amerikanischen Truppen dingfest gemacht wurden. Da auf beiden Doppelseiten Textauszüge gewählt wurden, die die Einheit Deutschlands, ihre Gefährdung und Verteidigungswürdigkeit thematisieren, könnte – und dies scheint aufgrund des politischen Kontexts des Programmhefts am wahrscheinlichsten – den abgebildeten amerikanischen Streitkräften eine pejorative Wertung zugedacht gewesen sein. Schließlich wurde ihnen in der DDR angelastet, als Antreiber der Remilitarisierung Westdeutschlands die deutschdeutsche Zwietracht gestiftet zu haben. Die Zusammenstellung der Fotografien würde dann die folgende historische Entwicklungslogik behaupten: Der Kapitalismus in seinen Begleiterscheinungen Militarismus und Imperialismus durchläuft 139

drei Entwicklungsstadien, die, in der Kaiserzeit beginnend und im Nationalsozialismus in fatalster Form aufbrechend, sich in der amerikanischen Ideologie fortsetzen. Da letztere in der Gegenwart der Inszenierung das einzige noch existierende Exempel dieser Entwicklungskette darstellt, ist es plausibel anzunehmen, dass das amerikanische Militär hier tatsächlich als Vertreter der ‚Ratten-Kultur’ interpretiert wurde, das – so ist aus der Gesamtkonstellation des präsentierten Bildmaterials herauszulesen – wie seine ‚Vorgänger’ ebenfalls unter Faschismusverdacht zu stellen ist. Wie Hauptmann selbst über das hier in Hinblick auf seine Manifestationen in Programmheften beschriebene Ausspielen der Vergangenheit gegen die Gegenwart und die damit einhergehende Untermauerung der jeweiligen politischen Interessen dachte, darüber gibt eine entsprechende Wortäußerung des Dramatikers vom Sommer 1943 Aufschluss. Damals war Hauptmann eine WeberVerfilmung angetragen worden, in der das propagandistisch verzerrte Schlussbild zeigen sollte, „wie gut es heute den Webern geht“. In den Tagebuchnotizen des Freundes Behl spiegelt sich die Entrüstung Hauptmann über diese unbotmäßige, nationalsozialistisch geleitete Vergegenwärtigung seines Dramas wieder: „Dieses Ansinnen hat er mit Entschiedenheit abgelehnt. ‚Für dergleichen’, sagte er zu mir, ‚bin ich nicht zu haben.’“775

3.

Zur Präsenz sozialkritischer Dramen Hauptmanns auf DDR-Bühnen

Das entscheidende Indiz der Gerhart Hauptmann-Rezeption in der DDR war die lebendige Präsenz seiner Stücke in den Theatern. Je höher die ihm und seinen Werken beigemessene Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz, desto häufiger standen seine Stücke auf den Spielplänen. Die Zahl der Aufführungen in einem bestimmten Zeitraum kann als ein Indikator für Hauptmanns Stellenwert in der DDR gesehen werden. Wie die Auswertung des Datenmaterials des Verlags Felix Bloch Erben ergab, war dieser Stellenwert erheblichen Fluktuationen unterworfen. Die Aufführungsstatistiken zeigen, dass diese Fluktuationen sowohl von qua775

Behl, Zwiesprache, S. 154 f. (Agnetendorf, 08.06.1943). Ebermayer, der sich für die Verfilmung der Weber anlässlich Hauptmanns 80. Geburtstags einsetzte, beschreibt den Manipulationsversuch folgendermaßen: „Zunächst versuchte ich es mit den Webern, die seit Stummfilmzeiten noch nicht wieder verfilmt waren. Da machte das Ministerium wieder, diesmal für uns unannehmbare Auflagen. Wir hätten zwar das Weberelend der Gründerjahre zeigen dürfen, sollten aber demgegenüber auch zeigen, wie herrlich gut es heute im NS-Staat den Webern gehe. […] Dazu hatte niemand Lust, und wir ließen die den Plan wieder fallen“ (Ebermayer, Eh’ ich’s vergesse…, S. 72).

140

litativer als auch quantitativer Natur waren. Qualitative Fluktuationen – bezogen auf das Spektrum der aufgeführten Stücke – lassen den Rezeptionsfokus in einem bestimmten Zeitraum erkennen, zeugen aber auch von der Gefahr eines sich verengenden Stückekanons. Eine große Sensibilität für dieses Rezeptionsproblem legte z.B. bereits der Programmzettel zu einer der ersten HauptmannInszenierungen der Nachkriegszeit an den Tag. Mit Blick auf die Dresdner Rose Bernd-Inszenierung (Spielzeit 1945/46) wird hier davor gewarnt, Hauptmann „voreingenommen und einseitig [zu] beurteilen“.776 Dies geschehe immer dann, wenn behauptet wird, die volksnahe Gestaltung großer Epochenprobleme „sei dem Dichter nur in den Webern und dem Biberpelz vollendet gelungen“777. Diese „vorschnelle Aburteilung“ beobachtete der Verfasser des Programmzettels mit Sorge, denn sie sei im Falle Hauptmann „jüngst Mode geworden“ und „gefährlich“.778 In der Tat bestätigt die empirische Auswertung des Datenmaterials779 diese frühe Einschätzung zum Rezeptionstrend. Das in der ersten und zweiten der hier untersuchten kulturpolitischen Phasen sogar noch recht breite Spektrum der aufgeführten Hauptmann-Stücke begann sich im Zeitraum der dritten Phase drastisch zu reduzieren: Waren in der ersten (1949-1953) bzw. zweiten Phase (19541964) pro Spielzeit durchschnittlich 5,8 bzw. 5,6 verschiedene HauptmannStücke auf DDR-Bühnen zu sehen, so waren es in der dritten Phase (1965-1970) nur 4,3 Stücke. In der letzten Phase (1981-1989) sank der Durchschnitt sogar auf 2,8 Stücke – der absolute Tiefstand der Hauptmann-Rezeption in Hinblick auf die gebotene Vielfalt an Stücken. Insgesamt kristallisiert sich bei der eingehenden Betrachtung dieser Spektrumsveränderung noch ein weiterer Rezeptionstrend heraus: Stücke mit komödiantisch-satirischem Charakter setzten sich gegen vorwiegend fatalistischmelancholische Tragödien durch. Der Trend lässt sich z.B. anhand der Bühnenpräsenz von Rose Bernd, einem der „verzweiflungsvollsten Werke Hauptmanns“780 illustrieren: Rose Bernd, eines der meistaufgeführten HauptmannStücke zu SBZ-Zeiten, wurde in der ersten kulturpolitischen Phase pro Spielzeit durchschnittlich an 4 DDR-Theatern aufgeführt. Schon in der zweiten Phase sank dieser Wert um die Hälfte. Ein Rose Bernd-Revival blieb in der Folgezeit aus: in der letzten kulturpolitischen Phase wurde das Stück pro Spielzeit schließlich nur 776

777 778 779 780

Rückseite des Programmzettels der Bühnen der Landeshauptstadt Dresden: Rose Bernd. Schauspiel in fünf Akten von Gerhart Hauptmann, Spielzeit 1945/46 mit einem Programmtext von Wolf Goette (THA DD). Ebd. Ebd. Vgl. insgesamt die Übersichten im Anhang, S. 294 ff. Arno Lubos, Gerhart Hauptmann. Werbeschreibung und Chronik, Zürich 1978, S. 60.

141

noch von durchschnittlich 0,3 Theatern gespielt. Damit war Rose Bernd – wenn auch nur sporadisch – aber immer noch auf DDR-Bühnen präsent. Anders erging es z.B. Stücken wie Elga und Fuhrmann Henschel. Laut der Aufführungsstatistik verschwanden sie bereits Anfang der 1950er bzw. 1960er Jahre gänzlich aus den Theatern. Selbst Die Weber kehrten nach der Centenariumsspielzeit 1962/63 nicht mehr auf DDR-Bühnen zurück. Dagegen entwickelte sich Der Biberpelz, der in der SBZ kaum gespielt worden war, zu einer Konstante auf DDR-Bühnen: In der ersten Phase wurde das Stück an durchschnittlich 4,8 Theatern pro Spielzeit aufgeführt, selbst in der letzten Phase lag der Durchschnittswert noch bei 3,6 Theatern pro Spielzeit. Bemerkenswert erscheint vor allem die sehr hohe Bühnenpräsenz des Biberpelz Anfang der 1980er Jahre, die dem insgesamt negativen Rezeptionstrend völlig entgegen lief. Dass der „Griff der Theaterschaffenden nach satirisch-grotesken Stücken“

781

in der DDR immer stärker wurde, belegt auch die Bühnenpräsenz des

Shakespeare-Adaption Schluck und Jau. Die DDR-Theater entdeckten diese obrigkeitskritische Komödie Hauptmanns erst Ende der 1960er Jahre, doch blieb Schluck und Jau von da an bis Anfang der 1980er Jahre ein fester Repertoirebestandteil. Die Ironie als szenisches Aktionsprinzip der sozialen Konfrontation wurde von den zwischen Hoffnung und Ernüchterung schwebenden Theaterschaffenden in der reifen DDR immer bewusster eingesetzt. Die Übersteigerung komödiantischer Elemente barg jedoch die Gefahr, den ursprünglichen Charakter eines Stücks zu verfälschen. Wie im Folgenden anhand zahlreicher Theaterkritiken darzustellen ist, machten Kritiker diese Herangehensweise den Theaterleuten immer wieder zum Vorwurf. Nichtsdestotrotz stießen gerade komödiantische Überzeichnungen beim Publikum auf positive Resonanz. Komödie und Satire boten Freiräume, die Realität im Zerrspiegel des Grotesk-Komischen zu artikulieren oder durch Lachen für einen Moment für Entlastung bzw. für Ablenkung von den lebensweltlichen Frustrationen zu sorgen. Dass Der Biberpelz Anfang der 1980er Jahre nochmals einen enormen ‚Aufführungsschub’ erlebte, mag mit diesen psychologischen Effekten von Komödie und Satire zusammen hängen.782 Manch ein Zuschauer wird der Veräppelung des Amtsvorstehers Wehrhahn – als Kompensa781

782

Wolfgang Kröplin, Das Groteske als Möglichkeit und Herausforderung der sozialistischen Theaterkunst. Studien zur grotesken Gestaltungsweise in der Dramatik der sozialistischen Bruderländer unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rezeption für das sozialistische Theater der DDR, (Diss.) Leipzig 1978, S. I f. Nicht auf die DDR bezogen, aber in hohem Maße auf diese zutreffend ist Walter Reichardts Erklärungsversuch zur Popularität des Biberpelz: „Ist es ein Wunder, dass diese Komödie auch weiterhin glaubhaft bleibt? Sie spiegelt den zeitlosen Dünkel des Bürokratentums, und der Bürokratismus lässt sich nicht ausrotten“ (Reichart, Gerhart Hauptmanns Der Biberpelz. Ein Rückblick, in: ders., Ein Leben, S. 156-161, hier: 161).

142

tionshandlung für schikanöse Erlebnisse mit der DDR-Bürokratie oder gar dem Polizeiapparat selbst – mit Genugtuung beigewohnt haben. Die beschriebenen qualitativen Fluktuationen gingen einher mit quantitativen Schwankungen: Wie die Aufführungsstatistiken zeigen, ging ab Mitte der 1960er Jahre die absolute Zahl an Hauptmann-Aufführungen erheblich zurück. Nur in Einzelfällen wie dem Biberpelz und in besonderen Gedenkjahren konnte dieser Rezeptionstrend durchbrochen werden: In der Centenariums-Spielzeit 1962/63 kamen z.B. 10 verschiedene Stücke des Dichters auf DDR-Bühnen zur Aufführung. An insgesamt 21 Theatern wurden in dieser Spielzeit Stücke von Hauptmann gezeigt – de facto der absolute Höhepunkt der Hauptmann-Rezeption und gleichzeitig ihr Wendepunkt. Eine echte Hauptmann-Renaissance hatten in der Folgezeit weder die Feierlichkeiten zum 20., 30. oder 35. Todestag (1966, 1976, 1981) noch zum 125. Geburtstag (1987) einzuleiten vermocht.783 Ungeachtet der skizzierten Fluktuationen blieb Gerhart Hauptmann ein Bestandteil des DDR-Theaterlebens. Trotz des Rückgangs der Rezeption in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht seit Mitte der 1960er Jahre gab es dennoch keine einzige Spielzeit, in der überhaupt kein Stück des Dramatikers gespielt worden wäre. Selbst in den ‚schlechten Jahren’ – dies waren insbesondere 1965, 1972, 1974, 1984, 1986 und, sofern überhaupt noch zählbar, 1989 – wurden in der DDR mindestens zwei seiner Stücke gezeigt.

3.1.

1949-1953: Die Durchsetzung der planmäßigen Ideologisierung

3.1.1

Kulturpolitische Rahmenbedingungen

Die in der SBZ „geduldete Mehrstimmigkeit“784 büßte bald nach der Gründung der BRD (8. Mai 1949) und insbesondere der DDR (7. Oktober 1949) einen Großteil ihrer Klangfarbe ein. Die schon mit der Bildung der Bizone (Januar 1947), dem Inkrafttreten des Marshall-Plans (Juni 1947) sowie der Währungsreform in den westlichen Zonen (Juni 1948) gestellten „Weichen der deutschen Spaltung“785 waren in der Folgezeit im kulturellen Feld der DDR allgegenwärtig. 783

784 785

Der Popularitätsschwund Hauptmanns wurde von einem übergeordneten Theatersterben begleitet: Seit Ende der 1950er Jahre sanken die Besucherzahlen der DDR-Theater von jährlich 17 auf 11 Millionen (1966). Die Gründe hierfür waren weniger in den Theatern bzw. den Spielplänen selbst zu suchen, denn im medialen Wandel, der in dieser Zeit vonstatten ging: Das Aufkommen des Fernsehens brachte vor allem vielen kleinen Theatern das Aus (Irmer/ Schmidt, Die Bühnenrepublik, S. 63). Bollenbeck, Bildung, S. 297; Saadhoff, Germanistik, S. 133. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 52.

143

Die Phase der scheinbaren Offenheit und der darin implizierten Möglichkeiten des Neuanfangs hatten ein jähes Ende gefunden.786 Besaß diese „erste Etappe der Kulturrevolution“

noch

demokratischen Charakter“,

einen 787

weitgehend

toleranten

„antifaschistisch-

so hielt ab 1949 schrittweise ein neuer Geist Ein-

zug: Nun ging es nicht mehr um das „Wieder-in-Gang-Bringen des kulturellen Lebens“788 – wie Walter Ulbricht das Primärziel der SBZ-Kulturpolitik retrospektiv bezeichnete –, sondern um die Umsetzung der planmäßigen Ideologisierung und die Ausrichtung der DDR-Gesellschaft am Sozialismus.789 Gerade die Kulturproduzenten bekamen den zunehmenden Druck, den die SED-Parteiführung ausübte, unmittelbar zu spüren. Das angebliche Zurückbleiben der Kulturproduzenten hinter den Forderungen des ‚sozialistischen Aufbaus’, ihre „außerordentliche[n] Schwächen auf kulturellem Gebiet“,790 wurden nun immer öfter angeprangert.791 In die kulturpolitische Schusslinie gerieten infolgedessen all jene Werke, die, wie es hieß, von Kosmopolitismus792, von bürgerlichem Objektivismus, Mo786

787

788 789

790

791

792

David Roberts, Nach der Apokalypse. Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Literatur nach 1945, in: Hüppauf (Hg.), „Die Mühen der Ebenen“, S. 21-45, hier: 22. Walter Ulbricht, Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat, Referat gehalten auf dem V. Parteitag der SED, 10.-16.07.1958 [erschienen in: ND, 12.07.1958], in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 534-536, hier: 534 [Dok. 178]. Ebd. Die kulturpolitische Wende hin zur Entdifferenzierung hatte mit dem Ersten Kulturtag der SED im Mai 1948 eingesetzt. Die Untrennbarkeit von Kultur und politischer Ideologie gemäß der in der Sowjetunion der 1930er Jahre entwickelten Grundsätze wurde hier als historische Notwendigkeit und zukunftsorientierte Selbstverständlichkeit zum Motto erhoben: „Die neue Epoche der Kultur wird die Kultur des Sozialismus sein!“ (Entschließung zur Kulturpolitik, in: Protokoll der Verhandlungen des Ersten Kulturtages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 05.-07.05.1948 in der Deutschen Staatsoper zu Berlin, Berlin [Ost] 1948, S. 263-270, hier: 266, zit. nach: Heider, Politik, S. 96). Entschließung. Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 20.-24.07.1950 in der Werner-Seelenbinder-Halle, Bd. 2, S. 225-275, hier: 263 ff., zit. nach: Heider, Politik, S. 117. Jäger, Kultur, S. 26. Im Sinne der angestrebten Nationalpädagogik hielt die Förderung der Künste, insbesondere des Theaters, gerade in diesen Zeiten an: Nicht nur die Zahl der Beschäftigten stieg erheblich, die staatlichen Mittelzuwendungen im Theaterbereich wurden allein zwischen 1950 und 1954 von 143 auf 168 Millionen Mark erhöht (Mittenzwei, Theater der Zeitenwende, Bd. I, S. 205). Der Terminus ‚Kosmopolitismus’ wurde in der Folgezeit als eliminatorischer Kampfbegriff eingesetzt – vergleichbar mit dem des ‚Kulturbolschewismus’ in der NS-Diktatur: „Mit dem ‚Kosmopolitismus’ ist eine weltoffene Haltung von Schriftstellern gemeint, die aus der Sicht der SED die Unterschiede der Systeme, des Sozialismus und Kapitalismus bzw. Imperialismus leugnen oder verkennen und damit den Interessen des Feindes subjektiv und objektiv Vorschub leisten. […] Primär geht es darum, eine kulturelle Eigendynamik zu unterbinden, die sich unter Einfluss attraktiver massenkultureller Angebote des Westens […] bemerkbar macht“ (Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich [Hg.], Soziale Räume, S. 123-148, hier: 140); „Distinktionen werden im ‚Kampf gegen den Modernismus’ bzw. ‚Formalismus’ oder ‚Kosmopolitismus’ vorgenommen. Die in den Raum der Literatur hineingetragenen Kampagnen gegen die Moderne und Avantgarde des 20. Jahrhunderts sind zwar nur Kopien vorangegangener kultureller Repressionsmaßnahmen in der Sowjetunion. In der DDR zielen diese Maßnahmen aber in viel stär-

144

dernismus und amerikanischer Kulturbarbarei zeugten. Diese vehemente Ablehnung mancher Ismen bei gleichzeitiger Einforderung anderer, versperrte der nach der künstlerischen Erstarrung im Nationalsozialismus dringend benötigten ästhetischen Emanzipation den Weg.793 Die auf das Dekadenz-Kampfkonzept von Lukács rekurrierenden Begrifflichkeiten unternahmen eine Grenzziehung zwischen wahrer, volksverbundener und damit wertvoller Kunst einerseits und volksfremder, formalistischer ‚Pseudokunst’ andererseits. Der Realismuszwang in Kunst und Kultur, der den unumschränkten Herrschaftswillen der SED-Führung verriet, setzte bereits 1948 ein. Zwar wurde den Künstlern freigestellt, „den verschiedensten Kunstrichtungen an[zu]gehören“, doch machte die Partei deutlich, dass sie „einen ganz bestimmten Standpunkt, den des Realismus“ favorisierte und dieser „auf jede Weise durchgesetzt werden“ müsse.794 Die neue diskursive Ordnung, die im Sinne Foucaults als ein „institutionell zwingendes System“795 verstanden werden kann, bereitete eine neue – am sozialistischen Realismus – orientierte Ästhetik vor. Das Herzstück dieser Ästhetik sollte das Feindbild des ‚Formalismus’ sein. Ein Schlagwort, das schon um 1950 in aller Munde war – noch „ehe die deutschen Redner wußten, was genau, über den bloßen Schimpf hinaus, mit ihm benannt werden sollte“796. Der so genannte Formalismus-Streit wurde im Januar 1951 durch eine unter dem Pseudonym ‚N. Orlow’797 veröffentlichte Polemik in der Täglichen Rundschau zur Eskalation gebracht. Jener ‚Orlow’ hatte sich zuvor bereits zur Entnazifizierung geäußert und eine Inszenierung der Deutschen Staatsoper Berlin

793 794

795 796

797

kerem Maße als dort auf die Identitätsbildung der Schriftsteller durch Distinktion und Isolierung von den progressiven Literaturströmungen im Westen“ (ebd., S. 139). Vgl. Jäger, Kultur, S. 39. Stenographische Niederschrift: Referat Ackermann, in: Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Zentrales Parteiarchiv, Bestand IV/2/1.01/96, Pg. 63, zit. nach: Heider, Politik, S. 91. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 8. Schlendstedt, Doktrin und Dichtung, in: Dahlke/ Langermann/ Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR, S. 33-103, hier: 53. Zur Entschlüsselung des Pseudonyms vgl. Stuber, Spielräume, S. 109-114. Dort wird die Heterogenität der besprochenen Themen als Argument dafür gewertet, dass sich hinter ‚Orlow’ ein Autorenkollektiv verbarg, das im Auftrag der SMAD jene Themen entsprechend der (kultur-)politischen Zielsetzungen diskursleitend lancierte. Mittenzwei vertritt die These, dass Wladimir S. Semjonow, seit 1949 politischer Berater der SMAD, die Veröffentlichungen seines Mitarbeiterstabes mit ‚Orlow’ unterzeichnet habe (ders., Die Intellektuellen, S. 32, 82 f.); vgl. außerdem Joachim Lucchesi (Hg.), Das Verhör der Oper. Die Debatte um die Aufführung ‚Das Verhör des Lukullus’ von Bertolt Brecht und Paul Dessau, Berlin 1993, S. 50; Dwars, Abgrund, S. 614; La Presti, Bildungsbürgerliche Kontinuitäten, in: Bollenbeck/ Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 30-51, hier: 30.

145

unter der Leitung von Ernst Legal verrissen.798 Nun wetterte er gegen die „Tendenzen des Verfalls und der Zersetzung, des Mystizismus und Symbolismus, die Neigung zu einer verzerrten und unrichtigen Darstellung der Wirklichkeit“.799 ‚Orlow’ kritisierte aber auch den „flache[n] und vulgäre[n] Naturalismus“, der in „einigen Kunstzweigen der DDR“ festzustellen sei.800 Auswirkungen der „langwährende[n] Herrschaft der abgeschmackt-formalistischen Richtung“801 stellte er besonders im Theater, der Architektur und der Bildenden Kunst fest. Diese „üblen Reste der Vergangenheit“ machten, so ‚Orlow’, eine „entschlossene Bekämpfung“ erforderlich.802 Aus diesem Grund forderte er, dass der „Kampf gegen jeglichen Einfluß der westlichen Dekadenz“ in der DDR zu einer „wichtige[n] gesellschaftliche[n] Aufgabe“ werden müsse.803 Kulturpolitischen Handlungsdruck erzeugende Invektiven wie die von ‚Orlow’ – sowie der Formalismus-Streit an sich – fungierten als politische „Instrumente zum Aufbau einer klaren nationalstaatlichen Identität“804. In der rigorosen Ablehnung des Formalismus zeitigte sich das Bemühen der jungen DDR um Profilbildung auf dem Gebiet der Kunst und Kultur,805 die durch Disziplinierung erreicht werden sollte. Beim Formalismus-Streit handelte es sich, so Mittenzwei, um eine „mildere Form der Schauprozesse“806 im kulturellen Feld. Dahinter stand die kulturpolitische Intention, die Kulturszene organisatorisch wie ideologisch gemäß der sich immer mehr auf den sozialistischen Realismus807 verengenden ästhetischen wie kunstpädagogischen Vorstellungen zu formen.808 Die Gründung staatlicher Zensur- und Repressionsorgane wie der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und dem Amt für Literatur und Verlagswesen im Sommer 1951 dienten somit dem Zweck, die Kontrolle über das Kulturleben zu 798

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800 801 802 803 804 805

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808

Vgl. N. Orlow, Was heißt Entnazifizierung? In: TR (13.02.1947); ders., Das Reich der Schatten und der Bühne, in: TR (19.11.1950) [Kritik an Legals Inszenierung von Michail Glinkas Volksmärchens Ruslan und Ludmilla]. Ders., Wege und Irrwege der modernen Kunst [TR, 20./21.01.1951], Dok. 44, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 159-170, hier: 160. Ebd. Ebd., S. 161. Ebd. Ebd., 165. Stuber, Spielräume, S. 101. Günther Rüther, Greif zur Feder, Kumpel. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990, Düsseldorf 1991, S. 44. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 86. Bis zur II. Parteikonferenz im Juli 1952 war zumeist nur von ‚Realismus’ die Rede, der Begriff des ‚sozialistischen Realismus’ setzte sich erst hiernach durch (vgl. Heider, Politik, S. 117). Der wesentlich von Stalin mitgeprägte Begriff wurde in dem ZK-Beschluss über die Umbildung der Literatur- und Kunstorganisationen vom 23.04.1932 ausgestaltet und erstmals in einem Leitartikel der Literaturnja gaseta vom 29.05.1932 publik gemacht (Jäger, Kultur, S. 34). Heider, Politik, S. 115.

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erlangen.809 Bei der Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, die Hans Mayer zu den „schmachvollsten Erzeugnissen unserer gesellschaftlichen Übergangsetappe“810 zählte, ließ der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl keine Zweifel über die Zielsetzung aufkommen: „Literatur und bildende Kunst“ sollten nach Auffassung Grotewohls „der Politik untergeordnet“ sein. Deshalb müsse „die Idee in der Kunst“ bedingungslos „der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen“.811 Bezugnehmend auf die aktuellen Formalismus-Debatten vollzog Grotewohl eine noch stärkere Anbindung der Kunst an die Politik, indem er behauptete, dass all jenes, „was sich in der Politik als richtig erweist“812, unbedingt auch für die Kunst gelten müsse. Dies bedeutete sinngemäß bereits die Vorwegnahme der totalen Ausrichtung der DDR-Kultur hin auf den Sozialismus, die Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz der SED (9. – 12. Juli 1952) dann expressis verbis proklamieren sollte.813 Bei dieser Parteikonferenz, die den „offiziellen Beginn der sozialistischen Etappe“ in der Kulturpolitik der DDR markierte,814 meldete sich Johannes R. Becher wieder zu Wort, der 1954 zum ersten Kulturminister der DDR ernannt werden sollte: Becher tat die absolutistische Behauptung kund, wonach „eine große deutsche Kunst entweder eine sozialistisch-realistische sein“ werde, oder sie werde gar „nicht sein“815. Den „Kampf gegen den Formalismus“ erhob er – quasi ‚Orlow’ gehorchend – gleichzeitig zu einer „Lebensnotwendigkeit unseres ganzen Volkes“816. ‚Formalismus’ und ‚sozialistischer Realismus’ waren fortan als antagonistische, „autoritäre Diskursformeln“817 im kulturellen Feld der frühen DDR allgegenwärtig. Als ‚sozialistischer Realismus’ galt, was die Etablierung eines nationalen Selbstbewusstseins – und dem Aufbau gesellschaftlicher Ordnung und Normalität 809 810

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Ebd., S. 129 ff.; Jäger, Kultur, S. 31. Brief von Hans Mayer an Becher vom 30.03.1953, in: Becher, Briefe. 1910-1958, S. 467-471, hier: 471. Otto Grotewohl, Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft [erschienen in: ND, 02.09.1951], Auszug, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 205-209, hier: 208 [Dok. 54]. „Ich will damit sagen, daß die politische Kritik bei der Beurteilung unserer Kunst primär ist und daß die künstlerische Kritik sekundär ist. […] Wir fordern Übereinstimmung zwischen Politik und Kunst“ (ebd.). Vgl. Beschluss der II. Parteikonferenz der SED, Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus [12.07.1952], in: Hermann Weber (Hg.), DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1985, 3. Auflage München 1986, S. 188 f. Wolfram Schlenker, Das „kulturelle Erbe“ in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945-1965, Stuttgart 1977, S. 3. Johannes R. Becher, Diskussionsrede während der II. Parteikonferenz der SED, [veröffentlicht in: Protokoll der II. Parteikonferenz, Berlin 1952], Auszug, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 240 f., hier: 241 [Dok. 71]. Ebd. Langermann/ Taterka, Von der versuchten Verfertigung, in: Dahlke/ Langermann/ Taterka (Hg.), LiteraturGesellschaft DDR, S. 1-32, hier: 14.

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– diente.818 ‚Formalismus’ war dagegen all das, was die noch instabile gesellschaftliche Balance zu gefährden drohte.819 Als zentral erschien im Kampf gegen den Formalismus die Abgrenzung zum Westen und dessen modernen Kunstströmungen. Indem diese Art von Kulturkritik auf die westliche Welt und ihre künstlerischen Signaturen angewandt wurde, geriet der ‚Formalismus’ zum „Ausgrenzungsbegriff“820. Der gesamte Westen – nicht mehr nur die USA – wurde durch den Vorwurf, einen „Kult des Häßlichen und Unmoralischen“821 zu betreiben, herabgewürdigt.822 Diese Stimmungsmache wurde auch auf den Theaterbetrieb übertragen. Dem Westtheater wurde nicht nur vorgeworfen, den schädlichen amerikanischen Einflüssen ausgesetzt zu sein, sondern zusätzlich eine Fehlselektion innerhalb des Kulturerbes zu betreiben.823 Die Erbe-Praxis in der BRD wurde im Zuge der sich ausweitenden Systemkonkurrenz immer wieder als „Verfälschung“ und „Beschmutzung“ desavouiert.824 Die eigene sozialistische Erbe-Praxis galt demgegenüber als Pflege und Erhaltung des „Wahren, Reinen und Ganzen“825, wobei das sozialistische Theater zum Inkubator der humanistischen, antiformalistischen Kultur stilisiert wurde.

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„‚Sozialistischer Realismus’ erscheint als Theorie, Anleitung und Referenzpunkt für alltägliches Handeln, als eine Form der Selbstthematisierung und -darstellung der neuen Gesellschaft wie auch in der Funktion eines Normensystems und seiner Abrufbarkeit im Interesse der Bekräftigung von Einzelnormen für die literarische Produktion und Rezeption“ (Martina Langermann/ Thomas Taterka, Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR, in: Dahlke/ Langermann/ Taterka [Hg.], LiteraturGesellschaft DDR, S. 1-32, hier: 14). Vgl. Bogdal, der den Inhalt des ‚sozialistischen Realismus’ als „politisch überdeterminiertes Konglomerat normativer Geschmacksurteile, stilistischer Vorschriften, literaturhistorischen Recyclings und kulturanthropologischer Festschreibung“ zusammenfasst (Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich [Hg.], Soziale Räume, S. 123-148, hier: 131). Vgl. Stuber, Spielräume, S. 103 f. La Presti, Bildungsbürgerliche Kontinuitäten, in: Bollenbeck/ Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 30-51, hier: 50. Orlow, Wege, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 159-170, hier: 161. Verleumdungen des Westens waren in dieser Zeit an der Tagesordnung: „Der amerikanische Raubimperialismus, dessen Ideal die Weltherrschaft, die Vorbereitung und Entfesselung eines neuen Weltkrieges, die Ausrottung anderer Völker ist, hat eine dementsprechende ‚Kultur’ geschaffen. Die Höchstwerte dieser Kultur sind der Dollar und die nackte Gewalt, der Bakterienkrieg und die Verbreitung des Kartoffelkäfers, die Erschießung friedlicher Menschen, die bestialische Bombardierung von Krankenhäusern und Schulen, Kindern und Greisen, also der Meuchelmord. [...] Das amerikanische Theater befindet sich im Zustand des Verfalls. Künstlerische Armut im Verein mit moralischem und geistigem Bankrott sind seine Kennzeichen“ (Amerikanische ‚Kultur’ ist KriegshetzerKultur [erschienen in: TR [06.06.1951], zit. nach: Jäger, Kultur, S. 39). „Das westdeutsche Theater, das durch die Dominanz der spätbürgerlichen Dramatik im Spielplan einen eindeutig bürgerlich-restaurativen Charakterzug erhielt, wurde in diesem Sinne objektiv zu einem Propagandainstrument der bürgerlich-apologetischen Ideologie“ (Mittenzwei, Theater der Zeitenwende, Bd. 1, S. 145). Vgl. Dautel, Zur Theorie, S. 134 f. Dautel, Zur Theorie, S. 135.

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Hintergründe für dieses die 1950er Jahre prägende, kulturpolitische Gebaren lagen neben der Sowjetsteuerung letztlich in den kollektiven Befindlichkeiten im eigenen Land. Die Beeinflussbarkeit breiter Bevölkerungsgruppen, die aus dem massiven gesellschaftlichen Wandel und der damit einhergehenden Irritation nationaler wie kultureller Identität resultierte, trug dazu bei, dass alles Westliche als potenzielle Gefahr wahrgenommen wurde. In einer Situation, in der das tradierte Koordiantensystem ins Schwanken geraten war, wollte man auf dem Feld der Kunst keine weiteren Verunsicherungspotenziale dulden.826 Vor diesem Hintergrund erschien der Rückgriff auf Ausschlussregeln zur Stärkung der eigenen Deutungsmacht naheliegend. Es galt vor allem zu verhindern, dass der literarische Raum sich dysfunktional zum Herrschaftssystem entwickeln bzw. verhalten könnte.827 Insgesamt manifestierte sich im Kunstfeindbild des Formalismus also der „Kulturkonservatismus und Antimodernismus der DDR-Gesellschaft“828. In seiner Aggressivität und gleichzeitigen Unbestimmtheit war dieses Kunstfeinbild, wie Volker Rühle anmerkt, deshalb am ehesten mit dem der ‚Entarteten Kunst’ vergleichbar.829 Wie groß der sowjetische Einfluss auf die DDR geworden und wie bescheiden die Gegenliebe großer Bevölkerungsteile für die daraus resultierenden Maßnahmen war, mögen an dieser Stelle zwei Schlaglichter aus dem Frühjahr 1953 illustrieren: Vom 17. bis 19. April 1953 fand in Ostberlin die erste (und letzte) große Stanislavskij-Konferenz statt,830 die eine Reaktion auf den I. Deutschen Theaterkongress (17. – 18. Januar 1953) darstellte. Dieser hatte unter dem Motto „Das sowjetische Theater – unser Vorbild“ gestanden.831 Die Stanislavskij826

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„Der ‚Kampf gegen den Formalismus’ besitzt […] eine mentalitätsgeschichtliche Dimension. Die rigide Ablehnung einer innovativen Kunst und des literarischen Experiments stellt eine (paradoxe) Reaktion auf die tief greifenden sozialen Veränderungen in der DDR dar. […] Dies führt zu einer Verunsicherung nicht nur breiter Schichten einschließlich der ‚führenden’ Arbeiterklasse, sondern der ‚Veränderer’ selbst. Die Ablehnung der Moderne signalisiert in dieser Situation Kontinuität und Traditionsbewusstsein. […] Die hysterisierende Kritik am ‚Formalismus’ ist daher nicht zuletzt eine Strategie der Selbstberuhigung angesichts der realen Anarchie einer geplanten, geleiteten und als gesetzmäßig angenommenen gesellschaftlichen Entwicklung. Wenigstens in der Literatur, in den Romanen, Theaterstücken und Liedern soll alles nach Plan verlaufen“ (Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich [Hg.], Soziale Räume, S. 123-148, hier S. 142). Ebd., S. 125. Ebd., 131. Rühle, Das gefesselte Theater, S. 125. Die Stanislavskij-Konferenz war im Sinne einer „Ökonomie der Legitimierung“ (Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich [Hg.], Soziale Räume, S. 123-148, hier: 124) auch von Bedeutung für die Hauptmann-Rezeption. Dies vor allem da sie implizit den Referenzrahmen gegenseitiger Wertschätzung von Hauptmann und dem russischen Theater-Visionär aufrief und damit die „kulturelle Legitimierung der Autorposition“ (ebd.) Hauptmanns unterstrich. Stuber, Spielräume, S. 156.

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Konferenz wollte hieran anschließend „theaterpolitischen Demonstrationswert“832 im Sinne der sozialistischen Umformung des Theaterlebens signalisieren. Unterdessen führten ganz andere Demonstrationen zur „erste[n] Legitimitätskrise des Stalinismus“833: Durch die Erhöhung der Arbeitsnormen und die allgemeine Verschlechterung der Lebensverhältnisse war der Unmut der Bevölkerung gewachsen. Stalins Tod (5. März 1953) bewirkte eine vorübergehende Aufweichung der Machtstrukturen, wodurch eine ungewollte gesellschaftliche Kräftezirkulation begünstigt wurde. Am 17. Juni 1953 traten die inneren Widersprüche in der DDR, die Isolation des Staatsapparates sowie dessen Abhängigkeit von der Sowjetunion offen zutage.834 Landesweit beteiligten sich über 300.000 Menschen an dem Protest, der infolge, je nach Blickwinkel, als ‚Arbeiter-’ bzw. ‚Volksaufstand’ – in der DDR als ‚konterrevolutionärer Putschversuch’ – bezeichnet werden sollte.835 Nach der brutalen Niederschlagung des Aufstands gelang es dem System, die eigenen Machtapparate zu konsolidieren. Die durch Stalins Tod ermöglichte Verstärkung ökonomischer Reformansätze in der UdSSR – die zeitverzögert in der DDR Wirkung zeigten – stellten die Folgejahre unter die hoffnungsvolle Signatur eines gesamtgesellschaftlichen Tauwetters. Der Kulturbund und die 1950 gegründete Deutsche Akademie der Künste verloren in dieser Situation keine Zeit, der Regierung kritische Stellungnahmen und Forderungen nach mehr Eigenständigkeit zu übergeben. Noch während der 15. Tagung des ZK der SED (24. – 26. Juli 1953) versprach Ulbricht eine neue Kulturpolitik, die diesen Wünschen entsprechen sollte.836 Die einsetzende „antidogmatische Phase in der DDR“837 im Zuge des ‚Neuen Kurses’, der die partielle Rücknahme der seit der II. Parteikonferenz forcierten Engführung auf den sozialistischen Realismus vorsah, sollte sich jedoch als durchwachsen erweisen: Momente kulturpolitischer Öffnung wechselten sich mit „Demonstrationen der Macht“838 ab, „genuine Liberalisierungsversuche“ waren bis zum Ende der DDR „grundsätzlich ausgeschlossen“839.

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Ebd., S. 153 (vgl. insgesamt ebd., S. 153-173). Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 119. Vgl. insgesamt: Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 37-41. Vgl. Ihme-Tuchel, Die DDR, S. 29 f.; vgl. Joachim-Rüdiger Groth, Widersprüche. Literatur und Politik in der DDR 1949-1989. Zusammenhänge. Werke. Dokumente, Frankfurt a.M. 1994, S. 32 f. Vgl. Schittly, Zwischen Regie, S. 71. f. Jäger, Kultur, S. 60; vgl. Stuber, Spielräume, S. 50. Jäger, Die Kulturpolitik, in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission, S. 4-27, hier: 19. Ihme-Tuchel, Die DDR, S. 36.

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3.1.2. Rezeptionsschwerpunkte Die Hauptmann-Rezeption der jungen DDR wurde durch den „kleinbürgerlichen Kunstgeschmack“ der SED-Kunstfunktionäre begünstigt, der die Klassik und die realistische Kunst des 19. Jahrhunderts bei gleichzeitiger Verteufelung des ‚Formalismus’ aller modernen künstlerischen Ausdrucksversuche favorisierte.840 Trotz der offiziellen Ablehnung des Bürgertums als sozialer Formation und der Bürgerlichkeit als Habitus bestimmten entsprechende Werte und Verhaltensnormen die gesellschaftlichen wie ästhetischen Leitbilder der frühen DDR.841 In Hauptmanns Werken sahen viele Theaterintendanten deshalb die Antwort auf die Ansprüche der kulturkonservativen Antimodernismus- und Antiformalismuskampagnen. Damit profitierte die Hauptmann-Rezeption zum einen von der allgemeinen Verwirrung über die Füllung des noch diffusen Begriffs des sozialistischen Realismus, zum anderen aber auch von der aus der restriktiven Kulturpolitik resultierenden Lähmung des künstlerischen Schaffens zeitgenössischer Dramatiker. Der Unsicherheit der Theaterleute darüber, welche Epochen- und Strömungsbezeichnungen nunmehr mit den neuen Erwartungen als kongruent anzusehen waren, suchte Erpenbecks Theater der Zeit zu begegnen. Die Theaterzeitschrift machte es sich zur Aufgabe, „vernebelte und verfälschte Begriffe“ zu klären – und richtete dabei mitunter das Gegenteil an.842 Der ‚sozialistische Realis840

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Erbe, Die verfemte Moderne, S. 10. Eine andere Sicht auf die damalige Prioritätssetzung gibt Manfred Wekwerth in seinen Erinnerungen wider: „Nur noch das ‚Erbe’ war Richtung und Maßstab. Und nur was sich am ‚Erbe’ orientiert, wurde als ‚Fortschritt’ gefeiert. Und es war nicht, wie man heute ebenfalls behauptet, Machthunger der Funktionäre oder deren ‚spießbürgerlicher Geschmack’, die revolutionäre Kunst unterdrückten, sondern eine politische Linie, die, aus der Sowjetunion kommend, von tiefem Misstrauen gegenüber der Bevölkerung getragen war, die angeblich nur der Vergangenheit nachhing. [...] Ja, man schämte sich der eigenen Traditionen und distanzierte sich vom ‚Prolet-Kult’, wie man diffamierend künstlerische Erfahrungen der Arbeiterbewegungen nannte. Auch weil man den Westdeutschen zeigen wollte, dass die sprichwörtliche Intelligenz- und Erbefeindlichkeit, die man der deutschen Arbeiterbewegung nachsagt, Legende seien, suchte man das ‚Erbe’ nicht als Ergänzung der eigenen revolutionären Kunst, sondern als deren Ersatz. Es ist kaum zu glauben: Furtwängler war willkommener als Ernst Busch“ (ders., Erinnern, S. 58 f.). La Presti argumentiert, dass die konservative Moderne-Kritik des Anti-Formalismus durch den Eingang bildungsbürgerlicher Traditionen in die Arbeiterbewegung bedingt sei (vgl. ders., Bildungsbürgerliche Kontinuitäten, in: Bollenbeck/ Kaiser [Hg.], Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 30-51, hier: 32 ff.). Anna-Sabine Ernst, Erbe und Hypthek. (Alltags-)kulturelle Leitbilder in der SBZ/DDR 1945-1961, in: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.), Kultur und Kulturträger in der DDR, S. 9-72, hier: 13 f. Erpenbeck, Stoff, Inhalt, Form, in: TdZ, 1 (1946), H. 2, S. 1-3, hier: 1. „Jedes große Kunstwerk ist gesellschaftlich wahr. Es entspricht der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit, es ist realistisch. Realismus ist demnach das Kriterium jedes Kunstwerks. [...] Realismus ist also kein Stil. Auch das muß immer wieder gesagt werden, denn hier hat die gedankenlose Übernahme des französischen Begriffs ‚réalisme’ (als Kennzeichnung des

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mus’ wurde in dieser Zeit zu einem „Begriffsgespenst“843, dem weit schwerer beizukommen war als dem „Gummibegriff“844 ‚Realismus’ an sich. Obwohl Erpenbeck gebetsmühlenartig das Gegenteil verbreitete,845 wurde das naturalistische Mimesis-Gebot846 oftmals mit dem geforderten „gesellschaftlich wahren“ Realismus verwechselt. Ein Missverständnis, das der Theaterkritiker Herbert Ihering als „verheerend“ einstufte.847 Von dieser Gleichsetzung von ‚Realismus’ und ‚Naturalismus’ profitierte jedoch die Popularisierung des Frühwerks Hauptmanns – gerade weil die Volkstümlichkeit zum Schlüsselbegriff all dessen wurde, was den sozialistischen Realismus determinierte.848 Und welchen Dichter des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hätte man als volkstümlich angesehen, wenn nicht Gerhart Hauptmann, der in seinen Stücken den schlesischen Dialekt und die ‚Berliner Schnauze’ auf die Bühne geholt hatte? Eben dieser Volksnähe und Bodenständigkeit Hauptmanns huldigte der kommunistische Literaturhistoriker und Publizist Alfred Kantorowicz 1953 in der Neuen Welt: Für ihn war Hauptmann ein Literaturtitan zum Anfassen, also genau das, wonach Kulturpolitiker und Publikum in dieser Zeit zu verlangen schienen: „Wir stellen ihn nicht auf einen Sockel wie ein Standbild aus Erz. Er ist für uns kein Jupiter, der über den Wolken schwebt. Gerade ‚er ist kein ausgeklügelt’ Buch, er ist ein Mensch mit seinem Widerspruch’ gewesen. Er ist uns nahe. Wir lieben in ihm den Dichter des sozialen Dramas die Weber, der klassischen gesellschaftskritischen deutschen Komödie Der

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Naturalismus Zolas und seiner Epigonen) in der deutschen Literaturtheorie viel Begriffsverwirrung angerichtet. Realismus ist ein Kriterium“ (ders., Zeittheater oder Theater der Zeit? In: TdZ, 1 [1946], H. 1, S. 2); vgl. Erpenbecks Formalismus-Definitionen, z.B.: „Der Formalismus ist eine Dekadenzerscheinung. Eine von vielen. Dekadenz ist ein gesellschaftlicher Prozeß. In unserem Zeitalter der rapide Niedergang, die fäulnishafte Zersetzung der bürgerlichen Klasse, ihre materielle und geistige Korruption, ihre Feigheit und Brutalität, ihre penetrante Heuchelei, die sie mit den von ihr tausendfach verratenen und geschändeten ethischen Werten des Humanismus, der Vaterlandsliebe, der Freiheit der Persönlichkeit und anderen treibt“ (ders., Formalismus und Dekadenz. Einige Gedanken aus Anlaß einermissglückten Diskussion, in: TdZ, 4 [1949], H. 4, S. 1-8, hier: 7) Jäger, Kultur, S. 37. Vgl. B. K. Tragelehn, in: Irmer/ Schmidt, Die Bühnenrepublik, S. 67-98, hier: 86. Vgl. Erpenbecks Kommentar zum x-ten Aufklärungsversuch: „Obwohl es schon beinahe langweilig ist, sei hier abermals eingeflochten, dass Realismus nicht identisch ist mit Naturalismus“ (ders., Linien, Risse und Sprünge, in: TdZ, 3 [1948], H. 2, S. 1-9, hier: 5). In der berühmten Formel von Arno Holz: Kunst = Natur - x. Ihering, Der Kampf ums Theater, in: ders., Die Zwanziger Jahre, Berlin 1948, S. 9-63, hier: 13. Der Volkstümlichkeits-Begriff stammte als Bestandteil des sozialistisch-realistischen Kanons aus den 1920er und 1930er Jahren, vgl. Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der dreißiger Jahre, Stuttgart 1984, S. 47-54; Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 61-63.

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Biberpelz und der deutschen Tragödie Florian Geyer, dessen Wahlspruch in unser aller Herzen lebt: ‚Der deutschen Zwietracht mitten ins Herz.’“849 In jener volksnahen Gesellschaftskritik meinte man einen Vorläufer des sozialistischen Realismus erkennen zu dürfen. So ist im Programmheft einer Rose BerndInszenierung der Spielzeit 1949/50 zu lesen, dass der „Naturalismus als solcher“ als „eine gröbere und primitivere Form unseres heutigen sozialistischen Realismus“ gesehen werden könne.850 Vom naturalistischen Vorläufer sei aber nur noch „seine Mission als revolutionierendes Element im Klassenkampf“ geblieben.851 Weil diese Mission die Dramen Hauptmanns und Romane Zolas durchleuchte, würden sie, so das Programmheft weiter, „unmittelbar und erschütternd zu uns sprechen, als seien sie gestern erst geschrieben“.852 Der realistisch geprägte Zeitstückcharakter wurde immer mehr zum Selektionskriterium innerhalb der Werke Hauptmanns erhoben.853 Der Aufführung von Stücken aus dem Frühwerk Hauptmanns schienen folglich keine kulturpolitischen Bedenken entgegen zu stehen – doch Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel. Obwohl die Bemühungen um die Tradierung Hauptmanns im Sinne der fortschrittsorientierten Vorgeschichte des ‚realen Sozialismus’ in der frühen DDR offensichtlich waren, so war selbst Hauptmanns (Früh-)Werk – obschon mit dem ‚Kulturerbe-Gütesiegel’ versehen – in dieser Zeit strittiger Bewertungsparameter keineswegs gegen Missverständnisse und Anfeindungen gefeit. Zu augenfällig war der Fatalismus einiger Stücke, zu akut das Fehlen des positiven, zum Vorbild taugenden Helden. Eben diese „Schwächen“ einer Ratten-Aufführung sorgten in Leipzig 1950 für eine aufgeregte Diskussion,854 die DDR-weiten Nachhall erleben sollte. Diesen Beispielfall kulturpolitischer Kurzsichtigkeit und antiformalis849

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Alfred Kantorowicz, Der junge Gerhart Hauptmann und seine Zeit, in: Neue Welt (1953), Nr. 5, S. 624-642 und Nr. 6, S. 744-761. Alf Scorell, Der Naturalismus in der Literatur, in: Otto Ernst Tickardt (Intendant), Gerhart Hauptmann, Rose Bernd, Programmheft des Theaters der deutschen Volksbühne Greiz, Spielzeit 1949/50, S. 4 [Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archiv Erkner]. Ebd. Ebd. „Auch in seinem weiteren Schaffen lässt Hauptmann immer wieder das Thema der Sozialkritik anklingen. Doch sind seine späteren Werke, die historisch-romantischen Dramen, romantische Märchenspiele, symbolistische Trauerspiele, realistische Schauspiele und Komödien, sowie die in seinem späten Alter geschaffene, […], nicht mehr von der realistischen Kraft getragen wie seine ersten Schöpfungen. So ist es auch zu verstehen, dass heute von den Bühnen besonders seinen Dramen aus der Zeit 1889 bis 1907 der Vorzug gegeben wird“ (Das dramatische Werk Gerhart Hauptmanns, in: Theater dienst, 5 [1950], H. 29, S. 3). Vgl. A. M. U., Parteischüler diskutierten über Die Ratten, in: Leipziger Volkszeitung (21.04.1950).

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tischer Panik beschrieb der Schriftsteller Erich Loest in seiner Autobiografie wie folgt: „Schüler der SED-Parteischule diskutierten über Die Ratten von Gerhart Hauptmann, die sie im Schauspielhaus kollektiv sahen. Sie erklärten, dass es kulturpolitisch ein Fehler wäre, dieses Stück zu bringen, da es höchst deprimierend wirkte, nicht zu den echten Werten der Weltkultur gehörte und abgesetzt werden sollte. Professor Dr. Hans Mayer widersprach in Neues Deutschland unter der Überschrift ‚Die Ratten und der blinde Eifer’ und wurde in der LVZ von Stefan Heymann [damaliger stellvertretender Leiter der Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung des ZK der SED, P. T.] zurechtgewiesen: ‚Bei Gerhart Hauptmann fehlt nämlich die entscheidende Figur in der gesellschaftlichen Entwicklung, der klassenbewußte Arbeiter. Der Hinweis von Professor Mayer, daß Die Ratten zum Kulturerbe gehören, ist hinfällig.’ Das Stück wurde abgesetzt.“855 Aus Sicht des Leipziger Literaturprofessors Hans Mayer, der im Klima der „geduldeten Mehrstimmigkeit“ der SBZ geradezu zum „Star-Germanisten“ avanciert war,856 kam der Ratten-Affäre eine paradigmatische Bedeutung zu: einerseits für die Willkür, mit der einzelne künstlerische Leistungen zur Zielscheibe selektivistischer Überreaktionen werden konnten, andererseits für die Art und Weise, wie verschiedene Instanzen und Funktionsträger sich und letztlich auch den gesamten Kulturbetrieb aus unqualifizierter Profilierungswut lähmten. Ein Gebaren, das der um Objektivität und Professionalität bemühten Kultur- und Wissenschaftsauffassung Mayers zuwider war.857 Die Ideologisierung der Kulturbewertung und die Dominanz politischer Kunstlektüren beobachtete er deshalb nach 1949 mit zunehmender Beunruhigung. Wie Loest erschien Mayer die Leipziger Ratten-Diskussion ein Puzzlestück zu sein, das zum Verständnis jener Mechanismen taugte, die schließlich zum (kulturpolitischen) Zusammenbruch der DDR führten: „Seit 1948 wurde zwischen Elbe und Oder gewütet von karrierebewussten Provinzfunktionären. Da konnte jeder mitreden. Gegen Ende der vierziger Jahre spielte man in Leipzig Die Ratten von Gerhart Hauptmann. Die Leipziger Parteileitung verlangte die Absetzung des ideologisch so bedenklichen Stücks aus einer ersten Vorkriegszeit. Man setzte das Stück 855

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Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, 5. Auflage München 2005, S. 144 f. Saadhoff, Germanistik, S. 94. Mayer setzte z.B. das politische Bekenntnisvokabular nur sparsam ein, weil er dessen intensiven Gebrauch als „Verstoß gegen professionelle Standards“ empfand. Mit dieser Haltung des „politisch moderat auftretende[n] Intellektuelle[n]“ erhielt sich Mayer auch im Westen eine gewisse „Anschlussfähigkeit“ (ebd., S. 101).

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ab. Ich trat öffentlich für Hauptmann auf, man spielte weiter. Die Leipziger holten sich Verstärkung in Berlin. Man spielte nicht mehr. Dann bat ich Becher um Hilfe. Er ging zu Ulbricht. Das Neue Deutschland, unter Herrnstadt, war auf unserer Seite. Auch die Russen übrigens. Lenin hatte mitgearbeitet an einer russischen Übersetzung der Weber von Hauptmann. Man spielte weiter. Eine groteske Episode. An zahllosen solcher Episoden im Laufe der Jahrzehnte ist die DDR zugrunde gegangen.“858 Die erwähnte Stellungnahme Mayers im Neuen Deutschland war nicht nur eine leidenschaftliche Verteidigung von Hauptmann und dessen Ratten, sondern in erster Linie eine Verteidigung der Möglichkeit relativ undogmatischer Kulturbetrachtung. Mayer zeigte hier zunächst Verständnis für ablehnende Reaktionen, unter der kontextsensiblen Einschränkung allerdings, dass es sich um ein Gegenwartsstück handele. Dass an ein Werk des kulturellen Erbes indes andere Bewertungsmaßstäbe anzulegen seien, verdeutlichte er daraufhin, indem er sich resonanzkalkulierend auf die sozialistischen Autoritäten Marx, Engels, Gor’kij und Tschechow bezog: „Wir wollen versuchsweise den Fall annehmen, daß ein heutiger Dichter, […] das Schauspiel Die Ratten heute schriebe und bei uns zur Aufführung brächte. Wir alle würden vermutlich, und mit Recht, gegen das Werk Stellung nehmen und ihm das Fehlen gesellschaftlich aufstrebender und befreiender Kräfte, einen dumpfen Pessimismus, eine Verkennung der gesellschaftlichen Probleme vorwerfen. Immer vorausgesetzt, daß dieser erfundene Gegenwartsdichter der Ratten mit seinem Werk eine Darstellung unserer Gegenwart bieten wollte. Bei Gerhart Hauptmanns Drama von 1911 aber stehen wir vor dem Problem des kulturellen Erbes […] Wir sind aber der Meinung, daß man Marx und Engels in ihren Äußerungen über Kunst und Literatur nicht bloß zitieren, sondern auch richtig anwenden sollte. […] Und man kann mit Friedrich Engels über die Aufgaben des ‚Sozialistischen Tendenzromans’ ergänzen, daß der seinen Beruf vollständig erfülle, ‚wenn er durch treue Schilderungen der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten.’ In den Ratten ersteht vor uns ein Stück historischer Wirklichkeit, zu dem wir unmittelbar aus unserer gesellschaftlichen Aufgabenstellung ebenso wenig einen Zugang haben, von dem wir genauso wenig eine ‚Lösung’ erwarten können wie etwa von Tschechow und seiner Möwe.“859

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Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt a.M. 1991, S. 193. Erneut in: ders., Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland, Frankfurt a.M. 1995, S. 54. Mayer, Die Ratten und der blinde Eifer. Bemerkungen zu einer Diskussion über das kulturelle Erbe [erschienen in: ND, 03.05.1950], zit. nach: Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 11 f.

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Im Anschluss an diese autoritätengestützte Argumentation exerzierte Mayer ein Prüfschema, das den Formalismus-Verdacht umkehrte. Die Bedeutung der Ratten leitete er hierbei aus deren historischen Abbildcharakter ab: „Wir stehen vor einem Werk des kulturellen Erbes und haben zweierlei zu fragen: Ist das ein Kunstwerk? Das wird nicht zu bezweifeln sein. Trotzdem wären wir Formalisten, wenn wir bei dieser Antwort stehenblieben. Wir fragen weiter: Ist es ein realistisches Kunstwerk? […] Auch diese Frage wird man im wesentlichen bei den Ratten bejahen müssen. Kein Zweifel nämlich, daß hier von Hauptmann eine gesellschaftliche Problematik seiner Zeit wirklichkeitsgetreu sogar in dem Einzelfall auf die Bühne gebracht wird. Gerade in der Ausweglosigkeit der Gestalten gegenüber ihren Gesellschaftsproblemen enthüllt sich der Realismus, ganz im Sinne der Formulierung von Friedrich Engels. Wenn man unter diesen Umständen Die Ratten als historisches Gesellschaftsbild vorführt, gehören sie ebenso auf die Bühne wie die früheren Werke Gorkis, ganz zu schweigen von den realistischen Werken der klassischen Dramatik.“860 Zur Klärung der Ratten-Rezeptionsproblematik griff auch Alexander Abusch in die Debatte ein. Abusch, damals Vizepräsident des Kulturbundes, bezog sich ebenfalls auf russische Bürgen der Hauptmann’schen Integrität und auf Argumente der ideologischen Kompatibilität. Auf übergeordnete kulturpolitische Fragen Bezug nehmend861, sprach sich Abusch im Neuen Deutschland zunächst nochmals gegen die „Zersetzung des Kulturerbes durch die amerikanische Boogie-Woogie‚Kultur’“ und dann eindeutig für Hauptmann-Aufführungen aus.862 Abusch betonte, dass das Verhältnis zum Kulturerbe keineswegs ein „lebloser Museumskult“ sein dürfe, sondern durch eine „lebendige Weiterentwicklung“, durch die Verbindung mit dem „schöpferischen Neuen unserer Zeit“ gekennzeichnet sein müsse.863 Die Diskussion der Leipziger Kreisparteischüler sei deshalb, was die kritische Aneignung des Kulturerbes betrifft, „nicht richtig verlaufen“. Bei der Forderung nach Absetzung des Stückes habe es sich, so Abusch weiter, sogar um einen „sektiererische[n] Fehler“ gehandelt.864 Statt der Absetzung hätten die Kreisparteischüler eine „bessere Erläuterung der historischen Begrenztheit des 860 861

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Ebd., S. 12 f. Abusch nahm hier die kulturpolitische Aufgabenstellung aus dem Entschließungsentwurf des Politbüros zum III. Parteitag der SED zum Anlass, um über den adäquaten Umgang mit dem Kulturerbe zu räsonieren. In dem Entschließungsentwurf heißt es: „Auf kulturpolitischem Gebiet [besteht] die grundlegende Aufgabe darin, eine neue demokratische deutsche Kultur zu schaffen, die – auf dem großen deutschen Kulturerbe aufbauend – auf allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck bringt“ (Abusch, Aktuelle Fragen unserer Kulturpolitik, in: ND [14.06.1950], zit. nach: Schubbe [Hg.], Dokumente, S. 140-144, hier: 140. [Dok. 35]). Ebd., S. 141. Ebd. Ebd.

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bürgerlichen Realismus der Ratten im Programmheft des Theaters und durch Vorträge verlang[en]“ sollen.865 Um angesichts dieser Irritationen keine Zweifel an der Wertschätzung der DDR für Hauptmann aufkommen zu lassen, stellte Abusch abschließend noch einmal klar: „Das nationale Kulturerbe, das wir verteidigen, schließt auch das Wesentlichste im Werk des bürgerlich-humanistischen Dichters Gerhart Hauptmann ein, der – mögen selbst seine besten Stücke in ihrer Blickweite historisch begrenzt geblieben sein und manche naturalistischen Schwächen haben – der bedeutendste deutsche Dramatiker in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war.“866 Das beklagte Scheitern der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe im Fall der Leipziger Ratten-Inszenierung verdeutlicht, dass über die Art und Weise der Rezeption auch innerhalb der jungen sozialistischen Elite als die man die Schüler der SED-Parteischule sehen kann, große Unsicherheit herrschte. Die ihnen im Kontext der Erbe-Theorie als Lernziel vermittelten schematischinstrumentalistischen Kunstvorstellungen taugten offenbar nicht, um eine kontextsensible bzw. geschichtsbewusste Wertungspraxis zu schaffen. Der radikale Gegenwartsbezug der SED-Kunstideologie entwickelte – dies macht das Leipziger Beispiel deutlich – eine Selektionsdynamik, die mehr und mehr nach der ‚reinen Lehre’ strebte und dabei vor dem eigenen literaturhistorischen Vorlauf nicht mehr Halt machte. Immerhin verschwanden weder Hauptmann noch Die Ratten in der Folgezeit vom Spielplan der Städtischen Bühnen Leipzig: 1956 und 1983 kehrten Die Ratten zurück und blieben dort jeweils über ein Jahr Bestandteil des Spielplans. Neben der ‚lauten’ Leipziger Ratten-Diskussion gab es allerdings auch zahlreiche subtilere Praktiken der Rezeptionssteuerung. Ein aussagekräftiger Fall ist z.B. in den Archivakten des Staatstheaters Dresden dokumentiert. Dort entspann sich um das Vorhaben einer Weber-Inszenierung ein jahrelang andauerndes Vexierspiel, in dem die Intendanz bzw. Dramaturgie des Staatstheaters Dresden, die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten sowie der Verlag Felix Bloch Erben die Hauptrollen einnahmen. Schon 1948 wollte man in Dresden Hauptmanns Weber zur Aufführung bringen. Obwohl alles für die Inszenierung in die Wege geleitet wurde, verhinderten anscheinend die organisatorischen Rahmenbedingungen die Inszenierung. In dieser Phase des Vorhabens scheiterte man, „da damals weder das Rollenmaterial zur Verfügung gestellt werden konnte, 865 866

Ebd. Ebd.

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noch die Technik in der Lage war, den Anforderungen des Spielleiters und Bühnenbildners gerecht zu werden“867. Weil das Staatstheater aber eigentlich an Hauptmann festzuhalten gedachte, stand zeitweilig eine Inszenierung von Vor Sonnenaufgang – als Ersatz für die geplatzte Weber-Inszenierung – zur Diskussion. Sogar den Vertrag mit Felix Bloch Erben hatte man im August 1949 dahingehend ändern lassen, als das Vorhaben plötzlich gestoppt wurde. Wie interne Unterlagen belegen, waren – leider nicht näher spezifizierte – „Bedenken gegen das Stück geltend gemacht“ worden, die „der Leitung Veranlassung gaben, vorläufig von der Aufführung zurückzutreten“.868 Dem Verlag suchte man den erneuten Abbruch der Inszenierung durch eine Verletzung des Regisseurs zu erklären: „Durch einen plötzlichen Unfall des Regisseurs mussten wir die Proben zu Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang abbrechen und die Aufführung verschieben. Da wir durch weitere Termine gebunden sind, werden wir zu unserem Bedauern das Werk erst zu einem späteren Zeitpunkt spielen können […].“869 Wenngleich sich die Bedenken letztlich zerstreuten, konnte die Vor Sonnenaufgang-Inszenierung auch bei einem neuen Anlauf nicht realisiert werden.870 Doch auch für dieses geplatzte Vorhaben hatte man einen Ersatz im Auge: Laut eines weiteren Vertrags mit dem Verlag vom Juni 1950 sollte nun Hauptmanns Winterballade gespielt werden, als spätester Aufführungstermin wurde der 31. Dezember 1950 vereinbart. Allerdings traten wieder einmal unerwartete Probleme auf: Die Absage der Winterballade-Inszenierung wurde dem Verlag am 8. April 1951 mit „Erfahrungen anderer Theater“ erklärt, „die heute mit Hauptmann beim Publikum kaum mehr ankommen“.871 So verstieg sich der verantwortliche Dramaturg sogar zu der Behauptung, dass Hauptmann in Dresden unpopulär geworden sei:872

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Paul Lewitt (Schauspieldirektor und stellvertretender Generalintendant), Brief vom 11.12.1951 an Kurt Bork (Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten Abt. Darstellende Kunst, Berlin). Ebd. Lewitt, Brief vom 01.09.1949 an den Verlag Felix Bloch Erben. „Die seinerzeit geltend gemachten Bedenken wurden nicht mehr vorgebracht, sodaß an die Arbeit hätte geschritten werden können. Infolge einer langwierigen Verletzung, die sich der Regisseur bei einer der ersten Proben zu diesem Stück zugezogen hatte, musste es neuerlich abgesetzt werden“ (Lewitt, Brief vom 11.12.1951 an Bork). Guido Reif (Dramaturg des Staatstheaters Dresden), Brief vom 08.04.1951 an den Verlag Felix Bloch Erben. Vgl. das Totschlagargument „Unsere Menschen wollen das nicht“, mit dem z.B. im Falle des Regisseurs Christoph Schroth heikle Inszenierungsvorhaben abgeschmettert wurden (Interview mit Schroth, in: Thomas Irmer/ Matthias Schmidt, Die Bühnenrepublik, S. 102- 129, hier: 106 f.

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„Es wird Ihnen von der Dresdner Komödie her sicher in Erinnerung sein, wie wenig ein so populäres Stück wie der Biberpelz machte. Um wie viel berechtigter sind unsere Sorgen wegen der Winterballade.“873 Kein Wunder, dass dem Verlag Felix Bloch Erben die Manöver des Staatstheaters Dresden allmählich zu bunt wurden. Im Antwortbrief vom 12. April 1951 wies der Verlag deshalb auf die Fadenscheinigkeit dieser Argumentation hin: „Auch dieser Vergleich scheint uns irrig, da der Dichter zu seinen Lebzeiten gerade mit Dresden aufs engste verbunden war und dort ja auch die Zerstörung der Stadt mit erlebte und erlitt. Weit mehr als in jeder anderen Stadt dürfte gerade das Dresdner Publikum an den Werken des Dichters interessiert sein.“874 Nachdem nun knapp drei Jahre verstrichen waren, erklärte das Staatstheater Dresden am 25. Mai 1951 nochmals seine grundsätzliche Bereitschaft, ein Werk Hauptmanns in den Spielplan aufzunehmen. Da man sich aber keinesfalls erneut zu früh festlegen wollte, fiel das Schreiben an den Verlag entsprechend vage aus: „[D]och können wir augenblicklich noch nicht sagen, ob wir bei der Winterballade bleiben, vielleicht auch auf Sonnenuntergang zurückgreifen oder Weber endgültig wählen werden.“875 Der Verlag reagierte mit Unverständnis auf das widersprüchliche Verhalten, das zwischen einer pauschalen Ablehnung Hauptmanns aus angeblichem Publikumsdesinteresse, dem Rückzug auf organisatorische Probleme und allgemeiner Entscheidungsunfreudigkeit aufgrund mehrerer interessanter Werke schwankte: „Bei unseren Verhandlungen wegen Erfüllung des Aufführungsvertrages Winterballade drehen wir uns im Kreise. Denn wenn Sie jetzt ‚grundsätzlich’ – also nicht verbindlich – erklären, dass Sie die Absicht hätten, in der kommenden Spielzeit ein Werk Gerhart Hauptmann’s herauszubringen (womit Sie sich in einem gewissen Widerspruch zu Ihrem Schreiben vom 8.4.1951 setzen), wobei Sie sich die Entscheidung über das in Frage kommende Werk vorbehalten, so übersehen Sie, dass es sich bei Winterballade bereits um einen Austauschvertrag gegen den von Ihnen nicht erfüllten Vertrag Vor Sonnenaufgang handelte.“876 Dass Hauptmanns Weber am 24. Januar 1952 – mit vier Jahren Verspätung – doch noch das Premierenlicht des Staatstheaters Dresden erblicken durften, kann 873 874 875

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Reif, Brief vom 08.04.1951 an den Verlag Felix Bloch Erben. Felix Bloch Erben, Brief vom 12.04.1951 an Reif. [Verfasser unkenntlich, wahrscheinlich Guido Reif], Brief vom 25.05.1951 an den Verlag Felix Bloch Erben. Felix Bloch Erben, Brief vom 29.05.1951 an die Generalintendanz des Staatstheaters Dresden.

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nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Inszenierung nach wie vor mit erheblichen Unsicherheiten verbunden war. Darauf deutet ein Schreiben von Kurt Bork, dem Leiter der Abteilung Darstellende Kunst in der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, hin. Bork war nach 1945 zunächst Theaterreferent im Amt für Volksbildung des Magistrats von Berlin gewesen. Seit 1951 arbeitete er für die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, wo er nicht zuletzt durch propagandistische Desavouierung des Westtheaters877 und übertrieben antiformalistische Kampagnen878 auffiel. Offenbar ein Erfolgsrezept, denn zwischen 1962 und 1973 sollte Bork sogar das Amt des Stellvertretenden Ministers für Kultur begleiten.879 Im Falle der Dresdner Weber erschien dem Kulturfunktionär Bork schließlich die Aufführung „aus Vertragsnotwendigkeiten […] unumgänglich“ zu sein. Aus seinen Anweisungen geht jedoch hervor, welche Befürchtungen die Aufführung von staatlicher Seite begleiteten: „Die Inszenierung ist exakt historisch zu spielen und im Programmheft und in den Pressevorberichten, die Sie veranlassen, auch so zu analysieren. Wir bitten darum, dass keine Organisationsveranstaltungen der Volksbühne oder sonstiger demokratischer Massenorganisationen stattfinden, dass man mit der Aufführung vorsichtig im Rahmen des Gesamtspielplans disponiert und sie, so bald als nur vertretbar, wieder zurückzieht. Wir legen Wert darauf, dass Sie uns diese Abmachungen umgehend schriftlich bestätigen.“880 Jener vertretbare Zeitpunkt zur Absetzung des Stücks war schließlich nach insgesamt 48 Aufführungen erreicht: Am 20. Juli 1954 fiel für die Weber im Staatstheater Dresden für sehr lange Zeit der letzte Vorhang.881 877

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„Während in Westdeutschland Theater geschlossen und Orchester aufgelöst werden, während Hunderte von Schauspielern, Sängern und Musikern ihren arbeitslosen Zustand in Westdeutschland mit einer künstlerischen Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik zu tauschen suchen, während der USA-Imperialismus und die ihm hörige Bonner Regierung die nationale Kraft des deutschen Volkes und seine Kultur zu zerstören trachten, werden in der Deutschen Demokratischen Republik Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der deutschen Kultur und der künstlerischen Intelligenz durchgeführt, die für Deutschland beispiellos und überzeugend sind“ (Kurt Bork, Ein neuer Erfolg unseres Aufbaus, in: TdZ, 7 [1952], H. 2, S. 3 f., hier: 3). Selbst Becher, der einstige Nestor des kulturellen Wiederaufbaus, äußerte sich kritisch über Borks Formalismus-Verdächtigungen und zog diese während der 15. Tagung des ZK der SED im Juli 1953 ins Lächerliche: „Absurd ist, wenn der Hauptabteilungsleiter Bork, wie mir heute mitgeteilt wird, die Wasserspiele im Zirkus Aeros als formalistisch bezeichnet. (Heiterkeit) Mein Gott, was sind das für Menschen! Man muß für die Partei eine Nervenheilanstalt gründen, wo man diese Funktionäre rasch ausheilt“ (zit. nach: Carsten Gansel [Hg.], Johannes R. Becher. Der gespaltene Dichter. Gedichte, Briefe, Dokumente. 1945-1958, Berlin 1991, S. 106). Walter Felsenstein, Theater muß immer etwas Totales sein. Briefe, Reden, Aufzeichnungen, Interviews, hg. von der Akademie der Künste der DDR, Berlin (Ost) 1986, S. 563 f. Bork, Brief vom 08.01.1952 an die Generalintendanz des Staatstheaters Dresden. Die Weber erblickten in Dresden nach dieser Inszenierung erst am 30.10.2004 erneut das Licht der Bühne. Doch auch mit diesem Hauptmann-Projekt hatten die Dresdner kein

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Das skizzierte, seltsame Gebaren des Staatstheaters Dresden wirft zahlreiche Fragen nach den Ursachen dieses Taktierens auf. Die entsprechenden Antworten dürften einerseits im Formalismus-Streit und der durch ihn hervorgerufenen Verunsicherung in Kunstfragen zu suchen sein, andererseits im heiklen Aktualitätsgrad des „Revolutionsstücks“882 Die Weber.883 Letzterer scheint aus der Sicht von SED-Kulturfunktionären wie Bork höher gewesen zu sein, als der Führung – vor dem Hintergrund der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung – lieb sein konnte. Dass diese Aktualitätskomponente von Hauptmanns Die Weber in staatlichen Funktionsstellen in der Tat erwogen wurde, geht aus der Aufführungspraxis im zeitlichen Umfeld des Arbeiteraufstandes hervor: Wie eine Tantiemennachfrage des Verlags Felix Bloch Erben belegt, entfiel die für den 8. Juni 1953 geplante Weber-Aufführung. Insgesamt wurde das Stück im Juni 1953 überhaupt nicht gespielt.884 Dabei hatte man sich schon im Vorfeld bemüht, Frontenklärung zu betreiben, indem die Figurenkonstellation als gemäß einer impliziten Klassenlinie umjustiert wurde. Wichtig erschien es, den revolutionär-aktivierenden Impetus des Stückes in die gewollte Richtung, nämlich auf den historisch vereinheitlichten Klassenfeind, zu lenken. Damit galt es zu verhindern, dass die DDRObrigkeit, die, um den sozialistischen Aufbau voranzutreiben, das Arbeitssoll extrem erhöht und den allgemeinen Lebensstandard gesenkt hatte, selbst in den Ruch kam, Ausbeutung zu betreiben. In der Sächsischen Zeitung unternahm man es, die Nachfahren des im Stück eine wichtige Rolle spielenden ausbeuterischen Fabrikanten Dreißiger in der Kultur des Westens zu lokalisieren:

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Glück: Die auch aufgrund der vom Arbeitslosenchor vorgebrachten Beschimpfungen von Gerhard Schröder, Georg Milbradt und Sabine Christiansen höchst umstrittene Inszenierung des Regisseurs Volker Lösch wurde von den Hauptmann-Erben gerichtlich zu Fall gebracht. Weitere Aufführungen wurden am 28.11.2004 durch das Landgericht Berlin untersagt (Zum Prozessgeschehen zur Inszenierung von Hauptmanns Die Weber, die am 14. Februar 2005 unter neuem Titel – „Dresdner Weber. Eine Hommage an Gerhart Hauptmann“ von Volker Lösch und Stefan Schnabel – erneut Uraufführung feierten, vgl. Christian Waldberg, Von Schlesien an die Elbe. Die Weber von Gerhart Hauptmann, Berlin 2005, S. 3-5, 79-93). Die Dresdner hatten die Handlung des Stücks in die Gegenwart transferiert, die damit intendierte Aktualisierung stand ganz unter den Zeichen der damaligen Auseinandersetzung um die Hartz-Gesetzgebung. D. G., Die Weber – Neuinszenierung im Staatsschauspiel, in: Union (30.01.1952). Abgesehen von inhaltlichen Aspekten ist auch der organisatorische Faktor nicht zu übersehen. Dass die Rechte an Hauptmanns Stücken beim westdeutschen Verlag Felix Bloch Erben lagen, bedeutete auch, dass grundsätzlich jedes Inszenierungsvorhaben mit diesem vertraglich geregelt werden musste. Damit wurden die Aufführungen zugleich aber auch zu kostspieligen West-Importen, für die Devisen aufzubringen waren. Wenngleich nicht zu beweisen ist, dass tatsächlich logistische Gründe dieser Art (mit)schuld an der Verzögerung von Inszenierungsvorhaben sind, ist dies jedoch ein Aspekt, der für viele Bühnen bei der Spielplangestaltung mittelbar von Bedeutung war. Unterlagen des Theaterarchivs Dresden: Antwortschreiben des Künstlerischen Betriebsbüros an den Verlag Felix Bloch Erben (24.08.1953).

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„[…] von der Versklavung armer Heimarbeiter führt der Dreißigerweg über die Raubzüge Hitlers zu den Weltausbeutungsplänen des Dollarimperialismus.“885 Intragenerationelle Zusammenhänge wurden indessen zwischen der DDRBevölkerung und den Webern selbst konstruiert. Im Sinne des Klassenkampfes wird deshalb an die „Brust jedes einzelnen Zuschauers geklopft“886, um sie mit dem historischen Selbstbewusstsein zu füllen, Erben jener rechtschaffenen Weber zu sein, die Ausbeutern wie dem Fabrikanten Dreißiger und seinem Unterhändler Pfeifer mutig die Stirn boten: „Die Augen des Kindes, das den Großvater Hilse am Webstuhl unter den Kugeln der preußischen Soldaten zusammenbrechen sieht, sind heute in stummer Frage auf uns gerichtet. Wie lange, so fragen sie, werden die Nachfahren der ‚Dreißiger’ und ‚Pfeifer’, die Urheber und die Nutznießer immer neuen Elends, noch ihr mörderisches Handwerk betreiben?“887 Auf diese Art und Weise gerieten Hauptmanns Weber zu einem identitätsstiftenden Protestmedium, dessen revolutionären Impetus man gen Westen zu lenken oder gar zu verharmlosen suchte. So weist die Theaterkritik der Sächsischen Zeitung außerdem darauf hin, dass seitens der Dramaturgie künstlerische Maßnahmen ergriffen wurden, um die gefürchtete aufwieglerische Wirkung der Weber zu entschärfen: „Die jungen Weber kommen – seltsamer Scherz – auf Steckenpferdchen angeritten. Der Abgang des Gendarmen wirkt nicht als aufreizende Drohung, sondern eher wie ein Fastnachtswitz. Da sich nun auch noch die Darstellerin der Wirtstochter in Übertreibungen gefällt, nimmt das Publikum verschiedene Szenen als Anlaß zu Heiterkeitsausbrüchen – so bleibt das Weberlied der zum Fabrikanten stürmenden Menge ohne nachhaltige Wirkung.“888 Diese Elemente der Weber-Inszenierung von Heinz W. Littens erregten allerdings sogleich Formalismus-Verdacht: Die „teilweise künstliche Stilisierung des Ge885

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Arno Großmann, Die Weber von Gerhart Hauptmann im Staatsschauspiel. Regie ging zum Teil von formalen, äußerlichen Gesichtspunkten aus, in: SZ. (29.01.1952), vgl. ebd.: „Wenn schließlich das Schauspiel mit seinem tragischen Ausgang auch keine Lösung der geschilderten sozialen Verhältnisse bieten konnte, hat es doch im Zeitraum von nahezu sechzig Jahren vielen Hunderttausenden das lebenswahre Bild ihrer vom kapitalistischen Schandsystem erniedrigten und ausgebeuteten Mitmenschen gezeigt und die Welt zum ‚Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden aufgerufen.’ Die Ausgebeuteten selbst aber erlebten in Hauptmanns Stück die tiefe Wahrheit des Kommunistischen Manifests, dass sie ‚eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt sind.’“ Ulbrich, Hauptmanns Weber, in: NaZ (26.01.1952). Großmann, Die Weber, in: SZ (29.01.1952). Großmann, Die Weber, in: SZ. (29.01.1952).

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schehens“, so war in der Sächsischen Zeitung zu lesen, hätte nicht dazu beigetragen „die Gefahr des Naturalismus“ zu überwinden, sondern hätte vielmehr die „echte Atmosphäre des Realismus zerstört“.889 Ganz der auf Aufspürung von Formalismustendenzen programmierten Kulturkritik der frühen 1950er Jahre entsprechend, konnte das Gesamturteil über Littens Weber-Inszenierung deshalb nur durchwachsen ausfallen: „Durch das Nebeneinander von klar ausgeprägten realistischen Szenen und symbolisierenden formalistischen Methoden […] kam leider ein Bruch in den Realismus des Stückes.“890 Und dies, obschon das Hauptmann’sche Weber-Original ebenfalls 1952 von Hans-Jürgen Geerdts, der der neuen marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaftlergeneration angehörte und in Greifswald überdurchschnittlich schnell zum Literaturprofessor aufstieg,891 dafür gelobt wurde, dass es über jeden Formalismusverdacht erhaben sei: Geerdts bezeichnete Die Weber als ein „hohes Symbol des Hauptmannschen Realismus“892, in dem „das Stoffliche mit dem Formalen in so hohem Maße“ verschmelze, dass „ein gültiges Kunstwerk im Sinne realistischer Einheitlichkeit von Stoff und Form“ entstanden sei.893 Damit waren Die Weber – trotz ideologischer Mängel894 – zumindest aus Geerdts Sicht „eines der wenigen höchstwertigen Volksstücke“ überhaupt.895 Bleibt die Frage, weshalb man sich mit Vor Sonnenaufgang am Staatstheater Dresden so schwer tat. Es scheint, als habe man sich dort zunächst von der Versuchung leiten lassen, Hauptmanns berühmt-berüchtigten Dramenerstling insbesondere wegen der Skandalwirkung zu inszenieren, die das Stück einst auf das Bürgertum des Kaiserreichs ausgeübt hatte. Diese Rezeptionsgeschichte verlieh dem HauptmannKlassiker vermeintlich eine spezielle Daseinsberechtigung auf DDR-Bühnen. Jedoch hatte man bei der Unterbreitung des Inszenierungsvorhabens wohl überse889 890 891 892 893 894

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Ebd. Ebd. Vgl. Saadhoff, Germanistik, S. 144. Geerdts, Gerhart Hauptmann, S. 147. Ebd., S. 74. So monierte Geerdts „das Fehlen eines echten ideologischen Gehaltes“ als „Grundfehler“ der Weber als auch anderer Werke Hauptmanns (ebd., S. 158, Unterstreichung im Original). Außerdem sah er den gesetzmäßigen Niedergang des Bürgertums und die Überlegenheit des Sozialismus in Hauptmanns Werk gespiegelt: „Das Ende der bürgerlichen Kunst, […], verlief nicht ohne letzte Höhepunkte. Ein wesentlicher Höhepunkt sind Die Weber. Aber sie sind bei Hauptmann nicht zugleich – wie es anders bei M. Gorki geschah – Übergang zu Neuem. Hauptmann versank immer mehr bei aller Reinheit des Wollens, bei aller Grösse seines Talentes, bei aller Würde seines humanen Strebens in den Sumpf des Romantischen und Mythischen, in die epigonale Nachmacherei der klassischen Formen. Die deutsche Misere triumphierte über sein Talent“ (ebd., S. 158). Ebd., S. 119.

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hen, dass eben auch die DDR der bürgerlichen Kritikmuster keineswegs entwachsen war. Wahrscheinlich ist deshalb, dass die Dresdner „Bedenken“896 gegen Vor Sonnenaufgang ähnlicher Natur waren wie die der Leipziger Kreisparteischüler angesichts von Hauptmanns Ratten. Vor Sonnenaufgang, ein mit sozialdarwinistischen Theorien durchsetztes soziales Drama, das vor Augen führt, wie eine neureiche Bauernfamilie immer mehr in Sittenlosigkeit und Säuferei abgleitet, musste schließlich im Arbeiter- und Bauernstaat als indentitätserodierende Verunglimpfung aufgefasst werden. Die Inszenierung des Stücks war folglich ein heißes Eisen, das in der DDR-Rezeptionsgeschichte tatsächlich nur fünfmal angefasst werden sollte.897 Anders das in seiner Faschismus-Lesart dagegen ideologisch kompatible Gegenstück Vor Sonnenuntergang: Dieses Alterswerk Hauptmanns wurde in der DDR zwölfmal inszeniert – eine Fassung für das DDRFernsehen und zwei für den DDR-Rundfunk nicht mitgezählt. Das Ansinnen, Hauptmanns auf Selma Lagerlöfs Erzählung Herrn Arnes Schatz gründende Winterballade zu inszenieren, war ebenfalls problematisch, wenn auch aus anderen Gründen. Diese dürften einerseits in Inhalt und Stimmung des Werkes zu suchen sein, andererseits aber auf dem Umstand beruhen, dass Lagerlöf Sympathien für rassenhygienische Maßnahmen gehegt hatte. Die Winterballade, die die „düstere Aura der nordischen Sage“898 erweckt und von der – wie bei Die Ratten und Vor Sonnenaufgang – keine positive Stimulierung des sozialistischen Aufbaus zu erwarten war, wurde vermutlich auch deshalb nur einmal in der DDR inszeniert.899 In der BRD zählte die 1917 uraufgeführte Winterballade mit insgesamt vierzehn Inszenierungen, wenn nicht zu den absoluten Publikumslieblingen, so doch zu den beliebteren Stücken Hauptmanns.900 Wie die skizzierten Inszenierungsbeispiele zeigen sollten, schreckten jene – im Sinne des ‚sozialistischen Realismus’ bzw. ‚Anti-Formalismus’ geführten – kunstideologischen Schauprozesse keineswegs davor zurück, einen Klassiker wie Hauptmann auf die Anklagebank zu zerren. Doch fällt für die hier betrachtete 896 897

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Lewitt, Brief vom 11.12.1951 an Bork. Das Stadttheater Zittau führte es im Mai 1950 ein einziges Mal auf, das GerhartHauptmann-Theater Görlitz zeigte das Stück ausschließlich im Dezember 1955. In Berlin war das Stück am Deutschen Theater Berlin in einer Inszenierung von Wolfgang Heinz zu sehen (Spielzeit 1954/55), 1966 wagte sich das Theater Putbus an die Inszenierung. In Dresden sollte Vor Sonnenaufgang erst am 27.03.1969 Premiere feiern. Wie diese Inszenierungen die ideologischen Klippen zu umschiffen suchten, wird im Folgenden noch näher auszuführen sein. Arno Lubos, Gerhart Hauptmann. Werkbeschreibung und Chronik, Zürich 1978, S. 100. Im Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz stand die Winterballade zu SBZ-Zeiten in der Spielzeit 1947/48 auf dem Spielplan, das Deutsche Nationaltheater Weimar zeigte das Stück in der Spielzeit 1949/50. Von dem wesentlich bekannteren Stück Und Pippa tanzt! sind z.B. ebenso viele Inszenierungen verzeichnet.

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kulturpolitische Phase auf, dass Hauptmann und seine Werke immer wieder Verteidiger fanden, die diese Anschuldigungen abzuschmettern vermochten. Unübersehbar ist weiterhin, dass auch die Berühmtheit Hauptmanns ihr übriges tat: Einem unbekannteren Dramatiker hätten derartige Vorwürfe dauerhaft den Zutritt zu DDR-Bühnen versperren können. Der Wahllosigkeit und Allgegenwärtigkeit der Formalismus-Anschuldigungen war in dieser Zeit schließlich nur unter besonderen Bedingungen zu entkommen.

3.1.3. Bertolt Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann Die Premiere von Bertolt Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann fand unter der Regie Egon Monks – dem „Lieblingsschüler von Brecht“901 – am 24. März 1951 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin statt. Dort waren schon Hauptmanns Originalstücke Der Biberpelz (21. September 1893) und Der Rote Hahn (27. November 1901) uraufgeführt worden. Brechts Inszenierung der beiden Stücke fiel, wie zuvor dargestellt, in eine kulturpolitisch äußerst heikle Zeit. So hatte das ZK der SED im Monat der Uraufführung von Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann das angebliche „Zurückbleiben“ der DDR-Kunst hinter der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung gerügt.902 Die Erwartungen der Politik an die Kunstschaffenden waren enorm, was Bertolt Brecht und Paul Dessau fast zeitgleich an den scharfen Reaktionen auf ihre Oper Das Verhör des Lukullus zu spüren bekamen. Person und Werk des Westemigranten Brecht waren in der DDR zu dieser Zeit noch höchst umstritten.903 Dass Brecht am 7. Oktober 1951 den Nationalpreis erster Klasse aus der Hand Wilhelm Piecks empfing, änderte nichts an der Tatsache: Brecht galt als „Vertreter eines eingeschränkten Realismus“904, auch deshalb erhielt er den Nationalpreis lediglich für seine Gedichte, nicht jedoch für seine Theaterstücke.905 Aus SED-Sicht war Brecht, der nominell nie einer Partei angehörte, ein unsicherer Kantonist, der erst noch „sein altes Gepäck aus der Emigration“ aufarbeiten 901 902

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Wekwerth, Erinnern, S. 77. Jürgen Koller, Zur Kulturpolitik in der DDR. Entwicklung und Tendenzen, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1989, S. 21. Mittenzwei, Brecht als Gegenstand der Biographie, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Gesellschaftswissenschaften, Jg. 1988, Nr. 9/G, Berlin 1988, S. 14. Vgl. Käthe Rülicke-Weiler, Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung, Berlin (Ost) 1968, S. 17. Vgl. Mittenzwei, Bertolt Brecht. Von der Maßnahme zu Leben des Galilei, Berlin (Ost) 1962, S. 354; Wekwerth, Erinnern, S. 89.

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müsse, um die Entwicklungsstufe des sozialistischen Realismus zu erreichen.906 Der „große Außenseiter der sozialistisch-realistischen Literatur“907 wurde deshalb in den ersten Jahren nach 1945 in der SBZ – so Mittenzwei – „nicht vermisst“908. Dass Brecht dennoch der Aufbau eines eigenen Ensembles ermöglicht und das Zugeständnis der eigenen Studiobühne zuteil wurde, ist in erheblichem Maße auf das Engagement Johannes R. Bechers zurückzuführen.909 Vor dem Hintergrund dieser feldinternen und feldexternen Dynamiken war es nicht verwunderlich, dass die Hauptmann-Bearbeitung Brechts zu einem Theaterereignis der jungen DDR wurde, das einiges über die Rezeptions- und Kanonisierungspraxis der kulurpolitischen Funktionseliten und ihren Umgang mit den großen Literaten der Vor-1933-Ära verriet. Für Brecht wiederum war die Hauptmann-Bearbeitung kein zufälliges Projekt: Wie im Folgenden zu zeigen ist, bildete sie den Höhepunkt einer jahrzehntelangen, widerspruchsvollen Auseinandersetzung mit dem Dichterfürsten. Gleichzeitig stellte die Bearbeitung für Brecht ein Medium für seine eigene Positionierung im kulturellen Feld der deutschen Nachkriegskultur dar. Brechts erste Auseinandersetzung mit Hauptmann im Allgemeinen und Der Biberpelz im Besonderen reicht in seine Jugendzeit zurück: Als Fünfzehnjähriger war er 1913/1914 in eine ‚Inszenierung’ des Stücks – damals als Puppenspiel – involviert gewesen.910 Auch verfasste er 1913 für die Schülerzeitung Die Ernte einen ausführlichen Aufsatz über „Gerhard [sic!] Hauptmann“ und seine „wundervollen Dramen“.911 Jene erste literaturkritische Publikation des jungen Brecht stellte eine unmittelbare Reaktion auf die Schmähung dar, die Hauptmann im Zuge des Skandals um das Festspiel in deutschen Reimen widerfahren war.912 Der Schüler Brecht sah sich damals verpflichtet, für den großen Dichter eine antimonarchistische Lanze zu brechen. Werner Mittenzwei, der wohl bekannteste Brecht- und Theaterforscher der DDR, sprach in Anbetracht dessen sogar davon, 906 907 908 909

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Mittenzwei, Brecht als Gegenstand, Sitzungsberichte, S. 14. Ders., Der Realismus-Streit, S. 80 f. Ebd., S. 14 f., 24 f. Dwars, Abgrund, S. 672 f.; Rohrwasser, Der Weg, S. 39 (mit Verweis auf Klaus Völker, Bertold Brecht. Eine Biografie, München 1976, S. 411). Becher sollte Brechts unanfechtbare Größe noch im Tode suchen: Sein Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin befindet sich unweit der Grabstätte von Brecht und Weigel. Günter Berg, Wolfgang Jeske, Bertolt Brecht, Stuttgart, Weimar 1998, S. 133 f. Die Ernte, H. 2, abgedruckt in: Jürgen Hillesheim/ Uta Wolf (Hg.), Bertolt Brechts Die Ernte. Die Augsburger Schülerzeitschrift und ihr wichtigster Autor. Gesamtausgabe, Augsburg 1997. Der Aufsatz ist die „erste offizielle Arbeit Brechts“ wie auch die „erste Stellungnahme Brechts zu einem Dichterkollegen“ (ebd., S. 56). Wie intensiv der Skandal Brecht berührte zeigt sein am 29.06.1913 notierter Wunsch, selbst ein Jahrhundertfestspiel zu schreiben, „das sogar den Breslauern gefällt“ (Werner Hecht, Brecht Chronik. 1898-1956, Frankfurt a.M. 1997, S. 21).

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dass Brecht Hauptmann „als Schüler über alles liebte“913. Auch eine halbe Dekade später, als Theaterkritiker der von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei herausgegebenen Augsburger Tageszeitung Der Volkswille war Brecht noch voll des Lobes für Hauptmann. Ausdrücklich forderte er dort im Oktober 1920 zum Besuch einer Rose Bernd-Vorführung des Augsburger Gewerkschaftsvereins auf. Brechts damalige Theaterkritiken zeigen, wie sehr man sich in diesen Kreisen, wenn nicht mit Hauptmann selbst, so doch mit der von ihm gewählten Problematik identifizierte und wie groß die Neigung war, seine Stücke politisch zu kategorisieren. In Rose Bernd sah Brecht damals „unsere Sache“, „die in dem Stück verhandelt wird, unser Elend, das gezeigt wird“.914 Entsprechend bezeichnete er das Drama, von dessen Echtheit er begeistert war, als ein „revolutionäres Stück“915. In gleichem Maße, wie Brechts Erwartungen an die politische Aussage- und Lehrkraft des Theaters wuchsen, sank allerdings seine Meinung von Hauptmanns Stücken.916 Insbesondere der Sekundenstil und die Detailliebe der naturalistischen Darstellungsweise erregten in der Folgezeit Brechts Widerwillen. Ende 1921 spottete er über die „etwas dumme Genauigkeit in der Zeichnung der Menschen“917 und die „Vermengung von Leidenschaftlichkeit und Hysterie“ – Merkmale, die ihn feststellen ließen: „Zweifellos haftete der Ära Hauptmann etwas Kleines an.“918 Trotz seiner im Kontext der Realismus-Debatte an Schärfe gewinnenden Naturalismus-Kritik schien Brecht bei Aktionen in der kulturräsonierenden Öffentlichkeit aber nach wie vor Wert auf das Urteil – oder zumindest

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Mittenzwei, Brechts Verhältnis zur Tradition, Berlin (Ost) 1972, S. 11. Ein Brief Brechts an den Jugendfreund und späteren Bühnenbildner Caspar Neher zeugt von Brechts Bewunderung für Hauptmanns Biberpelz: „Man braucht keine Stoffe, die sich schon an sich durch äußere Schönheit auszeichnen. Man braucht keine Könige zu Helden, keine Dichter, keine Philosophen. (Keine Antigone, keinen Faust). Auch das Schicksal einer Waschfrau (Mutter Wolffen im Biberpelz) kann tragisch (also(?) schön) sein“ (Brecht an Neher, Augsburg, 10.11.1914, in: GBA 28, S. 15). Brecht, Rose Bernd von Gerhart Hauptmann, in: Der Volkswille (23.10.1920), zit. nach: GBA 21, S. 80. Ebd. In einem, im April 1928 ausgestrahlten Rundfunkgespräch mit dem Intendanten Hans Weichert und dem Kritiker Alfred Kerr über Die Not des Theaters sagte Brecht über Rose Bernd: „Ein Mädchen zu sehen, das, weil es ein uneheliches Kind bekommt, in den Tod geht, interessiert uns weit weniger als eines, das weiterlebt, und dabei ist es noch sehr wichtig, wie sie weiterlebt, und das Ganze ist höchstens der Stoff für eine Szene, keinesfalls für ein Theaterstück“ (Brecht, Die Not des Theaters, zit. nach: GBA 21, S. 229-232, hier: 229). Brecht, Journaleintrag (06.10.1921), zit. nach: GBA 26, S. 249. Ebd. 1928 unternahm Brecht eine Fundamentalkritik des Naturalismus: Die Bezeichnung ‚Naturalismus’ schien ihm „selber schon ein Verbrechen“ zu sein, weil sie dazu beitrage, schlimme Verhältnisse „als natürliche hinzustellen“ (Brecht, Über die Verwertung der theatralischen Grundelemente, zit. nach: GBA 21, S. 232). Der Naturalismus nehme die Benachteiligung der Unterschicht nicht ernst, sondern zementiere sie durch den „Deckmantel des Mitleids“ als eine „natürliche Kategorie menschlicher Schicksale“ (ebd.).

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auf die anerkennungsfördernde Anwesenheit – Hauptmanns zu legen.919 Dafür spricht etwa Brechts herzliche Einladung zur Uraufführung seines Badener Lehrstücks vom Einverständnis im Juli 1929.920 Hauptmann kam –, wennschon er zuvor, anlässlich einer als skandalös empfundenen Aufmischung des Dresdner Literaturbetriebs,921 geringschätzig notiert hatte: „Was ihr da macht, Bronnen Brecht Döblin, das ist ‚Zeugs’!“922 In der NS-Zeit schlug Brechts Meinung von Hauptmann allmählich in offene Verachtung um. Zwar nannte er Die Weber noch 1940 „das erste große Werk, das die Emanzipation des Proletariats hervorbringt“, doch sah er in dem Stück nun gleichzeitig einen „ganz und gar vergebliche[n] Appell [...] an das Mitleid des Bürgertums“.923 Damit verblassten Die Weber für Brecht zu einem „Trauerspiel des Proletariats“924. Ebenso hart fiel sein Urteil über Florian Geyer aus: Er warf dem Bauernkriegsdrama Täuschung vor und erklärte es zum „faschistischeste[n] [sic!] Werk“ Hauptmanns.925 Nicht zuletzt war Brecht zuwider, dass Hauptmann sich nicht öffentlich gegen das NS-Regime aussprach: In Der Messingkauf verspottete er ihn deshalb als „verkommene[n] Greis, [der] unter dem Anstreicher eine unwürdige Rolle spielte“926. In der Nachkriegszeit zeugte nicht nur die Bearbeitung der Stücke Der Biberpelz und Der rote Hahn vom erneuten Aufleben einer versöhnlicheren Haltung Brechts gegenüber Hauptmann: Insgesamt schien Brecht die Beschäftigung mit Hauptmanns Werk nun wieder für künstlerisch wie pädagogisch sinnvoll zu erachten. Darauf deutet z.B. Brechts Empfehlung für den Literaturplan im DDR919

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Dass Hauptmann für Brecht in jungen Jahren eine Art Lehrerfigur war, zeigt ein Brief, den Brecht Mitte Dezember 1949 an Paul Wandel, in Reaktion auf dessen Ablehnung der Einführung von Meisterklassen für Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste, schrieb: „Ich wäre seinerzeit sehr froh gewesen, mit meinen Entwürfen zu Hauptmann oder Kaiser oder Wedekind gehen zu können […]“ (zit. nach: Hecht, Brecht Chronik, S. 900). Den väterlichen Freund fand Brecht in Lion Feuchtwanger (vgl. Frank Thomsen/ Hans-Harald Müller/ Tom Kindt, Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks, Göttingen 2006, S. 17). Brecht, Brief an Hauptmann (27.07.1929), GBA 28, S. 323 f.; Klaus-Dieter Krabiel, Lehrstück/ Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, in: Brecht Handbuch in fünf Bänden, hg. von Jan Knopf, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2001, S. 226-238, hier: 232. Zu den Skandalisierungsstrategien der genannten Autoren, insbesondere Bronnens, vgl. Lars Koch, „The blood ran riot through my veins“. Die Selbstinszenierungsstrategien Arnolt Bronnens zwischen Kunstverachtung, Kulturindustrie und politischen Radikalismus, in: Neuhaus/ Holzner, Literatur als Skandal, S. 278-288, hier: 278. Hs. 21, Hinterspiegel, zit. nach: Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 270. Brecht, Notizen über die realistische Schreibweise (1940) (GBA 22, 620-640, hier: 633). „Der Klassenkampf war dargestellt, das war realistisch, aber er hatte einen eigentümlichen Naturcharakter im bürgerlichen Sinn [...]. Es war natürlich, dass die Proletarier kämpften, aber es war auch natürlich, dass sie besiegt werden“ (ebd., S. 634). Ders., Notizen über die realistische Schreibweise (1940) (GBA 22, 620-640, hier: 635). Ders., Der Messingkauf, B 32 (1939-1941) (GBA 22, S. 723). Auf dem Haupttitelblatt von Hauptmanns Lohengrin, der sich in der Ausgabe von 1913 in Brechts Bibliothek befand, hat Brecht mit Bleistift zur Autorangabe „verkalkter sau“ hinzugefügt (Die Bibliothek Brechts. Ein kommentiertes Verzeichnis, hg. vom Bertolt-Brecht-Archiv, Akademie der Künste, Frankfurt a.M. 2007, S. 85).

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Schulunterricht hin. Zu einem Entwurf der Abteilung Methodik des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts vom Mai 1951 hatte Brecht kanonkritisch angemerkt, dass „Hauptmann erst im 10. Schuljahr mit den Webern im Lehrplan“927 vertreten sei und ergänzend die Aufnahme des „Gesangs der Engel“ aus Hanneles Himmelfahrt angeraten. Insofern Bourdieu Unterrichtspläne zu den Kanonisierungsformen928 zählt, kann diese Anregung Brechts als Beitrag zur Konsekration Hauptmanns in der DDR gesehen werden. Doch entstanden jene Stellungnahmen wie das Inszenierungsprojekt Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann weniger aus reiner Anerkennung denn aus Brechts eigenem feldstrategischem Bedeutungsanspruch. Dies signalisieren jedenfalls Brechts Äußerungen gegenüber Ernst Schumacher, dem späteren Leiter des Lehrstuhls Theorie der darstellenden Künste am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität. Demzufolge sah Brecht Hauptmann als deutschen Literaturkönig – ein Amt, in dem er selbst Hauptmann nachzufolgen beabsichtigte. Laut Schumacher soll Brecht seine Selbstverortung in der Genealogie der Dichterfürsten Ende April 1955 folgendermaßen umschrieben haben: „Georg Kaiser folgte Gerhart Hauptmann auf dem Thron der deutschen Dichtung nach. Seit Kaiser tot ist, sitze ich ganz einfach oben, ob das gefällt oder nicht.“929 Der Konsolidierung dieser Regentenlinie widmete sich Brecht mit ganzer Kraft. Zumindest aber in Hinblick auf die Wirkung seiner Hauptmann-Bearbeitung Biberpelz und Roter Hahn traten dabei unerwartete Probleme auftreten. Wie dargestellt, war die Bearbeitung der beiden Vierakter Der Biberpelz und Der rote Hahn in dem von Helene Weigel geleiteten Berliner Ensemble (BE) für Brecht ein sehr persönliches Projekt. Anders als Brecht sollen die Mitglieder des BE dem Inszenierungsprojekt zunächst – so Hans Mayer – „mit einigem Widerwillen entgegen [gesehen haben]“930. Wie sich Manfred Wekwerth erinnert, ging es bei den Proben zu Biberpelz und Roter Hahn dann aber doch recht „fröhlich“931 zu. Dies lag vor allem an Hauptmanns „Kunst der Beobachtung“, über deren naturalistische Detailverliebtheit Brecht einst die Nase gerümpft hatte.932 927

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[Zu Lehrplänen für den Deutschunterricht der 5. bis 8. Klasse] Typoskript vom 29.11.1951, GBA 23, S. 169 f. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 272. Ernst Schumacher, Mein Brecht. Erinnerungen, Berlin 2006, S. 469 (ebenso: 473). Hans Mayer, Brecht, Frankfurt a.M. 1996, S. 430. Wekwerth, Erinnern, S. 40. Dem österreichischen Regisseur, Theaterkritiker und Schriftsteller Berthold Viertel, der eigentlich als Regisseur für die Bearbeitung gewonnen werden sollte, schrieb Brecht: „Wir hatten großen Spaß über Hauptmanns glänzende Beobachtung, und der Respekt der

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Insgesamt sah Brechts Inszenierungsstrategie vor, „Hauptmann voll zu vertrauen“933. Doch dessen „Kenntnis des historisch Wesentlichen“ erschien ihm allzu mangelhaft: Vom Standpunkt des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes aus, fiel Brecht z.B. negativ auf, dass Der Biberpelz „die Arbeiterbewegung [...] nahezu völlig übersieht“.934 Diese und andere ‚Schwächen’ wollte er – trotz seines grundsätzlichen Vertrauens in die Vorlage – mittels zahlreicher Eingriffe beheben. Seine Änderungen, auf die hier näher einzugehen ist, beruhten zum einen auf allgemeinen Aktualisierungsnotwendigkeiten und zum anderen auf persönlichen Profilierungsbestrebungen. Ingesamt verfolgte Brecht das Ziel, Hauptmanns Klassiker ein „progressives Klassenbewusstsein“935 zu verleihen. Den ersten und zugleich größten Eingriff Brechts bei der Umsetzung seiner Bearbeitung bildete die Amalgamierung der Komödie Der Biberpelz mit der Tragödie Der Rote Hahn. Dabei handelte es sich ursprünglich um eine Idee der Schauspielerin Therese Giehse, die in Brechts Hauptmann-Bearbeitung die Mutter Wolffen verkörpern sollte.936 Der Vorschlag war ganz in Brechts Sinn, denn schließlich sah er im Roten Hahn die Vervollkommnung der Biberpelz-Handlung: Dort wurde das „dicke Ende des individualistisch geführten Existenzkampfes der Wolffen“937 nachgeholt, was die wenig populäre Fortsetzung für Brecht unverzichtbar machte. Die Amalgamierung der beiden Originalstücke zog indes weitere Änderungen nach sich: Gezielt eliminierte Brecht Passagen und Figuren, die retardierend oder entschärfend wirkten. Beispielsweise entfiel der gesamte II. Akt des Roten Hahn wie auch die „dramaturgisch funktionslose Gestalt“938 des Dr. Boxer. Aus den beiden Vieraktern entstand ein durch eine große Pause unterbrochener und durch ein Musikstück verbundener Sechsakter. Aus Brechts Sicht verstärkten die Eingriffe im Biberpelz die Komik, im Roten Hahn dagegen die Tragik.939 Wie er betonte, behielten beide Stücke, obschon sie ihre Einzelaufführbarkeit einbüßten, „ihre Essenz“940. Der Wesenskern der Originalstücke wurde aller-

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jungen Mitarbeiter vor ihm stieg dauernd“ (Brecht, Brief an Viertel vom November 1950, in: GBA 30, S. 44). Ebd. Ebd. oost, Die Bearbeitungen, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 13-27, hier: 26. Brecht, Zu Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann (1951), in: GBA 24, S. 393-401, hier: 393. Brecht, Brief an Viertel vom November 1950, in: GBA 30, S. 44. Raimund Gerz, Gerhart Hauptmann Biberpelz und roter Hahn, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 578-582, hier: 579. S. hierzu Brecht, Zu Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann (1951), in: GBA 24, S. 393-401; Brecht, Brief an Viertel vom November 1950, in: GBA 30, S. 44. Brecht, Brief an Viertel vom November 1950, in: GBA 30, S. 44.

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dings dort tangiert, wo Brecht der ideologischen Aussagekraft Hauptmanns auf die Sprünge helfen wollte. Modifikationen ideologischer Art941 betreffen z.B. die Figur des Dienstmädchens Leontine, der ältesten Tochter der Waschfrau Wolffen. Leontine löst zu Beginn des Biberpelz den ersten Diebstahl geradezu aus, indem sie ihrer ‚Herrschaft’, den Krügers, und der ihr lästigen Arbeit entflieht. Der Modifikation dieser Figur kommt insofern besondere Bedeutung zu, als sie vom BE dazu konzipiert wurde, die politischen Ansichten und das „schädliche Verhalten“ der Mutter Wolffen zu entlarven. Wie die ebenfalls modifizierte Figur des Rauchhaupt/Rauert sollte Brechts Leontine dazu beitragen, den Zuschauer Mutter Wolffen „gegenüber kritisch zu stimmen“.942 Bei Hauptmann verweigert Leontine die Rückkehr zu den Krügers mit der Drohung, eher ins Wasser zu gehen. Brecht, das „Verfahren der politischen Zuspitzung“943 anwendend, erweitert Leontines Beschwerde gewerkschaftlich: „Ick jeh’ nich mehr bei die Leute hin. Die ham ooch noch nischt vom Zehnstundentag jehört“ (I. Akt, GBA 8, S. 376). Bemerkungen dieser Art zeugen von Brechts Versuch, die Figur der Leontine aus ihrer Passivität zu befreien. Aus Hauptmanns „Dulderin“ Leontine, die „schlecht weg kommt“, entwickelt Brecht die „Gegnerin der Praktiken ihrer Mutter“.944 Die klassenbewusste Horizonterweiterung Leontines ist bei Brecht durch den Einfluss eines jungen Mannes namens Henschke motiviert, mit dem Leontine eine heimliche Liebschaft unterhält. Diese neue Figur charakterisiert Brecht als „Setzer und stramme[n] Sozi“ (I. Akt, GBA 8, S. 384).945 Mit Henschkes Hilfe unternimmt es Brecht, „das historisch Wesentliche“ nachzutragen, nämlich die Geschichte der Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie. So heißt es über Henschke und „seine Genossen“:

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Brecht hatte ursprünglich beabsichtigt, die Handlung des Biberpelz auf den 1. Mai zu verlegen. Angesichts des Hauptmann’schen Handlungsgefüges und der Chronologie der Ereignisse – der Feuerholzdiebstahl ereignet sich im Winter; der Maifeiertag wurde erstmals nach dem Internationalen Sozialistenkongress (1889) im Jahre 1890 begangen; der Septennatskampf (1887), die Handlungszeit des Biberpelz, liegt in historischer Perspektive länger zurück –, verwarf er diese Änderung. Textänderungen, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 202-205, hier: 202; vgl. Brecht, Brief Brechts an Viertel, in: ebd., S. 176 f., hier: 177. Raimund Gerz, Gerhart Hauptmann Biberpelz und roter Hahn, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 578-582, hier: 580. Textänderungen, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 202-205, hier: 203. Die neue Figur des Henschke tritt in der Bühnenfassung Brechts nicht in Erscheinung, obschon sie in der 1.-Mai-Fassung als Urheber entsprechender Flugblätter vorgesehen war (GBA 8, S. 591 f.).

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„Die Herren Jenossen sind ja jrade jetzt nich besonders beliebt bei die Behörden, wo sie gegen Bismarcks Große Militärvorlage wühlen.“ (I. Akt, GBA 8, S. 384) Neben solchen ‚politikhistorischen’ Informationen über die Zeit des Septennatskampfs, als die Sozialdemokraten gegen die Regierungspläne zur Erhöhung des Heeresetats anstritten, zitierte Brecht Vorurteile aus dem Fundus monarchistischer Rhetorik. Mutter Wolffen, die um Leontines Ruf, vor allem aber um den eigenen guten Leumund fürchtet, versucht ihr z.B. das Verhältnis mit Henschke auszureden, indem sie derartige Vorurteile reproduziert: „Een Sozi is er! Wer gegen die Obrigkeit is, der stiehlt oock und zind’t Häuser an. [...] Wenn du mir so anfängst und schwiemelst mit die Sozi rum, dann hau’ ich dich, dass de schon gar ni’ mehr uffstehst.“ (I. Akt, GBA 8, S. 389) Diese Einfügungen dienten Brecht einerseits dazu, beim ‚fortschrittlichen Publikum’ Wissen über die aus marxistisch-leninistischer Sicht repressive, aber letztlich erfolgreiche Geschichte der Arbeiterbewegung aufzurufen. Andererseits sollten sie zur Belustigung des Publikums und zur Stärkung des komödiantischen Elements des Biberpelz beitragen. Brechts Ironie will es, dass Mutter Wolffen ebenso verbrecherisch handelt, wie ihrem Vorurteil nach ein „Sozi“ handeln würde: Sie stiehlt und legt Feuer. Gerade die Brandstifter-Thematik des Roten Hahn erhält bei Brecht neben der konkreten Tatbestandsebene durch die Verbindung mit der Sozialisten-Stereotypie eine zusätzliche symbolische Aussagedimension. Die Ansätze hierfür, die Brecht resonanzkalkulierend konterkarierte, waren sogar bei Hauptmann vorhanden.946 Markante Änderungen betreffen in Brechts Bearbeitung außerdem die Figur des preußischen Amtsvorstehers von Wehrhahn, den „ehr- und wehrbewusste[n] Hahn auf dem Hühnerhof der Untertanengesellschaft“947. Die Veränderungen, die ebenfalls aus der Verstärkung der Sozialismus- sowie der MilitarismusThematik resultieren,948 führten insgesamt zu einer Brutalisierung der Figur bei

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In Hauptmanns Der rote Hahn findet sich z.B. folgende Verunglimpfung des Schmiedegesellen Ed durch Wehrhahn: „Die richtige Jaljenphysiognomie. So’n Messerstecher! So’n Sozialist! Mehrmals wegen Straßenkrawalle jesessen“ (III. Akt, CA, II, S. 49 f.). Hans Joachim Schrimpf, Das unerreichte Soziale: Die Komödien Gerhart Hauptmanns Der Biberpelz und Der rote Hahn, in: Hans Steffen (Hg.), Das deutsche Lustspiel. Zweiter Teil, Göttingen 1969, S. 25-60, hier: 39. Hauptmanns Originalstücke boten entsprechende Ansätze, so z.B. die Regieanweisungen zu Beginn des II. Akts des Biberpelz, mit denen Wehrhahn als Vertreter des preußischen Militarismus eingeführt wird: „Seine Amtstracht besteht aus einem schwarzen, zugeknöpften Gehrock und hohen, über die Beinkleider gezogenen Schaftstiefeln. Er spricht

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Brecht. Ließ schon Hauptmann den Amtsvorsteher in seinem Revier „dunkle Existenzen, politisch verfemte, reichs- und königsfeindliche Elemente“ wittern (II. Akt), so konkretisiert Brecht jene Verdachtsmomente. Das corupus delicti bildet bei Brecht ein sozialdemokratisches Flugblatt gegen die Große Militärvorlage des Reichskanzlers Bismarck von 1874, dessen Urheberschaft Wehrhahn mit allen Mitteln aufzuklären sucht.949 Hegte Wehrhahn schon bei Hauptmann den obskuren Verdacht, Dr. Fleischer könnte sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht haben, so wirft der Amtsvorsteher dem Privatgelehrten in der BrechtFassung vor, hinter den im Flugblatt manifesten sozialistischen Umtriebe zu stecken. Die Verdächtigungen münden nun in eine ausführliche Diskussion zwischen Wehrhahn und Dr. Fleischer über die Militärvorlage sowie die politische Meinungsfreiheit im Allgemeinen. Eine Hinzufügung, die zwar die Ursprungshandlung von Hauptmanns Biberpelz politisch überstrapaziert, gleichzeitig aber den neuen, bösartigen Charakter Wehrhahns hervortreten lässt.950 Zeigte sich Hauptmann bemüht, die Menschlichkeit des Unmenschen zu erfassen – laut Marcuse dichtete Hauptmann immer „das Licht, das zum Schatten seiner Gestalten gehört“951 –, so suchte Brecht stattdessen historische Wurzeln und Kontinuitäten totalitärer Gewaltherrschaft zu identifizieren. Wehrhahns Konfrontation mit dem nationalliberalen Privatgelehrten zeugt entsprechend von einem Überführungsehrgeiz, der an böswilliges Ressentiment grenzt (und damit auf den Habitus des NS-Blockwarts rekurriert). Indem Brecht dem Amtsvorsteher Äußerungen wie die nachfolgende in den Mund legt, signalisierte er, dass der karikierte Anhänger des Militarismus per se rationalen Argumenten gegenüber immun, in typischen Freund-Feind-Mustern befangen und letztlich von Grund auf politisch fehlsichtig ist:

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nahezu im Fistelton und befleißigt sich militärischer Kürze im Ausdruck.“ Brecht griff solche vorsichtigen Karikierungen auf und verlieh ihnen zeitkritische Schärfe. Das Flugblatt trägt folgende Aufschrift: „Arbeiter! Keinen Mann, keinen Groschen für Bismarck! Nieder mit der Militärvorlage!“ (II. Akt, GBA 8, S. 392). Vgl. die Kritik Hartmut Langes an der Theorieüberfrachtung Brecht’scher Figuren: „Unkorrigierbar bleibt an Brechts Dramen, dass er die gesellschaftlichen Verhältnisse, die er kritisch hinterfragen wollte, nicht am konkreten Menschen selbst, sondern an seiner Gedankenarbeit über den konkreten Menschen zur Anschauung bringen wollte, und dies in einer Zeit, in der Dramatiker wie Strindberg, Ibsen, Hauptmann oder Tschechow längst nachgewiesen hatten, dass alle Determinanten, denen der einzelne Mensch ausgesetzt ist oder denen er sich, aus welchen Gründen auch immer, aussetzt, nur an ihm selbst nachgewiesen werden können“ (ders., Kälte der reinen Vernunft, in: Die Zeit [10.08.2006]). Marcuse, Hauptmanns Drama, in: ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann und sein Werk, S. 3546, hier: 46. „In Hauptmanns Biberpelz wird selbst Wehrhahn noch halb gutmütig mehr als dummer Kerl denn als Schuft charakterisiert; und wie hätte radikale Artistik ihn verfluchen können!“ (Ebd., S. 45).

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„Ob Sozi, ob Liberaler, ob Fortschrittler, ich mache da keinen Unterschied. Für mich ist alles ganz einfach Schlappmacherei und Insubordination.“ (II. Akt, GBA 8, S. 406) Spätestens im letzten Akt von Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann, den Brecht mit Marschmusik untermalen ließ,952 wird die Veränderungsmotivation für die Figur des Wehrhahn augenfällig: Wehrhahn stattet hier der Hauptfigur Mutter Wolffen-Fielitz am Tag des Neubau-Richtfests einen Krankenbesuch ab. Während des Besuchs bei der Diebin, Betrügerin und Brandstifterin Wolffen-Fielitz gibt Wehrhahn zu erkennen, dass er die wahren Umstände der Brandstiftung ahnt. Dass infolge der Verschleierungstaktik der Wolffen-Fielitz der behinderte Sohn des Sozialdemokraten Rauert zum Täter erklärt und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde, bekümmert Wehrhahn dabei aber ebenso wenig wie die Brandstifterin selbst. Trotz dieses (Mit-)Wissens hält Wehrhahn weiterhin an Wolffen-Fielitz fest, weil sie – so die Erläuterungen in Weigels Theaterarbeit – „für ihn das Volk darstellt, wie er es braucht“953: In dieser Sichtweise wird die Wolffen-Fielitz zur Repräsentantin der egoistischen, apolitisch-indifferenten Massen, die totalitäre Regimes zur Umsetzung ihrer Ziele benötigen. Die gleichfalls verbrecherische Handhabung der Brandstiftung erscheint infolge als ein „Gentleman-Agreement“, das „[d]er Staat und sein Untertan“ zur Wahrung der jeweils eigenen Interessen geschlossen haben.954 Der Neubau, den die WolffenFielitz durch ihren Versicherungsbetrug realisieren konnte, korrespondiert dabei in seiner Bedeutung mit der neuen Flotte, die am gleichen Tag gefeiert wird.955 Die Kongruenz von imperialistischer Gewinn- und Imponiersucht im Staatswesen und der Habgier im sozialen Mikrokosmos der Wolffen-Fielitz – ebenso wie die Metapher der „(Welt-)Brandstiftung“956 – markieren den zeitpolitischen Konnex der Bearbeitung. Die Absicht des BE, den „letzten Akt als finsteren Beschluß unserer lustig begonnenen Diebskomödie und als Ausblick auf die kommenden Weltkriege zu spielen“, wird als eigentliche politische Botschaft der Bearbeitung sichtbar.957 Vor diesem Deutungshorizont erklärt sich Brechts Anliegen, die Figur des Wehrhahn zu modifizieren und die soziale Pathologie dieses Typus zu demonstrieren. Der Gefährlichkeit Wehrhahns sollte ursprünglich im letzten Akt der 952 953 954 955 956

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Märsche und Feuerwerk, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 223. Textänderungen, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 202-205, hier: 205. Ebd. b., Denn sie wissen was sie tun, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 211 f., hier: 212. RAUERT: „Een’ kleen’ Weltbrand anstiften. Mit Musike! Von Köpenick bis Kamerun – immer feste druff, und det wird jenau so ’ne Pleite, wie bei Ihnen, Frau Fielitz“ (VI. Akt, GBA 8, S. 443). Textänderungen, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 202-205, hier: 205.

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Bearbeitung zusätzliche Augenfälligkeit verliehen werden: Der Theaterarbeit ist zu entnehmen, dass im Kreise des BE „intensive Diskussionen um die Uniform“ geführt wurden,958 die Wehrhahn bei seinem letzten Auftritt in der Kammer der Wolffen-Fielitz tragen sollte. Der Plan, Weltkriegskostümierung einzusetzen, wurde allerdings als Anachronismus verworfen:959 „Was wir wollten, nämlich die Darstellung des Kriegerischen des Flottentages, die Vorwegnahme der folgenden zwei Weltkriege, hätten wohl nur der Stahlhelm und das feldgraue Tuch hergeben können, die Uniform, die es damals noch nicht gab.“960 Der in Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann offen zutage tretende Anti-Militarismus Brechts scheint zudem nicht nur auf die Militärbegeisterung, die den Ersten Weltkrieg einleitete, und die Gräuel des Zweiten Weltkriegs bezogen gewesen zu sein. Vielmehr legen einzelne Wendungen die Vermutung nahe, dass Brecht bei seiner Bearbeitung auch die deutsch-deutsche Gegenwart im Auge hatte. Beispielsweise greift Rauert im letzten Akt all jene an, „die jetzt da drüben Brand legen in jroßem Maßstab“ (VI, Akt, GBA 8, S. 444). Stückimmanent ist damit die militärbegeisterte Bürgerschicht am Ende des 19. Jahrhunderts gemeint, die den Flottentag zelebriert, die Große Militärvorlage und die Aufrüstung für den Kriegsfall begrüßt. Die politische Lage 1950/51 vergegenwärtigend, ist hier gleichsam eine Anspielung auf die Aufrüstungsbestrebungen im Westen zu erkennen. 1950 war die Diskussion um den Eintritt in das 1949 gegründete Nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) und um die Remilitarisierung Westdeutschlands aufgekommen. Vor dem internationalen Bedrohungshintergrund des 1950 ausgebrochenen Korea-Krieges und des andauernden Indochina-Krieges (1946-1954) gingen viele Beobachter davon aus, dass ein Dritter Weltkrieg sich bereits ankündige. Die westdeutsche Regierung – namentlich Konrad Adenauer – befürwortete den Aufrüstungsprozess, der ungeachtet zahlreicher Proteste der kalten Konfrontation weiter Vorschub leistete. In dieser Situation meldete sich Brecht auch außerhalb des Theaters zu Wort. Noch kurz vor seinem Tod richtete er 1956 einen Appell gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht an den Bun958 959

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Kostümdetail, in: ebd., S. 223. Dass der Einhaltung dieser Grenzen im Rezeptionsprozess absolute Priorität zukommt, entspricht Brechts Auffassung von der kulturellen Zeitenfolge: „Brecht geht davon aus, dass die Gegenstände der kulturellen Tradition ihre ursprüngliche Gestalt bewahren sollen, also nicht durch Gesichtspunkte späterer Epochen entstellt und ‚schlau ausgedeutet’, d.h. willkürlich verändert werden dürfen“ (Müller, Bertolt Brecht, S. 337). Kostümdetail, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 223.

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destag in Bonn.961 Ganz anders hingegen die Haltung Hauptmanns: Dieser hatte sich in Sachen Militarismus einst als Verfechter der Pro-domo-Argumentation gezeigt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs erklärte er, dass er die Aufrüstung als Notwendigkeit zur Gewährleistung der „Sicherheit unseres Hauses“ angesichts „bedrohliche[r] Mächte in Ost und West“ befürworte.962 Seine Einstellung gegenüber dem 1898 gegründeten Deutschen Flottenverein – auf den Der Rote Hahn angespielt – scheint angesichts einschlägiger Äußerungen eine nur bedingt kritische gewesen zu sein. So verteidigte er die Heeresleitung mit der Behauptung, „das deutsche Volk, die deutschen Fürsten, an der Spitze Kaiser Wilhelm II., haben keinen anderen Gedanken gehabt, als durch Heer und Flotte den Bienenstock des Reiches, das fleißige, reiche Wirken des Friedens, zu sichern“963. Brechts massive Militarismus-Kritik in Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann, die vom Kaiserreich, über die Weltkriege, bis in die deutsch-deutsche Gegenwart reicht, ist zwar primär in der Modifikation der Figur des Wehrhahn verankert, sie beeinträchtigt aber auch die Figur der WolffenFielitz in besonderem Maße. Ihr kommt in Brechts Interpretation letztlich die Rolle der Helfershelferin der Kriegstreiber zu. Der ehedem „populärsten Figur aus Hauptmanns Gesamtwerk“964 widerfährt damit ein enormer Sympathieverlust, der als eine Beschädigung des Werks – wie später darzustellen ist – gesehen werden sollte. Bei Hauptmann erschien die allseits beliebte965 Mutter Wolffen als „listige, lustige Kumpanin von Eulenspiegel, Schweik und Mutter Courage“966, als „prachtvoll emanzipiert[e], mutterwitzig[e] Volksfigur“967. Die negative Entwicklung der Figur vollzieht sich hier erst im Roten Hahn968, als die Wolffen961 962 963 964 965

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Bertolt Brecht appellierte an den Bundestag, in: ND (04.07.1956). CA, XI S. 843-847, hier: 844, erschienen in: Berliner Tageblatt und TR (26.08.1914). Ebd. Behl, Mutter Wolffens Himmelfahrt (1941), in: ders., Wege, S. 102-104, hier: 102. Sogar Joseph Goebbels zeigte sich von ihr begeistert: „Welch eine prächtige Person, die Mutter Wolffen. Ein Kabinettstück naturalistischer Kleinkunst. Über der Person und dem ganzen Stück eine Fülle von Mitleid und wehmütigem Humor, wie es eben nur ein Großer für die Kleinen aufbringt. Wie relativ der Diebstahl in seiner moralischen Qualität ist. Man gewinnt ihn hier ordentlich lieb“ (ders., Die Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Bd. 1/I: Oktober 1923-November 1925, München 2004, S. 55, Eintrag vom 05.12.1923). Hilscher, Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 88-107, hier: 93. Ebd., S. 94. Eine literaturpsychologisch argumentierende Studie zu Hauptmanns Werk stellt fest, dass das Auseinanderbrechen der Mutterfigur schon bei Hauptmann nicht glatt von Der Biberpelz zu Der rote Hahn hin verläuft, sondern das „psychodynamische Substrat beider Dramen um ein und dasselbe Mutterbild“ kreist. Damit würde bereits die Mutter Wolffen des Biberpelz über eine „latente Bedrohlichkeit“ verfügen, die in Der rote Hahn

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Fielitz zu drastischen Mitteln greift, um den sozialen Aufstieg herbeizuführen. Bei Brecht personifiziert Mutter Wolffen dagegen von Anfang an das „defizitäre Bewusstsein der abgelebten Klasse und ihrer Mitläufer“969. Im Brecht’schen Oeuvre, das aufgrund seiner Faszination für das Matriarchat mehrere MutterVarianten als Hauptfiguren kennt, ist die Fielitz-Wolffen am ehesten als Antitypus der Pelagea Wlassowa aus Maxim Gorkis Die Mutter einzuordnen.970 Ist die Wlassowa der „Prototyp der Revolutionierung“971, so agiert die Wolffen-Fielitz als ‚Revolutionsbremse’. Bei Brecht begeht die Wolffen-Fielitz nicht nur kleine Gaunereien, sie vergeht sich vielmehr an ihrer eigenen Klasse – eine neue Sicht, die in späteren Inszenierungen am Deutschen Theater aufgegriffen werden sollte.972 Brechts transparenter Umgang mit den Verbrechen der Wolffen-Fielitz – z.B. macht sie sich auf offener Bühne mit dem gestohlenen Biberpelz der Hehlerei schuldig – reduziert nicht nur den Sympathiewert der Figur. Gleichzeitig erzeugt Brecht hierdurch jene Distanz zwischen Bühnengeschehen und Publikum, die aus seiner Sicht für den erwünschten Lerneffekt unabdingbar ist. Noch eine weitere rezeptionsgeschichtlich interessante Modifikation ist in Hinblick auf Brechts Mutter Wolffen festzustellen: Brecht weist sie als eine direkte Nachfahrin jener schlesischen Weber aus, deren Überlebenskampf und erfolgloses Aufbegeh-

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lediglich als Konsequenz eines psychologischen Ablösungsprozesses manifest zutage tritt (vgl. Gregor Schmeja, Spielarten der Ambivalenz. Selbst- und Objektbilder im Kontext ödipaler Konflikte und der frühen Mutter-Kind-Beziehung in Textphantasien Gerhart Hauptmanns, Würzburg 2005, S. 147 f.). Joost, Die Bearbeitungen, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 13-27, hier: 26. Auf dem gleichnamigen Roman von Gorki (1907) beruhend, wurde Brechts Adaption Die Mutter am 15.01.1932 – dem Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts – uraufgeführt. In der DDR feierte das Stück am 12.01.1951 Premiere (Mittenzwei, Bertolt Brecht, S. 72). Teilen Wolffen-Fielitz und Wlassowa die Mütterlichkeit und die hinter Naivität sich verbergende Proletarier-Schläue als rudimentäre Gemeinsamkeiten, so durchlebt die Wlassowa dort einen politischen Lernprozess, wo die Wolffen eine Verhärtung bereits in der Ausgangsstruktur angelegter Haltungsmuster erfährt. Aus dem ideologischen Reifeprozess geht die Wlassowa als klassenbewusste Kämpferin hervor. In Die Mutter, die von der DDR-Forschung als das „erste große klassenbewusste Stück des epischen Theaters“ (Jan Knopf, Bertolt Brecht, Stuttgart 2000, S. 42) gefeiert wurde, wird die Mutterrolle gleichsam über das Familiäre hinaus ins Urgesellschaftliche bzw. Urkommunistische transformiert. Mutter Wolffen kennt dagegen in Hauptmanns Biberpelz nur das Wohl der eigenen Primärgruppe, in Brechts Bearbeitung sogar nur noch das ihrer selbst. Müller, Bertolt Brecht, S. 158. Die Centenariums-Inszenierung des Biberpelz von Ernst Kahler für die Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin zeigte z.B. ebenfalls die Brecht’sche Mutter Wolffen: „Wenn Franz Mehring die Diebereien der Mutter Wolffen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erklärbar zu machen sucht, so ist das zwar aus der damaligen Situation heraus verständlich, hat für uns heute aber nicht mehr die Gültigkeit. Die Waschfrau Wolffen ist keineswegs der Typ der kämpfenden Proletarierin; auf ihre individualistischanarchische Weise versucht sie, ihre Lage zu verbessern, ja sie geht dabei über Leichen der eigenen Klasse“ (Myriam Sello-Christian, Beitrag zum Hauptmann-Jahr. Gespräch mit Ernst Kahler während der Proben zum Biberpelz, in: BZ [18.01.1962]).

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ren Hauptmann in Die Weber geschildert hatte. Qua dieser Verbindungslinie erhält das verbrecherische Verhalten der Wolffen-Fielitz eine sozialhistorische Bedeutungsdimension: Ihr Verhalten kann vor diesem Hintergrund nicht mehr als singulärer, „vitale[r] Aufstand gegen die Gesellschaft“973 verharmlost werden, sondern erscheint als geschichtlich nachwirkender Angriff auf fundamentale soziale Traditionswerte. Brecht legt den Schluss nahe, dass jede revolutionäre Bestrebung – repräsentiert durch das anklingende Motiv der Weberrevolte – scheitern muss, wenn sich Charaktere wie der Wolffen-Fielitz’sche unter den Aufständischen befinden. Mit Menschen wie Wolffen-Fielitz – so die implizite Aussage Brechts – lässt sich nichts Neues schaffen. War die sympathisch menschliche „Wölfin im Schafspelz“ bei Hauptmann noch dazu geeignet, das „System bloßzustellen“,974 so ist sie bei Brecht Vertreterin und zugleich Symptom des ‚imperialistischen Niedergangs’, der in der marxistisch-leninistischen Geschichtsdeutung notgedrungen im Faschismus gipfeln musste.975 Eben diese präfigurative Komponente hatte Brecht mit der angedachten Kostümwahl Wehrhahns in den Blick nehmen wollen: Stahlhelm und feldgraues Tuch sollten in ihrer subjektausblendenden Entindividualisierungsfunktion auf die industrialisierten Kriege der Moderne verweisen. Diese wiederum erklärt das marxistische Geschichtsverständnis gemäß seiner materialistischen Dialektik als Effekte von Imperialismus und Faschismus. Quasi als Gegenpol zu diesen Tendenzen hat Brecht – ganz im Sinne der dialektischen Spannung von These und Anti-These – die Figur des Rauert geschaffen: sie repräsentiert die antimilitaristischen und antiimperialistischen Traditionen der Arbeiterbewegung. Wie stark Hauptmanns Figur des Rauchhaupt verändert wurde, kündigt bereits die Namensänderung an: Aus Hauptmanns Rauchhaupt wurde Brechts Rauert; eine Figur, die jeweils als Vater des geistig zurückgebliebenen Gustav auftritt. Ist Rauchhaupt bei Hauptmann ein aus dem Dienst ausgeschiedener, 973

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Schrimpf, Das unerreichte Soziale, in: Steffen (Hg.), Das deutsche Lustspiel, II, S. 2560, hier: 40. Ebd., S. 41. Diese Assoziation weckte die Figur des Wehrhahn in der Nachkriegszeit nicht nur bei marxistischen Interpreten. 1946 regte z.B. die Biberpelz-Gedächtnisaufführung im Zürcher Schauspielhaus zu folgender Reflexion an: „Der Sieg über diesen Vertreter eines hassenswerten Systems wird als richtig empfunden, schon weil man in ihm einen Typ ahnt, der hier noch nicht virulent, […], später in unvorstellbarer Steigerung und Verzerrung mit schrankenloser Macht versehen einmal fürchterliche Verheerungen anrichten sollte“ (P. Rüf, Schauspielhaus Zürich. Zur Winterspielzeit 1946, in: Schweizer Rundschau 46 [1946/47], S. 746, zit. nach: Gert Oberembt, Gerhart Hauptmann. Der Biberpelz. Eine naturalistische Komödie, Paderborn 1987, S. 168 f.).

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preußischer Wachtmeister,976 so erscheint er bei Brecht als arbeitsloser, sozialdemokratischer Eisendreher: ein „Roter [...] und eener von die Radikalsten“ (IV. Akt, GBA 8, S. 419). Brechts Modifikationen machen Rauert zum positiven Helden und zum traditionellen Medium sozialistischer Bewusstseinsbildung.977 Durch die Figur des Rauert sucht Brecht dem Zuschauer eine Orientierung im gespiegelten gesellschaftlichen Gesamtprozess zu ermöglichen. Mit ihr erreicht er die Transformation der Tragikomödie in ein soziales Lehrstück, die sich im letzten Akt vollzieht. Im finalen Disput zwischen Wolffen-Fielitz und Rauert tritt er als „Vertreter der Nemesis“978 auf, der Mutter Wolffen unbarmherzig den Spiegel ihres Fehlverhaltens vorhält. Rauert droht mit angeblich neuen Beweisen einen Prozess anzustrengen, durch den sein unschuldig verhafteter Sohn Gustav frei kommen soll. Das Diebstahl-Motiv erhält eine neue Bedeutungsdimension, wenn Rauert der Wolffen-Fielitz vorwirft, sie habe seinen Sohn „gestohlen“979. Nicht nur Feuerholz und Pelze entwendet die Waschfrau, sie beraubt Menschen – wie Gustav und Leontine – ihrer ohnehin begrenzten Lebensaussichten. Der gestohlene Nachwuchs wird so zu einer Metapher, mit der Brecht die Entfremdung und Verdinglichung menschlicher Beziehungen im Kapitalismus anklagt. In der Konfrontation zeigt Rauert zwar Einsicht in die sozialen Hintergründe, die die Tat der Wolffen-Fielitz bedingt haben, als hinreichende Erklärung oder gar als Entschuldigung lässt er diese jedoch nicht gelten. Stattdessen geht das Streitgespräch über in eine Art Belehrung über den sozialistischen Gerechtigkeitsbegriff: Das Theater wird zu einem „Instrument revolutionärer Ideologiekritik“980. Mittels der mitleidheischenden Wolffen-Fielitz wird demonstriert, dass Sozialismus nicht identisch ist mit blinder, sentimentaler Sympathie für alle Angehörigen der Unterschicht. Hierin wird zugleich die Differenz zwischen Brecht, dem Gesellschaftskritiker, und Hauptmann, dem ‚Dichter des Mitleids’, deutlich: Dessen Fatalismus setzt

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Brechts Umgestaltung des Rauchhaupt stieß in der West-Germanistik auf Unverständnis: „Es spricht von wenig Gespür für die symbolische Qualität dieser Dramatik, wenn Brechts Bearbeitung Rauchhaupt, den Polizisten außer Dienst, zu einem klassenbewußten Arbeiter umfunktioniert“ (Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 127 f.). In diesem Sinne sympathielenkend wirken z.B. die Zwischenrufe der Dorfbewohner, als die Wolffen-Fielitz und Rauert in der Amtsstube vernommen werden: Mit Ausrufen wie „Ein Sozi ist doch kein Verbrecher!“ (V. Akt, GBA 8, S. 435) macht Brecht deutlich, wer tatsächlich im Recht ist und sich damit als moralisch überlegen erweist. Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 127. Geschäfte, in: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 206-209, hier: 208 f. Müller, Bertolt Brecht, S. 237.

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Brecht die These von der konstruktiven Veränderbarkeit der Welt entgegen.981 Mitleid als Signatur der Dramatik lehnt Brecht entschieden ab. Für ihn war reflexionslose Empathie der „Anfang vom Ende“982 und Ausdruck der Unfähigkeit, aktive Antworten – unerlässliche Konstituente seiner Vorstellung vom gesellschaftsrelevanten Theater – zu finden. Sozialismus implizierte für Brecht entsprechend hartes Durchgreifen gegenüber all jenen, die die Grundlagen des Gemeinwesens zerstören. Wie sich Wolffen-Fielitz zuvor den Angehörigen ihrer Klasse gegenüber unsolidarisch verhielt, so verweigert Rauert nun ihr die eingeforderte Solidarität:983 FIELITZ: „Rauert, Sie sind a Roter, nich? Se missen doch a Mitgefiehl haben mit die armen Leute.“ RAUERT: „Wat Sie sich injebrockt ham, det missen Se schon auslöffeln. Ick kann Ihn’ nich helfen. Sie wollten ruff, alleene, kost’ wat kost’. Det heeßt: nich, wat et Sie kost’, sondern wat et uns kost’. Sie sind jenau wie die andern, die jetzt da drüben Brand legen in jroßem Maßstab und jleichzeitig rufen, die Roten legen Brand. Sie ham jegloobt, Se könn’ sich jesundstoßen, wenn Sie Brand lejen, Sie ham’s nich jeschafft, und die andern, die Jroßen, werden’s ooch nich schaffen. Sie werden nur alles zugrunde richten. Sie sind aus Peterswalde, Sie sind die Tochter von ’nem Weber, Frau Fielitz. Et jibt so wat wie ’ne Arbeiterbewejung, davon müssen Se jehört haben, Sie sind ’nen andern Weg jejangen, Ihren eigenen, nich mit Ihrer Klasse! Jetzt, wo Se bis zum Halse im Dreck stecken, woll’n Se von uns Mitgefühl. Nee, det is nich.“ (VI. Akt, GBA 8, S. 444). Mit dem Lehrgespräch, das jeder Grundlage bei Hauptmann entbehrt, zeigt Brecht, was all jene zu erwarten haben, die „den Weg jenseits der Klasse“ gehen. Indem er die Bedeutungsrelationen von Kollektiv und Individuum offenlegt, präsentiert er seine ‚Moral’ der Geschichte: Individualismus im Sinne eines egoistischen Ausbruchs aus dem Kollektiv ist eine Lebenshaltung, die sich „nicht bezahlt macht“984, sondern gesellschaftliche Missstände nur noch verschärft. Durch

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Diese Weltsicht ist in die Eigenarten des Berliner Ensembles mit eingeflossen, wo sie wohl am prägnantesten formuliert wurde: „Wir stellen die Gesellschaft als veränderbar dar. Wir stellen die menschliche Natur als veränderbar dar. Wir stellen die menschliche Natur dar als abhängig von der Klassenzugehörigkeit dar. […]“ (GBA 16, S. 725 f.). Tagebucheintrag vom 16.11.1921, zit. nach: Bertolt Brecht, Tagebücher 1920-1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954, hg. von Herta Ramthun, Frankfurt a.M. 1975, S. 175. Vgl. Schrimpf, Brecht und der Naturalismus, in: Fuegi/ Grimm/ Hermand (Hg.), BrechtJahrbuch 1975, S. 43-62, hier: 51. Brecht, Brief an Viertel vom 01.09.1950, in: GBA 30, S. 33.

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Orientierung am sozialistischen Fortschrittsmodell hebt Brecht das Hauptmann’sche Schicksalsmuster gesellschaftlichen Elends auf. Er eröffnet individuelle Entscheidungshorizonte, deren Fluchtpunkte auf das Kollektiv zulaufen und gesellschaftliche Veränderung ermöglichen: Die Entscheidung der WolffenFielitz für die Kriminalität wird gemäß der dialektischen Denkkultur nicht als aus der Not geboren begriffen und entschuldigt, sondern als ein bewusster Schritt rekonstruiert, den sie willentlich unternahm, obwohl ihr die Alternative des Kampfes in der Arbeiterbewegung offen stand. Das Hauptvergehen der Wolffen-Fielitz besteht bei Brecht demnach in ihrem klassenfremden Verhalten, in der Aufkündigung der Klassensolidarität und im politischen Disengagement als Folge einer falsch verstandenen Trennung privater und gesellschaftlicher Verantwortung. Der „gesellschaftliche Emanzipationsversuch“985 der Wolffen-Fielitz muss folglich scheitern, weil er unter falschen Vorzeichen erfolgt: Indem sie sich nicht an ihrer Sozialgruppe orientiert, sondern an der Bereicherungsmentalität der aufstrebenden Bürgerschaft und der herrschenden Kapitalisten, verleugnet Wolffen-Fielitz ihre eigene Klassenzugehörigkeit. Obwohl Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann vom Publikum gut aufgenommen wurde,986 musste das Stück ein „peripheres Ereignis“987 bleiben. Nach nur vierzehn Aufführungen fiel am 22. April 1951 der letzte Vorhang und auch die geplanten Gastspiele waren nicht mehr durchführbar. Am 19. April hatte der Verlag Felix Bloch Erben Brecht mitgeteilt, dass die Bearbeitung Biberpelz und Roter Hahn an die Erben Gerhart Hauptmanns verschickt worden sei.988 Die Witwe Margarete Hauptmann empfand Brechts Bearbeitung allerdings als „verballhornte Fassung“989 und ließ Helene Weigel einige Tage später über den Verlag mitteilen, dass sie nicht gewillt sei, Brechts „sinnentstellende Änderungen“ hinzunehmen. Aus ihrer Sicht gingen diese weit über das hinaus, was zur technischen Verschmelzung beider Stücke notwendig gewesen wäre. Kurzerhand kündigte sie deshalb den zuvor vom Theaterregisseur Kurt Hirsch-

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Schrimpf, Das unerreichte Soziale, in: Steffen (Hg.), Das deutsche Lustspiel, II, S. 2560, hier: 49. In der Großen kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe wird die Reaktion der DDR-Presse als „reserviert“ beschrieben. Die Bearbeitung habe im Westen kaum Beachtung gefunden, was auf die fehlende Regie-Prominenz zurückgeführt wurde, vgl. GBA 8, S. 597. GBA 8, S. 596. Vgl. Hecht, Brecht Chronik, S. 961. Zit. nach: Tschörtner, Ungeheures erhofft, S. 286.

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feld990 eingefädelten Aufführungsvertrag.991 Brechts Hoffnungen auf eine gütliche Einigung992 wurden aber nicht nur durch das unabänderbare Veto der Hauptmann-Erben zunichte gemacht. Wie ein ZK-Beschluss vom 2. August 1951 belegt, missfiel Brechts Hauptmann-Bearbeitung auch der DDR-Führung: „Berliner Ensemble: Es wird von vornherein abgelehnt, daß weitere Aufführungen von gemischten Stücken von Brecht, wie z.B. Biberpelz und roter Hahn, […] erfolgen. Mit Bert Brecht ist zu sprechen, daß wir es für künstlerisch unzulässig halten, klassische Werke so zu bearbeiten, daß das ursprüngliche Kunstwerk nur noch als Karikatur in Erscheinung tritt.“993 Eine Entscheidung, die das Scheitern von Brechts Biberpelz-Experiment und ebenso die Geltung des Klassikerschutzes für Hauptmanns Werk bekräftigte. Gerade die beim Publikum äußerst beliebte Diebskomödie Der Biberpelz, das nach dem Zweiten Weltkrieg am häufigsten gespielte Stück Hauptmanns,994 schien kulturpolitisch zu bedeutsam zu sein, als dass man verzerrende Bearbeitungen in Kauf hätte nehmen wollen. Es galt, die Reinheit des Erbes zu erhalten – Karikaturen waren in dieser nicht nur ästhetisch verunsicherten Zeit unerwünscht. Letztlich soll Brecht die Bearbeitungsresistenz von Hauptmanns Originalstücken mit den gegenüber Hans Mayer geäußerten Worten, „Der Gerhart Hauptmann ist zu stark, den kann man nicht verändern“995, anerkannt haben. In der Frage des adäquaten Umgangs mit dem Kulturerbe war zwischen Brecht und den SED-Kulturfunktionären dagegen keine Einigung in Aussicht: 1952 nahm Brecht sich Kleists Der zerbrochene Krug vor, 1953 folgte Goethes Urfaust. Letztere Bearbeitung brachte Brecht nachhaltig in den Ruf, ein „Klassikerschänder“996 zu sein. Um die Adäquatheit und Grenzen der Bearbeitung kreiste ebenfalls die Diskussion, die Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann in der literatur- und theaterwissenschaftlichen Fachöffentlichkeit der DDR nach sich zog.997 990

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Vgl. Brecht, Brief vom 23.11.1951 an Rudolf Spitzner (Verlag Felix Bloch Erben), in: GBA 30, S. 94; GBA 8, S. 586. GBA 8, S. 588; Raimund Gerz, Gerhart Hauptmann Biberpelz und roter Hahn, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 578-582, hier: 578; Hecht, Brecht Chronik, S. 962. Am 09.05.1951 schrieb Brecht an Therese Giehse, der Verlag zeige sich in der Hauptmann-Angelegenheit „ganz vernünftig“ (Hecht, Brecht Chronik, S. 964). Zit. nach: Dierk Hoffmann (Hg.), Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949-1961, München/ Zürich 1993, S. 85. Reichart, in: Gerhart Hauptmanns Der Biberpelz: Ein Rückblick, in: ders., Ein Leben für Gerhart Hauptmann, S. 156-161, hier: 156; Oberembt, Gerhart Hauptmann. Der Biberpelz, S. 166. Hans Mayer, Brecht, Frankfurt a.M. 1996, S. 430. Vgl. Stuber, Spielräume, S. 145. Brechts Bearbeitung wurde in der BRD als „radikalste Konsequenz“ wahrgenommen, „die bis heute aus der Einsicht der Zusammengehörigkeit beider Stücke gezogen wurde“

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Dabei ging es nicht nur um diese Bearbeitung Brechts, sondern vielmehr um den Umgang mit dem Kulturerbe als solchem: Handelte es sich bei Brechts Änderungen um leichte, durch die Vorlage autorisierte Akzentverschiebungen oder doch um werkstörende und potenziell zerstörerische Eingriffe? Insgesamt stellte sich also die Frage, ob man die „Gedanken großer Dramatiker früherer Epochen weiterdenk[en]“ darf bzw. soll, auch wenn damit der „Grad der Kenntnis und des Bewusstseins“ jener Autoren z.Z. der Veröffentlichung weit überschritten, in gewisser Weise sogar korrigiert wird.998 Die Reaktionen der Fachleute lassen – anders als die kulturpolitische Apologetik des Klassikerschutzes – weitgehende Zustimmung erkennen: Wie nachfolgend skizziert, sahen Befürworter Brechts wie Paul Rilla und Manfred Wekwerth in der Bearbeitung eine gelungene Vervollkommnung der Originalstücke. Andere gemäßigte Kritiker wie Heinz Lüdecke und Werner Mittenzwei stimmten mit dieser Sichtweise trotz einzelner Kritikpunkte größtenteils überein. Auch für sie heiligte der Zweck der politischen Aktivierung letztlich die angewandten Mittel. Nur vereinzelt wurde Brechts Bearbeitung als „mißglücktes Experiment“ verrissen, vor allem weil sie „keine organische Einheit“ hergestellt, sondern vielmehr den „köstlichen Volkshumor des Biberpelz“ zerstört habe. 999

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(Sprengel, Gerhart Hauptmann, S. 128). Freilich nicht ohne anzumerken, dass es sich um ein „instruktives Beispiel für die marxistische Kritik an der mangelnden ‚Perspektive’ naturalistischer Literatur“ handle (ebd.). Für den Brecht-Forscher Joost gingen die Eingriffe Brechts soweit, dass er in der Bearbeitung einen „Gegenentwurf zu den beiden Stücken Gerhart Hauptmanns“ sah (ders., Die Bearbeitungen, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 13-27, hier: 26). Der Herausgeber der Brecht-Handbücher Jan Knopf wertete die Bearbeitung als Beispiel für eine „kritische Aneignung der Tradition“ (ders., Praktische Theaterarbeit, Plurimedialität und Synästhesie, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 39- 52, hier: 48). Hans Joachim Schrimpf hingegen empfahl, das Ganze gar nicht erst als „kritische Aneignung kulturellen Erbes“ einzustufen, sondern von einer „an sich durchaus legitimen, ‚Zwiesprache’ zwischen Autor und Bearbeiter“ auszugehen (ders., Das unerreichte Soziale, in: Steffen [Hg.], Das deutsche Lustspiel, II, S. 25-60, hier: 54). Diese Zwiesprache sei allerdings eine „auf aktuelle Agitation ausgerichtete kritische Auseinandersetzung mit dem historisch gewordenen Hauptmann“ (ders., Brecht, in: Fuegi/ Grimm/ Hermand [Hg.], Brecht-Jahrbuch 1975, S. 43-62, hier: 54 f.) Brecht habe eine Verselbständigung von Hauptmanns Stücken unternommen, eine „bewusste dialektische Aufhebung der Vorlage“ (ebd.). Demgemäß könne keine Rede davon sein, dass Brecht Hauptmanns Intentionen weitergeführt habe. Im Gegenteil habe er wesentliche Stilmerkmale Hauptmann’scher Dramen verändert, wie z.B. das offene Ende, das bei Brecht künstlich geschlossen wird (ders., Das unerreichte Soziale, in: Steffen [Hg.], Das deutsche Lustspiel, II, S. 25-60, hier: 32 f.). Schrimpf stellt fest, dass die Sozialkritik Hauptmanns, die er als „aggressiv und ätzend“ (ders., Brecht, in: Fuegi/ Grimm/ Hermand [Hg.], Brecht-Jahrbuch 1975, S. 43-62, hier: 57) beschreibt, in ihrer Originalform nicht sozialistisch verwertbar sei. Dazu fehle ihr der „doktrinäre Optimismus und Utopismus“, denn schließlich sei sie durch das „peinigende Wissen von den zerstörerischen Konsequenzen jeder ideologischen Repression gebrochen“ (ebd.). Heinz Lüdecke, Analyse der Bearbeitung (ND, 30.03.1951), zit. nach: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 196 f., hier: 196. Rudolf Harnisch, Gerupfter Biberpelz und Roter Hahn, in: TR (29.03.1951).

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Zur Entlastung Brechts wiesen sowohl Befürworter als auch gemäßigte Kritiker darauf hin, dass Hauptmann, wäre er selbst mit dem Ausgang des Biberpelz zufrieden gewesen, nicht acht Jahre später die Fortsetzung Der rote Hahn geschrieben hätte. Die erneute Auseinandersetzung Hauptmanns mit Mutter Wolffen wurde allseits als Eingeständnis der Unvollkommenheit verstanden, das weitere bearbeitende Schritte legitimierte. Eine Sichtweise, die z.B. der Kunsthistoriker Heinz Lüdecke teilte. Für ihn erschloss Brecht die verhinderte Aussageintention Hauptmanns, so dass Brecht quasi als Sprachrohr und Verstärker Hauptmanns agierte.1000 Mit dieser Hilfskonstruktion hob Lüdecke den Vorwurf auf, Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann habe sich am kulturellen Erbe vergangen: „Man merkt der Fortsetzung an, daß der Dichter etwas ahnte und aussprechen wollte, zu dessen richtiger Formulierung seine Kraft und Einsicht nicht ausreichten. Das BE verstößt daher nicht gegen den Geist der beiden Stücke, wenn es die sozialkritische Durchdringung des Stoffs, um die Gerhart Hauptmann gerungen hat, über die klassenmäßigen und individuellen Grenzen des Autors hinaustreibt.“1001 Für eine derartige Horizonterweiterung sprach aus Lüdeckes Sicht die politische Korrektheit der Bearbeitung. So vollziehe die Figur des Rauert genau jene „politische Analyse“, die sich „ein ideologisch geschulter Zuschauer von heute bilden muß, wenn er Frau Wolff-Fielitz und Herrn von Wehrhahn nach den geschichtlichen Folgen ihres Verhaltens beurteilt“.1002 Brecht habe also dafür gesorgt, dass „die von Hauptmann konzipierte Handlung unmittelbar zu einer nützlichen und aktuellen Lehre“1003 wurde. Marxistisch-utilitaristisch machte er am ideologischen Schulungseffekt – der z.B. in der Kritik der Täglichen Rundschau bezweifelt wurde1004 – letztlich den „Hauptgrund“ dafür fest, dass „man die Änderungen als erlaubt und erwünscht empfindet“.1005 Auch Mittenzwei gelangte in dieser Hinsicht zu einer ähnlichen Einschätzung der Bearbeitung. Er befürwortete die Änderungen Brechts, da sie Hauptmanns Stücken „eine neue bzw. eindeutigere, 1000

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Vgl. Raimund Gerz, der behauptete, dass Brecht lediglich im Original „angelegte Intentionen“ ausspreche, indem er ihnen „eine größere gesellschaftliche Tiefenschärfe und eine zugespitztere politische Aussage“ verleihe (ders., Gerhart Hauptmann Biberpelz und roter Hahn, in: Brecht Handbuch, Bd. 1, S. 578-582, hier: 580). Lüdecke, Analyse der Bearbeitung, zit. nach: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 196 f., hier: 197. Ebd. Ebd. „Wenn man einen Gerhart Hauptmann, den wir heute zu unseren Klassikern rechnen, ändert, dann muß wenigstens etwas Positives, wovon wir heute lernen können, herauskommen“ (Harnisch, Gerupfter Biberpelz, in: TR [29.03.1951]). Lüdecke, Analyse der Bearbeitung, zit. nach: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 196 f.

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historisch konkretere inhaltliche Stoßrichtung“ verliehen.1006 Die Veränderungen erschienen Mittenzwei – anders als Lüdecke, für den Brechts Vorgehen den „tiefsten Eingriff“1007 überhaupt darstellte – jedoch nicht als gravierend. In seiner Typologie Brecht’scher Bearbeitungen ordnete er Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann deshalb nur der dritten Kategorie zu, die sich durch eine mittlere Rigorosität des Rezeptionsverhaltens auszeichnet.1008 Für Mittenzwei entsprach Brechts Umgang mit dem Kulturerbe voll und ganz Lenins Auffassung von der produktiven Erbeaneignung, die im Wesentlichen darin bestehe, mit dem Erbe zu ‚arbeiten’.1009 Wird Brecht bei Mittenzwei insgesamt als Ausnahmeschriftsteller behandelt, so betonte auch Lüdecke Brechts Sonderfall-Status. Frei nach dem Motto, „was Brecht kann, darf nicht jeder“, warnte Lüdecke allerdings davor, dessen Bearbeitungsmethode zum Prinzip zu erheben. Brechts Annäherungsweise hätte, so Lüdecke, wenn sie von kleineren Talenten kopiert werde, unabsehbare Gefahren für das Kulturerbe:1010 „Aus dieser Arbeitsweise ein Prinzip zu machen, würde heißen, dass fast die gesamte Weltliteratur umgeschrieben werden müsste. Wenn man sich das vor Augen hält, erkennt man die Gefahr, die das Experiment des Berliner Ensembles in sich birgt. Der Schaden, der entstehen könnte, wenn etwa unsere klassischen Dramen in die Hände unberufener Umdichter und Fortsetzer fielen, ist nicht abzusehen.“1011 Bedenken dieser Art äußerte der Literaturwissenschaftler und Essayist Paul Rilla nicht. Für Rilla trug Brechts Bearbeitung vielmehr zur Vervollkommnung der Originalstücke bei, deren Stärken und Schwächen er schon als Theaterkritiker in der Weimarer Republik eingehend besprochen hatte. Seit damals beargwöhnte Rilla das Fehlen einer politischen Triebfeder in Hauptmanns Werk.1012 Durch das ideologische Versäumnis habe Hauptmann selbst den „großen Zug seines Dichtertums“ vorzeitig abgebrochen.1013 Nicht zuletzt löste Hauptmanns Distanz zum Sozialismus aus Rillas Sicht Fehlsichtigkeiten: Im Falle des Roten Hahn habe die ideologische Wahrnehmungsschwäche z.B. dazu geführt, dass Hauptmann nur 1006 1007 1008 1009 1010

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Mittenzwei, Brechts Verhältnis, S. 221. Ebd., S. 197. Ebd., S. 221, 239. Vgl. ebd., S. 8. Ein kritisches Argument, das auch Wolfgang Harich in der Diskussion um Brechts Klassikauffassung gegenüber Werner Mittenzwei vorbrachte (vgl. Mittenzwei, Der Realismus-Streit, S. 164). Lüdecke, Analyse der Bearbeitung, zit. nach: Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 196 f., hier: 196. „Bei Gerhart Hauptmann hätte das Werk die Frucht seines sozialistischen Bekenntnisses sein müssen“ (Rilla, Zum Werke Gerhart Hauptmanns, in: ders., Essays, Berlin [Ost] 1955, S. 210-225, hier: 221). Ebd.

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die „halbe Wirklichkeit“ in seinem Werk einfangen konnte: Schließlich, so Rilla, habe er „die ganze Wirklichkeit nicht bemerken können, weil er die wirklichen Fronten, die Fronten des Klassenkampfes, nicht bemerken wollte. Er empfand und dichtete sozial; den sozialistischen Anmarsch verstand er nicht.“1014 Dass Brecht dieses Wissen um den Sozialismus und den schmerzlich vermissten „aktivierenden Impuls“1015 ergänzte, konnte Rilla deshalb nur befürworten: Für ihn fasste die Bearbeitung „die beiden Stücke nicht nur zusammen, sondern tr[ieb] sie satirisch aus sich heraus“1016. Indem Brecht an Hauptmanns Stelle die „sozialistisch[e] Klarstellung seines sozialen Standpunkts“1017 nachholte, fügte er also jene Hälfte der Wirklichkeit erst hinzu, die aus Rillas Sicht in Hauptmanns Werk und Weltbild fehlte.1018 Diese Einschätzung teilte der Dramaturg Manfred Wekwerth, der spätere Präsident der Akademie der Künste der DDR (1982-1990). Als Brecht-Schüler konnte Wekwerth die ideologischen Defizite, die Brecht an Hauptmanns Stücken störten, nachvollziehen und die entsprechenden Änderungen seines Lehrers bedenkenlos gutheißen. Wie Rilla erschien es Wekwerth problematisch, dass Hauptmann die „Fronten des Klassenkampfes“ übersehen hatte.1019 Mit dieser Darstellungsart habe Hauptmann, so Wekwerth, existenzielle Gesellschaftsmissstände als Rahmen für seine Komödie verharmlost und missbraucht.1020 Brecht korrigierte folglich das „dicke Ende“, das Wekwerth bei Hauptmann noch nicht dick genug war, weil bei ihm der „‚Kampf’ der Wolffen gegen die Obrigkeit und ihre Gesetze in Wirklichkeit eine Versöhnung mit ihr“ darstellte.1021 Zumal eine Versöhnung aus klassenkämpferischer Perspektive undenkbar war, sah Wekwerth in Brechts Bearbeitung nicht nur eine gelungene Vervollkommnung, sondern vielmehr sogar die Notwendigkeit konsequenter

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Rilla, Berliner Ensemble, in: ders., Essays, S. 404-433, hier: 429. Rilla, Gerhart-Hauptmann-Uraufführung. Kammerspiele: Agamemnons Tod und Elektra [erschienen in: BZ, 12.09.1947], in: ders., Theaterkritiken, S. 224-227, hier: 226. „Daher verkürzt sie [i.e. die Bearbeitung] nicht nur, sondern vervollständigt“ (Rilla, Biberpelz und roter Hahn. Hauptmanns Doppelkomödie in der Bearbeitung des Berliner Ensembles [erschienen in: BZ, 28.03.1951], in: ders., Essays, S. 427-433, hier: 427). Ders., Zum Werke Gerhart Hauptmanns, in: ders., Essays, S. 221. Ders., Biberpelz und roter Hahn, in: ders., Essays, S. 427-433. Manfred Wekwerth, Wir arbeiten an Gerhart Hauptmanns Komödie Der Biberpelz, Halle 1953, S. 35 f., zit. nach: Helmut Scheuer, Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz, Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas, Frankfurt a.M. 1986, S. 70 f. „Er übersieht, dass zwischen beiden Klassen tagtäglich ein offener Kampf tobt, in dem das Proletariat begonnen hat, diesen Zustand zu ändern. Hauptmann muß, um einen ‚Kampf’ zwischen Armen und Reichen zu zeigen, die Gegensätze woanders hernehmen. Er konstruiert sie an einem Ausnahmefall, der überdurchschnittlich begabten Waschfrau, die abgesondert von ihresgleichen den Existenzkampf führt“ (ebd.). Ebd.

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marxistischer Relektüre. Ganz soweit wollte Rilla hingegen nicht gehen: Er akzeptierte Änderungen nur, wo sie Hauptmanns Werken in der Gegenwart zu einer nachhaltigen Präsenz verhalfen. Solche rezeptionsförderlichen Anpassungen waren für Rilla der historischen Entwicklung geschuldet und trugen dazu bei, die ursprüngliche Wirkung der Zeitstücke Hauptmanns unter geänderten Rahmenbedingungen zu (re-)generieren: „Sie [i.e. die Bearbeitung] erreicht Hauptmann-Wirkungen auf dem Wege einer neuen Bewältigung des Hauptmannschen Stoffes. Sie weicht von Hauptmann ab, um den Stoff auf die Probe neuer Einsichten zu stellen.“1022 Problematisch waren für Rilla aber all jene Änderungen, die die Gesamtaussage der Originalstücke zugunsten einer „positive[n] klassenkämpferische[n] Moral“ verfremdeten.1023 Auch die zeitpolitische Dehnung des dramatischen Unrechtsmotivs schien ihm unvereinbar mit Hauptmanns Haltung zu sein. Trotz aller Zustimmung war Brechts Bearbeitung für Rilla deshalb im Unrecht, „wenn sie auf die Fielitzsche Brandstätte die Metapher von einem künftigen ‚kleinen Weltbrand’ pflanzt“1024. Ungeachtet aller Kritik kann Brechts Bearbeitung zumindest in ihrer historisierenden Darstellungsweise als programmatisch für die weitere Inszenierungspraxis von Hauptmann-Werken in der DDR betrachtet werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Historizität bei Brecht intentional vielschichtiger angelegt war1025 als sie in der Folgezeit praktiziert wurde. Zudem korrelierte

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Rilla, Berliner Ensemble, in: ders., Essays, S. 404-433, hier: 432; „Soweit die Bearbeitung hier ergänzt und verstärkt, indem sie die liberale, also allgemeine Kritik Hauptmanns konkretisiert: soweit ist sie im Recht“ (Rilla, Biberpelz und roter Hahn, in: ders., Essays, S. 427-433). Ebd. Ebd. Zur Brecht’schen Historizität vgl. Klaus-Detlef Müller: „Mitnichten geht es im epischdialektischen Theater darum, historische Zeitbilder zu geben; historischer Relativismus ist Brechts materialistischer Dialektik fremd. […] Die Historizität der ästhetisch dargestellten Realität ist primär bezogen auf eine Veränderung der Gegenwart. Ziel ist nicht etwa ein bloßes ‚Verstehen’ der Geschichte, sondern deren revolutionäre Aufhebung in einer politischen, ökonomischen und geistigen Aktion, die eine radikale Umwälzung der Gesellschaft herbeizuführen vermag“ (ders. Bertolt Brecht, S. 226). Zur Funktion historisierender Bearbeitungen: „Dem Bearbeiter historischer Werke erwächst die Aufgabe, durch Historisierung den Zeitenabstand zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen den Epochen, ihren Subjekten und deren Interessenkonflikten produktiv zu nutzen, d.h. die Entwicklung historischen Bewusstseins an den Werken der Vergangenheit zu ermöglichen, dabei Ausdrucksformen und Rezeptionsweisen zurückzugewinnen, die im Geschichtsprozeß verlorengegangen sind und zugleich neue Formen und Perspektiven zu entwickeln, die das Theater der alten Zeit noch nicht kannte“ (ebd. S. 338).

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Brechts historisierende Darstellungsweise mit der Verfremdungswirkung:1026 Der historische Handlungshintergrund verwies gerade durch seine äußerste Betonung auf kongruente Verhältnisse der Gegenwart und zielte so auf eine kritische Aktivierung des Publikums. Die Historisierung zeichnete sich bei Brecht als Rezeptionsleitlinie in vielerlei Hinsicht ab und wurde selbst in der Ausgestaltung der Kammerspiele offenbar: Für Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann wurde ein „Zwischenvorhang, schwarz-weiß-rot, mit einem raubgierigen preußischen Adler“ angebracht, außerdem wurden „große Rollbilder mit Darstellungen aus der satirischen Zeitschrift Simplicissimus“ und „[ü]berlebensgroße, zeitgenössische Karikaturen, von Bismarck“ vor die Wandgemälde gehängt.1027 Veränderungen in Bühnenbild und Theatergestaltung waren keineswegs bloßer „Stimmungszauber“1028. Für Brecht musste die Bühne rational „zu den Augen des Zuschauers [...] sprechen“1029. Darüber hinaus folgte das Kapitel über Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann in Weigels Theaterarbeit selbst dieser Darstellungsweise, indem Ausschnitte aus Hauptmanns Originaltexten in Frakturschrift wiedergegeben wurden. Zudem bemühte man sich um die Ausleuchtung des historischen Kontextes, was Zitate aus Lukács’ Deutscher Literatur im Zeitalter des Imperialismus und der Abdruck ganzer Passagen aus Rudolf Lindaus Probleme der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung1030 von 1947 wie auch eines Abschnitts über den Preussische[n] Junker als Beamte[n] 1031 aus Marx’ und Engels’ Über das reaktionäre Preußentum belegen. Außerdem suchte man mit einer vom Erscheinen des Kommunistischen Manifests bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reichenden Zeittafel die Verortung des Biberpelz-Geschehens im historischen Kontext zu erreichen.1032 Ein Effekt, der im zeitlichen Umfeld der Aufführungen durch „Vorträge zum Stück“ von Wolfgang Harich verstärkt werden sollte.1033 1026

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Vgl. entsprechende Analysen zu Hofmeister und Die Tage der Commune bei Gerhard Fischer, Brechts Dramen 1948-1950, in: Hüppauf, Bernd, (Hg.), „Die Mühen der Ebenen“, S. 271-306, hier: 293. „In der Materialbehandlung bemühten wir uns um Historisierung. Die Rollbilder zum Beispiel waren teefarben und hatten dadurch vergilbten Charakter“ (Veränderung des Zuschauerraums, in: Weigel [Hg.], Theaterarbeit, S. 224). Karl von Appen, Über das Bühnenbild, in: Hecht (Hg.), Brechts Theaterarbeit, S. 145150, hier: 149. Angelika Hurwicz, Bemerkungen zu den Proben, in: Hecht (Hg.), Brechts Theaterarbeit, S. 41-47, hier: 45. Vgl. Weigel (Hg.), Theaterarbeit, S. 197-199. Vgl. ebd., S. 199 f. Ebd., S. 200 f. Gegenstand der Vorträge waren Die Probleme der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Weigel [Hg.], Theaterarbeit, S. 226). Zudem wurden die Mitglieder des BE zu Harichs Philosophie-vorlesungen an der Humboldt-Universität Berlin zwangsverpflichtet (Wekwerth,

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Versteht man ein Rezeptionsrealisat als Sichtbarmachung einer dem Text potentiell inhärenten ästhetischen Struktur unter Bezugnahme auf den aktuellen Stand der ästhetischen Diskussion, so ist Brecht in jedem Falle eine aktualisierende Interpretation von Hauptmanns Der Biberpelz und Der rote Hahn gelungen – wenngleich ‚aktuell’ hier die Transformation im Sinne der marxistischleninistischen Weltsicht meint. Feststeht, dass die Kritik insofern berechtigt war, als Brechts Bearbeitung „weit mehr als eine Bühneneinrichtung der beiden Hauptmann-Dramen“1034 darstellte. Radikale Eingriffe dieser Art waren in den 1950er Jahren im Umgang mit dem Kulturerbe ein Novum. Der Aufführungsstopp zeigt, dass im engen Kunstkanon der damaligen DDR kein Platz für Brecht oder einen radikalisierten Hauptmann war. Welche Entwicklung die Erbepolitik in den folgenden Dekaden durchlief mag am Ehesten ein später Kommentar zu Brechts Biberpelz und roter Hahn von Gerhart Hauptmann vor Augen zu führen: Zu der Streitfrage von 1951, ob man eine Bearbeitung mit weitreichenden Änderungen unternehmen darf, hieß es 1987 lapidar: „[D]ies interessiert heute weniger.“1035 Nicht das Wie schien in den 1980er Jahren zu zählen, sondern dass überhaupt noch – im Sinne Rillas – „Mittel und Wege gefunden“ werden, die neue „Perspektiven zur kritischen Aneignung“1036 in Sachen Hauptmann erlauben.

3.2.

1954-1964: Ausbau und Festigung des Systems

3.2.1.

Kulturpolitische Rahmenbedingungen

Dass die 1951 geschaffenen Kontrollinstanzen der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten sowie des Amtes für Literatur und Verlagswesen 1954 bzw. 1956 wieder aufgelöst wurden, schien auf den ersten Blick für ein kulturpolitisches Tauwetter in der DDR zu sprechen. Die Tatsache, dass an ihrer Stelle am 7. Januar 1954 per Verordnung das Ministerium für Kultur ins Leben gerufen und damit der Einschätzung Manfred Jägers nach lediglich ein Türschildwechsel1037 vorgenommen wurde, relativierte die Hoffnung auf eine Verflüssigung starrer

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Erinnern, S. 80 f.). Harichs Karriere endete wenig später. Weil er sich während der Tauwetter-Periode nach dem XX. KPdSU-Parteitag im Herbst 1956 eine „Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ ins Leben gerufen hatte, wurde er im März 1957 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Brecht, GBA 8, S. 588. Rohmer, Gerhart Hauptmann auf den Bühnen der DDR, in: Referentenkonferenz 1987, S. 61-72, hier: 71. Ebd. Jäger, Die Kulturpolitik, in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission, S. 4-27, hier: 18.

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Strukturen jedoch so gleich. Ein „Glücksfall“1038 – so Hans Mayer – sollte es sein, dass dem neuen Ministerium zunächst Johannes R. Becher vorstand. Bis zu seinem Tode 1958 war Becher zudem Vorsitzender der Deutschen Akademie der Künste und des Kulturbundes und somit eigentlich eine kulturpolitische Schlüsselfigur. Faktisch blieb Bechers Einfluss begrenzt: Seine Funktion beschränkte sich immer mehr auf die einer „Repräsentationsfigur“, während Alexander Abusch, sein Stellvertreter, „die Schalthebel des kulturpolitischen Apparats bediente“1039. In seiner „Programmerklärung“ zur „Verteidigung der Einheit der deutschen Kultur“ vom März 1954 verkündete das neue Ministerium für Kultur, dass sein Hauptziel darin bestände, „das unsterbliche humanistische Erbe unserer nationalen Kultur und besonders der Klassik zu pflegen, es gegen alle Verfälschungen und Entstellungen zu schützen und darüber hinaus alle fortschrittlichen, freiheitlichen Traditionen der deutschen Literatur, Musik und bildenden Kunst, der Theaterkunst und des Films in dem kulturellen Schaffen unserer Zeit fortzuführen“1040. Dabei legte das Ministerium die Selbsteinschätzung an den Tag, „das einzige Ministerium in Deutschland [zu sein], das gesamtdeutsche Interessen auf dem Gebiet der Kultur vertritt“1041. Auch Hauptmann fand Eingang in jenes erste zentrale Dokument des neuen Ministeriums: Der Dichter wurde dort als ein modernes Kulturglied in eine Traditionskette des deutschen Humanismus eingereiht, die bis ins Mittelalter zurückreichte.1042 Hauptmann genoss aus offizieller Perspektive der höchsten kulturellen Legitimationsinstanz1043 der DDR weiterhin eine mindestens gleichwertige Bedeutung wie Thomas Mann. Hauptmanns Position im kulturellen Feld schien sich stabilisiert zu haben. Wie Mann wurde er zu den „großen, kulturellen Zeugen“ gezählt, die „mit uns [sind] in unserem Kampf für

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Mayer, Wendezeiten, S. 168. Jäger, Kultur, S. 71. Programmerklärung des Ministeriums für Kultur der Deutschen Demokratischen Republik zur Verteidigung der Einheit der deutschen Kultur (ND, 25.03.1954), Auszug, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, Dok. 105, S. 333-337, hier: 334. Ebd., S. 337. „Dürer und Grünewald, Hutten und Münzer, Bach und Beethoven, Lessing und Herder, Goethe und Schiller, Knobelsdorff und Schinkel, Hölderlin und Heine, Leibniz, Kant und Hegel, Marx und Engels, Gerhart Hauptmann und Thomas Mann künden von der Größe des humanistischen deutschen Geistes, von seinem Ringen um echte künstlerische Gestaltung und wissenschaftliche Erkenntnis“ (ebd.) Vgl. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1970, S. 109.

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die Rettung der deutschen Kultur vor Krieg und Vernichtung, und mit uns [sind] für die Überwindung der Spaltung und für die Wiedergewinnung der Einheit“1044. Kulturpolitische Lenkungsbestrebungen nahmen im Anschluss an die Ministeriumsgründung zunächst mittelbarere Züge an. So wurde z.B. mit dem im Januar 1955 in der Gewerkschaftszeitung Tribüne veröffentlichten „Nachterstedter Brief“ versucht, das neue (Lese-)Publikum der Werktätigen als „Erziehungsund Mobilisierungsinstanz in Funktion zu setzen“1045. In diesem Brief forderten augenscheinlich die Arbeiter des VEB Braunkohlewerk Nachterstedt in Hinblick auf den bevorstehenden Schriftstellerkongress die lebensnahe Gestaltung des „werktätigen Menschen“ sowie die Darstellung der Partei und Kader in der Gegenwartsliteratur. Das „pseudoplebiszitäre Element“, das im Nachterstedter Brief und anderen inszenierten „offenen Briefe“ zu beobachten war, besaß eine besondere kulturpolitische Funktion:1046 In Anlehnung an Foucault bestand ihre Wirkung in der „permanenten Reaktualisierung der Regeln“

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: Eine öffentliche

Einübung des sozialistischen Dogmas, die über den Umweg vermeintlicher Rezeptionsbedürfnisse sicher stellen sollte, dass die kulturelle Produktion machtkompatible Lesarten der Gegenwart produzierte. Diese der Produktionssteuerung zugrunde liegenden Regeln waren unter den ostdeutschen Gegenwartsdichtern verständlicher Weise nicht unumstritten und wurden daher zum Diskussionsgegenstand auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress (9. – 14. Januar 1956). Zwar wurde Kritik am Dogmatismus des sozialistisch-realistischen Schaffensauftrags und dem daraus resultierenden Schematismus der Produktionen laut, die Entschließung schrieb indes den „Kampf um den sozialistischen Aufbau in der DDR“ als altes und neues Ziel fest.1048 Der sozialistische Realismus wurde erneut als die „einzige Methode“ ausgegeben, die „den neuen Menschen in seiner umgestaltenden Kraft darzustellen vermag“.1049 Der ideologische Dogmatismus bestand nicht nur fort, er war sogar im Begriff sich weiter zu verfestigen. Einen Monat nach dem Schriftstellerkongress sorgte die im Zuge des XX. Parteitags der KPdSU in Moskau (14. – 26. Februar 1956) vollzogene Revi1044 1045 1046

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Ebd. Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 94. Der Griff zu einem solchen Instrument wurde auch als Hinweis auf die „nachlassende Dynamik der kulturpolitischen Offensive“ sowie auf die „zunehmende Erschöpfung der stilistischen Paradigmen des sozialistischen Realismus“ gewertet (Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 94). Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 25. Entschließung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, zit. nach: Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 97. Ebd.

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sion des Stalinschen Klassenkampfdogmas, die Verurteilung des Personenkultes um Stalin und die Umstrukturierung des ideologischen Legitimationsrahmens bei den stalinistischen Staatsparteien des Ostblocks für eine Machterosion sondergleichen. Kein geringer als Nikita Chruschtschow, der Erste Sekretär der KPdSU, hatte mit seiner „Geheimrede“ Über den Personenkult und seine Folgen den Stein ins Rollen gebracht.1050 Indem Chruschtschow in seiner Ansprache die Verbrechen Stalins anprangerte, bestätigte er nahezu alle „Verleumdungen des Klassengegners“ und sorgte für eine weitreichende ideologische Verunsicherung.1051 Die hierauf einsetzenden Entstalinisierungs-Kampagnen, die die Wiederherstellung eines reinen, menschlichen Sozialismus anstrebten, hatten vor allem in Polen und Ungarn destabilisierende Auswirkungen auf das System. Durch die dortigen Unruhen im Sommer bzw. Herbst 1956 sollten die zaghaften Liberalisierungstendenzen in der DDR ein jähes Ende finden. Und dies obschon die Stalin-Kritik hier, anders als in den Nachbarländern, keineswegs die gesamte Gesellschaft erfasste, sondern als isolierte intellektuelle Debatte ablief.1052 Der Versuch Ungarns unter Imre Nagy aus dem Warschauer Pakt auszuscheren, war am 4. November 1956 mit dem Einmarsch der Roten Armee geendet. Der abtrünnige Ministerpräsident wurde daraufhin zum Tode verurteilt. Dass Georg Lukács sich als Kulturminister der Reformregierung Nagys während des Aufstands exponiert hatte, blieb in der DDR nicht ohne Konsequenzen: Zum einen zog dies die Abwendung von Lukács’ Realismuskonzeption zu Gunsten von Franz Mehrings Ästhetik als Grundlage marxistischer Literaturwissenschaft nach sich; zum anderen gerieten Intellektuelle und Künstler verstärkt ins Visier – selbst auf Becher fiel das Engagement seines Freundes Lukács negativ zurück1053. Der ursprünglich potentiell positive Entstalinisierungsimpuls fand somit in den Riegen der DDR-Verantwortlichen weit weniger Widerhall als man in optimistischer Perspektive vielleicht hätte erwarten können. Vielmehr nutzte man die ostblockweite Irritation dazu, Härte zu zeigen und vermeintliche Abweichler ins Abseits zu stellen. Oppositionelle Kreise, die sich durch das vermeintliche Tauwetter zu reformerischen Äußerungen zur Demokratisierung und Entbürokratisierung ermutigt gesehen hatten, wurden zu Opfern der einsetzenden „Verteidigung des 1050

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Vgl. insgesamt Wolfgang Leonhard, Die bedeutsamste Rede des Kommunismus, in: APuZ 17-18 (24.04.2006), S. 3-5. Leonhard weist darauf hin, dass nicht allein Chruschtschows Rede die Trendwende indizierte, sondern diese aufgrund der Zeitungsreaktionen auf die Todesmeldung sowie der Inszenierung des Parteitags (ohne Stalin-Bilder) absehbar war. Ralph Giordano, Die Internationale der Einäugigen, in: ebd., S. 5-7, hier: 5. Vgl. Andreas Malycha, Reformdebatten in der DDR, in: ebd., S. 25-32, hier: 27. Mayer, Wendezeiten, S. 168; vgl. insgesamt Saadhoff, Germanistik, S. 217-220: „Die Anti-Lukács-Kampagne der SED“.

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Dogmas“1054. Unter ihnen waren z.B. Wolfgang Harich, der Leiter des AufbauVerlags Walter Janka und Erich Loest. Ihre Meinungsäußerungen zur demokratischen Erneuerung, die als ‚konterrevolutionäre Pläne’ gewertet wurden, brachten sie ins Zuchthaus. Ernst Bloch wurde 1957 zwangsemeritiert, Alfred Kantorowicz entzog sich im gleichen Jahr durch Flucht nach Westberlin der drohenden Verhaftung, Heinar Kipphardt,1055 Dramaturg am Deutschen Theater, verließ 1959 die DDR. Durch derartige, dem Freund-Feind-Schema folgende, „Prozeduren der Ausschließung“1056 forcierte die seit Ende 1956 wieder offensiv restriktive Kulturpolitik der SED ihre Kontrolle über das kulturelle Feld, dessen vorrangige Funktion von ihr in der Festigung des Systems bestimmt war.1057 1957 setzte mit der politischen wie ästhetischen Anti-Revisionsmus-Kampagne ganz auf dieser Linie liegend die so genannte ‚Zweite Etappe der Kulturrevolution’ ein. Als „ausgedehnte Kampagne“1058 bereitete sie allen vorsichtigen Auflockerungen und Sonderweg-Überlegungen ein Ende. Dass die Kulturrevolution de facto ein verkappter Versuch zur Hebung des Bildungsniveaus der Werktätigen1059 war, signalisierte bereits die I. Bitterfel1054 1055

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Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 175; vgl. Groth, Widersprüche, S. 42 f. Kipphardt, 1964 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis der Freien Volksbühne in Westberlin ausgezeichnet, hatte mit seiner Nationalpreisgekrönten Satire Shakespeare dringend gesucht 1953 ein „erstes Beispiel des kurzlebigen ‚Neuen Kurses’ der SED nach dem 17. Juni“ abgegeben (Andreas Kölling, Heinar Kipphardt, in: Helmut Müller-Enbergs [u.a. Hg.], Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Berlin 2006, Bd. 1, S. 501 f.): Das „aufmüpfige Stück“ (Siegfried Kienzle/ Otto C.A. zur Nedden [Hg.], Reclams Schauspielführer, Stuttgart 1993, S. 899), das die Kulturbürokratie und die Schwierigkeiten der Bühnen, ideologisch adäquate und gleichzeitig talentierte Autoren zu finden, gekonnt auf die Schippe nahm, wurde am 28.06.1953 uraufgeführt und wurde daraufhin mit großem Erfolg gespielt. Kipphardts Die Stühle des Herrn Szmil, eine 1958 entstandene ähnlich kritische Satire auf die sozialistische Gesellschaft, wurde indessen in der DDR verboten und erlebte erst 1961 in Wuppertal ihre Uraufführung. Foucault, Die Ordnung, S. 7; vgl. Bogdal, Alles nach Plan, in: Mein/ Rieger-Ladich (Hg.), Soziale Räume, S. 123-148, hier: 133. Die neue, unnachsichtige Haltung trat auch bei einer Kulturkonferenz des ZK der SED (23. – 26.10.1957) offen zutage, während der die SED ihren Führungsanspruch auf kulturellem Gebiet geltend machte, Alfred Kurella und Alexander Abusch die Grundsätze der sozialistischen Kultur einschärften und insgesamt das Prinzip der Parteilichkeit zum Hauptkriterium allen Kulturschaffens erhoben wurde: „Die Grundaufgabe in der Kulturarbeit besteht darin, alle Werktätigen zu bewußten Streitern für den Sozialismus, zu wahrhaften Patrioten und zu allseitig gebildeten Menschen entwickeln zu helfen. Das kann nur geschehen in fortgesetztem Kampf gegen das Alte, Rückständige und Feindliche. […] Die Förderung oder Duldung uns fremder, dekadenter Lebensäußerungen der niedergehenden bürgerlichen Kultur hemmt die Entwicklung einer vielfältigen und reichhaltigen sozialistischen Kultur“ (Für eine sozialistische Kultur – Thesen der Kulturkonferenz der SED 1957, in: ND [07.12.1957]). Vgl. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 140 f. Ernst, Erbe und Hypthek. (Alltags-)kulturelle Leitbilder, in: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat (Hg.), Kultur und Kulturträger, S. 9-72, hier: 26; vgl. Ulbricht, Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat, Referat gehalten auf dem V. Parteitag der SED, 10.-16. Juli 1958 [ND, 12.07.1958], Auszug, Dok. 178, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 534-536, hier: 536.

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der Konferenz (24. April 1959), die im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld stattfand. Unter dem Motto „Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische Nationalkultur braucht dich!“ suchte man die Arbeiterklasse zu kulturellen Leistungen zu mobilisieren, sie damit aufzuwerten und gleichzeitig die Berufsschriftsteller herabzustufen. Das eigentliche Ziel von Bitterfeld bestand allerdings darin, die forcierte ‚wissenschaftlich-technische Revolution’ ideologisch abzustützen. Von staatlicher Seite wurde beabsichtigt, die Arbeiter zu Höchstleistungen zu motivieren und durch deren literarische Beiträge gleichzeitig die Konformität der Industrialisierungsbestrebungen mit der sozialistischen Doktrin zu propagieren.1060 Die Förderung der Arbeiterschriftsteller bedeutete indes keine Loslösung vom Kulturerbe. Im Gegenteil, wurde u.a. im Kontext der Kulturkonferenz des ZK der SED, des Ministeriums für Kultur und des Kulturbundes (27. – 28. April 1960) deutlich, dass man auf die bürgerlich-humanistischen Ahnen der sozialistisch-realistischen Kunst weder verzichten wollte noch konnte. Bei diesem und anderen Anlässen fand auch Gerhart Hauptmann immer wieder Erwähnung.1061 In übergeordneter Perspektive deutete sich zudem an, dass das Kulturerbe immer mehr zu einem Abgrenzungsmedium innerhalb der Systemkonkurrenz und zur politischen Waffe gemäß der übergeordneten kulturpolitischen Mobilisierungsstrategie wurde: „Alle Schätze der humanistischen deutschen Kultur der Vergangenheit hat in der Deutschen Demokratischen Republik das Volk in seine Hände genommen. Gegründet auf die Erkenntnisse der fortgeschrittensten Wissenschaft, des Marxismus-Leninismus, ist die Pflege des Erbes leuchtendes Vorbild für die humanistischen Kräfte in Westdeutschland und stärkste Waffe in der Abwehr imperialistischer Verfälschungen.“1062

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Jäger, Kultur, S. 83; Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 188 f. Vgl. Erfahrungen und Probleme sozialistischer Kulturarbeit. Diskussionsgrundlage zur Vorbereitung der vom ZK der SED, vom Ministerium für Kultur und vom Deutschen Kulturbund für den 27. und 28. April 1960 nach Berlin einberufenen Kulturkonferenz, Auszug, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, Dok. 204, S. 624-631, hier: 625. Bei der 75Jahrfeier des Goethe-Nationalmuseums und des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar wiederholte Abusch den Basiskanon für eine humanistisch orientierte Gegenwartsliteratur. So werde das „wunderbare Erbe unserer humanistischen Tradition“ in der „großen Stafette unserer Nationalliteratur weitergereicht“ von „Goethe und Schiller über Heine, Fontane und Gerhart Hauptmann, über Thomas Mann und Heinrich Mann, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger, über Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Willi Bredel und Hans Marchwitza an die jungen dichterischen Verkünder des neuen sozialistischen Zeitalters, die in unseren Tage berufen sind, die deutsche Dichtung zu neuen Höhen zu führen“ (Abusch, Deutscher Humanismus heute [ND, 28.08.1960], Auszug, Dok. 211, in: Schubbe [Hg.], Dokumente, S. 675-677, hier: 677). Erfahrungen, Dok. 204, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 624-631, hier: 625.

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In dieser Zeit, in der die Aneignung des Kulturerbes noch weitgehend als ein „relativ unproblematischer, widerspruchsfreier Bildungsprozeß“1063 aufgefasst wurde, war die Pflege des Kulturerbes für die DDR ein Imagefaktor. Mit ihr glaubte man sich von der BRD zu unterscheiden, wo – wie gerne behauptet wurde – „die Restauration einer Kulturbarbarei mit dekadenten, klerikalreaktionären, militaristischen und neonazistischen Zügen nicht nur geduldet, sondern durch Behörden und Organisationen aktiv gefördert wird“1064. Dichotome Denkmuster bestimmten während des V. Schriftstellerkongresses (25. – 27. Mai 1961) die Wahrnehmung westdeutscher Schriftsteller, deren Werke – vor allem im Falle von Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Alfred Andersch – einer scharfen ideologischen Kritik unterzogen wurden. Die Abgrenzung und Stabilisierung des sozialistischen Literaturkanons nahm ihren Lauf. Dass man in der SED-Spitze tatsächlich gewillt war, den „unversöhnliche[n] Kampf gegen die militaristisch-klerikale Reaktion“1065 in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie mit allen Mitteln – einschließlich dem der Selbstisolierung – zu führen, wurde mit dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 offenbar. Die Entlassung Peter Huchels, des langjährigen Chefredakteurs der renommierten Literaturzeitschrift Sinn und Form im Jahre 1962 war ein erster Hinweis darauf, dass der Abschottung nach außen keine liberale Neuausrichtung im Innern folgen würde. Ernst Bloch entschied sich angesichts des Mauerbaus im Westen zu bleiben, zu virulent waren die Ahnungen, dass nun in der DDR „für selbständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleib[en]“1066 werde. Das Theater der DDR begann sich unter diesen neuen Bedingungen nur sehr zögerlich zu einem gesellschaftlichen Reflexions- und Artikulationsorgan zu entwickeln. Seine Protagonisten – darunter Heiner Müller und Peter Hacks als prominenteste Vertreter einer neuen Dramatik – befassten sich im Rahmen des Möglichen, mit den Jahren aber mutiger werdend, mit sozialen Widersprüchen, aber zunehmend mit der Überprüfung des Erbes.1067 Fünf Jahre nach der I. Bitterfelder Konferenz kam es zur II. Bitterfelder Konferenz (24. – 25. April 1964), auf der erneut eine „komplexe Verbindung des künstlerischen Schaffens mit der geistigen Verarbeitung der gesamtgesellschaftli1063 1064 1065 1066

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Vgl. Schlenker, Das „kulturelle Erbe“, S. 161. Erfahrungen, Dok. 204, in: Schubbe (Hg.), Dokumente, S. 624-631, hier: 624. Ebd., S. 626. Ernst Bloch, Schreiben an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in Berlin, zit. nach: Fuhrmann, Vorausgeworfene Schatten, S. 83. Vgl. Fischer-Lichte, Berliner Theater, in: dies./ Kolesch/ Weiler (Hg.), Berliner Theater, S. 9-42, hier: 35 f.

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chen, politischen, ökonomischen und geistig-kulturellen Entwicklung des Sozialismus“1068 gefordert wurde. Es galt folglich, die nicht eingestandene Trennung zwischen Arbeit und Leben in einer funktionalisierten Kunst als überwunden darzustellen, die ‚sozialistische Menschengemeinschaft’ als realisiert vorwegzunehmen.1069 Allerdings musste Ulbricht nun Mängel dieser Bewegung eingestehen.1070 Wirtschaftlich1071 als auch kulturpolitisch steuerte Ulbrichts Regierung auf eine gesamtgesellschaftliche Aporie zu, die er mit dem berühmt-berüchtigten 11. Plenum 1965 abzuwehren suchte.

3.2.2.

Rezeptionsschwerpunkte

In den 1950er Jahre erfreuten sich Hauptmanns Werke allgemeiner Beliebtheit – nicht nur auf den Bühnen in Ost und West, sondern insbesondere in den Lichtspielhäusern: Von 1952 bis 1959 wurde in der BRD ein halbes Dutzend Hauptmann-Verfilmungen gedreht,1072 so dass die Vermutung einer „‚Art filmische[n] Hauptmann-Renaissance’“1073 nahe lag. Der besonderen Gunst des Publikums durfte sich Rose Bernd erfreuen: In der Verfilmung des vormaligen DEFARegisseurs Wolfgang Staudte von 1956 war Maria Schell – ein Star des westdeutschen Kinos mit Hauptmann-Erfahrung1074 – als Rose Bernd zu sehen. Das 1068

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Bitterfelder Konferenzen, in: Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1978, S. 110112, hier: 112. Vgl. Ulbricht, Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur. Rede auf der 2. Bitterfelder Konferenz, in: Schubbe, Dokumente, Dok. 283, S. 956-991, hier: 965. Vgl. Groth, Widersprüche, S. 58 f. Wirtschaftlichen Problemen, die mit dem Mauerbau keineswegs verschwanden, hatte man mit einem umfassenden Reformkonzept begegnen wollen. Die Grundsätze des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) präsentierte Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED (15. – 21.01.1963). NÖSPL stellte ein „System ökonomischer Hebel“ dar, über das ein dirigistischer Gleichklang von Produzenten- und Gesellschaftsinteressen erzeugt werden sollte (vgl. André Steiner, Die DDRWirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Mannheim 1997, S. 78-9). Hauptmanns Wanda kam unter dem Titel Königin der Arena 1952 mit Grete Weiser in die Kinos (R: Rolf Meyer), Die Ratten mit Maria Schell und Curd Jürgens folgten 1955 (R: Robert Siodmak), Fuhrmann Henschel mit Nadja Tiller 1956 (R: Josef von Baky), Vor Sonnenaufgang mit Hans Albers 1956 (R: Gottfried Reinhardt), Rose Bernd mit Maria Schell 1957 (R: Wolfgang Staudte) sowie Dorothea Angermann mit Ruth Leuwerik 1959 (R: Robert Siodmak); vgl. Insgesamt: Alfred Estermann, Die Verfilmung literarischer Werke, Bonn 1965, S. 142-216. Hoefert, Rezeption und Wirkung von Gerhart Hauptmanns Werk in den technischen Medien, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 237-245, hier: 241. Siodmaks Ratten-Verfilmung mit Maria Schell wurde in der BRD mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Dass in der Verfilmung die Handlung in das Berlin der frühen 1950er Jahre verlegt wurde, missfiel u.a. dem DDR-Theaterkritiker Herbert Ihering. In dessen Auffassung führte die Aktualisierung dazu, dass „sich alles in verlogenem Ne-

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Schicksal der Kindsmörderin wurde der BRD zu einem regelrechten „Verkaufsschlager“1075. Zeitgleich spielten zahlreiche DDR-Theater mit Vorliebe Rose Bernd, weshalb im Folgenden einige Beispiele für das damalige Rose BerndRezeptionsverhalten ins Auge gefasst werden sollen. Wie bei der anschließenden Betrachtung diverser Hauptmann-Inszenierungen der Volksbühne am Luxemburgplatz stehen Versuche der Kulturpolitik bzw. einzelner Kulturpolitiker im Interessensfokus, die darauf abzielten, die Hauptmann-Rezeption zu lenken und indirekt für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade im zeitlichen Umfeld des 100. Geburtstages Hauptmanns, der zu einem regelrechten „HauptmannBoom“1076 führte, zeigte die Rezeption seiner Werke in dieser Hinsicht besonders markante Ausprägungen. Hauptmanns Rose Bernd wurde zwischen 1954 und 1956 z.B. an den folgenden Theatern gespielt: Rostocker Volkstheater, Bautzener Stadttheater, Theater Putbus auf Rügen, Altenburger Landestheater, Annaberger Kreistheater und an den Städtischen Bühnen Quedlinburg. Besondere Aufmerksamkeit soll an dieser Stelle aber der Inszenierung des Kreistheaters Karl-Marx-Stadt (Sitz Burgstädt) geschenkt werden: Grund hierfür ist das Programmheft zur Inszenierung (Spielzeit 1953/54), das die anhaltende kulturpolitische Bedeutung Hauptmanns und deren staatliche Artikulation vor Augen führt. Der Bedeutungsindikator befindet sich auf der Rückseite jenes Programmhefts: Dort ist ein Brief an Horst Alexander, den Dramaturgen des Kreistheaters, vom 14. Januar 1954 abgedruckt. Dieses – ausdrücklich mit „persönlicher Genehmigung“ – publizierte Schreiben stammte von keinem geringeren als dem damals frisch gebackenen Kulturminister Johannes R. Becher. Die Wichtigkeit der Erbeaneignung betonend, brachte Becher in dem Text seine Genugtuung über die Aufnahme von Rose Bernd in den Spielplan zum Ausdruck: „Sehr geehrter Herr Alexander! Es ist ausserordentlich zu begrüssen, dass das Werk Gerhart Hauptmanns durch die Aufführung von Rose Bernd im Kreistheater Karl Marx-Stadt unserer Gegenwart wieder nahegebracht wird. Wir müssen ständig bemüht sein, uns das große Vergangene immer

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bel auf[löste]. Theater und Zeit, Film und Zeit – man kann Gestalten einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, man kann eine Fabel, die diese Situation aufdeckt, nicht ohne weiteres in eine andere Epoche verlagern. Gerhart Hauptmanns Tragikomödie war an das Berlin der Jahrhundertwende gebunden und spricht zu allen Zeiten. Der Film Die Ratten transponierte die Handlung in die Gegenwart und entsprach keiner Zeit“ (Ihering, Theaterstadt Berlin, in: Der Sonntag [08.04.1956]). Ebd. Hoefert, Rezeption, in: Bomers/ Engel (Hg.), Zeitgeschehen, S. 237-245, hier: 239.

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wieder neu zu erobern: nur auf diese Weise bleibt es unser eigen, unsere unerschöpfliche geistige Nahrung, unser unvergänglich Gut.“1077 Im Weiteren pries Becher die „starke ursprüngliche, poetische Kraft Gerhart Hauptmanns“, die nach wie vor in der Lage sei, „uns immer wieder Mut und Stärke zu verleihen für die Bewältigung unserer Gegenwartsaufgaben“.1078 Bemerkenswert erscheint, dass Becher Hauptmann für den Kampf gegen den ‚Reaktionismus’ instrumentalisiert, diese politische Stoßrichtung indirekt sogar als Hauptmanns Vermächtnis ausgibt: „Der tiefe humanistische Ideengehalt seiner Werke wird für uns eine stete Mahnung sein, den reaktionären Gewalten, wo auch immer sie in Erscheinung treten, zu widerstehen und mit einer unermüdlichen Leidenschaftlichkeit das Testament zu vollstrecken, das uns Gerhart Hauptmann hinterlassen hat: das Reich des Menschen zu gründen, das ein Reich der Freiheit, der Völkerverbrüderung und des Friedens ist. Gerhart Hauptmann ahnte in seinen letzten Stunden (ich selber war Zeuge davon), dass in den ersten Maßnahmen, wie sie in der damaligen sowjetischen Besatzungszone getroffen wurden, dieses Reich bereits eine reale Gestalt anzunehmen begann.“1079 Damit wurden Hauptmanns humanistische Zukunftsvorstellungen zur legitimierenden Projektionsfläche für den ‚sozialistischen Aufbau’. Nach Bechers Einschätzung hätte Hauptmann nicht nur seine Vision des Friedensreiches in der DDR verwirklicht gefunden, sondern hätte, wäre er nicht gestorben, an deren Gestaltung sogar aktiv mitgewirkt:1080 „Wie beglückt wäre er, unser großer Gerhart Hauptmann, gewesen, hätte sich ihm noch die Möglichkeit geboten, die Errungenschaften, wie sie inzwischen auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik gewachsen sind, persönlich erleben und an ihrer Weiterentwicklung tatkräftig teilhaben zu dürfen.“1081 Dem zuvor skizzierten Gespräch auf dem Wiesenstein verlieh Becher damit nachträglich eine weitere Bedeutungskomponente, indem er Hauptmanns Bereit1077

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Brief Bechers an Horst Alexander vom 14.01.1954, in: Programmheft Rose Bernd des Kreistheaters Karl-Marx-Stadt, Spielzeit 1953/54, Edgar Schatte (Intendant), Rückseite [Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Museums Erkner], auch in Becher, Über Literatur und Kunst, Berlin (Ost) 1962, S. 195 f.; vgl. Abb. 7 im Anhang, S. 291. Ebd. Ebd. Das gleiche Inkorporationsmuster der nur durch den Tod verhinderten aktiven Mitstreiterschaft wandte Abusch später auf Kurt Tucholsky an: „Es ist anzunehmen: Ohne das mörderische Leiden [Tucholsky hatte sich im Exil wegen Kehlkopfkrebs das Leben genommen, P. T.] wäre Tucholsky über erste Resignation und Verzweiflung hinwegegekommen und mit der Eigentümlichkeit seines Talents noch mehr unser Mitkämpfer geworden“ (Abusch, Geleitwort, in: ders., Ansichten, S. 5-11, hier: 9 f.) Brief Bechers an Alexander vom 14.01.1954.

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schaftserklärung zu einer Facette des Gründungsmythos der DDR narrativisierte. Mit seiner Behauptung, dass eine Kulturgröße wie Hauptmann von der DDR begeistert gewesen wäre, verteidigte Becher die DDR gleichfalls gegen all jene, die ihr System 1953 in Frage gestellt hatten.1082 Eine brisante Botschaft, die auch andere Hauptmann-Inszenierungen transportieren sollten. Dass Rose Bernd sich in dieser Zeit so großer Beliebtheit erfreute und selbst dem Kulturminister ein Empfehlungsschreiben wert war, erscheint auf den zweiten Blick erstaunlich: Bei dem Schauspiel handelte es schließlich keineswegs um ein aktuelles Zeitstück mit gesellschaftlich motivierender Handlung. Dieses Paradoxon nahm das Programmheft zur Rose Bernd-Inszenierung des KleistTheaters Frankfurt/Oder (Spielzeit 1955/56) zum Anlass für eine Reflektion darüber, was „uns dieses Stück heute noch zu sagen [hat]“1083. Die Daseinsberechtigung von Rose Bernd auf DDR-Bühnen wurde dort zunächst bezweifelt, weil man davon ausging, dass die Probleme, denen sich Hauptmann hier gewidmet hatte, „bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik keine Probleme mehr“1084 darstellten. Zur Erklärung der vermeintlichen Antiquiertheit von Rose Bernd wies das Programmheft darauf hin, dass es in der sozialistischen Gesellschaftsordnung keine Gutsbesitzer mehr gebe, „die die Landarbeiter ausbeuten und auf deren Kosten ein angenehmes Leben führen, unsere Gesetzgebung sichert die Stellung der Frau als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft, und auch eine uneheliche Mutter und ihr Kind genießen den vollen Schutz unseres Staates!“1085 Die Wiederholung von Rose Bernds Schicksal in der DDR galt damit als ausgeschlossen. Die propagierte Vorstellung von der ‚neuen sozialistischen Moral’ ging schließlich einher mit der Behauptung, dass „die Ausbeutung des Menschen

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Ein Interpretationsansatz, der bereits 1951, als die Unzufriedenheit mit dem Lebensstandard in der DDR-Bevölkerung zu wachsen begann, auf Rose Bernd angewendet wurde: „Welcher grundlegende Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse sich innerhalb jenes Zeitraumes vollzog, der uns von der Entstehungszeit des Werkes trennt, ermisst jeder Gegenwartsmensch, der mit offenem Blick die Wirklichkeit unserer Tage durchschreitet und bewusst miterlebt. So betrachtet, darf Rose Bernd als sozialgeschichtliches Dokument gewertet werden, das den Beschauer über die Dauer des eigentlichen Erlebnisses hinaus zur Besinnung ruft und zum Nachdenken über unsere sozialen Errungenschaften anregt.“ Zur Illustration der Errungenschaften wurden auf der nächsten Seite des Programmhefts Auszüge aus dem Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27.09.1950 abgedruckt (E. Weeber-Fried, Rose Bernd, in: Konrad Gericke [Intendant], Programmheft des Stadttheaters Cottbus, Spielzeit 1951/52, S. 1 f.). Hans-Jürgen Senff, Gespräch um Rose Bernd, in: Heinz Isterheil (Intendant), Programmheft des Kleist-Theaters Frankfurt/Oder, Spielzeit 1955/56, S. 4. Ebd. Senff, Gespräch, in: Isterheil, Programmheft des Kleist-Theaters Frankfurt/Oder, S. 4.

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durch den Menschen bei uns beseitigt“1086 sei. Der ‚neue sozialistische Mensch’ und die im Sozialismus angeblich veränderten Beziehungen der Menschen zu einander hätten Hauptmanns Rose Bernd in der DDR folglich zu einem obsoleten Schauspiel werden lassen – wäre da nicht die BRD gewesen. Rose Bernd taugte nämlich über den Umweg der Konfrontation zur indirekten Systemaffirmation wie die nachfolgende, auf die BRD abzielende, Infragestellung des sozialen Entwicklungstandes andeutet: „[A]ber ist sie es schon in ganz Deutschland und – war es immer so?“1087 Das Zugrundegehen der Rose Bernd repräsentiert in der so suggestiv eingeführten Deutungsmatrix nicht nur eine erinnerungswerte „wichtige Etappe […] auf dem Weg zur Befreiung des Menschen aus Elend und Not und sozialer Ungerechtigkeit“1088, sondern auch ein westdeutsches Schicksal unter kapitalistischen Lebensbedingungen. Dieser Kontrast zwischen heute und damals wie auch zwischen Ost und West, den die Inszenierung besonders zu betonen suchte, müsse – so die Erwartungshaltung gegenüber der Zielgruppe – „jeden aufgeschlossenen Theaterbesucher in der Gewissheit bestärken […], daß der Weg, den wir in der Deutschen Demokratischen Republik mit unserer Regierung beschritten haben, der richtige ist: der Weg zum Sozialismus, der Weg zu einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft“.1089 Auf diesem Wege wurde Hauptmanns Rose Bernd abermals dazu genützt, den Theaterbesuchern die Überlegenheit der DDR glauben zu machen. Wie im zuvor angeführten Inszenierungsbeispiel war es auch hier das politische Ziel, die DDR in ein positives Licht zu rücken. Wer der DDR den Rücken kehrte, wie dies in jener Zeit täglich hunderte taten, wechselte damit – so die latente Botschaft – in die menschenverachtende Vergangenheit von Rose Bernd. Eine ganz eigene Renaissance – zum Teil unter dezidiert ideologischen Vorzeichen – erlebte Hauptmann seit Mitte der 1950er Jahre an der Volksbühne am Luxemburgplatz. Der 10. Todestag Hauptmanns 1956 führte dort zur Wiederentdeckung der traditionell starken Verbundenheit mit dem Dichter, die sich bis einschließlich der Centenariums-Feierlichkeiten 1962 in vier HauptmannInszenierungen niederschlagen hat. Am 23. März 1956 feierte dort zunächst die 1086

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Ebd.; vgl. Ulbricht, Über die Entwicklung, in: Schubbe, Dokumente, Dok. 283, S. 956991, hier: 985. Senff, Gespräch, in: Isterheil, Programmheft des Kleist-Theaters Frankfurt/Oder, S. 4 [Hervorhebung im Original]. Ebd. Ebd.

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Berliner Tragikomödie Die Ratten unter der Regie Walther Süßenguths eine „denkwürdige Premiere“1090. Das Stück, das eine halbe Dekade zuvor in Leipzig fast verboten worden wäre, wurde an der Volksbühne nicht nur „ein ausgesprochener Publikumserfolg“1091, sondern „eine der erfolgreichsten VolksbühnenPremieren seit langer Zeit“1092. Die Inszenierung ließ Kritiker sogar darüber sinnieren, „wann Berlin eine so ausgezeichnete Hauptmannwiedergabe“1093 gehabt hatte. Entsprechend wurden Die Ratten als ein Beitrag gelobt, der in der Lage sei, „den Ruf Berlins als Theaterstadt zu erneuern und zu festigen“1094. Die RattenRezeption war von einer ähnlichen Umdeutungsstrategie geprägt, wie dies zuvor in Hinblick auf Rose Bernd geschildert worden ist: Der Wert des Stücks wurde abermals in besonderem Maße daran festgemacht, inwieweit das Stück als eine Art historische Verstehenshilfe für die Gegenwart dienstbar gemacht werden kann.1095 Laut der National-Zeitung vermochte die Tragikomödie z.B., „[uns] in unseren täglichen Auseinandersetzungen zwischen dem Alten und dem Neuen […] manchen Weg zu tieferem Verstehen überkommener Gebrechen an Leib und Seele der Frau, der Familie“1096 aufzuzeigen. Der Morgen wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „erzieherische Bedeutung solcher Zustandsschilderungen für die Erkenntnis der Notwendigkeit fortschrittlicher Bestrebungen und bereits erzielter Erfolge“ „nicht verkannt werden“1097 dürfe. Der Unterschied zwischen dieser Argumentationslinie und der fast hysterischen Leipziger Ratten-Diskussion (Spielzeit 1950/51) erscheint bemerkenswert. Von einer „deprimierenden Wirkung“ der Ratten war 1956 nichts mehr zu hören:1098

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Ernst Kluft, Schuld, Anklage, Erbarmen. Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten in der Volksbühne, in: NZ (29.03.1956). Günter Kaltofen, Die Ratten. Tragikomödie von Gerhart Hauptmann in der Volksbühne Berlin, in: TdZ, 11 (1956) H. 5, S. 56-59, hier: 56. Lothar Creutz, Theaterkritischer Nachtrag, in: Weltbühne, 11 (03.10.1956), Nr. 40. Gerhardt Dippel, Ein Theaterspielplan der Vielfalt. In Gesamtberlin von Lessing bis Bert Brecht – ein Kaleidoskop wertvoller Dramatik, in: Der neue Weg (Halle, 15.05.1956). Claus Hammel, Die Ratten. Hauptmanns Berliner Tragikomödie in der Volksbühne, in: ND (12.04.1956). Wieder großes Theater in der Volksbühne. Walther Süßenguth inszenierte Hauptmanns Ratten, in: NaZ (25.03.1956); vgl. „Hauptmann’schen Dichtung, die als geschichtliches Gesellschaftsbild seine Gültigkeit bewahrt hat“ (Alfred Maderno, Zernagte Wände – morsche Seelen. Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten in der Volksbühne, in: Der Morgen [27.03.1956]). Wieder großes Theater, in: NaZ (25.03.1956). Maderno, Zernagte Wände, in: Der Morgen (27.03.1956). Es fällt auf, dass die Ineinssetzung von naturalistischer Darstellungsweise und sozialistisch-realistischer Bühnenkunst, die bei dieser Inszenierung besonders augenfällig war, die Kritikergemüter nicht mehr zu erhitzen vermochte. Im stark naturalistischen Bühnenbild Roman Weyls war so u.a. ein Wasserhahn zu bestaunen, der „richtig tropft“ und Fenster, hinter denen „es richtig regnet“ (Hammel, Die Ratten, in: ND (12.04.1956). Nur der Theater der Zeit-Kritiker wunderte sich noch angesichts des Ehrgeizes, ein in jeder

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„Weil der Weg des Fortschritts, den die Menschheit zu gehen hat, weit und mühsam ist, fordert auch die Kritik an bereits abgestorbenen oder doch absterbenden Erscheinungen zu innerem Protest heraus, erzeugt Wirkungen, die um so nachhaltiger sind, wenn sich Mitleid und – aus reiferer Erkenntnis – Ueberlegenheit hinzugesellen. Eine solche Wirkung macht auch eine Aufführung der Ratten zu einem starken Erlebnis, […].“1099 Außerdem wurde Hauptmanns Tragikomödie nun dafür geschätzt, dass sie das „Schicksal einer Arbeiterfamilie der Jahre vor 1914 […] in die Weltliteratur ein[gehen ließ]“ und zwar „mit dem Rang der antiken Tragödie“.1100 Auch war der „klassenbewußte Arbeiter“ gefunden, dessen Fehlen zuvor kritisiert wurde: Der „redlich-deftige Maurerpolier John“ wurde nunmehr als „eine in ihrer männlichen Aufrichtigkeit echte Proletarierfigur“ gesehen.1101 Insgesamt erweckten Die Ratten der Volksbühne den erwünschten Eindruck, ein „echte[s] Volksstück“1102 zu sein, zumal für kurzweilige Unterhaltung gesorgt wurde: „Es ist eine mitreißende, wiederum durch und durch komödiantische Aufführung. In keinem Moment kann das Publikum gelangweilt oder aus der Spannung gerissen sein. Nichts wird gedanklich belastet oder auf regielichen Umwegen vermittelt.“1103 Wenngleich dieses „Stück echtes Theater“ beim Publikum „glänzend ankam“, war manchem Kritiker die „Tendenz des Überzeichnens“ doch zu stark ausgeprägt:1104 Sie sei „nicht immer zugunsten einer besseren Verständlichmachung“1105 vorgenommen worden, sondern „[widerspreche] dem Geist des Werkes an manchen Stellen“1106. Das „mitreißend[e] Spiel“ würde sogar, so war im Theater der Zeit zu lesen, „das Vorstoßen zum tiefsten Kern des Stücks, damit zu seinem eigentlichen heutigen Wert vorenthalten“.1107 Die Kritik an der Betonung komödiantischer Elemente in Hauptmann-Stücken blieb folgenlos; der Trend zur Ausschöpfung humoristischer Potenziale sollte sich, wie später noch deutlich werden wird, fortsetzen. Der komödiantisch aufpolierte Versuch, darstellerisch besonders nahe an die von Hauptmann geschilderte Zeit und ihre Probleme her-

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Hinsicht „naturalistisches Meisterstück“ zu bieten, „[o]b man so weit gehen sollte?“ (Kaltofen, Die Ratten, in: TdZ, 11 [1956] H. 5, S. 56-59, hier: 59). Ebd. Ihering, Theaterstadt Berlin, in: Der Sonntag (08.04.1956) Kluft, Schuld, Anklage, Erbarmen, in: NZ (29.03.1956). Wieder großes Theater, in: NaZ (25.03.1956). Kaltofen, Die Ratten, in: TdZ, 11 (1956) H. 5, S. 56-59, hier: 56. Eine Welt der Kontraste, in: SOS – Zeitung für weltweite Verständigung, 6 (1956) Nr. 7. Kaltofen, Die Ratten, in: TdZ, 11 (1956) H. 5, S. 56-59, hier: 56. Eine Welt der Kontraste, in: SOS, 6 (1956) Nr. 7 Kaltofen, Die Ratten, in: TdZ, 11 (1956) H. 5, S. 56-59, hier: 57.

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anzurücken, brachte der Ratten-Inszenierung der Ostberliner Volksbühne insgesamt eine positive Resonanz ein. Statt auf Aktualisierungen wie in der BRD setzte man in der DDR somit in Sachen Hauptmann weiterhin vorwiegend auf eine historisierende Rezeptionsweise.1108 Neben der Ratten-Inszenierung nahm die Volksbühne am Luxemburgplatz in der Spielzeit 1957/58 ein zweites Hauptmann-Stück in ihr Repertoire auf: Am 26. Oktober 1957 feierten dort Die Weber unter der Regie von Ernst Kahler Premiere. Nicht die Betonung des Komödiantischen war hier die prävalierende Rezeptionsstrategie, sondern die Verstärkung des ideologischen Aussagewerts. Der zeitliche Kontext der Premierenfeier führte dazu, dass diese Weber-Inszenierung geradezu als Exempel sozialistischer Theaterkunst gefeiert wurde. Obschon das zeitgleiche Stattfinden der Kulturkonferenz des ZK der SED eigentlich ein Zufall gewesen sein mag, erwies sich diese Koinzidenz jedoch im Sinne der Zusammenführung von kulturpolitischer Theorie und künstlerischer Praxis als Glücksfall für die ideologieorientierte Theaterkritik. Im Neuen Deutschland war unter der programmatischen Überschrift Nährboden der Kunst: Parteilichkeit Folgendes über die Korrelation von sozialistischer Kulturpolitik und jener HauptmannInszenierung zu lesen: „Wäre es aber Absicht gewesen, sie hätte nicht besser gelingen können. Denn die Aufführung antwortete auf diese Weise fast wie ein Echo auf die ideologisch-ästhetische Grundforderung, zu der sich die Konferenz am selben Tag einmütig bekannt hatte. Sie ist ein Beispiel parteilicher, aus sozialistischem Bewußtsein kommender und zu sozialistischem Bewußtsein führender Theaterkunst. Sie nimmt einen entschiedenen Standpunkt ein. Sie zielt auf unverwischte kämpferische Aussage.“1109 Als dramaturgisches Indiz des unterstellten „sozialistischen Bewußtseins“ Hauptmanns wurde u.a. dessen Rückgriff auf Wilhelm Wolffs Schilderung des Weber-Elends gedeutet: Für das Neue Deutschland war „ein deutlicheres Zeichen für die Parteilichkeit, mit welcher der Dichter an seinen Stoff heranging, […] schwer denkbar“1110. Insgesamt habe die Weber-Inszenierung der Volksbühne geradezu beispielhaft, „die Weite und Vielfalt der Mittel demonstriert, die einer sozialistischen Bühnenkunst dienen können“.1111 In der Tat hatte man sich an der

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Vgl. S. 194, Fn. 1078. Iherings Seitenhieb auf Siodmaks Ratten ging einher mit einer allgemeinen Aktualisierungskritik: „Das Kunstwerk und die Zeit – es ist doppelt zu betonen, daß die realistische Substanz einer Dichtung die Zeiten überdauert und die Aktualisierungen die Zeit aufheben“ (Ihering, Theaterstadt, in: Der Sonntag [08.04.1956]). Ebd. Ebd. Ebd.

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Volksbühne so einiges einfallen lassen, um Die Weber ideologisch anzureichern: So wurden z.B. „‚rührende Details’“ und „idyllische Szenen“, die nichts als „bloßes Mitleid und Gottergebenheit“ gezeigt hätten, gestrichen.1112 Ebenfalls gestrichen wurden all jene Dialogstellen, in denen die zentrale Figur des Moritz Jäger in Hauptmanns Original „von seinem ‚Glück’ beim Militär berichtet“1113. Indem die Figur „von häßlichen Zügen der Servilität und des Opportunismus befreit“1114 wurde, vollzog sich ihre Aufwertung zum positiven Helden des Stücks. Eine weitere ideologisch motivierte Maßnahme bildete die Betonung jener Passagen des Schauspiels, „in denen die direkten Ausbeuter und die Vertreter des Bürgertums der Lächerlichkeit preisgegeben werden“1115. Das augenfälligste Mittel der Betrachterlenkung kam in der Weber-Inszenierung der Volksbühne in den Pausen zwischen den einzelnen Akten zur Anwendung: „Vor jedem Akt“ wurde laut Berliner Zeitung „ein Leitsatz aus dem Kommunistischen Manifest auf die Leinwand projiziert“.1116 Eine paratextuelle Einbettung, die für das Neue Deutschland weder „Verspielheit noch Effekthascherei“ verriet, sondern – ideologisch vorbildlich – die gegenseitige Bestätigung und Kommentierung zum Ausdruck brachte: Kunst und Wissenschaft konnten hier – im Sinne einer umfassenden Parteilichkeit – als zwei Seiten ein und derselben Medaille ausgegeben werden: „Vielmehr drückt sich in dieser Gegenüberstellung der wissenschaftlichhistorischen Verallgemeinerung und der dichterisch-subjektiven Gestaltung des Einzelfalls ein überaus fruchtbarer Grundgedanke der Inszenierung aus: Marx und Engels erläutern gewissermaßen Hauptmann, Hauptmann wiederum bestätigt Marx und Engels. Selten entsprach das Kunstmittel des epischen Kommentars so genau dem Wesen des behandelten Gegenstandes.“1117 An dieser „Inszenierungsidee“, so hieß es im Neuen Deutschland weiter, hätte Bertolt Brecht seine „helle Freude gehabt“.1118 Gestalterische Momente dieser Art und die erwähnten Streichungen im Text ließen von Hauptmanns Webern nur das übrig, was für das sozialistische Theater damals – auch vor dem unmittelbaren

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Hofmann, Die Weber in der Volksbühne, in: NaZ (27.10.1957). Keisch, Nährboden, in: ND (27.11.1957). Ebd. Schröter, Die Weber, in: BZ am Abend (01.11.1957). Die Motivation hierfür bezog man aus einer angeblich geänderten Zuschauerhaltung: „Da dem heutigen Publikum die Welt der Herren Dreißiger in all ihrer Selbstbezogenheit, ihrem verlogenen, dummen und eitlen Weltbild näher ist als das Elend der Weberhütten, gibt es hier die stärksten Reaktionen“ (ebd.). H. U. Eylau, Die Welt ist zu verändern. Hauptmanns Weber in der Volksbühne, in: BZ (01.11.1957). Keisch, Nährboden, in: ND (27.11.1957). Ebd.

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Hintergrund des Ungarn-Aufstands – von primärem Interesse war: die „dialektische Wechselwirkung, ohne Rührseligkeit, ohne Zufallscharakter; ein knapper, historisch realer dramatischer Beweis“.1119 Neben der gewünschten historischen Beweisführung im Sinne des Marxismus-Leninismus gelang Kahlers WeberInszenierung darüber hinaus der Beweis dessen, was es am Ende des Formalismusstreits zu beweisen galt: nämlich „die Eignung des realistischen Theaters, auch bei einem nichtsozialistischen Werk als sozialistisches Theater wirken zu können“1120. Zudem wurde der Inszenierung – und letztlich Hauptmann selbst – in einer weiteren Hinsicht Beispielcharakter zugeschrieben: Hauptmanns angeblicher Einsatz für die Sache des Sozialismus wurde in Der Morgen zum Vorbild für die junge Schriftstellergeneration der DDR erklärt: „Dem Beispiel nachzueifern, ist Pflicht jedes echten Talents, und darüber muss man sich im klaren sein, daß diese friedliche Kampfgenossenschaft weder geschickt getarnte Routiniers noch harmlose Dilettanten in ihren Reihen dulden darf.“1121 Angesichts der ideologisierten Inszenierungs- und Wertungstendenz dieser Weber-Inszenierung erscheint der vorsichtige Einwand eines Kritikers der Berliner Zeitung nachvollziehbar, wonach „Hauptmann bisweilen zu kurz“ gekommen sei.1122 In der Retrospektive zeigte selbst Eberhard Hilscher wenig Begeisterung für die Inszenierung: Wie er 1992 eingestand, habe er sich, als er das Stück in der Volksbühne sah, „hochachtungsvoll gelangweilt“1123. Zwiegespalten waren die Reaktionen auf ein weiteres Hauptmann-Stück, das am 22. März 1960 unter der Regie von Erich Alexander Winds an der Volksbühne Premiere feierte. Die Neue Zeit lobte jene Fuhrmann HenschelInszenierung, die einen „sichere[n], harte[n] und feste[n] Griff in die Wirklichkeit“ geboten habe und damit „würdig des Dichters Gerhart Hauptmanns“ gewesen sei.1124 Im Neuen Deutschland fiel die „Beständigkeitsprobe“, die Hauptmanns Weber und Ratten zuvor souverän überstanden, in diesem Falle dagegen „negativ“ aus.1125 Kritisiert wurden das „aufs Kleinbürgerliche beschränkte Milieu“, die „Neigung zu naturalistischen Überdeutlichkeiten“ sowie ideologische 1119 1120 1121

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Hofmann, Die Weber, in: NaZ (27.10.1957). Ebd. Alfred Maderno, Aufschrei der Not. Gerhart Hauptmanns Die Weber in der Volksbühne, in: Der Morgen (29.10.1957). Eylau, Die Welt, in: BZ (01.11.1957). Hilscher, Was bleibt von Gerhart Hauptmann? In: ders., Neue poetische Weltbilder. Sieben Essays, Berlin 1992, S. 7-27, hier: 11. H. U. Eylau, Theater von packender Lebensfülle, in: NZ (25.03.1960). Henryk Keisch, Fuhrmann Henschel noch gültig? Neuinszenierung des Hauptmannschen Werkes in der Volksbühne Berlin, in: ND (30.03.1960).

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Defizite von Hauptmanns Textgrundlage.1126 Schließlich wartete der sozialistisch geschulte Betrachter dieser Inszenierung vergeblich auf eine kritische Darstellung der Handlungszeit als einer „Übergangszeit zur kapitalistischen Großproduktion“1127. Entsprechend wurde im Neuen Deutschland angemerkt, dass in dem gezeigten Bankrott des Hotelbesitzers Siebenhaar und dem gleichzeitigen Aufstieg des Fuhrmann Henschel „kein Standpunkt des Dichters erkennbar“1128 sei. Derartige ideologische ‚Schwächen’ des Fuhrmann Henschel hätten letztlich dazu geführt, dass „sozialkritische Akzente etwas mühsam in das Stück hineininterpretiert werden“ mussten.1129 Dies war etwa in der Ausdeutung der fatalen Beziehung zwischen Henschel und Hanne Schäl der Fall. In deren Darstellung wollte man so eine „Analyse der Ehe unter bürgerlichen Verhältnissen“1130 erkennen. Deshalb sah der Kritiker des Morgen in Fuhrmann Henschel vorrangig eine „Tragödie kleinbürgerlicher Menschen“, die untergehen, weil sie den „neuen, brutaleren kapitalistischen Geschäftsgebaren nicht gewachsen“ seien.1131 Dem Untergang wohnte der sozialistische Betrachter, so hieß es weiter, – aufgrund seiner überlegenen, „geschichtlichen Erkenntnis“ – „ohne Mitleid“ bei.1132 Interessant erscheint an dieser Stelle der gegenläufige Versuch eines Westberliner Kritikers, die in der ostdeutschen Inszenierung erkennbare Aburteilung der westdeutschen Lebenswirklichkeit gemäß der eigenen Sozialismuskritik umzudeuten. Der (westdeutsche) Betrachter gab an, „unwillkürlich an das Schicksal der „Henschels von heute“ erinnert“ worden zu sein, „nur mit dem Unterschied, daß die freien Bauern der Sowjetzone nicht wie ihr Leidensgenosse vor hundert Jahren in eine Schlinge tappen, die eine elementare Zeitenwende legte – die Henschels von heute werden von Paragraphenschlingen der Zwangskollektivierung verstrickt, die am grünen Tisch von Menschengehirnen ausgeheckt wurden …“1133 Das Beispiel zeigt erneut, dass die Inszenierung und begleitende Kommentierung der hier betrachteten Hauptmann-Stücke immer im Kontext eines geschichts- und gesellschaftspolitischen Rahmens zu sehen ist, der bestimmte Lesarten aus systemlogischen Gründen präferierte und andere ausschloss. Die Frage, welche 1126 1127

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Ebd. Heinz Hofmann, Henschel heißt Garbe. Hauptmann in der Volksbühne, in: NaZ (25.03.1960). Keisch, Fuhrmann Henschel, in: ND (30.03.1960). Ebd. Ebd. Funke, Tragödie des Kleinbürgertums, in: Der Morgen (25.03.1960). Ebd. Walter Kaul, Mit fernen Lokpfiffen. Fuhrmann Henschel als Opfer der Industrialisierung, in: Der Kurier (23.03.1960).

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Funktionspotenziale der Stücke jeweils in den Vordergrund gerückt wurden, kann nur sehr bedingt anhand ästhetischer Kategorien beantwortet werden.

3.2.3. Inszenierungen im Kontext des Centenariums Schon bei der Premiere der zuvor besprochenen Fuhrmann HenschelInszenierung an der Volksbühne hatte die Theaterkritik den nahenden 100. Geburtstag Gerhart Hauptmanns im Auge gehabt und deshalb die Frage in den Raum gestellt: „Was hat der Dichter uns noch Gültiges zu sagen?“1134 Eine Frage, die die meisten Theater mit der Inszenierung der bekannten und altbewährten Stücken aus dem Werk Hauptmanns zu beantworten suchten: Die Rezeption im Kontext des Centenariums lässt für die Spielzeit 1962/63 eine Klassiker-Troika, bestehend aus Die Ratten, Die Weber und Der Biberpelz, erkennen, deren Bestandteile nur graduelle Unterschiede in der Bühnenpräsenz aufwiesen: Die Weber wurden in dieser Spielzeit von sechs, Der Biberpelz von vier und Die Ratten von drei DDR-Theatern gespielt. Das – mit wenigen Ausnahmen wie Florian Geyer und Herbert Engelmann – im gewohnten Rahmen des Frühwerks verharrende Spektrum rief unterschiedliche Reaktionen bei Theaterwissenschaftlern, Kulturpolitikern und Theaterkritikern hervor. Einige der Stimmen zu Hauptmann und dem Umgang mit seinem Werk im zeitlichen Umfeld des Centenariums sollen im Folgenden skizziert werden. Wie bereits im Kapitel über die Inszenierung der Jubiläen und Geburtstage Hauptmanns nach 1949 dargestellt,1135 hatten sich ab Sommer 1961 mehrere kulturpolitische Instanzen mit mäßigem Erfolg um die Gründung eines GerhartHauptmann-Komitees der DDR bemüht. Als Vorsitzender des Komitees, das mit erheblichen Start- und Durchsetzungsschwierigkeiten behaftet war, hatte man Alexander Abusch auserkoren. Abusch, der 1958 dem verstorbenen Johannes R. Becher 1958 als Kulturminister nachgefolgt war, bekleidete seit 1961 das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des DDR-Ministerrates. Innerhalb des Ministerrates bildeten Kultur und Erziehung seine primären Ressorts,1136 so dass die Vermittlung des humanistischen Kulturerbes – und damit die Hauptmann-Pflege – für Abusch in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung waren. Die zuvor erwähnte Ansprache, die Abusch während des Festaktes in der Volksbühne (15. November 1134 1135 1136

Keisch, Fuhrmann Henschel, in: ND (30.03.1960). Vgl. S. 102-104. Vgl. Karin Hartewig/ Bernd-Rainer Barth, Alexander Abusch, in: Müller-Enbergs (u.a. Hg.), Wer war wer, Bd. 1, S. 14-16.

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1962) gehalten hatte, bildete die Grundlage eines Aufsatzes, der Anfang 1963 unter dem Titel Größe und Grenzen Gerhart Hauptmanns in der Zeitschrift Sinn und Form erschien. Ein zentrales Charakteristikum von Abuschs Beitrag drückt sich im Anliegen aus, „eine Würdigung Gerhart Hauptmanns unter einem wahrhaft nationalen Aspekt“1137 zu unternehmen. Damit stand nicht primär der Dichter Hauptmann im Mittelpunkt, sondern die nationale Figur mit legitimatorischem Potenzial, das gerade auch vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Teilung ausgeschöpft werden sollte. Es erstaunt daher kaum, dass Abuschs Darstellung zunächst die Anwerbung Hauptmanns auf dem Wiesenstein 1945 in Erinnerung rief – den Moment also, in dem Hauptmann in der Nachkriegszeit erstmals wieder als „eine nationale Gestalt der deutschen Literatur“ gehandelt wurde, „deren Wort in jener Stunde viel bedeutete“.1138 Das Vorgehen Bechers und den Wert Hauptmanns bestätigte Abusch nachträglich, indem er von Hauptmann als dem „größte[n] Dramatiker“ sprach, „den das deutsche Bürgertum um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgebracht“ habe.1139 Hauptmann sei 1945, wenngleich „krank an den Altersstuhl gefesselt“, eine „ehrwürdig große Erscheinung der deutschen Nationalliteratur“ gewesen, „noch zuletzt beseelt von dem Glauben an ein zutiefst sich erneuerndes Deutschland“.1140 Der betont nationale Lobpreis mündete am Ende des Beitrags in eine ausführliche Standortbestimmung der Hauptmann-Rezeption in der DDR. Aufgrund ihrer programmatischen Bedeutung soll sie nachfolgend in Gänze wiederzugeben werden. In der teilweise sermonhaft anmutenden Würdigung Hauptmanns, die dessen ideelle wie geografische Verankerung in der DDR postuliert, sind all jene Grundelemente der Wertschätzung vereinigt, die seit Bechers Wiesenstein-Expedition bis zum Ende der DDR immer wieder laut werden sollten: „Unsere nationale Hauptmann-Ehrung ist Ausdruck der echten Beziehung unseres Volkes und unseres ersten deutschen Volksstaates zu diesem großen literarischen Schöpfer unvergesslicher Gestalten des Volkes. Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause: nicht nur, weil er in Erkner bei Berlin soziale Dramen […] schuf; nicht nur weil in der Hauptstadt unserer Republik die Stätten liegen, von denen er seinen Triumphzug über die Bühnen Deutschlands und der Welt begann; nicht nur, weil die Volksbühne in ihren Ursprüngen verbunden ist mit Gerhart Hauptmann wie mit keinem anderen deutschen Dramatiker – und auch nicht nur, weil Hauptmanns Hiddensee, die meerumschlungene Insel seiner schöpferischen Arbeit und letzten Ruhe, weil Rügen, Putbus und die Insel Vilm, die zur 1137 1138 1139 1140

Abusch, Größe, in: SuF (1963), H. 1, S. 48-61, hier: 48. Ebd. Ebd. Ebd., S. 49.

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Landschaft seiner Dichtungen wurden, in unserer Republik liegen. Gerhart Hauptmann ist uns mehr noch aus einem tiefen geistigen Grund teuer: Das Forschrittlichste und Beste in seinem Werk ist unlöslich verbunden mit dem geschichtlichen Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung zur Führung der Nation, und es zählt zugleich zu den bedeutendsten realistischen Traditionen unserer Nationalliteratur aus der Epoche des Kapitalismus. Gerhart Hauptmann ist uns teuer, weil sich in ihm die edle Überlieferung einer Freundschaft zwischen der deutschen und russischen Literatur und Theaterkunst verkörpert. Und Gerhart Hauptmann ist uns teuer, weil er, schon hochbetagt, in der schwersten Prüfung seines Lebens noch die Kraft aufbrachte, der faschistischen Macht der Finsternis geistig zu widerstehen – und weil er aus seinen düsteren Stimmungen nach dem Untergang Dresdens sich wieder erhob zu dem Blick auf Deutschlands Wiedergeburt. Er zog aus den bittersten Erkenntnissen seines Lebens die Konsequenz, als er am 6. Oktober 1945 Johannes R. Becher die Hand entgegenstreckte mit den Worten: ‚Ich stehe Ihnen zur Verfügung zur demokratischen Erneuerung Deutschlands!’ Er forderte damals, das deutsche Volk müsse künftig ‚ein ganz anderes Volk sein als das, das blind in die Katastrophe ging’. Aus all diesen Gründen hat Gerhart Hauptmann bei uns seine wirkliche und bleibende geistige Heimat, – bei uns, in der Kultur unserer werdenden sozialistischen Gesellschaft. […] So schloß sich der Kreis seines Lebens: er war wieder nahe den Hoffnungen und Träumen seiner Jugend. Es mag ein Sinnbild dafür sein, daß nach seinem Tod ein Offizier der Roten Armee und ein polnischer Gelehrter in Agnetendorf als Erste seiner gedachten – und daß es deutsche Kämpfer für die großen Umwälzungen wie Wilhelm Pieck und Johannes R. Becher waren, die sein Leben würdigten, bevor man ihn am 28. Juli 1946 vor Sonnenaufgang in die geliebte Erde von Hiddensee zur Ruhe bettete. Wir in der Deutschen Demokratischen Republik haben das geschichtliche und moralische Recht, zu sagen: Gerhart Hauptmann ist mit uns, wir sind mit Gerhart Hauptmann, wenn wir für die ganze Nation das Beispiel eines Deutschlands der Humanität und des Friedens schaffen, das die deutsche Zwietracht überwindet, indem es die Schinder und Schaber des Volkes mitten ins Herz trifft – in unseren Tagen und für alle Zeiten. Wir ehren mit der Tat in den großen Umwälzungen unserer Zeit ihn, über dessen Werk und Leben das Wort Maxim Gorkis leuchtet: ‚Gerhart Hauptmann hat nie aufgehört, den Menschen den Glauben an den Sieg der Vernunft und der Schönheit zu verkünden. Groß ist dieses Verdienst um die Menschheit!’“1141 Abusch wandte in seinem Beitrag das gängige Schema der ideologischen Inbesitznahme auf Hauptmann an, mit der die DDR – unter Anwendung des immer gleichen Reklamationsvokabulars – z.B. auch Friedrich Hölderlin,1142 Johann 1141 1142

Ebd., S. 59-61. „Weil sich bei uns das Sozialistische und das Vaterländische im Leben vereinen, ist und bleibt Hölderlin mit uns – und wir sind in der revolutionären Umgestaltung der Welt mit Friedrich Hölderlin, dem ewig jungen Genius deutscher Poesie, dem Dichter der Menschheit“ (Abusch, Hölderlins poetischer Traum von einem Vaterland des Volkes

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Gottlieb Fichte,1143 Alexander von Humboldt,1144 Heinrich Heine1145 und vielen anderen humanistischen Dichtern und Denkern zu Laibe rückte.1146 In die Verortungskette von Besitz, Heimat und Mitstreiterschaft eingeschlossen, bedeutete dies für Hauptmann und seine Beziehung zur DDR, dass er dort zuhause sei, wo er hingehöre – nämlich zu denen, denen er gehört, weil diese als seine „Kampfbzw. Glaubensgenossen“ ausgewiesen werden.1147 Der kämpferische Impetus und die „abgrenzungsstrategische Bedeutung“1148 dieser Anspruchshaltung sind offensichtlich: Gerade vor dem Hintergrund der im Mauerbau eskalierten Systemkonkurrenz dienten derartige Inbesitznahmen kultureller Größen der kulturnationalen Repräsentation, die ebenso den Eigenwert des ostdeutschen Staates betont, wie sie seine weltanschauliche Verbundenheit – vor allem zur Sowjetunion und zur VR Polen – signalisiert. Die Hauptmann-Aneignung fungierte damit als ein Profilierungsmedium der kulturellen Identität der DDR. Vor allen in Hinblick auf die BRD ließ sich über die ideellen Besitztümer und die von ihnen ausgehende Legitimität eine besondere nationale als auch kulturelle Eigenständigkeit rekla-

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[1970], in: ders., Ansichten über einige Klassiker, Berlin [Ost], Weimar 1982, S. 98-117, hier: 117; vgl. hierzu: Dautel, Zur Theorie, S. 138). „Die deutsche Arbeiterklasse mit ihren Verbündeten und ihr Staat, die Deutsche Demokratische Republik, treten bei dieser Fichte-Feier [anlässlich des 200. Geburtstags Fichtes, P. T.] als die einzig legitimen Erben des demokratischen Patriotismus und Humanismus von Johann Gottlieb Fichte vor die ganze Nation hin. Alles, was groß, edel und zukunftsweisend im Denken und Handeln Fichtes war, ist zu einer großen Überlieferung, zu einem zeugenden Beispiel, zu einer geistigen Quelle für die wahrhaft nationale Politik unserer Republik geworden. […] Mögen die politischen Platzhalter des westdeutschen und amerikanischen Monopolkapitals in Bonn darüber Zeter und Mordio schreien, dass wir auch Fichte als einen der geschichtlichen Ahnherren und Wegebahner für den Geist und die Politik in Anspruch nehmen, […] so verkünden wir ums so nachhaltiger diesen geistigen und politischen Anspruch“ (Abusch, Johann Gottlieb Fichte und die Zukunft der Nation [1962], in: ders., Ansichten, S. 118-138, hier: 119 f.) „Was Alexander von Humboldt vorgeahnt und vorgebildet hat, ein neues Deutschland der Humanität, wird in unserer Deutschen Demokratischen Republik verwirklicht, […].So kann unsere Deutsche Demokratische Republik für sich in Anspruch nehmen, auch der legitime Erbe und Verwirklicher der edlen Ideen Alexander von Humboldts und seines Bruders Wilhelm zu sein. […] Dieser Mann, Alexander von Humboldt, und unsere deutsche sozialistische Republik – sie sind miteinander verbunden in einer großen geschichtlichen und geistigen Kontinuität“ (Abusch, Alexander von Humboldt. Gelehrter – Humanist – Freund der Völker [1969], in: ders., Ansichten, S. 139-151, hier: 150 f.). „Wir lieben Heine, weil wir uns als die Verwirklicher seiner Poesie uns seiner politischen Prophetie fühlen.[…] Wir in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik haben das legitime Recht, wie einst Marx und Engels in Heinrich Heine den Unseren zu sehen. Wir leben mit Heine“ (Abusch, Mit Heine leben [1972], in: ders., Ansichten, S. 172-183, hier: 183). Die konkurrenzbezogenen Implikationen derartiger Inbesitznahmen fasste Dautel wie folgt zusammen: „Wir (und nicht sie) sind die legitimen Erben, die rechtmäßigen Besitzer und die wahre Heimat des Beethovenschen, Hölderlinschen oder Heineschen Erbes“ (Dautel, Zur Theorie, S. 142). Zur Schematik der Inbesitznahme vgl. Dautel, Zur Theorie, S. 137-147. Dautel vollzieht hier Abuschs Inbesitznahme Hölderlins im Kontext von dessen 200. Geburtstag 1970 nach, die weitestgehend mit der Inbesitznahme Hauptmanns übereinstimmt. Ebd., S. 140.

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mieren. Darüber hinaus war der Besitzanspruch Ausdruck des eigenen Machtanspruchs und damit des Bewusstseins, selbst der Sieger der Geschichte zu sein.1149 Wie im Titel des Beitrags angekündigt, wollte Abusch trotz dieser nationalstaatlichen Bedeutung Hauptmanns auch die Grenzen seiner symbolischen Strahlkraft ins Gedächtnis rufen. Die Grenzen Hauptmanns – Abusch spricht hier von der „Tragik seines Lebens“1150 – resultierten aus dem Umstand, dass der Dichter zeitlebens Zaungast des Sozialismus geblieben war. Es sei ihm „nicht gegeben [gewesen], sich als Dichter der fortgeschrittensten Weltanschauung seines Zeitalters zu bemächtigen“1151. Weil er nicht vom „Geist der marxistischen Dialektik“ erfasst war, fehlte Hauptmann letztlich die Befähigung, „die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen“.1152 Ein sozialistischer Wermutstropfen, der als Wertminderungsargument bereits Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts von Mehring, Lukács und anderen zur Beurteilung Hauptmanns ins Feld geführt worden war. Diese Grenze Hauptmanns relativierte Abusch jedoch elegant mit dem Hinweis auf die vom Autor und dessen Intentionen und Einstellungen unabhängige Wirkung des Werkes selbst.1153 In dieser Eigendynamik der Werke und ihrer Figuren machte Abusch die eigentliche Bedeutung Hauptmanns und den Grund dafür aus, „warum besonders die Werke des jungen Hauptmann, […], von der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung so verteidigt wurden“1154. Als Beispiel für den von den Intentionen des Autors losgelösten, revolutionären Impetus nannte Abusch u.a. Die Weber, deren Aufführungen zu Zeiten der Weimarer Republik „leidenschaftliche Kundgebungen für die sozialistische Revolution“ gewesen seien.1155 Mit den Webern habe Hauptmann, aus Abuschs Sicht, zudem geholfen, „den sozialistischen Realismus auf der deutschen Bühne vorzubereiten“1156. Zum Inszenierungsfokus im Kontext des Centenariums hieß es weiter: „Von einer Gerhart Hauptmann-Renaissance in unserer Deutschen Demokratischen Republik sprechend, meinen wir, daß sein 100. Geburtstag zu einem Ausgangspunkt werden sollte, im Geiste marxistisch-leninistischer Wissenschaft, das heißt: kritisch-schöpferisch und mit behutsamer Hand, 1149 1150 1151 1152 1153

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Dautel, Zur Theorie, S. 139 f. Ebd., S. 59. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. „Gerhart Hauptmanns Werke erregten und bewegten, mehr als der Dichter selbst es wollte und manchmal sogar verstand, die arbeitenden Menschen in die Richtung sozialistischer Erkenntnisse“ (ebd., S. 49). Ebd. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55.

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das gesamte dichterische Werk Gerhart Hauptmanns zu erschließen und in unsere Kultur des sozialistischen Humanismus zu übernehmen.“1157 Abusch trat also dafür ein, sich in der DDR „nicht allein auf die sogenannten ‚sicheren Theaterstücke’, also auf jene seiner Schöpfungen zu beschränken, die sich unmittelbar mit den sozialen Problemen seines Zeitalters auseinandersetzten“1158. Die nationale Hauptmann-Rezeption sollte nach Abusch vielmehr eine umfassende sein; die Reduktion auf „die Bühnendichtungen seiner frühen Periode“ kommentierte er entsprechend: „So einfach kann man es sich bei der Darstellung der großen literarischen Erscheinung Gerhart Hauptmanns und ihrer komplizierten Entwicklung nicht machen.“1159 Dass sich die Mehrzahl der Theater im Kontext des Centenariums doch für den ‚einfachen Weg’ entschied, entging auch Rolf Rohmer nicht. Rohmer, Lehrstuhlinhaber für „Theorie und Geschichte des Neuen Theaters“ an der Theaterhochschule Hans Otto in Leipzig, gab in seinem Beitrag mit dem Titel „Hauptmanns Dramatik – Heute“ eine gewisse Enttäuschung zu erkennen: Die Centenariums-Spielzeit biete in Hinblick auf Hauptmanns Gesamtwerk nur eine „dürftige Bilanz“.1160 Die sich abzeichnende Klassikerfokussierung im Hauptmann-Oeuvre hielt Rohmer allerdings für „keineswegs zufällig“1161. Auch ging diese Tendenz seiner Ansicht nach „nicht zu Lasten unserer Theater“.1162 Entsprechend verwahrte er sich gegen all jene Kritiker, „die ein Theater nur aus dem äußeren Grund einer Hauptmann-Reprise tadeln und, den Blick auf die ungehobenen vermutlichen Schätze der Hauptmann-Dramatik gerichtet, seine Bemühungen keiner sonderlichen und schöpferischen Auseinandersetzung für wert achten“1163. Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, war diese „auf kühne Neuerungen sinnende Kritik“1164 bei fast allen Centenariums-Aufführungen zugegen. Ihr hielt Rohmer, der die Klassikerfokussierung kanonstrategisch verteidigte, entgegen, dass es ein „Irrtum [sei] zu glauben, die im Spielplan gesicherten Hauptmann-Stücke seien hinsichtlich der dramaturgischen Konzeption oder gar der szenischen Interpreta-

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Ebd., S. 56 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 56. Ebd., S. 54. Rohmer, Hauptmanns Dramatik – Heute. Bemerkungen zu seinen Werken aus den Jahren 1890-1905, Teil 1, in: TdZ, (1962), H. 6, S. 63-71, hier: 63. Ebd. Ebd. Ebd., S. 65. Ebd., S. 64.

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tion auf der Bühne erschöpft“1165. Desgleichen wies Rohmer den Einwand der Kritiker zurück, wonach eine solche Klassiker-Reprise schnell langweile und dann „nur von repräsentativem Interesse“ getragen werde.1166 Anders als Abusch zog Rohmer die Ausweitung der Hauptmann-Rezeption auf die ‚ungesicherten Stücke’ nur im Rahmen „sinnvoller und planmäßiger Experimente“1167 in Erwägung. Zweifelsohne glaubten er und Abusch jeweils im Sinne einer HauptmannPflege unter sozialistischen Vorzeichen zu handeln. Wo Abusch sich im Einklang mit einem umfassenden (kultur-)politischen Machtanspruch für die Aneignung der Gesamtheit des Erbes aussprach, schienen Rohmer die ‚gesicherten Stücke’ ideologisch am nützlichsten zu sein.1168 Nur zu gut kannte Rohmer jene Schwächen und Grenzen von Hauptmanns Werk, die Abusch in seiner Ansprache angedeutet hatte. Womöglich fürchtete der sozialistische Theaterwissenschaftler sogar, dass die verstärkte Rezeption von Hauptmanns weniger bekannten Werken dessen Bedeutung schmälern könnte. Noch war nicht absehbar, dass die Haltung in dieser Frage über die Lebendigkeit der Hauptmann-Rezeption in der DDR entscheiden sollte. Die „Bedächtigkeit“ als Rezeptionsmodus, die Rohmer damals „richtiger und würdiger“ erschien als die Forcierung von Neuerungen, sollte dem Rückgang an Inszenierungen zusätzlich Vorschub leisten.1169 Der Blick in die Spielpläne zu Beginn des Hauptmann-Jahres 1962 macht deutlich, was den Unmut jener Kritiker erregt hatte, die Rohmer abwehren wollte. Gleich der „erste Beitrag, mit dem in Berlin und in der Republik in diesem Jahre Gerhart Hauptmanns 100. Geburtstag gewürdigt und gefeiert“1170 wurde, bestand in der Aufführung des wohl gesichertsten Hauptmann-Stücks schlechthin: am 23. Januar 1962 feierte der „unverwüstliche Biberpelz“1171 Premiere in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Die Wahl dieser „längst zum klassischen Repertoire gehörenden Diebskomödie“1172 überraschte manchen Kritiker.1173 Dass von 1165 1166 1167 1168

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 65. „Man erwartet von ihnen [d.h. den Theatern, P. T.] realistische HauptmannAufführungen zur sozialistischen Aktivierung unseres werktätigen Publikums, neue, vollkommene Kunstwerke also auf der Grundlage literarischer Vorlagen, deren ideelle und ästhetische Problematik heute niemand mehr bezweifelt“ (ebd.). Ebd., S. 64. Myriam Sello-Christian, Beitrag zum Hauptmann-Jahr. Gespräch mit Ernst Kahler während der Proben zum Biberpelz, in: BZ (18.01.1962). Günther Bellmann, Waschfrau kontra Amtsvorsteher. Der Biberpelz von Gerhart Hauptmann in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, in: BZ am Abend (24.01.1962). Rainer Kerndl, Konventionell. Hauptmanns Biberpelz im Deutschen Theater [Zeitungsausschnitt aus der Kritikensammlung des ThA des DT, ohne weitere Angaben]. Der Regisseur Ernst Kahler, der nach einer „fast historisch zu nennenden Folge guter Biberpelz-Inszenierungen“ selbst nicht davon ausging, „etwas völlig ‚Neues’ auf die Beine

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Hauptmanns „noch längst nicht völlig für unsere Gegenwart erschlossenen 42 Bühnenwerken ausgerechnet das gerade hier in Berlin so oft genossene, todsichere Erfolgsstück gekürt worden“ ist, wurde mit „Schade“ kommentiert.1174 „Spielplanpolitik in ausgefahrenen Gleisen“1175 witterte man in Der Morgen, planmäßige Einfallslosigkeit unterstellte die National-Zeitung,1176 deren Kritiker die Biberpelz-Inszenierung als Symptom einer mutlosen, im konventionellen Klassiker-Kanon verharrenden Erbe-Aneignung sah: „Im Berliner Theaterleben scheint sich eine Art Tradition zu entwickeln, wonach man die Dramatiker der Vergangenheit anläßlich „runder“ Geburts- und Todestage am besten mit ihrem meistgespielten Stück zu ehren glaubt. Zum Kleist-Gedenken 1961 sah man hier einzig und allein den Zerbrochenen Krug, […]. Jetzt hat kaum das Jahr begonnen, in dem Gerhart Hauptmann hundert Jahre alt würde, und schon steht Der Biberpelz auf dem Spielplan der Kammerspiele.“1177 Der „tiefere Sinn“ solcher Gedenkjahre, so der Kritiker weiter, müsste allerdings gerade in der Überprüfung dessen liegen, „inwieweit das Werk des zu Ehrenden schon in der größtmöglichen Vollständigkeit für uns erschlossen ist“.1178 Diese Zielstellung solle dabei von einem Rezeptionsverhalten bestimmt werden, das wie eine „Ehe von Entdeckerfreude und wissenschaftlicher Konzeption“ funktioniert.1179 Eine solche Herangehensweise könnte laut National-Zeitung eine „echte Neu- oder Wiedergeburt eines zu Unrecht gemiedenen Werkes“1180 hervorbringen. In ähnlicher Weise wollte man in der Neuen Zeit das Centenarium verstanden wissen, nämlich als Gelegenheit, „unser Hauptmann-Bild zu überprüfen“1181. Das zentrale Anliegen müsse folglich darin bestehen, Hauptmann „den richtigen Platz anzuweisen“ zwischen „maßlose[r] Bewunderung“ und der „Stille um einen von der Zeit schon zu Lebzeiten überholten und nun ganz in eine nicht mehr le-

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stellen zu können“, hatte auf die Frage nach dem Warum nur eine fragwürdigpragmatische Antwort parat: „Wir meinen, daß der Biberpelz eines der besten Stücke Gerhart Hauptmanns ist. Es scheint mir sein geschlossenstes Kunstwerk zu sein und darüber hinaus eine der wenigen deutschen Komödien von Weltniveau im literarischen Maßstab. Und als Theaterpraktiker möchte ich noch hinzufügen: Wir können den Biberpelz gut und richtig besetzen!“ (Sello-Christian, Beitrag, in: BZ [18.01.1962]). Bellmann, Waschfrau, in: BZ am Abend (24.01.1962) Manfred Haedler, Panoptikum des Kaiserreichs. Hauptmanns Diebskomödie Biberpelz in den Kammerspielen, in: Der Morgen (26.01.1962). -ler, Hauptmann-Jahr? – Also Biberpelz! … dachte das Deutsche Theater und inszenierte die Diebskomödie, in: NaZ (27.01.1962). Ebd. Ebd. -ler, Hauptmann-Jahr? In: NaZ (27.01.1962). Ebd. H. U., Zeitkritik im Gewand der Satire. Gerhart Hauptmanns Diebskomödie Der Biberpelz in den Kammerspielen, in: NZ, Nr. 22 (26.01.1962).

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bendige Vergangenheit verwiesenen Dichter“.1182 Die von Rohmer so massiv angefeindete Haltung brachte eine Karikatur auf den Punkt die einer anderen Theaterkritik beigegeben war: Sie zeigt einen Mann, der einen Pelz aus einer Art Schatztruhe hervorholt. Doch die Freude über das Geborgene ist getrübt: Der Pelz ist alt und löchrig, umschwärmt nur von Motten und Fliegen. Nicht nur der Mann aus der Karikatur, auch der Kritiker rümpfte die Nase: Zwar sei die Aufführung „korrekt und ordentlich“1183 gewesen, die Erwartungshaltung konnte Der Biberpelz der Kammerspiele jedoch nicht erfüllen: Statt einer „neue[n] und interessante[n] Deutung“, die man gerade von jenem Theater glaubte erwarten zu dürfen, das „Hauptmann seinerzeit ein zweites Zuhause“ gewesen war, erlebte das Publikum aus Sicht dieses Kritikers nur den Griff in die Mottenkiste: „Denn wenn schon das Deutsche Theater aus der umfangreichen dramatischen Hinterlassenschaft Gerhart Hauptmanns den ‚totsicheren Biberpelz’ wählte, wäre es schön gewesen, mehr als Konvention zu bieten.“1184 Ungeachtet der skizzierten Kritik war die Inszenierung, obwohl – oder gerade weil – sie unter dem „Motto ‚Keine Experimente’“ zu stehen schien, „fast selbstverständlich“ erfolgreich.1185 Das vom Hauptmann-Jahr erhoffte „neue, kritisch liebende Verständnis des Dichters“1186 blieb zumindest diese Inszenierung schuldig. Mit der Wertung der nächsten zu erwähnenden CentenariumsInszenierung taten sich sowohl Theaterkritiker als auch -wissenschaftler schwer: Es handelte sich um eine weitere Hauptmann-Inszenierung der Volksbühne am Luxemburgplatz, die sich eines Stückes annahm – dies hätte auf Abwechslung bedachte Kritiker freuen müssen –, das in der DDR bisher ein Schattendasein gefristet hatte: Am 6. Oktober 1962 feierte Florian Geyer an der Volksbühne Premiere. Die Inszenierung wurde daraufhin zu einem wesentlichen Bestandteil der „Festwoche“ (14. – 21. November 1962),1187 die aus Anlass des Centenariums in 1182 1183 1184

1185 1186 1187

Ebd. Kerndl, Konventionell. Ebd. Mit einer ungeschriebenen Konvention brach die Biberpelz-Inszenierung der Kammerspiele indessen: Wurde die resolut-bärbeißige Mutter Wolffen, ihres Zeichens Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, bisher nur von „Fünfzigerinnen“ (Sello-Christian, Beitrag, in: BZ [18.01.1962]) gespielt, so erfuhr die Figur durch die damals siebenunddreißigjährige Gisela May, die noch im gleichen Jahr zum BE wechselte, eine unerwartete Verjüngung – was laut einer Kritik allerdings „typenmäßig doch nicht sehr glücklich besetzt“ zu sein schien (Gersch, Der Biberpelz, in: Tribüne [27.01.1962]). Bellmann, Waschfrau, in: BZ am Abend (24.01.1962) H. U., Zeitkritik, in: NZ, Nr. 22 (26.01.1962). Die Hauptmann-Tage der Volksbühne waren Teil der Berliner Festtage, die seit 1956 als Pendant der Berliner Festwochen gefeiert wurden, die 1951 vom Westberliner Bürgermeister Ernst Reuter initiiert worden waren. „Seit der radikalen Absperrungsmaßnah-

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Ostberlin veranstaltet wurde: Drei der insgesamt neun Theateraufführungen im Rahmen der Festwoche zeigten Florian Geyer.1188 Das Bauernkriegsdrama, das als „zwiespältig“ und „widerspruchsvoll“ eingestuft wurde,1189 sollte allerdings nur eine begrenzte Wirkung entfalten: Obschon das Stück, das der österreichische Essayist Jean Améry als „das deutsche Nationaldrama schlechthin“1190 bezeichnet hatte, gerade durch den Mauerbau eine besondere Brisanz besaß, wurde das Stück damals nur an der Volksbühne gezeigt und verschwand, nachdem dort der letzte Vorhang am 31. Juli 1963 gefallen war, für immer von den DDR-Bühnen. Dem zwiespältigen Verhältnis der DDR zu Florian Geyer sowie insbesondere den ideologisch problematischen Implikationen des Stücks gilt es im Folgenden nachzuspüren. Die

Hauptursache

dafür,

dass

Florian

Geyer

aus

marxistisch-

leninistischer Sicht eines der „problematischsten Stücke Gerhart Hauptmanns“1191 war, bildete – so Rohmer – seine „historisch falsche Konzeption“1192. Dass die Repertoireentscheidung der Volksbühne deshalb keine einfache gewesen zu sein scheint, geht aus dem Programmheft1193 zur Inszenierung hervor. Dort findet sich der Abdruck eines Interviews mit dem Regisseur und Intendanten der Volksbühne, Wolfgang Heinz. Gleich die erste Frage an Heinz wollte diese Grundproblematik bestätigt wissen, wonach Florian Geyer „doch nach verbreiteter Auffassung den Kreis der als ‚sicher’ angenommenen Werke dieses Autors [überschreitet]“1194. Heinz parierte den Einwand mit dem Hinweis, dass es sich bei dem Stück um „eine große revolutionäre Dichtung“ handle, die man gerade auch deswegen ausgewählt habe, weil sie „einem Hauptanliegen der Volksbühne“ entspreche.1195 Schließlich plante man dort in den Folgejahren „die bedeutendsten Revolutionsstücke der Weltdramatik“ aufzuführen – wozu Heinz also auch Florian

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men“ 1961 jedoch, so die Bonner Theater-Rundschau, hätten die Berliner Festtage, „freilich ihre Geltung als Konkurrenzunternehmen dem Westen gegenüber endgültig eingebüßt“. Die Berliner Festtage würden seither nur noch, so heißt es weiter, „ein von oben her geduldetes Gemisch aus Tradition und Agitation“ bieten (Ethel Schwirten, in: Theaterrundschau [Bonn, Februar 1963]). Vgl. Abb. 9 im Anhang, S. 293. H. U., Der schwarze Ritter aus dem Bauernkrieg. Gerhart Hauptmanns Florian Geyer in der Volksbühne, in: NZ (10.10.1962). Jean Améry, Gerhart Hauptmann. Der ewige Deutsche, Mühlacker 1963, S. 55 f. W. G., Florian Geyer. Ein Beitrag der Berliner Volksbühne zum Gerhart-HauptmannJahr, in: Tribüne (20.10.1962). Rohmer, Hauptmanns Dramatik – Heute. Teil 1, in: TdZ, (1962), H. 6, S. 63-71, hier: 69. Vgl. Abb. 8 im Anhang, S. 292. Florian Geyer – Heute und Hier. Gespräch mit dem Regisseur, in: Programmheft der Volksbühne am Luxemburgplatz, Spielzeit 1962/63, Redaktion Fritz Marquardt (Dramaturg) u.a., S. 4-6, hier: 4 (Inszenierungsmappe zu Florian Geyer ThA Volksbühne Berlin). Ebd.

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Geyer rechnen wollte.1196 Doch ließ der Interviewer nicht locker und sprach die augenfällige „Merkwürdigkeit“ des Stücks direkt an, die darin bestand, „einen Ritter, der Florian Geyer doch war, als Helden eines Stücks über den Bauernkrieg zu sehen“.1197 Damit stand das Herzstück des vermeintlichen Konzeptionsfehlers erneut zur Diskussion. Schon Marx und Engels hatten 1858 das von Ferdinand Lassalle analog konzipierte Bauernkriegsdrama Franz von Sickingen aufgrund eben jener klassenunsensiblen „Fehlbesetzung“ der Hauptfigur verrissen. Dementsprechend hatte Franz Mehring, dessen Einwände z.Z. der Inszenierung an der Volksbühne wieder in Erinnerung gerufen wurden,1198 Hauptmanns Florian Geyer nach der Uraufführung 1896 kritisiert. Schließlich habe Hauptmann – der Meinung schlossen sich Hans Mayer und Rolf Rohmer später an1199 – den „Fehler von Lassalle wiederholt“1200. Trotz der die Einwände antizipierenden Erklärungsversuche im Programmheft ließ Heinz’ Florian Geyer diese auf eingetretenen sozialistischen Wegen wandelnde Kritik wieder aufleben. In der Zeitschrift Sonntag unterstellte man Hauptmann sogar eine „makabre Sicht auf die revolutionäre Erhebung“1201. Dabei hatte sich Heinz alle Mühe gegeben, so viele ideologische Klippen wie möglich zu umschiffen und seine Inszenierung damit zu einem „aktivierenden Erlebnis für unsere Zuschauer werden zu lassen“1202: Zu den ideologisch korrigierenden Maßnahmen gehörten z.B. die „Reinigung von Naturalismen und Historizismen“ sowie eine „straffere Handlungsführung“.1203 Außerdem sah sich Heinz „nicht nur veranlaßt, die Position der Bauern im Stück zu heben, sondern auch alle Beziehungen zum Unternehmen der Hutten und Sickingen zu eliminieren“.1204 Hierzu glaubte er, „[a]uf Grund der geschichtlichen Tatsachen“, „die Berechtigung zu haben“.1205 Eine Maßnahme, durch die – so war im Neuen 1196 1197 1198

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Ebd. Ebd. Vgl. z.B. Rolf-Dieter Eichler, Florian Geyer in neuem Licht. Wolfgang Heinz inszenierte Hauptmanns Bauernkriegsdrama an der Volksbühne, in: NaZ (09.10.1962); Willi Köhler, Der historischen Wahrheit gedient. Wolfgang Heinz inszenierte Hauptmanns Florian Geyer in der Berliner Volksbühne, in: ND (10.10.1962). „Das Wesen der Bauernbewegung und die Tragik ihrer plebejischen Führer erfasst der Dichter nicht. Auch macht er fälschlich einen zu den Bauern übergelaufenen Ritter zum Helden in den geschichtlichen Ereignissen“ (Rohmer, Hauptmanns Dramatik – Heute. Teil 1, in: TdZ, [1962], H. 6, S. 63-71, hier: 69). Zit. nach: Marquardt, Einführung in Gerhart Hauptmanns Florian Geyer (14.06.1962), S. 5 (Inszenierungsmappe zu Florian Geyer, ThA Volksbühne Berlin). Gerhard Ebert, „… allen Schindern des Volkes mitten ins Herz!“, in: Sonntag (o. Datum). Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 4-6, hier: S. 5. Im Westen wurden diese Maßnahmen als Versuch gewertet, „den historischen ‚reaktionären’ Akzent [zu] verwischen“1202 (Ethel Schwirten, in: Theaterrundschau [Bonn, Februar 1963]). Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 5 f. Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 4-6, hier: S. 5.

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Deutschland zu lesen – „die historische Wahrheit deutlicher herausgestellt“ und dem Zuschauer „das Verstehen der historischen Zusammenhänge“ erleichtert worden sei.1206 Der Geschichtsklitterung nicht genug, wurde zudem behauptet, dass dieses Vorgehen „gleichzeitig dem ursprünglich demokratischen Anliegen des Dichters [diene]“.1207 Der Kritiker der Berliner Zeitung sah in der veränderten Figurenwertung sogar eine angebrachte Fehlerkorrektur: „Vor allem ist das Volk positiver, kämpferischer gezeigt. Das heißt: richtiger. Es ist eine wesentliche Verbesserung, eine Verlegung der Schwerpunkte, die das Höchstmögliche auf die Bühne bringt – und dabei eben doch Gerhart Hauptmann bleibt.“1208 Den entscheidenden Eingriff erlebte jedoch die Figur des Florian Geyer selbst: In Anlehnung an Engels Interpretation der historischen Figur sollte der Ritter als ein „Mensch“ gezeigt werden, „der seine reaktionäre Klasse ganz verlassen hat und zu einem Führer der fortschrittlichsten Gruppierung seiner Zeit geworden ist“.1209 Damit funktionierte Heinz den Ritter Geyer in eine „volkstümliche Heldengestalt“1210 um, die der Intension nach ideologiekompatibel wirken sollte. Die Figur trat auf als ein „Vollstrecker des Volkswillens“1211, in dem das „leidenschaftliche Feuer revolutionären Geistes“1212 brennt. Eine Maßnahme, die – unter gegenläufigen Vorzeichen – Brechts Abwertung der Figur der Mutter Wolffen in nichts nachstand. Heinz versuchte sogar, die ‚political correctness’ des Florian Geyer über einen Brückenschlag vom Bauernkrieg in die damalige DDR zu demonstrieren. So sei der Florian Geyer der Volksbühne ein Kämpfer für die Einheit Deutschlands, „eine Einheit, die gleiches Recht für alle bedeutet, eine Einheit mit revolutionärem Vorzeichen, wie sie uns heute das Nationale Dokument begreifen lässt“.1213 Gemeint war damit das im März 1962 veröffentlichte Nationale Dokument, das eigentlich den Titel Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zu1206

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Willi Köhler, Der historischen Wahrheit gedient. Wolfgang Heinz inszenierte Hauptmanns Florian Geyer in der Berliner Volksbühne, in: ND (10.10.1962). Ebd. Pollatschek, Florian Geyer. Gerhart-Hauptmann-Premiere in der Volksbühne, in: BZ (09.10.1962). Marquardt, Einführung in Gerhart Hauptmanns Florian Geyer (14.06.1962), S. 5. Gerhard Piens, Aufführungen zum Gerhart-Hauptmann-Jahr [I]. Wichtige Premieren in Rostock, Dessau und Berlin, in: TdZ, 17 (1962), H. 11, S.13-17, fortgeführt von Horst Gebhardt und Eva Zopf, Aufführungen zum Gerhart-Hauptmann-Jahr [II]. Kleine Stücke’ in Cottbus, Rostock und Brandenburg, in: ebd., Nr. 12, S. 14-17. Heinz sah in Geyer somit einen Mann, der „nicht mehr sein [will] als ein Bauer, allerdings ein freier“ – und fügte hinzu: „das zu betonen ist unser Anliegen“ (Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 4-6, hier: 5). Ebert, „… allen Schindern des Volkes mitten ins Herz!“, in: Sonntag (o. Datum). Ebd. Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 4-6, hier: 5.

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kunft Deutschlands trug. Dieser Text war Ulbrichts Versuch, den durch den Mauerbau de facto entstandenen Widerspruch zwischen der Realität und der SEDSemantik einer gesamtdeutschen Einheit aufzuheben. Die Abkapselung – und damit der Bruch des Einheitsanspruchs – wurde hier mit der Rückständigkeit der Gegenseite erklärt.1214 Heinz vollzog diesen deutschlandpolitischen Spagat Ulbrichts mit, indem er die Argumentationsweise des Nationalen Dokuments zur Erklärung seiner Florian Geyer-Inszenierung aufgriff: Er konstruierte eine Kontinuität der Differenz zwischen einem rechtmäßigen und einem unrechtmäßigen deutschen Staat und postulierte die Dichotomie von Reaktion und Forschritt, die vom Bauernkrieg bis in die Gegenwart wirke. Florian Geyer wurde zum Vorkämpfer sozialistischer Einheitsbestrebungen aufgewertet, die in Anbetracht des „Gegners“ nur durch Einigkeit in der Isolation zu realisieren seien: „Wie aus der Uneinigkeit – neben objektiven Umständen – diese gewaltige Erhebung [i.e. der Freiheitskampf der Bauern P. T.] Schiffbruch erlitten hat, soll uns vor Augen führen, wie wichtig für uns die Einigkeit ist. Und das Verhalten der siegreichen Reaktion zeigt uns auf der anderen Seite, daß sie schon damals nicht das Recht hatte, im Namen Deutschlands zu sprechen und zu handeln. Diese Lehren durch Erschütterung und Miterleben mit den Helden des Dramas dem Zuschauer zu vermitteln, ist die besondere und eigene Art unserer Kunst. Wir hoffen, daß unsere Aufführung der Hauptmannschen Dichtung das bewirken wird.“1215 In der Tat zeigte die Argumentation Wirkung: In Der Morgen wurde das Stück entsprechend als „ein großes Spiel aus unserer Geschichte“ bezeichnet, „das hochbedeutsam für unsere Gegenwart“ sei.1216 Auch in der Berliner Zeitung zeigte man sich beeindruckt von der „unerhört aktuelle[n] Aussage, daß nur in der Beseitigung der ‚Schinder und Schaber’, nur in der Kraft der jahrhundertelang Unterdrückten die Nation erblühen und wachsen“ könne.1217 1214

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„Die Deutsche Demokratische Republik würde sich am deutschen Volk und seiner Zukunft versündigen, wenn sie sich bei der Erfüllung ihrer historischen Mission von der Entwicklung der Klassenkämpfe und dem Tempo des Verfalls der kapitalistischimperialistischen Herrschaft in Westdeutschland abhängig machen wollte“ (Nationales Dokument. Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands [25.03.1962], zit. nach: Hermann Weber [Hg.], DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1985, 3. Auflage München 1986, S. 265 f.). Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 4-6, hier: 6. Christoph Funke, Auf „Unser Frauen Berg“. Bei einer Probe zu Hauptmanns Florian Geyer in der Volksbühne erlauscht, in: Der Morgen (30.09.1962). Pollatschek, Florian Geyer, in: BZ (09.10.1962). Assoziationen an düstere Momente der jüngsten Geschichte weckte das dargestellte Treiben der Junker, die Repräsentanten der Reaktion. In ihnen wollte man im Neuen Deutschland eine Vorahnung des NS erkennen: „Man hört am Ende des Vorspiels aus dem ‚Her, her’ der Junker das Heilgeschrei der braunen Kohorten heraus und sieht in den Mißhandlungen der Bauern, wie die Grausamkeiten des Faschismus hier schon vorgezeichnet waren“ (Köhler, Der historischen Wahrheit gedient, in: ND [10.10.1962]). Diese „Peinigung der Bauern durch die Ritter“ habe,

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Bei der letzten Florian Geyer-Inszenierung in der DDR handelte es sich um eine Rezeptionsleistung mit einschneidenden Änderungen der ursprünglichen Textgrundlage, die dennoch den Anspruch erhob – und darin Anerkennung fand –, im Sinne Hauptmanns zu sein. Das Ergebnis war, so Herbert Ihering, eine „harte, konzessionslose Darstellung des Bauernkrieges“1218. Die damit erreichte Eigenschaft „zielklarer Parteilichkeit“1219 hätte aus Sicht Rohmers sogar noch gravierendere Eingriffe gerechtfertigt.1220 Dass Hauptmanns Florian Geyer trotz aller Umarbeitungsmaßnahmen in der DDR aber nie zu einem ‚sicheren’ Stück wurde, war für einige Kritiker schon 1962 erkennbar.1221 So galt für die Zeit nach der Florian Geyer-Inszenierung der Volksbühne, was Hilscher 1987 feststellte: Nämlich, dass „Hauptmanns Florian Geyer nicht nur am Schluß des Stückes tot ist, sondern inzwischen, wie es aussieht, zugleich theatergeschichtlich“1222. Das Stück, das um die Einheit der Deutschen und die Notwendigkeit, diese mit allen Mitteln durchzusetzen, kreiste, wurde nach dem erwähnten letzten Vorhang – wie die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung – DDR-weit ad acta gelegt. Auch zeigt sich wieder einmal, dass Theaterstücke durchaus sozial- bzw. kulturpolitisch altern können: In den ersten Jahren nach dem Krieg, in denen der Ver-

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so war auch in der Berliner Zeitung zu lesen, „mit Recht und ohne falsche Aktualisierung“ „Erinnerungen an die Menschenjagd der Nazifaschisten“ geweckt (Pollatschek, Florian Geyer, in: BZ (09.10.1962). Dabei ging es Heinz selbst, wie dieser klar stellte, „prinzipiell […] nicht um eine ‚Aktualisierung’“ des Florian Geyer; vielmehr sei ihm an der „Verdeutlichung der historischen Gesetzmäßigkeit“ gelegen gewesen, zumal diese „bis in die Gegenwart wirk[e]“ (Florian Geyer, in: Programmheft der Volksbühne, S. 46, hier: S. 5). Ihering, Das Theater stirbt nicht, in: Die andere Zeitung (18.10.1962). Pollatschek, Florian Geyer, in: BZ (09.10.1962). Nach Rohmer müsste die Handlung eines ideologisch überarbeiteten Florian Geyer „auf die Forderung der Bauern Bezug nehmen und sie als Maßstab für die Taten der Personen durchsetzen. […] Die eigentliche Problematik dürfte demnach im selbstverschuldeten Zerfall mit der viel größeren Sache der Bauern […] zu suchen sein. Das Scheitern der Geyerschen Unternehmung, […], wäre dann auf das Versagen der Städte und auf das klassenbedingte Missverständnis in Geyers Anliegen zurückzuführen, das ihn an einem Begreifen und Sicheinordnen in dem bauerlichen Kampf hindert. Gewiß bedarf es dazu bäuerlicher Gegenspieler, die man bei dem großen Reichtum an Personen in der Bearbeitung leicht schaffen könnte. Freilich wäre das Stück dann nicht mehr das, was es zu sein unrechtmäßig beanspruchte: die Tragödie des Bauernkriegs. Der Untergang Geyers entbehrte sicher sogar der Tragik. Aber in der Geschichte seines Wollens, Irrtums und Untergangs wäre die historische Gerechtigkeit wieder hergestellt“ (Rohmer, Hauptmanns Dramatik – Heute. Teil 1, in: TdZ, [1962], H. 6, S. 63-71, hier: 69). „Die Aufführung ist großartig. Aber sie vermag die Zeit, […], nicht zu besiegen. Florian Geyer scheint doch zu dem in Hauptmanns Werk zu gehören, das immer mehr in die Vergangenheit als ein Vergangenes versinkt“ (Pollatschek, Florian Geyer, in: BZ [09.10.1962]). Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier: 8 (nochmals in: Kuczyński [Hg.], Gerhart Hauptmann, S. 88-107, hier: 92). In der BRD hatte Florian Geyer immerhin 14 Inszenierungen erfahren, die Prognose Karl Haenischs von 1922, wonach „die Zeit bald kommen wird, in der das deutsche Volk Florian Geyer, […], besser zu würdigen wissen wird als heute“, hatte sich somit auch dort nicht wirklich bewahrheitet (Haenisch, Gerhart Hauptmann und das deutsche Volk, S. 138).

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teidigung des Einheitsanspruchs noch zentrale Bedeutung beigemessen wurde, war die Daseinsberechtigung von Hauptmanns Florian Geyer an ostdeutschen Theatern einst unumstritten gewesen.1223 So hatte selbst der Mitteldeutsche Rundfunk in Leipzig 1949 und 1950 Florian Geyer-Aufführungen übertragen. Die weitgehende Erstarrung der deutsch-deutschen Verhältnisse nach dem Mauerbau zeitigte im Falle des Bauernkriegsdrama trotz aller Umdeutungsbemühungen einmal mehr spielplanbezogene Effekte, die es aus dem Ensemble spielbarer Stücke ausgrenzte. Ein weiteres ‚ungesichertes’ Hauptmann-Stück mit besonderer Rezeptionsgeschichte der Centenariums-Spielzeit war Herbert Engelmann – eine Mischung aus Kriminal- und Heimkehrerdrama. Das unvollendete Stück1224 feierte unter der Regie Franz Krügers am Vorabend von Hauptmanns 100. Geburtstag im Theater Putbus seine Uraufführung. In keinem anderen Stück bewies Hauptmann eine tiefere Erkenntnis von der individualitätsvernichtenden Wirkung des Krieges als in diesem Drama,1225 das zeigt, wie ein traumatisierter Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg an der gesellschaftlichen Normalität scheitert. Indem Herbert Engelmann die „soziale Auflösung des Nachkriegs“1226 im Schicksal des seelisch versehrten Heimkehrers Engelmann thematisierte, besaß das Fragment eine aufrüttelnde Wirkung als Antikriegsstück. Auch aus diesem Grund befürwortete der DDR-Hauptmann-Experte Gustav Erdmann die durchaus riskante Entscheidung des Theaters Putbus, Hauptmanns unvollendetes Original zur Aufführung zu bringen. Da man in Putbus allerdings, so Erdmann, die „richtige[n] Akzente“ gesetzt hatte, „gelang das Wagnis“:1227 Die Inszenierung Krügers, die „bis ins letzte sauber durchgefeilt“1228 war, setzte auf absolute Werktreue als Rezeptionsprinzip. Dass die Aufführung „nichts hinzutat oder hineininterpretierte“, wurde von konservativen Kritikern wie Erdmann besonders positiv vermerkt.1229 Eine Einstel1223

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Florian Geyer wurde damals von folgenden Theatern gespielt: Stadttheater Zwickau (Spielzeit 1946/47), Städtische Bühnen Erfurt (Spielzeit 1948/49), Theater am Schiffbauerdamm (Spielzeit 1949/50), Städtische Bühnen Leipzig (Spielzeit 1950/51 – 1952/53), Volkstheater Rostock (Spielzeit 1951/52). Hauptmann, der 1926 mit der Abfassung des Herbert Engelmann begonnen hatte, wandte sich dem Werk während des Zweiten Weltkriegs erneut zu. Im September 1941 soll er Behl gegenüber geäußert haben, dass er „auch noch die letzte Hand an das Stück legen“ müsste, was allerdings nie geschah (Erdmann, Im Schatten der Vergangenheit. Herbert Engelmann in Putbus uraufgeführt [1962], in: ders., Der bekannte, S. 57). Vgl. ebd. Oberembt, Medusengrauen, Sprachkrise und psychogene Melancholie. Gerhart Hauptmanns Berlin- und Heimkehrerdrama Herbert Engelmann im Schnittpunkt der Décadence und Psychoanalyse, in: Sprengel/ Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 99-147, hier: 112. Erdmann, Im Schatten, in: ders., Der bekannte, S. 57 f. Ebd. Ebd.

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lung, die Hans Bentzien, Abuschs Nachfolger im Amt des Kulturministers, zu teilen schien. Bentzien, der bei der Putbuser Premiere zugegen war, soll jene Uraufführung sogar als „den bedeutendsten Beitrag der Republik in diesem Gedenkjahr“1230 bezeichnet haben. Dass diese erste DDR-Inszenierung des Herbert Engelmann allerdings nur ein „geringe[s] Echo“1231 erzielte, mag als weiterer Hinweis dafür gewertet werden, wie sehr man sich in der DDR bereits auf die ‚gesicherten’ Stücke Hauptmanns eingestellt hatte. Die Hauptmann-Klassiker, die die Aufführungen im Kontext des Centenariums dominiert hatten, sollten weiterhin die Hauptmann-Rezeption auf DDR-Bühnen prägen. Weniger bekannte Stücke blieben experimentelle Ausnahmen – wie Herbert Engelmann, der, nachdem am 30. Juni 1963 im Theater Putbus der letzte Vorhang gefallen war, erst Anfang der 1980er Jahre erneut gespielt wurde. Wie gezeigt, wurde zur Würdigung des Centenariums in der DDR ein wahres Theaterfeuerwerk aufgeboten, das sich – trotz der Dominanz der Hauptmann-Klassiker – durch eine einmalige Bandbreite an Stücken auszeichnete. Nach diesem Höhepunkt setzte ein Abwärtstrend in der Hauptmann-Rezeption ein, der von Desinteresse einerseits und Unsicherheit andererseits geleitet war. Die auf die grundlegendere Frage des angemessenen und gleichzeitig zeitgemäßen Umgangs mit dem Kulturerbe zurückgehende Entwicklung spiegelte sich z.B. in der Problemstellung, die der tschechoslowakische Literaturwissenschaftler Pavel Petr 1964 formulierte. Unter Bezugnahme auf Lenins Theorie von der Aneignung des Kulturerbes der vorsozialistischen Zeit suchte Petr nach Anhaltspunkten dafür, wie eine „positive Rezeption“1232 des Vergangenen in der Gegenwart aussehen sollte: „Soll man diese Forderung Lenins so deuten, dass bei Hauptmann die eine Komponente hervorzuheben, die andere, heute weniger lebendige und weniger nützliche Komponente dagegen zu unterdrücken ist? Soll man sich von der unmittelbaren Nützlichkeit leiten lassen oder lieber ein objektiv wahres, ein nicht verzerrtes Hauptmann-Bild anstreben? [...] Was ist an Hauptmanns Schaffen das Beste im Leninschen Sinne?“1233 Neben der Mitte der 1960er Jahre zunehmenden Unsicherheit im Umgang mit dem literarischen Kulturerbe im Allgemeinen und Hauptmann im Besonderen beschreibt Petrs Beitrag die Grundproblematik einer zwischen Rekonstruktion und 1230

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Walter Neitzel, Manch Schauspieler-Karriere begann hier, in: Ostseezeitung (14.01.1963), zit. nach: Zappel/ Hüther, Gerhart Hauptmann, S. 45. Oberembt, Medusengrauen, in: Sprengel/ Kuczyński (Hg.), Gerhart Hauptmann, S. 99147, hier: 100. Petr, Gerhart Hauptmanns Werke heute, in: PhP, (1964), H. 7, S. 268. Ebd., S. 261.

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Reaktualisierung mäandrierenden Rezeptionsstrategie, die sich neben Fragen wissenschaftlicher Heuristik immer auch einer politischen Adressierung – und nicht zuletzt der Forderung nach Nützlichkeit – ausgesetzt sah.1234 Diese Problematik sollte sich in der Folgezeit weiter verschärfen.

3.3.

1965-1970: Kulturrepression am Ende der Ära Ulbricht

3.3.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen Einen scharfen Einschnitt in der DDR-Kulturpolitik bildete das 11. Plenum des ZK der SED (16. – 18. Dezember 1965), das eigentlich als Wirtschaftsplenum zur Durchsetzung der zweiten Etappe des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) beitragen sollte. Das 11. Plenum läutete aber nicht nur die entscheidende politische wie wirtschaftliche Disziplinierung auf den Moskauer Kurs ein, es hatte für die Kulturpolitik und deren Akteure weitreichende Folgen. Beispielsweise wurde Hans Bentzien, der seit 1961 Kulturminister gewesen war, im Zuge der neuerlichen repressiven Wendung aufgrund angeblich „ernsthafter Fehler“ 1966 abgelöst. Gerade kritische Kulturproduzenten gerieten seither noch schneller in den Verdacht, an „konterrevolutionären Tätigkeiten“ beteiligt zu sein, weshalb sie sich kleinliche Bevormundung und Gängelei u.a. bei Publikationsanliegen gefallen lassen mussten.1235 Unbeabsichtigt leitete die Härte von Ulbrichts Vorgehen aber auch seine eigene Entmachtung ein.1236 In der Retrospektive wertete Bentzien diese Zeit als Extrem, in dem „etwas hervorbrach, was ja seit 1945 in dieser schlimmen Form nicht hervorgebrochen war, nämlich die absolute Entmannung der Intelligenz“1237. Mit dem 11. Plenum setzte ein gnadenloser Kampf der SED gegen „Skeptizismus und Nihilismus“1238 ein, der die eigene Verunsicherung über die realpolitische Verfehlung der zurückliegenden Anstrengungen durch konsequentes Auftreten zu überdecken trachtete. 1234

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Es soll nicht behauptet werden, dass in der BRD Literaturgeschichtschreibung per se fern von politischen Orientierungen betrieben wurde. Gerade im Kontext der geschichtspolitischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Kultur und Nationalsozialismus handelten die Akteure (z.B. Fritz Martini) nach 1945 alles andere als politisch unabhängig. Nichtsdestotrotz sei darauf hingewiesen, dass der literaturwissenschaftliche Diskurs in der BRD insgesamt eine größe Autonomie aufwies und so, zumindest tendenziell, eine größere Bandbreite an gesellschaftlichen Positionierungen ermöglichte, als dies in der sich auf die materialistischen Dialektik verengenden DDR-Literaturwissenschaft der Fall war. Vgl. insgesamt Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 215-225. Hans Bentzien [Anhörung von Zeitzeugen zur kulturpolitischen Situation 1961-1976], in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission, Teil 1, S. 126-132, hier: 131. Ebd., S. 132. Jürgen Koller, Zur Kulturpolitik in der DDR. Entwicklung und Tendenzen, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1989, S. 25.

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Das Resultat war eine „Politik des Kahlschlags“1239, eine „Kulturpolitik mit der Brechstange“1240. Die neue Härte der kulturpolitischen Gangart bekam zuerst der nonkonforme Liedermacher Wolf Biermann zu spüren. Biermann war 1953 aus sozialistischer Überzeugung in die DDR übergesiedelt, passte aber z.B. nach Meinung Honeckers aufgrund seines idealistischen und widerspruchsfreudigen Politikverständnisses nicht in den auf dem 11. Plenum beschworenen „sauberen Staat“ DDR.1241 Da Biermann in Honeckers Wahrnehmung mit „seinen Liedern und Gedichten sozialistische Grundpositionen [verriet]“1242 – gemeint war der 1965 in Westberlin erschienene Lyrikband Die Drahtharfe – ereilte ihn ein totales Auftritts- und Publikationsverbot. Neben der Gallionsfigur Biermann wurden im Kontext des 11. Plenums weitere kritische Reformgeister aus der DDR-Literatur- und Theaterszene wie Robert Havemann, Stefan Heym und Heiner Müller abgemahnt.1243 In einer sich zusehends verfinsternden Atmosphäre kollektiver Verdächtigung wurde auch die Filmkunst der DEFA-Regisseure Kurt Maetzig und Frank Vogel von Kurt Hager, Alfred Kurella, Albert Norden und anderen Funktionären aufs Schärfste attackiert.1244 Im Rundumschlagsverfahren widerfuhr allen Bereichen der Kultur, in denen man eine Unterminierung des eigenen Führungsanspruchs witterte, eine Disziplinierung. Der Deutsche Schriftstellerverband reagierte gemäß der intendierten Normdurchsetzung mit Selbstkritik auf die Vorwürfe und distanzierte sich von den „destruktiven Bestrebungen“1245 der beschuldigten Schriftsteller. Dass kritisches Denken der Kulturproduzenten unerwünscht war, zeigte auch der VII. Parteitag der SED (17. – 22. April 1967). Hier wurde dem Herrschaftsanspruch und den Anforderungen an eine sozialistische Kunst erneut Nachdruck verliehen. Sie sollte nach wie vor gesellschaftlich affirmativ statt kritisch wirken. Die Ereignisse des ‚Prager Frühlings’ im August 1968 schienen der von Ulbricht eingeschlagenen Politik der harten Hand in der Perspektive der Parteiführung Recht zu geben. Weil Ende der 1960er Jahre auch in der DDR die Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts Wohnungsknappheit, Versorgungsengpässen etc. stetig wuchs, vermuteten Ulbricht und sein Apparat überall Umsturz-

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Ebd., S. 26. Groth, Widersprüche, S. 79-89. Erich Honecker, DDR – ein sauberer Staat. Rede gehalten vor dem ZK (15.12.1965), zit. nach: Weber (Hg.), DDR, S. 282-284. Ebd., S. 283. Vgl. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 226-234. Vgl. Schittly, Zwischen Regie, S. 131-156. Vgl. Selbstkritik des Schriftstellerverbandes (11.01.1966), zit. nach: Weber, DDR. Dokumente, S. 292.

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gefahr.1246 Wenngleich Ulbrichts restriktives Handeln auf sein Selbstverständnis der DDR als „Juniorpartner der Sowjetunion“1247 hinwies, so unternahm er jedoch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – und damit gegen Ende seiner Amtszeit – zahlreiche Schritte, die die Eigenständigkeit der DDR hervorheben sollten. Der Ulbricht’schen Selbstauslegung des Sozialismus als einer „relativ selbständige[n] sozialökonomische[n] Formation“ kam dabei besondere Bedeutung zu, weil sie sich in ihrer defensiven Verteidigung des erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstands von der sowjetischen Auffassung des Sozialismus als reiner Übergangsphase zum Kommunismus abhob.1248 In welchem Traditionszusammenhang sich die DDR damals sah, führen z.B. die Thesen zum 20. Jahrestag der DDR vor Augen. Ihr Erfüllungspathos prägte in jener Zeit auch den Umgang mit Hauptmanns Werken.1249 Eine „wahre Begriffsinflation“1250 erlebte Ende der 1960er Jahre Ulbrichts „romantische Altersidee“1251 von der ‚sozialistischen Menschengemeinschaft’. Dieses Paradigma, das nach Ulbrichts Vorstellung „weit über das alte humanistische Ideal“ hinausging, sollte als „‚deutsches Wunder’“ ein ideelles Gegenmodell des westdeutschen Wirtschaftswunders bilden.1252 Die ‚sozialistische Menschengemeinschaft’ sollte sich einerseits durch die „sozialistische Moral“, andererseits durch die „Entwicklung der einzelnen zu sozialistischen Persönlichkeiten als auch der vielen zur sozialistischen Gemeinschaft“ auszeichnen.1253 Jenseits blumiger Emphase verdeutlicht die Selbstverortung der DDR im Klartext den Mangel an konstruktiven politischen Konzepten und den Abschied von der geschichtsgewissen Behauptung eines unzweifelhaften gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses, an den zu glauben angesichts wachsender ökonomischer Schwie1246

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Vgl. Jürgen Koller, Zur Kulturpolitik in der DDR. Entwicklung und Tendenzen, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1989, S. 27. Weber, Ulrichts Modellversuche 1966-1970, in: ders., DDR. Dokumente, S. 287-292, hier: 292. Vgl. Ulricht, Sozialismus ist sozialökonomische Formation (12.09.1967), zit. nach: ebd., S. 297 f., hier: 297. Vgl.: „Wofür die Scharen des Thomas Münzer im großen deutschen Bauernkrieg in die Schlacht zogen, was deutsche Aufklärer und Humanisten an Ideengebäuden errichteten, wofür die deutsche Arbeiterklasse unter August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Ernst Thälmann […] kämpfte, wofür Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und bürgerliche Patrioten im antifaschistischen Widerstand Kerker und Tod, Folter und Emigration auf sich nahmen –, das alles ist Wirklichkeit geworden in der Deutschen Demokratischen Republik“ (Erste These zum 20. Jahrestag der DDR [24.01.1969], zit. nach: ebd., S. 305). Schandera, Zur Resistenz, in: Bollenbeck/ La Presti (Hg.), Traditionsanspruch, S. 161173, hier: 165. Vgl. Irmer/ Schmidt, Die Bühnenrepublik, S. 72. Ulbricht, Definition der ‚Sozialistischen Menschengemeinschaft’ (22.03.1969), zit. nach: Weber, DDR. Dokumente, S. 306. Ebd.

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rigkeiten und gesellschaftlicher Tristesse immer schwieriger wurde. Gegen Ende der 1960er Jahre war der Sozialismus in ganz Osteuropa in eine schwere Legitimationskrise geraten. Wo die Regimes in anderen Staaten mit dem Versuch politischer Reformen reagierten, ging die ostdeutsche Regierung den umgekehrten Weg und verschärfte massiv den Druck auf die Gesellschaft. In der Kulturpolitik führte dies zu einem Zustand, in dem die Säulenheiligen der alten Zeit noch einmal dazu herhalten mussten, mögliche Dynamiken des Neuen in einem status quo der Stagnation festzuschreiben. Eine begriffliche Neuausrichtung erfolgte erst mit dem Ende der Ulbricht-Ära. Das Deutungsmuster des Sozialismus als einer „relativ selbständige[n] sozialökonomische[n] Formation“ wurde dann durch das Konzept der ‚entwickelten sozialistischen Gesellschaft’ (IX. Parteitag der SED, 18. – 22. Mai 1976) ersetzt. Auch hierbei sollte es sich – wie später noch deutlich werden wird – wiederum nur um alten Wein in neuen Schläuchen handeln.

3.3.2. Rezeptionsschwerpunkte Nachdem in der zuvor beschriebenen Rezeptionsphase der 100. Geburtstag Hauptmanns eine einmalige Vielfalt an Inszenierungen ausgelöst hatte, fällt das Resümee in Hinblick auf die Bühnenpräsenz von Hauptmann-Stücken zwischen 1965 und 1970 nunmehr mager aus: Wurde z.B. Der Biberpelz in der Spielzeit 1960/61 an sieben DDR-Theatern gespielt, so wurde das Stück etwa in der Spielzeit 1964/65 nur von den Städtischen Bühnen Quedlinburg aufgeführt. Trotz des allgemeinen Rückgangs in der Bühnenpräsenz, der nach dem HauptmannÜberangebot z.Z. des Centenariums zunächst wie ein normaler Gegenreflex aussah, war Der Biberpelz doch auch in dieser Rezeptionsphase das meistgespielte Hauptmann-Stück – wieder einmal gefolgt von Rose Bernd und Die Ratten. Im Folgenden sollen indes nicht einzelne Inszenierungen aus der bereits mehrfach beleuchteten Klassiker-Troika ins Blickfeld gerückt werden, sondern ein „nahezu vergessene[s] Hauptmann-Stück“1254. Neben den ‚professionellen’ Theaterkritiken aus verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, die bisher zur Erhellung des kulturräsonierenden Meinungsbildes herangezogen wurden, soll zum „sozialen Drama“ Vor Sonnenaufgang nun auch das Publikum selbst zu Wort kommen. 1254

Rainer Kerndl, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang in Dresden, in: ND (27.04.1969); vgl. eine ähnliche Einschätzung zur Wirkkraft des Stücks in der Wochenzeitung des Kulturbundes: „Das ist ein Stück, für das hätte kaum einer noch einen roten Heller gegeben“ (Erika Stephan, Heute noch spielbar? Vor Sonnenaufgang, Drama von Gerhart Hauptmann, am Staatstheater Dresden aufgeführt, in: Sonntag [21.09.1969]).

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Die nachfolgend wiedergegebenen Stimmen repräsentieren – bei aller Vorsicht bezüglich der Authentizität der öffentlich geäußerten Meinung – insofern eine ‚Theaterkritik von unten’, als sie Aufschluss über den argumentativen Orientierungswert und den Wirkungsgrad sozialistischer Rezeptionsvorgaben geben. Mittelbar beeinflusst durch die ‚Theaterkritik von oben’ lassen jene Stellungnahmen erkennen, wie sehr die sozialistische Indoktrination der eigenen kulturellen Praxis den Blick auf Hauptmann prägte. Das sozialkritische Drama Vor Sonnenaufgang feierte am 27. März 1969 im Kleinen Haus des Staatstheaters Dresden Premiere. Das Stück, das Hauptmann einst zum Durchbruch verhalf, hatte in der DDR aus Gründen erschwerter ‚sozialistischer Wertschöpfung’ bis dato ein Schattendasein gefristet. Nur drei kleinere Theater hatten sich vor 1969 an das Stück herangewagt.1255 Die hier näher zu betrachtende Dresdner Inszenierung erscheint jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht beachtenswert: Einerseits hatte die in Dresden bereits zwanzig Jahre zuvor gehegte Inszenierungsabsicht zu einer langwierigen Auseinandersetzung mit dem Verlag Felix Bloch Erben geführt,1256 der nie eine Dresdner Vor Sonnenaufgang-Inszenierung gefolgt war. Andererseits bildete die Dresdner Inszenierung nun die letzte Realisierung des Stücks auf einer DDR-Bühne überhaupt. Ein bemerkenswerter Umstand der DDR-Rezeptionsgeschichte, wenn man bedenkt, dass die Aufführungsstatistik des Verlags Felix Bloch Erben für die BRD insgesamt neun Inszenierungen des Stücks verzeichnet. Anders als 1949 wähnte man sich in Dresden 1969, dialektisch gesprochen, im Besitz einer neuen „Souveränität“, so dass man nun besser mit dem schwierigen Stück umzugehen können glaubte. Quasi als Erweis der neuen Selbstsicherheit fand die Premiere von Vor Sonnenaufgang sogar „zu Ehren“1257 des Welttheatertags statt. Am Vortag war damals in der Union zu lesen: „[…] mit der Inszenierung dieses selten gespielten Stückes [wird] der Versuch unternommen, das Werk aus unserer heutigen Sicht, aus unserer Souveränität neu zu entdecken, Figuren und Geschehen neu zu entschlüsseln.“1258

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Stadttheater Zittau (1x im Mai 1950), Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz (Spielzeit 1955/56), Theater Putbus (Spielzeit 1965/66). Vgl. S. 158-159. Wolfgang Kröplin, Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann, in: ST (22.03.1969). Zum Welttheatertag: Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am Staatsschauspiel, in: Union (26.03.1969).

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Dass es sich trotz der angestrebten „Neuentdeckung“1259 und „Eroberung unkonventionellen Erbes“1260 auch 1969 bei Vor Sonnenaufgang noch um ein heikles Stück handelte, klang gleichwohl in einigen Zeitungen an.1261 Sie bestätigten indirekt, dass die Inszenierung des Stücks, das aus marxistisch-leninistischer Sicht mancherlei ideologische Blasphemie birgt, zuvor aus weltanschaulichen Gründen gemieden wurde: „Selten hat in den letzten Jahrzehnten ein Theater gewagt, dieses Drama im Spielplan aufzunehmen. Die Dresdner Inszenierung unternimmt den Versuch, von der Sicht unserer Zeit dieses Stück neu zu entdecken, […].“1262 Wie die meisten der bisher erwähnten Hauptmann-Inszenierungen ging der Dresdner Neuentdeckungsversuch mit einer Reihe von Eingriffen einher, die dem Ziel dienen sollten, „das Hauptmannsche Bühnenwerk für unser zeitgenössisches sozialistisches Theater wiederzugewinnen“.1263 In diesem Sinne sollte Hauptmanns Vor Sonnenaufgang „einer realistischen Wertung ausgeliefert“1264 werden. Das bedeutete eine „marxistische Wertung der Figuren und Vorgänge“1265, die sich vorrangig in der Aufwertung der bäuerlichen Figuren und der Betonung der Klassensolidarität des Gesindes niederschlug.1266 Eine Aufwertung erfuhr ebenso

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Vorstoß zum realistischen Kern. Vor Sonnenaufgang im Kleinen Haus, in: SZ (03.04.1969). Balduin Thieme, Wetterzeichen einer neuen Zeit, in: ST (02.04.1969). Wie zuvor bei Rose Bernd-Inszenierungen beobachtet, wurde bei Vor Sonnenaufgang der Versuch unternommen, die gezeigten „menschlichen Probleme“ als antiquiert darzustellen: „Aber was soll uns heute diese weitschweifige Aufbereitung menschlicher Hilflosigkeit, die Verstrickung in mechanistisch verabsolutierten naturwissenschaftlichen Theorien und falsch verstandener Prinzipienfestigkeit – wozu noch diese endlos gereihten Details von moralischer Verkommenheit, Trunksucht und Inzest?“ (Erika Stephan, Heute noch spielbar? Vor Sonnenaufgang, Drama von Gerhart Hauptmann, am Staatstheater Dresden aufgeführt, in: Sonntag, Nr. 38 [21.09.1969]). Kröplin, Vor Sonnenaufgang, in: ST (22.03.1969). Zum Welttheatertag: Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am Staatsschauspiel, in: Union (26.03.1969); vgl. Kröplin, Vor Sonnenaufgang, in: ST (22.03.1969). Kerndl, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in: ND (27.04.1969). Ebd. „Doch auch hier ist parteiliche Wertung durch realistisch-sozialistische Theaterkunst: Diese Figuren werden nicht moralisch, nicht gesellschaftlich gewertet. Sie werden dialektisch neu gefasst“ (ebd.). Die Integration dieser Figuren in das Stück, die nicht zur Handlungsentwicklung beiträgt, sondern als Hintergrundkolorierung im Sinne der naturalistischen Färbung zu sehen ist, wurde als Indiz für Hauptmanns Solidarität mit der ‚Arbeiterklasse’ ausgelegt: „Mit sichtlicher humanistischer Anteilnahme hat der Realist Hauptmann die Landarbeiter in sein künstlerisches Bild aufgenommen, hat er am Beispiel der Maßregelung der Magd Marie ihre tätige Solidarität, ihr Zusammengehörigkeitsbewußtsein vor Augen gestellt“ (Vorstoß, in: SZ [03.04.1969]); vgl. Karlheinz Ulrich, Hauptmanns frühestes soziales Drama. Vor Sonnenaufgang im Kleinen Haus der Staatstheater, in: Union (02.04.1969).

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die Figur der Helene: Als „starke, freie und schöne Persönlichkeit“1267 wurde sie als der „eigentliche ideelle Kern der Identifikation mit diesem Stück für uns heute“1268 gesehen. Abgewertet wurden dagegen die Figuren des Ingenieurs Hoffmann und des Sozialreformers Loth: Hoffmann wurde als „typischer Kapitalist“ dargestellt, der für den „Aufstieg zur Spitze seiner Klasse […] über Leichen“ geht.1269 In Loth wollte man den „Prototyp deutscher Misere“ erkennen, welche „außerhalb unserer Republik noch immer nicht überwunden“ sei.1270 Die „konsequent ‚abgebaute’ Figur“1271 des Loth war damit zugleich aber die „interessanteste Figur des Dramas“1272. Wie noch zu zeigen ist, sollte sie beim Publikum aufgrund ihres aktualitätsbezogenen Anschlusspotenzials die stärksten Reaktionen hervorrufen. Alles in allem wurden die Konfliktkonstellationen von Vor Sonnenaufgang als „Lehrbuchepisode“1273 ausgelegt, die – immer mit einem Seitenblick auf die BRD – die „Gegensätze zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten“1274 vor Augen führen sollte. Dass sich im Zuge der Umdeutungen „manche Aspekte […] natürlich verschieben“1275, war man mittlerweile – wie z.B. aus der Berichterstattung des Neuen Deutschland hervorgeht – nicht nur gewillt in Kauf zu nehmen; die Deutungsverschiebung wurde nun sogar erwartet. In welcher Weise sich die Einstellung zum Kulturerbe zu verändern begann, mag ein Kommentar aus dem Sächsischen Tageblatt illustrieren. Dort hieß es in Hinblick auf die Legitimation für Veränderungen der Textgrundlage lapidar, dass „Hauptmann ja nicht heiliggesprochen“1276 sei. In der Sächsischen Zeitung fühlte man sich noch verpflichtet klarzustellen, dass es sich bei dieser Vorgehensweise keineswegs um „willkürliche Eingriffe“1277 handelte. Doch bestand auch hier kein Zweifel daran, dass das praktizierte Rezeptionsverhalten dem Kulturerbe und seiner ‚Modernisierung’ diene: 1267

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Funke, Die Tragödie, in: Der Morgen (02.04.1969). Helene sei als „die Bewahrerin der menschlichen Werte zu begreifen, mit denen heute in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit gerechnet wird“ (ebd.). Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Konzeptionelles Material, S. 3. Ebd Christoph Funke, Die Tragödie des Mädchens Helene. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang im Dresdner Kleinen Haus, in: Der Morgen (02.04.1969). Ebd. Kerndl, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in: ND (27.04.1969). Thieme, Wetterzeichen, in: ST (02.04.1969). Vorstoß, in: SZ (03.04.1969); vgl. ebenso: „Mit geradezu bestürzender Kraft kommt die fatale Konsequenz zur Wirkung, mit der durch die Eingliederung in den kapitalistischen Gesellschaftsprozeß schwärmerische Humanitätsideale den praktischen, unmenschlichen Erfordernissen hemmungsloser Ausbeutung des Menschen durch den Menschen weichen“ (Funke, Die Tragödie, in: Der Morgen [02.04.1969]); vgl. Kröplin, Vor Sonnenaufgang, in: ST (22.03.1969). Kerndl, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in: ND (27.04.1969). Thieme, Wetterzeichen, in: ST (02.04.1969). Vorstoß, in: SZ (03.04.1969).

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„Die von den Staatstheatern aus Sicht unserer gegenwärtigen Erfahrungen vorgeschlagene neue Lesart präsentiert Hauptmanns Vor Sonnenaufgang als ein Kunstwerk, das uns auch heute wichtige Lebensauskünfte zu geben vermag, dessen Figuren uns bei aller historischer Distanz doch außerordentlich modern anmuten.“1278 Somit herrschte in den Theaterkritiken die Meinung vor, dass das Stück durch die genannten ideologiegeleiteten Eingriffe die „Herauskristallisierung seines realistischen Kerns“1279 erfahren habe. Die parteiische Herangehensweise an Hauptmanns Werke – die implizit die Abkehr von einer Haltung der Traditionsvergewisserung hin zu einer Funktionalisierung im Dienste der politischen Konsolidierung der Gegenwart bedeutete – wurde z.T. sogar als „der eigentliche Gewinn der Inszenierung“1280 erachtet. So erntete die Aufführung „verdienten Beifall“1281 und Lob dafür, dass sie den Beweis erbracht habe, „daß im dramatischen Werk Hauptmanns auch heute noch Entdeckungen zu machen sind“1282. Ein Teil derer, die den Beifall gespendet hatten, reflektierten im Anschluss an einzelne Aufführungen in der Halböffentlichkeit des Theaters über den Aussagehalt des Stücks. Im Rahmen der Foyergespräche zu Vor Sonnenaufgang, die vom Dramaturgen Wolfgang Kröplin protokolliert wurden, konnten die Zuschauer ihre Meinung äußern sowie Rückfragen an beteiligte Theaterleute stellen. Ziel der Foyergespräche war es, neben der vertiefenden Reflexion der gezeigten Stücke, im Sinne des sozialistischen Volkstheaters für eine Zusammenführung von ‚Arbeiterklasse’ und ‚Theaterkunst’ zu sorgen. Die Gespräche sollten dazu beitragen, das Zuschauerbedürfnis nach „Lebensanwendung und Lebenserkenntnis“ zu befördern, dem Theaterabend damit zu einem „Gewinn“ zu verhelfen.1283 Die Diskussionen zwischen verschiedenen Zuschauergruppen und ‚Theaterschaffenden’ bildeten außerdem eine Fortsetzung der ‚sozialistischen Gemeinschaftsarbeit’, die als Arbeitsprinzip dem Inszenierungsprozess vorausgehen bzw. diesen begleiten sollte. Erwartet wurde, dass durch „[f]reundschaftliche, produktive Verbindungen der Künstler zu Brigaden und Kollektiven, zu Wissenschaftlern, Kultur- und Kunstschaffenden, […] schöpferische Impulse für die gesamte Thea-

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Ebd. Ebd. Kerndl, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in: ND (27.04.1969). Ulrich, Hauptmanns frühestes soziales Drama, in: Union (02.04.1969). Funke, Die Tragödie, in: Der Morgen (02.04.1969). Gerhard Wolfram, Profilierung des Spielplans, Diskussionsbeitrag auf dem VIII. Parteitag, 18.06.1971, [veröffentlicht in: Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der SED, Berlin 1971, Bd. 2], Dok. 37, in: Gisela Rüß (Hg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1971-1974, Bd. II, Stuttgart 1976, S. 189-192, hier: 191.

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terarbeit“1284 vermittelt werden. Nicht zu letzt waren die Foyergespräche eine Möglichkeit, die Effektivität der vorgenommenen Rezeptionslenkungen zu überprüfen. Eine Lehrerin wies während einem der ersten Foyergespräche zu Vor Sonnenaufgang darauf hin, dass der Sozialreformer Loth die Figur sei, an der sich die überzeitliche Gültigkeit des Stückes festmache. Indem die Betrachterin in ihrer Stellungnahme das Souveränitäts-Postulat, das in den Vorab-Berichten zur Rechtfertigung der Inszenierung herangezogen wurde, wiederholte, kann ihre Stellungnahme als Beispiel für die Widerspiegelung der ‚Theaterkritik von oben’ in der ‚Theaterkritik von unten’ gewertet werden: „Lehrerin: Die Frage, ob man das Stück heute noch spielen kann oder nicht, wird, glaube ich, vor allem durch die Figur des Loth bestimmt. Er ist ein ausgesprochener Dogmatiker. Wie oft erleben wir heute noch, dass Beschlüsse als richtig erkannt werden und die Menschen dann doch falsch handeln. Für die Beurteilung der im Stück enthaltenen Probleme und der Figuren ist eine bestimmte Reife in der gesellschaftlichen Entwicklung und im gesellschaftlichen Bewusstsein unserer Menschen notwendig, eine Souveränität erforderlich. Wir sind heute so weit, dass wir dieses Stück richtig verstehen und empfinden können.“1285 Die Aussage der Lehrerin veranschaulicht in nuce, wie makropolitische Ideologie – die Betonung des eigenständigen ostdeutschen Sozialismus – und mikropolitische Rezeption zur Deckung gelangen: Die Wertung der Lehrerin erweist sich in ihrer Kritik an dem Dogmatiker Loth als Plädoyer für eine die gegenwärtige gesellschaftliche Stagnation rechtfertigende ‚Realpolitik’. Frustration über den erreichten Stand und daraus abgeleitete Forderung nach gesellschaftlicher Erneuerung werden auf diese Weise negiert und ins Reich der Utopie verwiesen. Neben der Rezeptionshaltung der aus dem behaupteten sozialistischen Entwicklungsvorsprung erwachsenen Souveränität kann in den weiteren Publikumsäußerungen die analoge Übernahme weiterer Wertungsprinzipien mit gleichem Grundtenor beobachtet werden. In einem Foyergespräch mit einem „Lehrgang für leitende Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn und Genossen der Nationalen Volksarmee“ kam zur Frage der Spielbarkeit das Nützlichkeitspostulat der Kunst zum Tragen. Die beteiligten Herren mühten sich, den pädagogischen 1284

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Vgl. Abschnitt zur Theaterkunst: Christa Ziermann, Probleme der Entfaltung der künstlerischen Kultur in den Städten und Gemeinden, [veröffentlicht in: Sozialistische Demokratie, Beilage zur Ausgabe 37/71, 10.09.1971], Dok. 45, in: Rüß, Dokumente, S. 213228, hier: 221. Kröplin, Protokoll zum Foyergespräch Vor Sonnenaufgang mit dem X-Ring (28.03.1969), S. 3.

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Mehrwert des Stücks und dessen Wirkung im Sinne der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung wie folgt zu eruieren: „Älterer Genosse: Für mich ist die Frage wichtig: Wie hilft dieses Stück mit einem solchen pessimistischen Ausgang bei der Bewusstseinsbildung unserer Menschen. Meiner Meinung nach hilft es nicht. Oberstleutnant: Das ist richtig. Das Stück hat mich überhaupt nicht berührt. Es ist mir wesens- und lebensfremd. Ich habe nur Disziplin bewahrt, sonst wäre ich in der Pause schon gegangen. Das sagt nichts gegen die schauspielerische Leistung. Ich vermisse das gesuchte Erlebnis durch das Stück. Meiner Meinung nach hilft es uns nicht. Genosse: Ich meine doch, dass es uns heute treffen kann. Das Versagen von Loth befriedigt nicht. Aber alle Menschen begehen Fehlleistungen, aber dabei, dass wir solche Fehler nicht begehen, kann das Theater mit diesem Stück helfen. 2. mittlerer Herr: Ich sehe einen besonderen erzieherischen Wert für die Jugend. Das Problem der Vergangenheit wird realistisch gezeigt.“1286 Interessant erscheint in diesem Foyergespräch auch der Diskussionsbeitrag eines NVA-Unterleutnants, der den von seinen Kollegen größtenteils bestrittenen Nutzen des Stücks aus einer Übertragung auf die politische Gegenwartssituation der BRD gewinnen wollte.1287 In der Inkonsequenz des Loth und in seinen letztlich ins Nichts führenden Überlegungen meinte der Unterleutnant eine Parabel auf den Zustand der westdeutschen Sozialdemokratie zu erkennen:1288 „Unterleutnant: Charakteristisch für dieses Stück ist, dass es keinen Ausweg zeigt, und es kann ihn nicht zeigen, weil Hauptmann keinen Ausweg wusste. So geht es auch heute der westdeutschen Sozialdemokratie. Dort liegen die Ursachen für das Versagen. So sieht es auch heute noch aus, es ist noch Möglichkeit und Wirklichkeit. […] 1286

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Ders., Protokoll zum Foyergespräch Vor Sonnenaufgang (20.01.1970) mit einem Lehrgang für leitende Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn und Genossen der Nationalen Volksarmee, S. 3. „Zweiter älterer Herr: Dieses Stück hat heute für Westdeutschland große Bedeutung, gerade in bezug auf Helene. Aber auch in der Gestaltung so großartiger Randfiguren wie etwa Beibst. Gerade dies wär ein Stück, mit dem es wichtig und lohnenswert wäre, eine Gastspielreise nach Westdeutschland durchzuführen“ (Kröplin, Protokoll zum Foyergespräch Vor Sonnenaufgang mit dem X-Ring [28.03.1969], S. 2). Vgl. die Kontingenzbewältigungsstrategie seines Hauptmanns, der sich im Foyergespräch folgendermaßen über die Ursachen der im Stück gezeigten Ausweglosigkeit äußerte: „Die Hauptfiguren sind alles Intellektuelle ihrer Zeit ohne eigentliche Bindung an die Arbeiterklasse. Sie schlagen drei verschiedene Richtungen ein und suchen Lösungen, und sie schaffen es nicht. Sie konnten es auch nicht schaffen ohne Bindung zum Volk (Beispiel Loth – Beibst).“ (Kröplin, Protokoll Foyergespräch Vor Sonnenaufgang [20.01.1970], S. 2).

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Unterleutnant: Der Sozialdemokrat Loth ist für uns heute noch sehr aktuell (Westdeutschland). Das Stück hat heute den Beweis geliefert, dass ein Gesellschaftsweg, wird er nicht nach den Erkenntnissen des Marxismus-Leninismus gewählt, fehllaufen muß. Das ist für uns wichtig.“1289 Der hier dekodierte aktuelle Bezug zur westdeutschen Sozialdemokratie, der vom Regisseur der Inszenierung tatsächlich intendiert worden war,1290 reflektiert die 1966 aufgenommenen Gespräche zwischen SPD und SED über einen – letztlich gescheiterten – Redneraustausch. Die Stellungnahme des Unterleutnants spiegelt die Stimmungsmache in der DDR, die nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn mit Willy Brandt als Regierungschef (1969 – 1972) gegen die SPD betrieben wurde. Sie deutet bereits den Vorwurf an, den Ulbricht nach dem zweiten Treffen (21. Mai 1970) der Regierungschefs der beiden Deutschland – Willy Brandt und Willy Stoph – formulierte: Aus DDR-Sicht hatte sich die liberalsoziale Koalition „noch nicht von der revanchistischen Adenauer-Politik getrennt“1291. Für den Unterleutnant legte die Regierung Brandt damit ein zu Loth analoges Verhalten an den Tag: Wenngleich Loth die hehren Ziele eines Sozialreformers vorschützt, so handelt er dennoch inkonsequent und entzieht sich entstehenden Verantwortungen. Auch in anderer Hinsicht wurde die Figur des Loth dazu genutzt, politische Perspektiven in den Theaterdiskurs hineinzuverlagern. Vor allem die Ereignisse des ‚Prager Frühlings’ nötigten den sozialistischen Anrainerstaaten eine grundsätzliche Positionsbestimmung ab, die auf die Debatten in nahezu allen gesellschaftlichen Teilbereichen ausstrahlte. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht gänzlich überraschend, dass Vor Sonnenaufgang in die nach 1968 folgenden Wertungsdebatten um eine mögliche Reform des Sozialismus als symbolische Matrix miteinbezogen wurde. Zwar waren Foyergespräche keine Bühne direkter politischer Kritik an den Entwicklungen in der Tschechoslowakei, gleichwohl klingt zwischen den Zeilen eine parabelhafte Ausdeutung des Stückes an, die Hauptmanns Drama als Lehrstück über die realen Konsequenzen politischer Träumereien deutet. In einem Foyergespräch mit Besuchern aus dem VEB Robotron Dresden wurde das Verhalten des Loth ganz in diesem Sinne – und in gewisser Weise die Argumentation der Lehrerin wiederholend – auf die vorausgegangenen Ereignisse des ‚Prager Frühlings’ übertragen:

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Ebd., S. 3. Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Konzeptionelles Material, S. 6. Aus Walter Ulbrichts Einschätzung der Regierung Brandt/ Scheel (09.06.1970), in: Weber, DDR. Dokumente, S. 310 f.

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„2. älterer Herr: Loth ist eine Art Revoluzzer, der, bei seinen großen Werten genommen, versagt. Er hat Angst vor der Konsequenz. Da ergeben sich für mich Assoziationen zur Linken in Westeuropa oder auch zu bestimmten Erscheinungen in der CSSR. Es sind halbdurchdachte Ideen: Sozialismus ja, aber wie ihr das macht … Das Versagen setzt ein, wo die propagierten Lebensvorstellungen verwirklicht werden sollen. Da ist Halbheit und Inkonsequenz. Das ist eine eindeutig kleinbürgerliche Position.“1292 Jene „halbdurchdachten Ideen“ des Loth bestehen im Wesentlichen in dessen Vorhaben, eine Studie über Bergarbeiter in Schlesien zu schreiben. Die darin zu gewinnenden Ergebnisse sollen dazu führen, den „Grund, warum diese Leute immer so freudlos und gehässig sein müssen, wegzuräumen“ (CA I, 28). Für jenen Teilnehmer des Foyergesprächs repräsentierte die Figur des Loth aufgrund der idealistischen, aber letztlich ergebnislosen Menschenfreundlichkeit eine Präfiguration des Reformkommunisten Alexander Dubcek. Wie Loth das Bestreben verkündet, Menschen „glücklicher machen“ zu wollen (CA I, 28), hatten Dubceks Reformversuche bei verkürzter Zurkenntnisnahme einzig darauf abgezielt, dem Sozialismus ein „menschliches Antlitz“ zu verleihen. Dadurch, dass Loths Ansprüche in der Dresdener Inszenierung zwangsläufig scheitern, dient Vor Sonnenaufgang in dieser Sichtweise auch als Bestätigung für den Sturz Dubceks – und für die Mitwirkung von NVA-Kräften an der Niederschlagung des ‚Prager Frühlings’. Der Assoziationsweg, die negativen Aspekte der Hauptfigur auf die BRD – oder wie im letzten Beispiel sogar auf die Tschechoslowakei – zu projizieren, lag im halböffentlichen und in einer gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre der Repression veranstalteten Foyergespräch näher als der kritische Rückbezug auf die eigene Lebenswelt in der DDR. Nur vereinzelt sind in den Protokollen zu den Foyergesprächen dagegen Hinweise zu entdecken, die den Inhalt von Vor Sonnenaufgang mit Blick auf den tatsächlichen Zustand sozialistischer Gesinnung im eigenen Lande reflektierten. Bemerkenswert erscheint deshalb der Kommentar eines NVA-Angehörigen, der zwischen den Zeilen eine gewisse Wertungsambivalenz verrät: „Genosse: Wir haben auch bei uns heute noch überholte Lebensanschauungen zu überwinden. Durch dieses Stück wird man provoziert zu der Frage: wie stehst du heute in der Gesellschaft.“1293

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Kröplin, Protokoll zum Foyergespräch Vor Sonnenaufgang mit Besuchern aus VEB Robotron (06.06.1969), S. 2. Ders., Protokoll Foyergespräch Vor Sonnenaufgang (20.01.1970), S. 3.

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Geht man davon aus, dass Vor Sonnenaufgang von diesem NVA-Angehörigen als Negativfolie zum sozialistischen Hier und Jetzt rezipiert wurde, so käme dem Stück die Bedeutung zu, einen Kontrollimpuls für die eigene Gesinnungstiefe zu vermitteln. Damit würde das gezeigte negative Verhalten des Loth als Ansporn gesehen, niemals hinter die Ansprüche zurückzufallen, die der sozialistische Staat an seine Bürger stellt. Allerdings ist auch eine andere – durchaus regimekritische – Lesart denkbar: Der Bezug auf die in der DDR existenten „überholten Lebensanschauungen“, die es „zu überwinden“ gelte, kann ebenso als Hinweis auf Vordergründigkeit und Inkonsequenz in den eigenen Führungsreihen gedeutet werden. Indem der NVA-Angehörige eine Unterscheidung zwischen der Legitimität und Legalität politischer Führung einfordern würde, stände die gesamte Politik der Konsolidierung des status quo in Frage.1294 Eine solch ‚subversive’ Lesart scheint gleichwohl eher auf nicht intendierte Funktionspotenziale des Stücks als auf das Ergebnis kulturpolitischer Rezeptionslenkung zu verweisen. Obwohl Nutzen und Gegenwartsbezug von Vor Sonnenaufgang im Rahmen der Dresdner Foyergespräche mehrfach in Frage gestellt wurden, erfreute sich die Inszenierung jedoch großer Akzeptanz. Wie anhand einiger Stellungnahmen skizziert werden konnte, bot gerade die Figur des Loth eine breite Projektionsfläche für Feind- und Angstbilder, die Ende der 1960er Jahre in der DDR kursierten. Vor Sonnenaufgang bildete somit ein fiktionales Narrativ, das deren Artikulation und Reflexion – zumindest andeutungsweise – ermöglichte. Durch die beschriebenen Umdeutungen wurde Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, ein zuvor gemiedener Bühnenschreck, in Dresden wiederentdeckt – als „sozialkonkretes Stück“ und „Lebensetappe in der Emanzipationsbewegung unserer Volkes“.1295 Wie bereits erwähnt, sollte der Wiederentdeckung keine Nachhaltigkeit beschert sein: Mit der letzten Aufführung am 31. Juli 1971 verschwand Vor Sonnenaufgang gänzlich von DDR-Bühnen.

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Dass der Typus Loth eine Gefahr für den DDR-Sozialismus darstellt, vor der es zu warnen gilt, geht z.B. auch aus folgendem Kommentar hervor: „Hier wird deutlich, was die Arbeiterklasse von Leuten zu erwarten hat, die – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht radikal von bürgerlichen Vorstellungen getrennt haben, die nicht zur revolutionären Ideologie des Marxismus vorgestoßen sind“ (Vorstoß, in: SZ [03.04.1969]). Mäde, in: Protokollnotizen zum Konzeptionsgespräch Vor Sonnenaufgang, Dresden (26.02.1969).

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3.4.

1971-1975: Ansätze gelockerter Kulturpolitik unter Honecker

3.4.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen Ulbrichts kulturpolitisches Gebaren war bis Anfang 1971 geprägt von einer grundsätzlichen Dichotomie von „Ehrfurcht und Hochachtung“1296 für die traditionelle Literatur einerseits und Misstrauen und Gängelei für neue künstlerische Ansätze andererseits. Entsprechend lobte er z.B. in seinem Grußschreiben an den II. Kongress der Theaterschaffenden (28. Februar 1971) die DDR-Theater dafür, dass in ihnen die „Traditionen fortschrittlicher deutscher Theaterkunst lebendig“ seien.1297 Hauptmann bezeichnete er bei dieser Gelegenheit zusammen mit Büchner als den Teil der Theaterkunst, der eine „historische Alternative gegenüber dem Kulturzerfall der Theaterkunst im Imperialismus“ darstelle.1298 Nicht nur der eifersüchtig-enge Umgang mit dem Kulturerbe und die Reklamationssemantik, die noch einmal anlässlich des 100. Geburtstags von Heinrich Mann im März 1971 hervorgeholt wurde,1299 auch sein außenpolitischer Konfrontationskurs und seine innenpolitische Härte hatten Ulbricht längst zu einem unzeitgemäßen Relikt werden lassen. Am 3. Mai 1971, im Rahmen der 16. Tagung des ZK der SED, erklärte Ulbricht schließlich seinen Rücktritt. Mit diesem vordergründig aus Altersgründen unternommenen Schritt kam der Parteivorsitzende, der in den zurückliegenden Jahren immer wieder politische Alleingänge unternommen hatte, letztendlich der Forderung Moskaus nach. Leonid Breschnjew, der Nachfolger Chruschtschows im Amt des Parteivorsitzenden der KPdSU, hatte aufgrund des Versagens der NÖSPL und vor allem der Inkompatibilität zwischen der neuen sowjetischen Entspannungspolitik und Ulbrichts eigenmächtiger Abgrenzungspolitik einen Machtwechsel gefordert. Dieser erfolgte auf dem VIII. Parteitag der SED (15. – 19. Juni 1971): Als neuer Erster Sekretär des ZK der SED wurde Ulbrichts politi-

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Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 264. Ulbricht, Grußschreiben des ZK der SED an den II. Kongreß der Theaterschaffenden (28.02.1971) [TdZ, (1971) H. 6], Dok. 13, in: Rüß (Hg.), Dokumente, S. 88 f., hier: 89. Ebd Neben einem Arbeitsauschuss, einer von der Akademie der Künste, dem Zentralinstitut für Literatur der Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED veranstalteten wissenschaftlichen Konferenz, einer Kranzniederlegung und einer Ausstellung zu Leben und Werk in der Berliner Stadtbibliothek, gab es einen Festakt in der Deutschen Oper am 11.03.1971 (Ulbricht, Heinrich Mann – ein Wegbereiter des sozialistischen Humanismus, Festrede, [ND, 12.03.1971], Dok. 16, Rüß [Hg.], Dokumente, S. 99-107). Ulbrichts Rede, die dazu aufrief, das Werk Manns vor der „Verfälschung und Verzerrung in der BRD“ zu schützen, endete mit der gängigen Reklamationsformel: „Heinrich Mann ist unser! […] Ruhm und Ehre dem großen sozialistischen Humanisten – unserem Heinrich Mann!“ (Ebd., S. 107).

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scher Ziehsohn und einstiger „eifriger Gehilfe“1300 Erich Honecker bestätigt. Ein Karrieresprung, auf den Honecker zielstrebig und ränkeschmiedend hingearbeitet hatte. Wennschon die Kulturpolitik nicht im Mittelpunkt des VIII. Parteitages stand, deutete sich hier aber bereits an, was von Honeckers Ägide zu erwarten war: Wie zuvor wurden im Sinne des Kontinuitätsstrebens die „Leninschen Prinzipien der Parteilichkeit und Volksverbundenheit“ als Bewertungsmaßstäbe für Kunst und Kultur betont.1301 Dass dieser Anspruch nicht mittels Vorgaben und Beschuldigungen untermauert wurde, sondern mit der Versicherung, „[d]ie Partei [werde] den Künstlern immer vertrauensvoll zur Seite stehen“,1302 sorgte zunächst für befreites Aufatmen. Nach diesem „Harmonietestlauf“1303 bemühte sich Honecker, das unter Ulbricht zerbrochene Vertrauensverhältnis zwischen Partei und Kulturproduzenten durch diverse Erleichterungsmaßnahmen im Bereich der Zensur zu erneuern. Ulbrichts Abgang von der politischen Bühne erfüllte die Kulturproduzenten mit Hoffnung. Anders als Ulbricht, der nie müde wurde, die Einheit von Wissenschaft und Kunst zu befehlen, die ‚Vollstreckung’ des klassischen Erbes zu beschwören und eine politisch aktivierende Kunst zu fordern, legte Honecker in Sachen Kunst und Kultur ein Verhalten an den Tag, das zwischen Großzügigkeit und Gleichgültigkeit changierte.1304 Damit ging die zuvor dominierende „Fetischisierung und Pädagogisierung“1305 des kulturellen Feldes unter Honecker zurück. Einen zusätzlichen Vertrauensvorschuss brachte ihm seine Verwurzelung in der Arbeiterjugend ein. Als Mitbegründer der FDJ verkörperte er für viele die junge Generation der DDR-Führung.1306 Die Chancen, der eigenen kulturpolitischen Zielsetzung gemäß, eine Beruhigung der Kulturproduzenten zu erreichen,1307 schienen also vielversprechend. Liberalisierungshoffnungen prägten Anfang der 1970er Jahre den Blick auf die DDR-Regierung, die durch die Ratifizierung der Ostverträge ihren vermeintlichen Willen zur ‚friedlichen Koexistenz’ demonstrierte. Weitere stabilisierende Effekte im Lande selbst brachte die internationale Anerkennung der DDR, die gemeinsam mit der BRD 1973 in die UNO aufgenommen wurde. An dem 1300 1301

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Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 263. Entschließung des VIII. Parteitags der SED zum Bericht des ZK, Juni 1971 [Protokoll der Verhandlungen des VIII. Parteitages der SED, Berlin 1971, Bd. 2], Auszug, Dok. 38, in: Rüß (Hg.), Dokumente, S. 192-195, hier: 194. Ebd. Jäger, Kultur, S. 135. Vgl. insgesamt Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 255-265. Schandera, Zur Resistenz, in: Bollenbeck/ La Presti (Hg.), Traditionsanspruch, S. 161173, hier: 171. Vgl. insgesamt: Peter Borowsky, Die DDR in den siebziger Jahren, in: Informationen zur politischen Bildung (1998), H. 258; Ihme-Tuchel, Die DDR, S. 62-73. Jäger, Kultur, S. 135.

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schon von Ulbricht formulierten Anspruch, einen eigenständigen Weg in die sozialistische Zukunft zu beschreiten, hielt aber auch Honecker fest. Nachdem er den eigenen Machtanspruch konsolidiert sah, machte er sich zusehends daran, mögliche gesellschaftliche Konfliktlinien mit harter und Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Dialog negierender Hand in Angriff zu nehmen. Im Bereich der Kulturpolitik trat die neue Striktheit im Laufe der 1970er Jahre nach außen hin als Forderung nach einer homogenen „sozialistischen Nationalkultur“1308 zutage, die man sowohl semantisch wie strukturell zu forcieren bemüht war. Diese Bestrebungen äußerten sich z.B. in der neuen Begrifflichkeit des „sozialistischen Nationaltheaters“1309 oder in der Umbenennung zentraler Künstlerverbände: Aus dem Deutschen Schriftstellerverband wurde so der Schriftstellerverband der DDR (1973), aus der Deutschen Akademie der Künste sodann die Akademie der Künste der DDR (1974) und aus dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands schließlich der Kulturbund der DDR (1974). Das gesteigerte Selbstbewusstsein sollte im wirtschaftlichen Bereich durch Modernisierungen gestützt werden. Investitionen, die sich letztlich fatal auf die Staatsverschuldung auswirkten, trugen zeitweilig zur Hebung des Lebensniveaus und der Zufriedenheit in der Bevölkerung bei. Auf die positiven Effekte der Modernisierung des Alltagslebens allein wollte sich Honecker jedoch nicht verlassen: Gleichzeitig ließ er unter der Leitung Erich Mielkes die Staatssicherheit ausbauen und die Überwachung der Gesellschaft verstärken.1310 Der kulturpolitische Paradigmenwechsel sorgte in der Folgezeit für eine Weitung des Kulturbegriffs, der es erlaubte, neue Wege der künstlerischen Weltaneignung zu erproben.1311 Für den Umgang mit dem Kulturerbe bedeutete dies eine zunehmend kritische Auseinandersetzung. Sie zeigte sich zum einen in Werken wie Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973), zum anderen in den Diskussionen der Literaturzeitschriften.1312 Im Mittelpunkt der Diskussio1308

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Rüß (Hg.), Dokumente, S. 20-22; Entschließung des VIII. Parteitags, in: ebd., S. 192195, hier: 194. Dieter Heinz, Inhalt und Ziele des sozialistischen Nationaltheaters. Referat gehalten auf der Intendantenkonferenz im Januar 1971 [veröffentlicht in: TdZ, (1971), H. 4], Auszug, Dok. 4, in: Rüß (Hg.), Dokumente, S. 45-50, hier: 48. Vgl. David Gill/ Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums, Berlin 1991, S. 17-45. Mittenzwei, Der Realismus-Streit um Brecht, S. 170. Die Grenzen dessen, was dem Kulturerbe „angetan“ werden dürfe, lotete z.B. Wolfgang Harich anhand Heiner Müllers Macbeth-Bearbeitung aus, in der er Anzeichen des Kulturverlusts monierte. Harich kritisierte z.B. „Sprachmodernismen“ und eine „Sex-Stelle“, die im Original fehlt (Wolfgang Harich, Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlaß der Macbeth-Bearbeitung von Heiner Müller [veröffentlicht in: SuF, H. 1, 1973], Dok. 107, in: Rüß [Hg.], Dokumente, S. 659-676, hier: 672). In seiner Kritik moderner Bearbeitungstendenzen nahm Harich auch auf Hauptmann Bezug. In ihm sah er das posi-

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nen stand die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der „Aktualisierbarkeit literaturhistorischer (Er-)Zeugnisse“1313. Hierbei galt es nach wie vor, einen Kontinuitätsabbruch zu verhindern, gleichzeitig aber wollte man den sich zusehends einstellenden Diskontinuitäten zwischen historischem Werk und Jetztzeit Rechnung tragen. Die Veränderung in der Beziehung zum Kulturerbe betraf ebenso die Auffassung von der Rolle des Rezipienten. Wie aus der Kritik Kurt Hagers, des Vorsitzenden des Volksbildungsausschusses der Volkskammer, an der Vollstreckertheorie hervorgeht, reichte das in den Jahren zuvor noch befriedigende Bewusstsein, die Träume der Vergangenheit in der Gegenwart realisiert zu haben, nun nicht mehr aus: „Man darf nicht die Tatsache verkennen, daß unser heutiger sozialistischer Weg mehr ist als die bloße Vollstreckung humanitärer Ideale und Utopien der Vergangenheit.“1314 Mittenzwei wies im gleichen Jahr wie Hager daraufhin, dass der Vorstellung von der Vollstreckung der „klassischen Ideale“ in der sozialistischen Gesellschaft zwar „eine richtige Teilerkenntnis zugrunde lieg[e]“, diese allerdings an sich „falsch und unmarxistisch“ sei; schließlich enthalte der Kern der sozialistischen Ideale „etwas, was die Klassiker nicht erträumten, weil es über ihre Vorstellungswelt hinausging“.1315 Dautel diagnostizierte für diese kulturpolitische Entwicklungsphase eine „Neu-Orientierung auf das Moment historischer Diskontinuität“, eine „zunehmende Betonung der qualitativen Differenz zwischen klassischen Humanitätsidealen und sozialistischem Humanismus“, die letztlich in ein neues „Konzept kritisch-distanzierter Erbe-Rezeption“ mündete.1316 Wie weit man sich inzwischen von der auf bloße Aneignung und Reklamation fokussierten Erbe-Auffassung eines Walter Ulbricht und Alexander Abusch entfernt hatte,

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tive Beispiel eines ausgestorbenen, „innengeleiteten Sozialcharakters“, der in der „Mittelstandsmentalität des 19. Jahrhunderts“ wurzelte und dort „gigantische Lebenswerke“ hervorzubringen vermochte. Dem „innengeleiteten Sozialcharakter“ stellte er in Rekurs auf David Riesman (The Lonely Crowd, 1950) den „außengeleiteten Sozialcharakter“ gegenüber, der sich durch Faulheit und Substanzlosigkeit auszeichne (ebd., S. 670). „Wieviel Aktualisierung kann einem Kunstwerk der Vergangenheit im Allgemeinen und der klassischen Tradition im Besonderen angetan werden, so daß es sich den Forderungen des Tages produktiv einverleiben lässt, ohne daß gleichzeitig die historische Dimension seines Entstehens und Wirkens verloren geht. Oder: Wie funktioniert es am effektivsten im Sinne vorgegebener gesellschaftspolitischer bzw. weltanschaulicher Maximen“ (Dautel, Zur Theorie des literarischen Erbes, S. 71). Kurt Hager, Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. 6. Tagung des ZK der SED 6./7. Juli 1972, Berlin (Ost) 1972, S. 57; „Wir hüten […] das Erbe nicht, wie Archivare alte Akten hüten. Es geht um lebendige Vermittlung. Es ist unsere Pflicht, die Ideen der großen Denker der Vergangenheit, das literarische und künstlerische Erbe in seiner ganzen Vielfalt noch besser und mächtiger zu nutzen“ (ebd). Mittenzwei, Brechts Verhältnis, S. 198. Dautel, Zur Theorie, S. 81, 103.

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lässt eine kritische Äußerung in den Weimarer Beiträgen erkennen: Dieter Schiller behauptete dort, dass „[d]ie Zeit vorbei“ sei, „da es ausreichte, mit begründeten Fakten festzustellen, daß ein Goethe oder Schiller oder wer auch sonst ‚unser’ ist“1317. Eine Begrifflichkeit, die in der Vergangenheit gerne auch auf Hauptmann angewendet worden war, stand vor ihrer Ausmusterung aus der kulturpolitischen Aneignungspraxis. Obwohl nach wie vor großen Wert auf Kontinuität gelegt wurde, so erhielt diese jedoch eine neue semantische Prägung: Betont wurde fortan die „Kontinuität menschlichen Strebens nach Entfaltung bei unterschiedlichen Lösungsversuchen“1318. Die sozialistische Gegenwart wurde entsprechend als eine qualitativ neue, höhere Stufe gegenüber der Vergangenheit vorgestellt. Wie es jenseits der neuen Rechtfertigungsrhetorik um die sozialistische Gegenwart in der DDR bestellt war, zeichnete sich ab Mitte der 1970er Jahre immer deutlicher ab. Wie das nächste Kapitel zu den kulturpolitischen Rahmenbedingungen zeigen wird, geriet nach der anfänglichen Entspannung nicht nur die Kulturpolitik „in die Sackgasse“1319: Das „(Pseudo-)Tauwetter“1320, das seit 1971 geherrscht hatte, endete mit der Ausbürgerung Biermanns 1976 und mündete anschließend in eine Repressionswelle gegen alle Intellektuellen, die gegen den Willkürakt der Ausbürgerung protestierten. Bevor diese Vorgänge genauer dargestellt werden, gilt es zunächst einen kurzen Blick auf Hauptmanns Rezeptionsschicksal Anfang der 1970er Jahre zu werfen.

3.4.2. Rezeptionsschwerpunkte Für den an die Phasen der DDR-Kulturpolitik zeitlich angepassten Überblick über die Hauptmann-Rezeption müsste in Bezug auf die 1970er Jahre nun eigentlich die Überschrift „Rezeptionsschwundstufen“ anstelle der „Rezeptionsschwerpunkte“ gewählt werden. Ein Blick in die Aufführungsstatistik genügt, um zu erkennen, dass Hauptmanns Werke immer weniger gespielt wurden. Gerade die großen Bühnen der DDR schienen die anfänglichen Liberalisierungstendenzen unter Honecker nutzen zu wollen, um ihren neuen Gestaltungsraum mittels moderner, zeitkritischer Stücke auszuloten. Die ansonsten z.T. äußerst Hauptmann-treue Volksbühne, um nur ein Beispiel zu nennen, inszenierte nun z.B. Alfred Matu1317

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Dieter Schiller, Unser Traditionsverhältnis und das klassische Erbe, in: WB 6 (1973), S. 157 f., zit. nach: Dautel, Zur Theorie, S. 73. Dautel, Zur Theorie, S. 102. Jäger, Die Kulturpolitik, in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission, S. 4-27, hier: 23. Jay Rosellini, Wolf Biermann, München 1992, S. 48.

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sches Kap der Unruhe (Spielzeit 1971/72) und Peter Hacks Margarete in Aix (Spielzeit 1973/74). Der Reiz, bisher kaum spielbare Stücke inszenieren zu können, war größer als die Verpflichtung gegenüber dem Erbe. Dies mag eine Ursache dafür sein, dass es in dem Zeitraum vorwiegend die kleinen und mittleren Theater der ‚Provinz’ waren, die dafür sorgten, dass Hauptmanns Werke nicht gänzlich von den Bühnen verschwanden. Bedauerlicherweise stellt sich die Rekonstruktion der Inszenierungsbedingungen und -intentionen sowie der (Publikums-)Reaktionen gerade bei jenen Theatern als äußerst schwierig dar. In den wenigsten Fällen war Material greifbar, das für die Untersuchung hätte herangezogen werden können. Eine interessante Ausnahme markiert das GerhartHauptmann-Theater Görlitz/Zittau, das in dieser Rezeptionsphase mit Schluck und Jau und Michael Kramer (Spielzeit 1970/71 bzw. 1974)1321 sogar gleich zwei Hauptmann-Stücke zur Aufführung brachte – und noch dazu zwei Stücke, die zu den weniger bekannten Stücken aus dem Oeuvre Hauptmanns zählen. Auf dem Dachboden des Theaters entdeckte die Verfasserin ein Programmheft zu eben dieser Schluck und Jau-Inszenierung, aus dem zumindest einige Hinweise zum Charakter der Inszenierung entnommen werden können. Interessanterweise scheint im Görlitzer Theater eine politische Lesart des Stücks vorherrschend gewesen zu sein, die sich deutlich von der bisher kanonisierten Sichtweise auf Schluck und Jau abgrenzte. Das Stück galt in der aktuellen Aufführung nicht mehr als Anschauungsobjekt für „Hauptmanns gesellschaftliche Desinteressiertheit“1322, wie dies Ottofritz Gaillard in seiner Rede zu Hauptmanns 90. Geburtstag 1952 dargestellt hatte, sondern als hellsichtige Parabel auf die Gefährlichkeit und Vergänglichkeit von Macht. Gerade letzterer Aspekt des Stücks, das am 27. November 1971 unter der Regie von Helmut Pollow in Görlitz Premiere feierte, dürfte so manchen Besucher an die Herrschaft und den Sturz Ulbrichts erinnert haben. So wird der Landstreicher Jau, das zum Fürsten-auf-Zeit erhobene „Amüsierobjekt“ einer dekadenten Hofgesellschaft, als ein „Tyrann im kleinen wie nachher im großen“ beschrieben.1323 Ebenso wie Jau wird die Figur Schluck, die eigentlich „freundlich und gütig“, wenngleich „ein wenig ängstlich“ auf das Wohl seines Nächsten bedacht ist, als gleichermaßen „gefährdet wie gefährlich“

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Vgl. hierzu Ur- und Erstaufführungen 1970/71 [TdZ, (1971), H. 10], Dok. 50, in: Rüß (Hg.), Dokumente, S. 244-258, hier: 252; Ur- und Erstaufführungen 1974/75 [TdZ, (1974), H. 8], Dok. 187, in: ebd., S. 1084-1095, hier: 1089. Gaillard, Gerhart Hauptmann, S. 13. K. [vermutlich Dramaturgin Renate Kersten], in: Werner Eisenblätter (Intendant)/ Renate Kersten (Redaktion), Programmheft des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz zu Schluck und Jau, Spielzeit 1971/72.

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dargestellt.1324 „Gefährdet“ erscheinen sie, weil beide Protagonisten letztlich „vollends entwürdigt“ werden, „gefährlich“ ist indessen besonders Jau, weil er sich „in seinem Machtrausch nicht nur gegen die Gesellschaft [wendet]“, sondern schließlich sogar gegen den kunstsinnigen „Schluck und alle [bedroht], die er für seine Gegner hält“.1325 Mehr als wahrscheinlich ist die Annahme, dass derartige Charakterisierungen beim Zuschauer lebendige Assoziationen an die Zeit nach dem 11. Plenum, in dem Ulbricht zum Rundumschlag ausgeholt hatte, hervorgerufen haben. Dass das Gerhart-Hauptmann-Theater in der Tat mehr wollte, als mit einem Klamauk zum „uralten Thema vom ‚König für einen Tag’“ zu unterhalten, geht bereits aus dem Programmheft zur Inszenierung hervor: Wie dort formuliert, erwartete man eine Rezeptionshaltung, die es zulässt, dass der Zuschauer „Entscheidungen findet“ und „politische Erkenntnisse gewinnt“.1326 Und dies mit dem Zusatz: „Auch dann, wenn wir ihm nicht sagen, wie wir möchten, daß er denken soll.“1327 In diesem Sinne vermittelt die Görlitzer Schluck und JauInszenierung einen guten Eindruck von dem Weg in die Emanzipation, den einige DDR-Theater Anfang der 1970er Jahre anstrebten. Dass ein Stück Gerhart Hauptmanns – noch dazu das vielfach geschmähte Außenseiterstück Schluck und Jau – zumindest in Görlitz einen kleinen Schritt zur Bewältigung dieser Wegstrecke beitragen konnte, erweckt den Eindruck, dass man Hauptmann dort noch nicht aufgegeben hatte, sondern nach neuen Potenzialen in seinen Texten suchte. Neben solcherart progressiven Neuperspektivierungen war das Gros der ostdeutschen Theater – wenn sie sich in den ersten Jahren der Honecker-Ära überhaupt mit Hauptmann beschäftigten – um eine Weiterschreibung etablierter Deutungsmuster bemüht. Zur Aufrechterhaltung des gefestigten Kanons der Hauptmann-Klassiker leisteten die folgenden kleinen und mittleren Theater ihren Beitrag: Das Landestheater Eisenach und die Landesbühnen Sachsen/DresdenRadebeul inszenierten den Biberpelz (Spielzeit 1970/71 bzw. 1974), das DeutschSorbische Volkstheater Bautzen zeigte Rose Bernd (Spielzeit 1972/73) und das Landestheater Altenburg spielte Einsame Menschen (1974). Die Ratten fanden sich im Spielplan des Landestheaters Dessau (Spielzeit 1973)1328, des Landestheaters Halle (Spielzeit 1974)1329 und des Theaters Stralsund/Putbus (Spielzeit

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 803. Ur- und Erstaufführungen 1974/75, [veröffentlicht in: TdZ, H., 8, 1974], Dok. 187, in: ebd., S. 1084-1095, hier: 1090.

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1974)1330. Eigentlich hatten auch die Kammerspiele des Deutschen Theaters geplant, Die Ratten Anfang der 1970er Jahre zu inszenieren. Problematische Ausgangsbedingungen und weitreichende Meinungsverschiedenheiten, auf die im nächsten Kapitel einzugehen ist, führten allerdings zur Verschleppung des Vorhabens. Erst 1977 sollten Die Ratten schließlich ihre Premiere erleben.

3.5.

1976-1981: Die krisenhafte Entwicklung nimmt ihren Lauf

3.5.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen Im Rahmen einer Sitzung der Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ im Jahre 1993 sagte Manfred Jäger mit Blick auf die Entwicklung, die Ende 1976 ihren Lauf nahm, dass „das System kulturpolitisch seit mindestens anderthalb Jahrzehnten vor seinem Ende, wenn nicht länger, in der Agonie“1331 gelegen habe. Diese Agonie sei wesentlich durch die skandalöse Behandlung Wolf Biermanns ausgelöst worden: Am 16. November 1976, als ihm der Beschluss zur Ausbürgerung mitgeteilt wurde, befand sich der Liedermacher gerade auf einer Gastspielreise in der BRD. Die Maßnahme Honeckers, die den eingetretenen Wesenswandel seiner Politik am besten illustriert, wurde nicht nur von Heinrich Böll als eine „der größten kulturpolitischen Dummheiten“1332 bezeichnet. Mit der Ausbürgerung Biermanns zerbrachen alle Ansätze des „vertrauensvollen Dialogs“, den die SED-Regierung unter Honecker mit den Kulturproduzenten hatte führen wollen. Dass über hundert ‚Kulturschaffende’ sich an einer Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung beteiligten, verschärfte die Situation. In dem offenen Konflikt wurde deutlich, dass die DDR-Schriftsteller aus der ihnen auferlegten Rolle als Bannerträger der Partei – eine Positionsfestlegung, die auf dem VIII. Schriftstellerkongress (29. – 31. Mai 1978) abermals eingefordert wurde – längst herausgewachsen waren. Wie sich zeigen sollte, standen die Schriftsteller „in den Kämpfen unserer Zeit“1333 nicht (mehr) – wie auf dem Schriftstellerkongress gefordert – auf der Seite der Partei, sondern ihr gegenüber. Im Mai 1979 erging in dieser Situation, 1330 1331

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Ebd., S. 1094. Jäger, Die Kulturpolitik, in: 35. Sitzung der Enquete-Kommission, S. 4-27, hier: 26 f. Vgl. Rainer Eppelmann, der bei gleicher Gelegenheit davon sprach, dass „intellektuell und psychologisch das Ende der DDR sich bereits um 1976 (Biermann-Ausbürgerung und die Reaktionen darauf) angedeutet [habe]“, in: ebd., [S. 2]. Zit. nach Groth, Widersprüche, S. 112. Erklärung der Delegierten des VIII. Schriftstellerkongresses der DDR, in: Schriftstellerverband der DDR, VIII. Schriftstellerkongreß, S. 313 f., hier: 313.

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in der sowohl die Vertrauens- als auch die Machtverhältnisse brüchig gewordenen waren, ein offener Protestbrief von acht Schriftstellern an Honecker, der wie eine Aufkündigung jener Waffenbrüderschaft erscheinen musste. Der u.a. von Jurek Becker, Erich Loest und Klaus Schlesinger unterzeichnete Brief prangerte Zensurmaßnahmen und Versuche an, „kritische Schriftsteller zu diffamieren“ und „mundtot zu machen“.1334 Wie berechtigt die Vorwürfe waren, bewies das daraufhin vollzogene Ausschlussverfahren dieser Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband (insofern sie überhaupt noch dessen Mitglieder waren). Unter Mitwirkung der Parteigremien wurde die Ausschließung, die in gleichem Maße von einem absoluten Willen zur Macht wie auch von einem zunehmenden Kontrollverlust zeugte, von Hermann Kant, dem Präsident des Schriftstellerverbandes, tribunalhaft exerziert.1335 In der Folgezeit verließen zahlreiche Kulturproduzenten die DDR, darunter Benno Besson, Matthias Langhoff, Erich Loest und Jurek Becker. Die zuvor schon unterschwellig schwelende, jetzt aber offen aufgebrochene Legitimationskrise der SED sollte bis zum Ende der DDR anhalten. Die ideologische Eindeutigkeit und Zielgerichtetheit der Kulturpolitik drohten in einem zunehmenden „Klima der Konfusion“1336 unterzugehen. Nahezu krampfhaft hielt man in dieser Phase einer zunehmenden normativen Erosion an dem alten sozialistische Normenkatalog fest, der noch auf dem X. Parteitag der SED (11. April 1981) von Honecker, dem jeder Blick für die Zeichen der Zeit fehlte, erneut gebetsmühlenartig beschworen wurde: „Parteilichkeit, Volksverbundenheit und sozialistischer Ideengehalt sind und bleiben jene Kriterien, an denen sich der Wert eines Kunstwerkes vor allem entscheidet. […] Kernproblem des weiteren künstlerischen Fortschritts ist und bleibt die Darstellung der Arbeiterklasse als führende gesellschaftliche Kraft.“1337 Das Festhalten an den einstmals zentralen sozialistischen Kulturleitbildern der 1950er und 1960er zeugte nicht nur von einem Mangel an neuen Modellen und Lösungsansätzen, sondern auch von einem zunehmenden Argumentationsdefizit 1334

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Joachim Walther/ Wolf Biermann/ Günter de Bruyn/ Jürgen Fuchs/ Christoph Hein/ Günter Kunert/ Erich Loest/ Hans Joachim Schädlich/ Christa Wolf (Hg.), Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 65. Vgl. Groth, Widersprüche, S. 130-133. Das Ausschlussverfahren betraf Kurt Bartsch, Adolf Endler, Klaus Poche, Klaus Schlesinger und Dieter Schubert; die anderen Unterzeichner – Jurek Becker, Martin Stade und Erich Loest – hatten den Verband bereits zuvor verlassen, Loest gehörte dem Leipziger Verband an (ebd., S. 132 f.) Jäger, Kultur, S. 182. Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag ders SED (11.04.1981), in: Erich Honecker, Reden und Aufsätze, Bd. 8, Berlin (Ost) 1983, S. 101, zit. nach: Groth, Widersprüche, S. 150.

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auf Seiten der politischen Führung.1338 Nur in der Theorie und den Reden der Kulturfunktionäre waren diese noch lebendig, die Realität entzog sich dagegen ihrem Zugriff immer mehr.1339

3.5.2. Rezeptionsschwerpunkte Dem kulturpolitisch äußerst schwierigen Jahr 1976 kommt auch in Sachen Hauptmann besondere Bedeutung zu: 1976 bot die 30. Wiederkehr des Todestages von Gerhart Hauptmann Anlass für eine kurzzeitige Belebung der ins Stocken geratenen Rezeption seiner Werke. Dass die Rezeptionskrise aber bereits zu einem allgemein bekannten Faktum geworden war, zeigt z.B. deren Thematisierung während der bereits erwähnten Referentenkonferenz von Lietzow (7. Mai 1976). Dort gestand Rolf Rohmer das Scheitern der Aneignungsbemühungen um Hauptmann ein: Zwar seien sogar die weniger bekannten Werke des Dichters „bei uns durchaus präsent, ja aktuell gewesen“, doch insgesamt sei es „bisher nicht gelungen, Gerhart Hauptmann mit seinem Werk zu einem produktiven, überzeugenden, weiterwirkenden und anregenden Faktor unserer kulturellen Tradition zu machen, wie das mit Goethe, Schiller, Händel, Bach, Shakespeare und anderen zweifellos der Fall“1340 sei. Entgegen der negativen Rezeptionstendenz bemühten sich im Kontext des 30. bzw. 35. Todestages allein in Ostberlin gleich vier Inszenierungen um den zum „Stiefkind der Berliner Bühnen“1341 gewordenen Hauptmann. Diese nachfolgend kurz zu charakterisierenden Inszenierungen näherten sich auf je eigene Weise dem im Raum stehenden Problem der Gegenwartstauglichkeit der Hauptmann’schen Stücke an. Dass sie für die Aktualisierungsproblematik aber keine nachhaltigen Lösungen finden konnten, lässt sich u.a. an einem Beitrag aus dem DDR-Kulturradio von 1978 erkennen. Dort hieß es, dass „Hauptmann, so scheint es, nicht mehr ‚in’“1342 sei. „Die Werke des Dichters, der mehr als ein halbes Jahrhundert die deutsche Bühne beherrschte“, seien, so der Radio-Beitrag, „heute

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Jäger, Kultur, S. 174. Saadhoff, Germanistik, S. 305 f. Rohmer, Gerhart Hauptmann und die Nachwelt, in: Kulturbund, Gerhart Hauptmann und die Nachwelt, o.O. Mai 1976, S. 1-22, hier: 9. Dieter Kranz, Hauptmann und ein Experiment. Einsame Menschen im Maxim Gorki Theater und Jugendprojekt im BE, in: Tribüne (03.02.1978). Wolfgang Stein, in: Morgenmagazin (16.01.1978), Radio DDR I, Kulturpolitik Radio DDR.

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bestenfalls dem Namen nach bekannt“.1343 Diese (durchaus berechtigte) These führte im DDR-Kulturradio zu dem Fazit, dass „[v]on Kontinuität in der Aneignung des Erbes […] hier leider nicht die Rede sein“ könne.1344 Die in Lietzow diskutierte Frage, wie sich die Hauptmann-Rezeption ‚produktiv’ gestalten lasse, beschäftigte nicht nur literatur- und theaterwissenschaftliche Fachkreise, sondern wurde auch, wie am Beispiel der RattenInszenierung des Deutschen Theaters ersichtlich, von Theaterwissenschaftlern und Kritikern in die Öffentlichkeit hineingetragen. Im Kontext der Inszenierung von Hauptmanns Ratten, die am 11. Februar 1977 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ihre Premiere erlebte, wurden grundsätzliche Überlegungen zum Stand des Rezeptionsprozesses Hauptmann’scher Werke laut. Schon die im vorausgegangenen Kapitel erwähnte „katastrophenreiche jahrelange Vorgeschichte“ der Inszenierung bereitete das Feld für derartige Diskussionen: „Fast ein halbes Dutzend Regisseure“ hatte sich dem Hauptmann-Stoff zugewandt, um letztlich zu resignieren.1345 Dass die seit einem Jahrfünft angekündigten Ratten doch noch gezeigt werden konnten, war am Ende dem Schauspieler Klaus Piontek zu verdanken, der mit der Inszenierung seine erste Regiearbeit ablieferte. Zunächst sorgte die Nachricht der Hauptmann-Rückkehr für ein begeistertes Presseecho. In der Neuen Zeit war folgende Beifallsbekundung zu lesen: „Endlich wieder einmal Gerhart Hauptmann auf einer unserer Berliner Schauspielhausbühnen […].“1346 Und die Berliner Zeitung schwärmte: „Die Schauspieler und der Regisseur Klaus Piontek haben einem lange vernachlässigten Dichter neue gebührende Ehre erwiesen.“1347 Entsprechend lobten einige die Tragikomödie in höchsten Tönen: Es handele sich hierbei um „eines seiner stärksten, besten und wichtigsten Stücke“1348, eines, das „wie kaum ein anderes dazu geschaffen [sei], die Vereinsamung des Menschen in der Elendswelt des Imperialismus, die ganze Ausweglosigkeit seines Gefüges zu zeigen“1349. Aus diesem Grund sah man in den Ratten auch „ein wesentliches Werk [des] humanistischen Erbes“1350. Betont anti1343 1344 1345

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Ebd. Ebd. Marianne Eichholz, Gerhart Hauptmanns Ratten in Ostberlin oder Was bringt der Mittelweg? In: Süddeutsche Zeitung (07.03.1977); vgl. Jürgen Beckelmann, Gerhart Hauptmann ohne Zutaten. Die Ratten im DDR-„Deutschen Theater“, in: Frankfurter Rundschau (25.02.1977). Helmut Ullrich, Nöte einer ledigen Mutter. Gerhart Hauptmanns Ratten in den Kammerspielen des DT, in: NZ (16.02.1977). Berlin-Gesicht, in: BZA (12.02.1977). Ullrich, Nöte, in: NZ (16.02.1977). Barbara Witt, Wieder im Repertoire. Premiere von Hauptmanns Ratten im Deutschen Theater, in: Bauernecho (21.02.1977). Ebd.

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nostalgisch hieß es, Die Ratten seien „eines von den zu selten gespielten Stücken Gerhart Hauptmanns, die sehr genau Zeugnis von jener bösen alten Zeit geben“1351. In dieser Wahrnehmung war das Stück bestens geeignet, die Fortschrittlichkeit der sozialistischen Gesellschaft zu unterstreichen. Die sich hinter solchen Zeilen versteckende Hoffnung auf Gegenwartsaffirmation erfüllten Pionteks Ratten dann allerdings doch nicht. Enttäuschung machte sich breit, als die lang erwartete Hauptmann-Inszenierung vielerlei Schwächen zeigte. Bemängelt wurde, dass „kein klarer konzeptioneller Zugriff“1352 spürbar gewesen sei, die Aufführung „[m]erkwürdig flach“1353 gewirkt habe und insgesamt „schleppendlangsam“1354 verlaufen wäre, was u.a. auf die „vordergründig[e] Komik“1355 zurückgeführt wurde. In Bezug auf die erwartete Aktualisierungsleistung wurde kritisiert, dass „keine übergeordnete Idee einer Stückeinterpretation aus der Sicht von hier und heute“1356 hervorgetreten sei. Ähnlich äußerte sich auch Ernst Schumacher über den fehlenden Mehrwert der Inszenierung. In seiner Funktion als Leiter des Lehrstuhls Theorie der darstellenden Künste am Institut für Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität besaß das Wort des „Starkritiker[s] Ostberlins“1357 besonderes Gewicht: „Nach wie vor angezogen von der Lebensechtheit der Hauptmannschen Figuren, bekümmert uns die Undurchschautheit der Ursachen für ihr Verhalten oder stört uns, daß die Kräfte der Veränderung nicht mitgestaltet werden.“1358 Doch sah Schumacher – anders als die meisten anderen Kritiker – die zugrundeliegende Rezeptionsproblematik. Sie führte seiner Einschätzung nach zu einem Umgang mit dem Erbe, den Schumacher folgendermaßen beschrieb: „Aus verschiedenen Gründen trauen wir uns nur selten an eine Bearbeitung, die diese Mängel beheben würde. Die gängigste Form der Aneignung ist daher, sich auf die bestmögliche Anschaulichkeit der Lebensechtheit der Figuren zu werfen und so gut es gehen will, neben den psychologischen die ausgewiesenen oder angedeuteten sozialen Motivationen zu unterstreichen.“1359 1351

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Rolf-Dieter Eichler, Auf der Suche nach Lebenssinn. Hauptmanns Die Ratten in den Berliner Kammerspielen, in: NaZ Berlin (15.02.1977). Eichholz, Gerhart Hauptmanns Ratten, in: Süddeutsche Zeitung (07.03.1977). Christoph Funke, Tragikomödie nur in Stücken. Hauptmanns Ratten in den Berliner Kammerspielen, in: Der Morgen (16.02.1977). Funke, Tragikomödie, in: Der Morgen (16.02.1977). Ullrich, Nöte, in: NZ (16.02.1977). Ebd. Eichholz, Gerhart Hauptmanns Ratten, in: Süddeutsche Zeitung (07.03.1977). Schumacher, Spannung, in: BZ (16.02.1977). Ebd.

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Aus dieser ungelösten Rezeptionsproblematik resultierte im Falle von Pionteks Ratten das „Herkömmliche“, das nur von einzelnen konservativen Kritikern verteidigt wurde1360. Anspruchsvolle Kritiker empfanden die Aufführung dagegen fast schon als langweilig1361. Die „bloße Milieuabbildung“1362 in Spielweise, Maske, Bühnenbild, Kostüm etc. verhinderte in deren Sicht die „Sinnerhellung fürs Ganze“1363. Damit verfehlte die Inszenierung den Nerv der Zeit und die Chance, zur Reaktualisierung Hauptmanns beizutragen. Auch deshalb endete nicht nur Schumacher seine Theaterkritik mit dem Fazit: „Kein Fortschritt bei der Aneignung Hauptmanns.“1364 Die in Pionteks Ratten realisierte Bemühung um Hauptmann wurde auch in der BRD aufmerksam beobachtet – nicht zuletzt weil sich dort die gleiche Rezeptionsproblematik stellte. Das Entscheidungsdilemma zwischen traditionsverbundener und aktualisierender Rezeptionsweise besaß, wie die folgende Kritik nahe legt, auch in der BRD eine existentielle Dimension von Hamlet’schen Ausmaßen: „Aufpolieren oder nicht, das ist die Frage, die sich nun seit Jahren schon bei nahezu allen historischen Stücken stellt. Ibsen, Strindberg, Wedekind und Gerhart Hauptmann – überall in deutschen Landen werden deren Stücke auf ‚Verwendbarkeit’ überprüft.“1365 In der BRD erwartete man von produktiven Rezeptionsleistungen ebenfalls „Zutaten“1366, die mehrwertige Aussagedimensionen erschließen und die Vergangenheit der Gegenwart näher bringen sollten. Nahezu erleichtert nahm man deshalb zur Kenntnis, dass dieses Rezeptionsproblem offenbar „[a]uch in der DDR“ die 1360

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„Ich vermute, andere Kritikerkollegen finden, die Aufführung sei konventionell. Nun hat das Theater fraglos viele Möglichkeiten, sollte man ferner nicht jede Konvention als unnütz, weil überlebt, abtun, und endlich wird man Stücken des Naturalismus schwerlich mit den Methoden etwa des epischen Theaters beikommen können“ (Rainer Kerndl, Abend mit vorzüglichen Darstellerleistungen. Hauptmanns Ratten in den Kammerspielen, in: ND [Berlin, 16.02.1977]). Die entsprechende Anstrengung und Enttäuschung geht z.B. aus der in der Weltbühne abgedruckten Kritik hervor: „Ich weiß nicht, wann und wo ich Die Ratten zuletzt gesehen habe, es muß aber schon einige Zeit her sein; sicher scheint mir, daß ich mich an diese Aufführung von Gerhart Hauptmanns ‚Berliner Tragikomödie’, wie sie in den Kammerspielen des Deutschen Theaters präsentiert wird, nach einiger Zeit schon nicht mehr erinnern werde. Das hat einmal mit dem Stück zu tun. Es hat schwer erträgliche Längen, nicht selten wird die Grenze des Trivialen gestreift“ (Cwojdrak, Die Ratten, in: Die Weltbühne [22.02.1977]). Ullrich, Nöte, in: NZ (16.02.1977); vgl. Schumacher, Spannung, in: BZ (16.02.1977). Ebd. Ebd.; Ebenso: „Die Bemühungen um Hauptmann, einem seit langem sträflich vernachlässigten Dramatiker, müssen weitergehen“ (Funke, Tragikomödie, in: Der Morgen [16.02.1977]). Beckelmann, Gerhart Hauptmann, in: Frankfurter Rundschau (25.02.1977). Ebd.

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Theaterleute beschäftigt und zwar „[a]uch dort nicht ohne Mühe“1367. Die Mühe des Bemühens war Pionteks Inszenierung der Ratten also auch im Westen anzusehen. Doch schienen hier Fragen auf, die gleichsam Unsicherheiten in der Bewertung des zeitgenössischen Theaterbetriebs der DDR erkennen lassen. So fragte eine Kritikerin der Süddeutschen Zeitung: „Was kann der Grund sein für diese entzahnten Ratten?“1368 Angesichts der provokanten Inszenierung von Kleists Michael Kohlhaas, die unter Regie Adolf Dresens unmittelbar zuvor (20. Januar 1977) im Deutschen Theater Premiere gefeiert hatte, sorgte der konservativherkömmliche Purismus jener Inszenierung offenbar für Erstaunen. Wirkte Michael Kohlhaas durch die indirekte Bezugnahme auf die Biermann-Ausbürgerung politisch offensiv, so schienen Die Ratten aus BRD-Sicht sagen zu wollen: „Seht her, so unabhängig sind wir von dem bei jeder Gelegenheit verordneten Kotau gegenüber der Parteilinie, daß wir sogar wagen können, die ‚Sache an sich’ zu bringen[.]“1369 Darüber hinaus fragte man sich in der Süddeutschen Zeitung, ob die fehlende Bissigkeit der Ratten auf einer spezifischen Form der Resonanzkalkulation beruhen könne – etwa in der Hoffnung, naturalistisches Theater pur vermöge all jene „Zuschauer anzuziehen, die bei dem Antireizwort sozialistisches Geistesgut die Flucht antreten und am liebsten den Dauerbrenner Werthers Leiden nach Plenzdorf sehen?“1370 Sicherlich herrschten in der Bevölkerung ein Überdruss an sozialistischer Basissemantik sowie ein Bedürfnis nach Kompensation und Ablenkung. Der Rückgriff auf das „konventionelle Schema“1371 war in diesem Falle letzten Endes aber eher dem mehrfachen Regiewechsel, der hierdurch eingetretenen Verzögerungen und der mangelnden Erfahrung des ‚Endregisseurs’ geschuldet. Wenngleich die Inszenierung von Hauptmanns Ratten sich mit fünfunddreißig Aufführungen recht lange im Spielplan halten konnte, kündigten die skizzierten Reaktionen jedoch an, dass ein derartiges Rezeptionsverhalten längerfristig Stagnation bedeutete. Die „Erbe-Bedürfnisse“1372 des Publikums und das Selbstverständnis des DDR-Sozialismus durchliefen in jener Zeit eine grundlegende Veränderung, mit der die Hauptmann-Rezeption offenbar nicht Schritt halten konnte. Die modifizierte Stimmungslage bot Adaptionen wie Plenzdorfs Neue Leiden des 1367 1368 1369 1370 1371

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Ebd. Eichholz, Gerhart Hauptmanns Ratten, in: Süddeutsche Zeitung (07.03.1977). Ebd. Ebd. Ernst Schumacher, Spannung im vierten Akt. Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten in den Kammerspielen, in: BZ (16.02.1977). Dautel, Zur Theorie, S. 111.

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jungen Werther einen fruchtbaren Resonanzboden und verwies Althergebrachtes auf die Plätze. An der gleichen grundsätzlichen Rezeptionsproblematik, die Ende der 1970er Jahren mit besonderer Dringlichkeit wahrgenommen wurde, kam auch das Drama Einsame Menschen nicht vorbei. Am 14. Januar 1978 feierte das Stück unter der Regie von Thomas Langhoff seine Premiere am Maxim Gorki Theater Berlin. Auch bei Einsame Menschen arbeiteten sich Regisseur und Kritiker an der zentralen Frage ab, „[w]ie kann man Hauptmann heute so spielen, daß er nicht von gestern wirkt, aber auch nicht unangemessen aktualisiert?“1373 Langhoffs Inszenierung gab auf die Frage eine gänzlich andere Antwort als Pionteks Ratten. Zwar bemühte sich auch Langhoff um Originaltreue, doch nahm er sich einige kreative Freiheiten. Deren Umsetzung polarisierte und verschaffte Hauptmann neue Aufmerksamkeit. Neben rigorosen Streichungen, denen sogar der gesamte dritte Akt des Fünfakters zum Opfer fiel,1374 betraf die wohl markanteste Änderung Langhoffs das Ende des Dramas: Begeht der junge Gelehrte Johannes Vockerat aus Verzweiflung über sein zwischen zwei Frauen und zwei Lebensprinzipien hin und her gerissenes Dasein bei Hauptmann Selbstmord, so lässt Langhoff den Selbstmordversuch im Müggelsee erbärmlich scheitern. Durch die gänzliche Entromantisierung erfuhr die Figur des Johannes Vockerat bei Langhoff eine Abwertung zum „Prototyp bürgerlicher Lebensunfähigkeit“1375. Diese Änderung erschien – trotz grundsätzlicher Bedenken darüber, wie weit eine Rezeption gehen dürfe1376 – auf der einen Seite als „ein besserer Schluß als bei Hauptmann“1377. Die Befürworter nahmen Langhoffs Einsame Menschen deshalb als „Inszenierung ohne Verfremdungen“ wahr, die, so der Regisseurskollege Gerhard Piens begeistert, „den Blick von der Vergangenheit des Stücks auf meine Gegenwart“ lenke.1378 Aus dieser Sicht gelang es Langhoff, dass das Stück dem Publikum „unter die Haut geht“1379 und „viel Anregung zum Nach-Denken“1380 gab.

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Günther Cwojdrak, Hauptmann heute, in: Die Weltbühne (24.01.1978). Vgl. Christoph Funke, Attacke gegen Sentimentalität. Einsame Menschen von Hauptmann im Gorki Theater, in: Der Morgen (17.01.1978). Helmut Ullrich, Szenen aus einer vergangenen Zeit. Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen im Berliner Maxim Gorki Theater, in: NZ (18.01.1978). „[W]ohin führt es, wenn Regisseure dazu übergehen, Helden, die der Autor sterben lässt, weiterleben hu lassen oder umgekehrt, Helden, die der Autor am Leben lässt, eigenhändig aus der Welt zu schaffen?“ (Cwojdrak, Hauptmann heute, in: Die Weltbühne [24.01.1978]). Ebd. Gerhard Piens, Einsame Menschen, unnütze Menschen. Gerhart Hauptmanns Drama im Maxim Gorki Theater Berlin, in: TdZ (1978), H. 3. Günter Hofmann, Genussreicher Abend mit frühem Stück Hauptmanns. Zum MesseGastspiel des Berliner Maxim Gorki Theaters, in: Leipziger Volkszeitung (18.03.1980).

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Das Ergebnis sei somit eine „kluge und reizvolle, eine theaterästhetisch interessante Aufführung“, vor allem aber eine neue Sichtweise auf Hauptmann gewesen.1381 In der Jungen Welt zog man sogar das Fazit: „Gerhart Hauptmann hat uns noch allerhand zu sagen.“1382 Allerdings stieß die Inszenierung auch auf konservative Kritiker, die die Demontage der Hautfigur bei Langhoff als Manipulation des Dramas hin zur „Farce“1383 begriffen; für sie zeugte die Inszenierung von einem „missverstandene[n] Hauptmann“.1384 Des Weiteren standen den Lobsprüchen für Langhoffs „Mut, dieses Stück zu wählen“1385, Vorbehalte gegenüber, wonach Hauptmanns Einsame Menschen nichts anderes seien, als „Szenen aus einer vergangenen Zeit, die wenig nur noch angeht“1386. Unter Anlehnung an das nach wie vor gültige Nützlichkeitsprinzip der Kulturbetrachtung hieß dies: „Einsame Menschen, unnütze Menschen.“1387 Weltanschaulich, kulturell wie auch menschlich seien Einsame Menschen sogar so weit von der DDR-Realität entfernt, „dass sie kaum in Beziehung zu den härteren Entscheidungszwängen unserer Epoche gesetzt“1388 werden könnten. Die Konflikt- und Problemstellung des Stücks wurde deshalb als „merkwürdig statisch“1389 wahrgenommen. Größerer Erfolg war dagegen der dritten Hauptmann-Inszenierung dieser Rezeptionsphase beschieden: Am 28. September 1978 feierte das Künstlerdrama Michael Kramer unter der Regie von Wolfgang Heinz im Deutschen Theater Premiere. Dass nach Die Ratten und Einsame Menschen nun sogar Michael Kramer auf die Bühne zurückkehrte, ließ den Eindruck entstehen, dass die „Hauptmann-Rezeption

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den

Berliner

Theatern

allmählich

wieder

Gestalt

an[nimmt]“1390. Nachdem Hauptmann, wie man feststellte, „fast zwei Jahrzehnte

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Ernst Schumacher, Historisch genaue, detailgetreue Inszenierung. Aufführung Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen im Gorki Theater, in: Berliner Zeitung (17.01.1978); Piens, Einsame Menschen, unnütze Menschen, in: TdZ (1978), H. 3. Rainer Kerndl, Schauspiel von Hauptmann in neuer Sicht. Einsame Menschen im Maxim Gorki Theater, in: ND (17.01.1978). Werner Pfelling, Vornehme Sitten, aber leere Welt. Gerhart Hauptmanns Drama Einsame Menschen im Berliner Maxim Gorki Theater, in: JW (17.01.1978). Wolfgang Stein, in: Morgenmagazin (16.01.1978), Radio DDR I, Kulturpolitik Radio DDR. Ebd. Gespräch mit Kulturfunktionären nach der Generalprobe von Einsame Menschen (13.01.1978), zit. nach: Manfred Möckel, Dokumentation im Auftrag des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR [Akademie der Künste, 313]. Ullrich, Szenen, in: NZ (18.01.1978). Piens, Einsame Menschen, in: TdZ (1978), H. 3. Ebd. Rolf-Dieter Eichler, Unerfüllte Sehnsucht nach dem Lebenssinn. Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen im Maxim Gorki Theater, in: NaZ (18.01.1978). Ernst Schumacher, Die unaufhebbare Kluft. Premiere von Hauptmanns Michael Kramer im Deutschen Theater, in: BZ (02.10.1978).

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mit seinem Theaterwerk sozusagen außer Betrieb“1391 war, witterte man angesichts dieser ungewöhnlichen Inszenierungsdichte eine „von langer Hand“ vorbereitete „Hauptmann-Renaissance“.1392 Ein, wie sich noch zeigen wird, voreiliger und damit haltloser Verdacht. Die Michael Kramer-Inszenierung des Deutschen Theaters kam – anders als Einsame Menschen – „ohne Neuerungssucht oder eingreifende ‚Einfälle’“ aus und löste trotzdem – anders als Die Ratten – beim Publikum „[große] Betroffenheit“ aus.1393 Die Theaterkritiken waren sich insgesamt darüber einig, dass Heinz eine „gute Fortführung realistischer Traditionen“1394 geliefert habe: Die „Doppelbödigkeit“1395 des Gezeigten machte die Inszenierung zu einem „assoziationsreiche[n] Denkanstoß“1396. Plötzlich – und daran wird wieder einmal die krisenhafte Erschütterung bislang gültiger Interpretationsweisen deutlich – wurde das lange Zeit vergessene, „schwierige Stück“1397 als „Schlüsselwerk“1398 im Hauptmann’schen Oeuvre und als „wichtiger Teil unseres Erbes“1399 wahrgenommen. Dass es Heinz gelang, Publikum und Theaterkritik davon zu überzeugen, dass Michael Kramer „durchaus Reiz und Wert für unsere Bühnen hat“1400, mag vor allem an seiner Fähigkeit gelegen haben, mit seiner Regiearbeit „Genuß und Nachdenklichkeit“1401 zugleich zu erzeugen. Den erwarteten ‚Mehrwert’ erhielt die Inszenierung dadurch, dass Heinz dem Stück „auf einmal ganz überraschende Dimensionen“1402 abgewann, die – je nach Perspektive – einen eigenen Eindruck „bedrängende[r] Aktualität“1403 zu vermitteln vermochten. So erfuhr ein Westberliner Kritiker des Tagesspiegel von „ein paar jüngere[n] Freunde[n]“, dass das

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Friedrich Luft, Das Spiel der Mißgeburt mit dem göttlichen Funken. In Ost-Berlin begannen die „Festtage 1978“ – Das Deutsche Theater mit Gerhart Hauptmanns Drama Michael Kramer, in: Die Welt. Ausgabe Berlin (04.10.1978). Michael Stone, Die neuen Leiden des jungen K.. Hauptmanns Michael Kramer zur Eröffnung der Ost-Berliner Festtage, in: Tagesspiegel (07.10.1978). Luft, Das Spiel, in: Die Welt. Ausgabe Berlin (04.10.1978). Schumacher, Die unaufhebbare Kluft, in: BZ (02.10.1978). L. Gitzel, Grenzen und Größe aufgezeigt. Gerhart Hauptmanns Michael Kramer am Deutschen Theater neu inszeniert, in: Bauernecho (02.10.1978). Günther Bellman, Mit tödlichem Ausgang. Michael Kramer im Deutschen Theater, in: BZA (02.10.1978). Werner Pfelling, Ein junger Maler zwischen Behauptung und Untergang. Gerhart Hauptmanns Drama Michael Kramer im Deutschen Theater Berlin inszeniert, in: JW (04.10.1978). wh., Entdeckungen im Werk Gerhart Hauptmanns. Wolfgang Heinz inszenierte im Deutschen Theater das Drama Michel Kramer, in: (o.A.). Schumacher, Die unaufhebbare Kluft, in: BZ (02.10.1978). Wolfgang Gersch, Starke Erschütterungen bewegen die Figuren. Berliner Festtagspremieren. Zu einem neuen Gegenwartsstück und einer Hauptmann-Aufführung, in: Tribüne (06.10.1978). Pfelling, Ein junger Maler, in: JW (04.10.1978). wh., Entdeckungen, in: (o.A.). Ebd.

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Stück diese „stark an Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen Werther erinnert“ habe.1404 Arnold Kramer, das Kunstgenie, das sich in einem erbitterten Konflikt mit seinem Vater und der ihn umgebenden Umwelt bis zum Äußersten aufreibt, besaß für diese Rezipientengruppe offenbar besonderes Identifikationspotenzial. „Das ist genau unsere Situation“, sollen sie dem Kritiker gesagt haben, der erklärend hinzufügte: „[S]ie wissen wogegen sie sind; sie haben keine Ahnung, wofür sie sein sollten.“1405 Dass jener Kritiker eingestand, dass ihm „dieser Bezug zur Gegenwart nicht so zwingend aufgefallen“1406 wäre, gemahnt an die Kontextabhängigkeit von Decodierungsleistungen im Allgemeinen und den Unterschied zwischen BRD- und DDR-Perspektive im Besonderen. Aus DDR-Perspektive war es hingegen nicht nur der „Aufschrei gegen die ewige Bevormundung durch die Eltern“1407, der zum Nachdenken anregte. Schließlich war offensichtlich, dass „es hier um weit mehr als nur den VaterSohn-Konflikt, die Familien-Tragödie geht“1408. Das politische ‚Mehr’ in den Zeitungen zu artikulieren, war jedoch immer noch heikel. Deshalb wurde die übergeordnete Problematik des Michael Kramer, die – so Ernst Schumacher – in der „Unverträglichkeit und Unvereinbarkeit von ‚Geist und Macht’“ bestand, in den Kritiken zumeist auf die „spätbürgerliche Gesellschaft“ bezogen.1409 Hinzufügungen wie „in der ‚Wilhelminischen Ära’“1410 und „um 1900“1411 sollten (vordergründig) den gesellschaftskritischen Aspekt der Inszenierung als historische Zeitkritik ausweisen. Zwischen den Zeilen klang allerdings an, dass der gezeigte „Zusammenprall mit einer banausischen, philiströsen, aufs widerlichste brutal bornierten Umwelt, die Konturen einer kunst- und geistfeindlichen Zeit“1412, keineswegs nur rein historisch verstanden werden konnte. Vor dem Hintergrund, dass Biermanns Ausbürgerung zu dieser Zeit noch keine zwei Jahre zurücklag und der Protest namhafter Kulturproduzenten gegen Zensur und Bevormundung wuchs, fiel es sicherlich so manchem Betrachter schwer, die in Michael Kramer vor Augen geführte „Menschen-, Geist- und Kunstfeindlichkeit“1413 ausschließ1404

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Michael Stone, Die neuen Leiden des jungen K.. Hauptmanns Michael Kramer zur Eröffnung der Ost-Berliner Festtage, in: Tagesspiegel (07.10.1978). Ebd. Ebd. Pfelling, Ein junger Maler, in: JW (04.10.1978). wh., Entdeckungen, in: (o.A.). Schumacher, Die unaufhebbare Kluft, in: BZ (02.10.1978). Gersch, Starke Erschütterungen, in: Tribüne (06.10.1978). Helmut Ullrich, Ein Vater und sein Sohn – Künstlerdrama 1900. Wolfgang Heinz inszenierte am Deutschen Theater Gerhart Hauptmanns Drama Michael Kramer, in: NZ (02.10.1978). Ebd. wh., Entdeckungen, in: (o.A.).

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lich auf den „Imperialismus wilhelminischer Prägung“1414 zu beziehen. Die Konstellation der Handlung weckte fast zwangsläufig aktuelle Assoziationen an Honecker und seine Funktionäre: Im Mittelpunkt stand der Konflikt von ‚Geist’ und ‚Macht’, wobei der ‚Geist’ von einem „rebellisch, sich verweigernd, selbstzerstörerisch artikulier[enden]“ Sohn und die ‚Macht’ von einem „Vater, der immer nur das Beste will,“ sowie von einer „Horde von Spießern“ verkörpert wurde, „die nur das Schlechteste wollen kann, was immer sie tut“.1415 Die aktuell-politische Lesart entsprach – wie der Erläuterungstext des Programmhefts andeutet – durchaus dem, was die Macher der Inszenierung im Sinn hatten: „Möglicherweise überfordert das Wort Protest bereits, was sich hier ereignet. Eigentlich ist es einfach der Versuch der Abgrenzung des humanistischen Künstlers von einer lebens- und kunstfeindlichen bourgeoisen Umwelt, sein Bemühen um eine annehmbare Gegenposition.“1416 Dass der Hauptfigur des Michael Kramer am Ende doch noch die Erkenntnis des „menschlich-gesellschaftlichen Aspekt[s] der von ihm bis dahin nur moralisch bewerteten künstlerischen Krise seines Sohnes“ erwächst, wollte man im Programmheft als Anlass zur Zuversicht verstehen. Dort ist auf der letzten Textseite ein versteckter gesellschaftspolitischer Akzent angebracht: „Die gewonnene Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen und zu fragen, läßt uns hoffen.“1417 Angesichts der behutsamen, gekonnt mehrdimensionalen ‚Vergegenwärtigung’ eines Hauptmann-Stücks überrascht es nicht, dass das Fazit, das die Berliner Zeitung am Abend aus Wolfgang Heinz’ Inszenierung des Michael Kramer zog, folgende verblüffte Exklamation war: „Das ist kein Literaturmuseum!“1418 In der Spielzeit 1980/81 kehrte – pünktlich zum 35. Todestag Hauptmanns – Der Biberpelz in einer „lange erwarteten Inszenierung“1419 nach Berlin zurück – zuletzt war das Stück dort 1962 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu sehen gewesen. Nicht nur spielte der vom Publikum – so die Pressestimmen – ersehnte Biberpelz „endlich wieder auf der Bühne des Hauses, wo er hingehört“1420, die Komödie bildete gleichzeitig den offiziellen Beitrag der Volksbühne 1414 1415 1416

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Ebd. Schumacher, Die unaufhebbare Kluft, in: BZ (02.10.1978). Einige Bemerkungen zum Stück, in: Gerhard Wolfram (Intendant)/ Helmut Rabe (Red.), Programmheft Michael Kramer, 93. Spielzeit, 1978. Ebd. Günther Bellman, Mit tödlichem Ausgang. Michael Kramer im Deutschen Theater, in: BZA (02.10.1978). L. Gitzel, Erfreuliche Begegnung mit Mutter Wolffen. Ein zünftiger VolksbühnenAbend mit Hauptmanns Biberpelz, in: Bauernecho (21.10.1980). Rainer Kerndl, Deftiges Vergnügen an einem Abend exzellenten Volkstheaters. Hauptmanns Biberpelz an der Volksbühne inszeniert, in: ND (13.10.1980).

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zu den XXIV. Berliner Festtagen des Theaters und der Musik. Laut Neuem Deutschland war es das Anliegen der Festtage, „den hohen Entwicklungsstand unserer sozialistischen Nationalkultur, ihre internationale Bedeutung und Weltoffenheit eindrucksvoll [zu] dokumentieren“1421. Die Biberpelz-Premiere am 11. Oktober 1980 bildete eine von insgesamt neun Premieren, die im Rahmen dieser „nationale[n] Leistungsschau sozialistischer Theater- und Musikkultur in der DDR“1422 gefeiert wurden. Mit einer Fülle von 290 Veranstaltungen „reiht[e] sich dieses große Festival der Künste würdig in die Aktivitäten zur Vorbereitung des X. Parteitages der SED ein“1423 – so der Wortlaut des Neuen Deutschland, der die anhaltende Unterordnung von Kunst und Kultur unter die Politik signalisiert. Schließlich war die Völkerverständigung – das Motto der Festtage – politisch imprägniert: Die Festtage sollten ein „Forum für die Kultur vom Kolonialismus befreiter Völker“ bilden. Der Biberpelz stand so neben Beiträgen aus Tunesien, der VR Moçambique und dem Nationalballett Kolumbiens.1424 Eine Verortung, die aus marxistisch-leninistischer Sicht keineswegs abwegig war, da die Handlung des Biberpelz selbst der imperialistischen Vergangenheit Deutschlands entstammte. Die Volksbühne hatte noch weitere Beweggründe, den Biberpelz für jenen gewichtigen Anlass hervorzuholen: „In neuer Besinnung auf seinen Namen ‚Volksbühne’ wendet sich das Theater am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz schon seit längerem dem Thema Berlin zum einen und dem volkstümlichen Theater (in bestem Wortsinne) zum andern zu. Ganz in diesem Geiste inszenierte man als hauseigenen Beitrag zu den Festtagen 1980 das ‚berlinischste’ aller Stücke von Gerhart Hauptmann – den Biberpelz.“1425 Der Tendenz hin zu einer neuen Volkstümlichkeit und Lokalkoloritpflege entsprach das die Inszenierung begleitende „Spektakel“1426: Zum Atmosphärenzauber à la „Alt-‚Berliner Luft’“1427 trugen fünf Nachprogramme bei, die die Zuschauer in den Salons, Foyers und im Parkett-Café der Volksbühne erwarteten. „[I]n einem eigens dafür aufgebauten Berliner Bierzelt“ wurden „Lied- und Text-

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K. J. Wendlandt, Berliner Festtage – weltoffenes Forum humanistischer Kultur, in: ND (Berliner Ausgabe, 09.09.1980). Ebd. Ebd. Ebd. G. H., Spektakel in der Volksbühne. Berliner Theater mit attraktivem Programm zu den Festtagen. Biberpelz und anderes, in: Der Morgen (29.09.1980). Ebd. Ernst Schumacher, Komischer Widersinn eines Gemeinwesens. Zur Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Biberpelz an der Volksbühne, in: BZ (14.10.1980).

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beiträge aus dem alten und neuen Berlin geboten“1428, zudem wurden Szenen aus Sudermanns Heimat1429 sowie aus Sternheims Komödie Perleberg gezeigt, wobei letztere als „amüsantes i-Tüpfelchen dieses zünftigen Volksbühnen-Abends“1430 geglänzt haben sollen. Wenngleich das Zusatzprogramm die Resonanz steigerte und als Indiz für eine „gründliche Beschäftigung mit der Zeit, in der Gerhart Hauptmann den Biberpelz schrieb“1431, ausgelegt wurde, zeugen bereits die vorausgegangenen Beschreibungen vom veränderten Charakter des Stücks. Dessen neuer ‚Event-Charakter’ wurde einerseits besonders gelobt: Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering hätten „inszeniert, daß einem das Herz aufgeht“1432 und zwar „geradlinig, hell, heiter“1433 und den „Eindruck komödiantischer Überfülle“1434 erzeugt. Andererseits rief gerade dies Kritik hervor: Die Inszenierung des Biberpelz durch die Volksbühne, so wurde in der Neuen Zeit angemerkt, sei „mitunter recht klamottenhaft“ geraten, sie biete „vornehmlich Satire“, mit dem Ergebnis, dass „darüber dann allerdings sein sozialer Inhalt zu kurz [kommt]“.1435 Die in Hinblick auf Hauptmanns Original abweichende Gewichtung sah man in der Neuen Zeit wie folgt: „Der ganze runde Biberpelz ist es so nicht, was da vorgeführt wird. Die Gewichte sind verschoben. Was in der Kate der Mutter Wolffen geschieht und wie diese Frau gewitzt und zäh ihren Lebenskampf führt, das will gar nicht mehr so wesentlich erscheinen; den Vorzug erhalten die Vorgänge in Herrn von Wehrhahns Amtsstube als Exemplum eines ebenso dummen wie gefährlichen Beamtentums. So aber kann denn auch die Wolffen gar nicht mehr so richtig die Mittelpunktsfigur sein, […].“1436 Im Gegensatz zu Brechts Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Biberpelz und roter Hahn von 1951 wurde die bei Brecht stark betonte und bei Hauptmann deutlich angelegte kriminelle Entwicklung der Mutter Wolffen in der Volksbühne vernachlässigt: dort „ordnet[e] sich“ dieser Zug der Handlung „als einer unter 1428 1429

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Neuer Biberpelz, in: NZ (05.10.1980). „Ist denn Sudermann, den Herbert Ihering und Alfred Kerr schon vor sechzig Jahren auf den Kehrichthaufen der Kitsch-Dramatik verwiesen, für uns noch spielbar? Sudermann natürlich nicht. Aber unsere Sicht auf Sudermann, unsere Sicht auf eine Zeit, in der solche Literatur und Dramatik möglich und attraktiv waren. Als ein literaturhistorisches, dennoch volkstümliches Amüsement hat sich ein Team der Volksbühne Szenen aus dem Drama Heimat vorgenommen, […]“ (Horst Heitzenröther, Nicht spielbar? SudermannDrama im Biberpelz-Nachprogramm, in: NaZ Berlin [29.10.1980]). Gitzel, Erfreuliche Begegnung, in: Bauernecho (21.10.1980). Ebd. Kerndl, Deftiges Vergnügen, in: ND (13.10.1980). Gitzel, Erfreuliche Begegnung, in: Bauernecho (21.10.1980). Auszug aus der Sendung „Atelier und Bühne“ des Berliner Rundfunks (19.10.1980). Gespräch mit dem Kritiker Dieter Kranz, S. 3, zit. nach: Inszenierungsmappe (THA VB). Ullrich, Komik, in: NZ (16.10.1980). Ebd.

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vielen ins Gesamtbild ein“.1437 Sah Brecht Veranlassung, die latente Bedrohlichkeit der Witzfigur des Amtsvorstehers vor dem noch frischen Eindruck des zurückliegenden ‚Dritten Reiches’ deutlich hervorzukehren, so zeigte die Inszenierung der Volksbühne eine tendenziell unpolitische Interpretation: „Die Gefährlichkeit, die in der haarsträubenden Blödheit solcher Typen liegt, wird allerdings nicht mitgefasst.“1438 Trotz oder gerade wegen der Gewichtsverlagerung hin zum „deftigen Vergnügen“1439 war dem Biberpelz in seiner „urkomödiantischen, klug durchdachten Inszenierung“1440 nicht nur an der Volksbühne, wo das Stück im Januar 1984 seine 100. Aufführung feierte,1441 ein großer Publikumserfolg beschieden:1442 Zum Welttheatertag 1983 wurde das Schauspiel in einer Fernsehfassung der Regisseure Helmut Straßburger und Margot Thyrêt deshalb auch dem Fernsehpublikum zugänglich gemacht.1443 Jene Biberpelz-Inszenierung und ihre Fernseh-Variante können damit als ein anschauliches Beispiel für die „kompensatorische Funktion“1444 des DDR-Theaters gelten. Mit ihrer heiteren Unbeschwertheit verschafften sie all jenen gerade nicht zur kritischen Reflextion geneigten Betrachtern Entlastungsmomente und eröffneten Rückzugsmöglichkeiten aus einer als bedrückend empfundenen Gegenwart der politischen Stagnation. Nicht nur in Berlin sorgte Der Biberpelz in der Spielzeit 1981/1981 in erster Linie für Unterhaltung: im Kleinen Haus des Staatstheaters Dresden feierte die Diebskomödie als Weihnachtsstück in einer Inszenierung von Hanns Fischer am 26. Dezember 1981 Premiere. Auch in Dresden war dies die erste Hauptmann-Inszenierung „[n]ach längerer Pause“1445 – zuletzt hatte man 1969 Vor Sonnenaufgang gespielt. Die Pressestimmen und Theatermaterialien lassen erkennen, dass die Dresdner Inszenierung weitestgehend identischen Rezeptionsstrategien folgte wie die Inszenierung der Volksbühne und einen vergleichbaren 1437 1438

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„Atelier und Bühne“, S. 3, zit. nach: Inszenierungsmappe (THA VB). Ebd.; „Fraglos ist Günter Junghans der Mann, einen schneidig-dummen adligen Polizeimenschen wirkungsvoll zu typisieren, aber hintergründige Gefährlichkeit deutet sich da nur wenig an“ (Gerhart Hauptmanns Der Biberpelz und 5 Nachprogramme in der Volksbühne Berlin, in: Stimme der DDR vom 19.10.1980, Manuskript von Horst Heitzenröther, S. 3 [THA VB]). Kerndl, Deftiges Vergnügen, in: ND (13.10.1980). Vera Böhm, Totale oder Gesicht. Der Biberpelz zum Welttheatertag. Sonntag 20:00 DDR-Fernsehen 2, in: FF Dabei. Programmillustrierte Berlin (16.03.1983). Hunderster Biberpelz, in: NaZ Berlin (10.01.1984). So soll schon die Premiere ein „richtiger kräftiger Publikumserfolg mit Szenenapplaus und Bravorufen im Schlußbeifall“ gewesen sein („Atelier und Bühne“, S. 1, zit. nach: Inszenierungsmappe des THA VB); „[…] und die Publikumszustimmung erreichte Jubelstärke“ (Stimme der DDR, Manuskript, S. 4 [THA VB]). Böhm, Totale, in: FF Dabei (16.03.1983). Ralph Hammersthaler, Die Position des Theaters in der DDR, in: Christa Hasche/ Traute Schölling/ Joachim Fiebach, Theater in der DDR. Chronik und Positionen, Berlin 1994, S. 151-261, hier: 252. Pressemeldung: Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz (THA DD).

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Erfolg erzielte: Auch hier konnte „eine Riesenschlange Einlasssuchender [an der Abendkasse], Szenenbeifall und tobender Schlussapplaus“ verzeichnet werden, vor allem aber „ein Publikum, das sich fröhlich und tief befriedigt eines Sinnes fühlt[e]“.1446 Dabei war nicht zu übersehen, dass es „wohl mehr die Diebskomödie als die Justizfarce [war], der die Herzen zufallen, und vor allem das märchenschöne Happyend, in dem der Volkswitz über den bornierten Beamtendünkel triumphiert“1447. Der „Theaterabend macht[e] Freude“1448 und erfüllte – statt der in den 1950er und 1960er Jahren intendierten politischen Bewusstseinsschulung – beim Publikum den kompensatorischen Effekt der komödiantischen Form. Gesellschaftliche Missstände und das gesellschaftsschädigende Fehlverhalten Einzelner wurden nicht vertieft, sondern mit den Mitteln braver Humorbewirtschaftung überdeckt. Der Verdacht, dass dieses Kalkül die Inszenierung von vornherein bestimmte, wurde sogar in der Union geäußert: „Vielleicht ist da sehr kräftig, sehr wirkungssicher und nicht ganz ohne listiges psychologisches Spekulieren alles ein bisschen vereinfacht worden.“1449 Dass „das Komödiantische kräftig aus[ge]stellt“1450 wurde, hatte zur Folge, dass „die existenzbedingte Härte und der bös-egoistische Zug auf der Strecke bleiben“1451 und die gezeigte Handlung ihren „hintergründigen Humor und sozialen Ernst vermissen lässt“1452. Einbußen, die man bewusst in Kauf zu nehmen schien und die viele Kritiker, angesichts des vermeintlich saturierten Entwicklungsstandes der Gesellschaft, bereit waren zu akzeptieren: „Fischer interpretiert ebenfalls wirksam: aus dem Bewusstsein, dass unsere Gesellschaft sich leisten kann, in solchem Fall auch einmal auf den genauen Aufriß der bösen geschichtlichen Zustände zu verzichten. Er erzählt die Geschichte auf einer etwas anderen Ebene, und auch da stimmt sie.“1453

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Uta Dittmann, Die Premiere Der Biberpelz. Am Staatsschauspiel, in: Union, (09.01.1982); vgl. Lothar Ehrlich, Biberpelz-Aufführung wurde mit viel Beifall aufgenommen. Zur jüngsten Premiere des Schauspielensembles der Staatstheater Dresden, in: SZ (07.01.1982). Dittmann, Die Premiere Der Biberpelz, in: Union (09.01.1982). Ebd. Ebd. Dieter Zumpe, Kabinettstückchen für sich … Zur Aufführung von Hauptmanns Stück Der Biberpelz, in: Sächsisches Tageblatt (13.01.1982). Ebd. Ebd. Heitzenröther, Betonung, in: NaZ (03.02.1982).

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Die Interpretationsrichtung wurde in Dresden durch den gewählten Rahmen akzentuiert: Wie in Berlin suchte man die Zuschauer schon im Kassenraum und Foyer auf die Aufführung einzustimmen. Eine Ausstellung zum „Großstadtleben gegen Ende der 80er Jahre“ war dort arrangiert, „gesehen aus dem Blickwinkel von Leuten der sozialen Lage und des Lebensanspruchs wie etwa Frau Wolff“.1454 Dass wieder einmal die Unterhaltung im Vordergrund stand, legt der Hinweis im Konzeptionsmaterial nahe, wonach „[m]inutiöse historische Genauigkeit nicht verlangt“ wurde.1455 Außerdem sei „[n]icht beabsichtigt, durch Dokumentation von sozialem Elend ein Alibi für die Aufnahme des Stücks in das Repertoire zu schaffen“1456. Die Ausgestaltung des Foyers, das gemäß dem Motto „Altberliner Rummelplatz“ ausstaffiert war, sollte den „volkstümlichen Charakter“1457 des Stücks untermalen: So erwarteten die Zuschauer „Schießbude“, „Kolonialpanoptikum“ und „Wild-West-Schau“.1458 Ironischerweise bot gerade die Wild-West-Schau den einzigen politischen Fingerzeig, den sich die Dresdener Inszenierung leistete. In den Konzeptionsunterlagen findet sich der Vermerk, dass eine anti-amerikanische Aufladung der Wild-West-Schau willkommen sei: So dürfe „der Büffelmörder [natürlich] wie Ronald Reagan aussehen“1459. Wie bzw. ob der Hinweis umgesetzt wurde, konnte im Theaterarchiv nicht mehr ermittelt werden. Feststeht, dass Inszenierung und Beiwerk offenbar ganz nach dem Geschmack des Publikums waren – dies geht zumindest aus den Pressestimmen hervor. Dass eine fast unpolitische Inszenierung zum „langentbehrte[n] ‚Knüller’“ werden konnte, „der die Leute ins Theater zieht“,1460 kann – ähnlich Pionteks Inszenierung der Ratten in den Kammerspielen des Deutschen Theaters – als Indiz für die Politikverdrossenheit und Ablenkungsbedürftigkeit des Publikums gewertet werden. Nach den vier Ostberliner Inszenierungen und der Inszenierung des Biberpelz am Staatstheater Dresden soll abschließend noch auf eine Inszenierung hingewiesen werden, die weitab der großen Spielstätten die Bearbeitung eines 1454

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Gerhard Piens (Dramaturg), Zum Drum und Dran der Inszenierung Biberpelz (01.09.1981) (THA DD). Laut Konzeptionsunterlagen sollten in der Ausstellung „Arbeits- und Lebensweise, Wohnungssituation, auch Zweckentfremdung von Wohnungen für Heimarbeit und Handwerk, Familienleben, Vergnügungen, Leitbilder, Idole wie Kaiser und Militär und Paraden eingeschlossen, Aufsteigerträume und andere Wunschvorstellungen, politische Einbindungen unterer Schichten, darunter auch klassenfremde, irrtümliche etc. vorgeführt werden“ (ebd.). Ebd. Ebd. Pressemeldung: Gerhart Hauptmann, Der Biberpelz (THA DD). Piens, Zum Drum und Dran (THA DD). Ebd. Dittmann, Die Premiere Der Biberpelz, in: Union (09.01.1982).

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weniger bekannten Hauptmann-Stücks zur Aufführung brachte. Am Volkstheater Stralsund erlebte das Antikriegsstück Herbert Engelmann am 30. Juni 1981 in der Bearbeitung Carl Zuckmayers und unter der Regie von Manfred Heine seine DDR-Erstaufführung. Bis dato hatte nur das Theater Putbus Hauptmanns Herbert Engelmann gespielt (Spielzeit 1962/63)1461 – und zwar nur in der originalen Fragmentfassung. Zuckmayers Bearbeitung hätte theoretisch bereits dem damaligen Inszenierungsvorhaben des Theaters Putbus zur Verfügung gestanden: In der vervollständigten Fassung Zuckmayers hatte das Drama schon 1952 am Wiener Burgtheater – mit O. W. Fischer in der Titelrolle – seine Uraufführung erlebt. Die deutsche Erstaufführung fand wenig später, am 12. April 1952, unter der Regie Otto Kurths und in Anwesenheit Zuckmayers am Westberliner Theater am Kurfürstendamm statt. Dass man sich in der DDR nicht früher auf die Inszenierung dieser Hauptmann-Bearbeitung besonnen hatte, lag im Wesentlichen an Zuckmayers Nachkriegs-Biografie. 1946 war er als Kulturbeauftragter der US Army nach Deutschland zurückgekehrt, wo er einen Bericht über den Stand des kulturellen Lebens und dessen Auf- und Ausbaumöglichkeiten erarbeiten sollte. Mit Des Teufels General (UA 1946) schuf Zuckmayer eines der wichtigen Dramen der Nachkriegszeit, das in der SBZ allerdings für „unspielbar“1462 erklärt wurde. In der DDR galten seine Stücke, insbesondere das Atom-Drama Das kalte Licht (UA 1955), lange Zeit als „bewußt antikommunistisch und verständigungsfeindlich“1463. Abgesehen davon, dass Zuckmayer die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, war für seine Spielbarkeit in der frühen DDR ebenfalls abträglich, dass er 1955 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der BRD ausgezeichnet wurde.1464 Die DDR-Erstaufführung seiner Herbert Engelmann-Bearbeitung erlebte Zuckmayer nicht mehr; er starb 1977 in der Schweiz. Bei Zuckmayers Bearbeitung hatte es sich ursprünglich um einen Auftrag der Hauptmann-Erben gehandelt, den der Schriftsteller nur allzu bereitwillig annahm. Schließlich war Carl Zuckmayer seit Jugendtagen ein bekennender Hauptmann-Verehrer.1465 Zweifelsohne hatte er entsprechend viel Aufwand in 1461 1462

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Vgl. S. 217 f. Otto F. Riewoldt, Von Zuckmayer bis Kroetz. Die Rezeption westdeutscher Theaterstücke durch Kritik und Wissenschaft in der DDR, Berlin 1978, S. 10. Mittenzwei, Deutsche Dramatik gegen die Atomkriegsgefahr, in: Frieden und Sozialismus, Berlin (Ost), 1961, S. 201-260, hier: S. 209, zit. nach Riewoldt, Von Zuckmayer, S. 91f. Vgl. insgesamt Riewoldt, Von Zuckmayer, S. 82-88. Wie Zuckmayer in seinen Erinnerungen Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft schrieb, war Hauptmann für ihn „die größte Dichtergestalt des Jahrhunderts, selbst wenn er nichts als die Monologe des Michael Kramer geschrieben hätte“ (ders., Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Wien 1966, S. 420). Um 1925, der Zeit der ersten Begegnung mit Hauptmann, empfand er ihn sogar als „Erzvater und Legende,

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seine an eigenen Maßstäben ausgerichtete Bearbeitung1466 des Herbert Engelmann investiert, der ihm in Westberlin nicht wirklich gedankt wurde.1467 Dort hatte man in seiner Vervollständigung eine Bearbeitung „ohne literarischen Gewinn“1468 gesehen, „eine Mischung aus ‚Pension Schöller’ mit einem mäßigen Kriminalreißer“1469. Auch 1981 waren die Reaktionen auf die Herbert Engelmann-Bearbeitung Zuckmayers zwiespältig. Auf der einen Seite wurde der „Entdeckermut des Hauses für dieses Projekt“ und das darin erkennbare „Engagement für Humanismus“ gelobt.1470 Schließlich wusste man den Seltenheitswert der Inszenierung zu schätzen, denn „Gerhart Hauptmanns Werke sind auf unseren Bühnen so rar geworden, dass ihre Aufführung schon wieder Ereignis ist“1471. Auf der anderen Seite zeichnete sich die „neuartige und produktive Auseinandersetzung des Stralsunder Ensembles“1472 mit Herbert Engelmann durch schockierende Effekte aus, die als gewöhnungsbedürftig angesehen wurden, aber mit der fehlenden Routine im Umgang mit Hauptmann wohlwollend entschuldigt wurden: „Seit wir mit des Dichters Stücken nicht mehr regelmäßig umgehen, tun sich auch die Schauspieler und Regisseure schwer, in den sozialen und

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Mythos und brennende Wirklichkeit zugleich“ (ebd.). Machatzke hatte entsprechend von einem „Schüler-Lehrer-Verhältnis“ zwischen Zuckmayer und Hauptmann gesprochen (Machatzke, Editorisches Nachwort, in: CA, XI, S. 1283-1331, hier: 1287). „Es ist, obwohl auf eine ganz bestimmte, scharf abgegrenzte Epoche fixiert, kein ‚Zeitstück’ – es ist eine menschliche Tragödie, von der man eher sagen könnte, dass sie ‚zwischen den Zeiten’ stattfindet, und deren Probleme und Charaktere nicht unter einem aktuellen Aspekt anzuschauen sind“ (Zuckmayer, Nachwort: Gerhart Hauptmann/ ders., Herbert Engelmann, Drama, Bühnenausgabe, München 1952, S. 157). „Hauptmann wusste, weswegen er das Stück in seinen Schreitisch versenkte“ (E. K., Hauptmann selbst war dagegen. Eine Nachlassaufführung ohne Notwendigkeit, in: Morgen [18.04.1952]). „Der Herbert Engelmann bleibt ein krankhaft überreizter, ein bedauernswerter Einzelfall. [...] Dennoch, wenn sich schließlich Zuckmayer als Bearbeiter auf der Bühne zeigt, möchte man ihm als Bukettschleife einen Zettel hinwerfen: ‚Pietät ist, wenn man manchmal schweigt.’ Und wenn man den Willen des Dichters mehr respektiert als den der eifrigen Nachlaßverwalter“ (Werner Fiedler, Zwei Dichter und kein Stück. Herbert Engelmann am Kurfürstendamm, in: Tag [13.04.1952]). Vgl. Felix Henseleit, Die Erlösung des Verdammten. Herbert Engelmann im Theater am Kurfürstendamm, in: Kurier (12.04.1952). E. K., Hauptmann selbst war dagegen, in: Morgen (18.4.1952). Fiedler, Zwei Dichter und kein Stück, in: Tag (13.4.1952). Ingrid Seyfarth, Herbert Engelmann von Gerhart Hauptmann/ Carl Zuckmayer –DDRErstaufführung: Theater Strahlsund, in: Sonntag, 31/1981, zit. nach: Dokumentation im Auftrag des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR, Joachim Giehm, HauptmannPflege am Theater Stralsund [Archiv der AdK]. „Hier formuliert Hauptmann deutlich seine humanistische Antikriegsposition. Sie ist Quintessenz seiner bitteren Erfahrungen und Enttäuschungen“ (Theater Stralsund, Programmheft Nr. 13, S. 3). Jochen Gleiß, Die Rollen kräftig – blaß die Gestalten. Anläßlich von HauptmannInszenierungen in Stralsund und Cottbus, in: TdZ, 9 (1981), zit. nach: Giehm, Hauptmann-Pflege. Angelika Lonscher, Neuentdeckung eines Klassikers, in: Ostseezeitung (19.6.1981).

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psychologischen Motivierungen sowie im Detailreichtum seiner Figurenensembles Angebote für realistische Gestaltungen zu entdecken.“1473 Gemeint waren zahlreiche Änderungen und Übersteigerungen, die im Theater der Zeit wie folgt zusammengefasst wurden: „Daß die Pensionsinhaberin Frau Kurnick auch Pastorswitwe ist, wurde eliminiert. Die vorkommende Seance einer okkulten Sekte hat man zur Nazi-Orgie mit homoerotischem Einschlag umfunktioniert. Plötzlich stehen Nebelpfannen auf den Tischen und zu Wagner-Musik tragen zwei blonde Siegfriede mit bloßem Oberkörper und Hakenkreuz-Manschetten ihren mystisch-geheimnisvollen An-Führer auf den Schultern herein. Bei fast allen Rollen passen Wortlaut des Textes und Arrangements nicht zueinander, da die Szenen nur optisch angelegt bzw. Widersprüche veräußerlicht wurden.“1474 Das Resultat der Eingriffe bestand darin, dass „Gesellschaftskritik durch Revueeinlagen (mit einigen Prisen Sex, versteht sich)“1475 ersetzt wurde. Dass in der Inszenierung gleichzeitig „Präfaschistisches dort ‚herausgearbeitet’ [wurde], wo es bei Hauptmann (und Zuckmayer) ganz gewiß nicht angelegt“1476 war, zeugt von dem Bestreben, Hauptmann als Mahner und Urvater des Antifaschismus wiederzuentdecken: „Die Bühne ‚korrigiert’ da biographisch verbürgte Haltungen, der Regisseur möchte Pazifismus in pränatalen Antifaschismus wandeln.“1477 Sieht man von einem Gastauftritt am Volkstheater Rostock ab, so blieb das Bestreben wie die Herbert Engelmann-Inszenierung als solche ohne Nachwirkung. Wenngleich die Frage, ob „es sinnvoll [war], dieses 1924 von Gerhart Hauptmann geschriebene – und 1952 von Carl Zuckmayer vollendete Drama für unser Theater hier und heute zu entdecken?“1478, mit einigem Enthusiasmus bejaht wurde, sollte es in der DDR keine weiteren Herbert EngelmannInszenierungen geben. Die letzte Aufführung des Herbert Engelmann in Stralsund am 30. Juni 1982 war die letzte Aufführung des Stücks in der DDR. Den skizzierten beiden DDR-Inszenierungen aus den Jahren 1962 und 1981 stand in der BRD eine breitere Rezeption entgegen: Herbert Engelmann erfuhr in der

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Gleiß, Die Rollen kräftig, in: TdZ, 9 (1981), zit. nach: Giehm, Hauptmann-Pflege. Ebd. E.G., Heimkehrertragödie aus dem Jahre 1924. Herbert Engelmann von Gerhart Hauptmann im Theater Stralsund, zit. nach: Giehm, Hauptmann-Pflege. Ebd. Gleiß, Die Rollen kräftig, in: TdZ, 9 (1981), zit. nach: Giehm, Hauptmann-Pflege. Ric Machnitzki, Herbert Engelmann von Hauptmann. Eine Aufführung von brisanter Aktualität, in: Der Demokrat (26.06.1981).

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BRD zwischen 1949 und 1989 insgesamt elf Inszenierungen und schwamm regelrecht im Kielwasser von Borcherts Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür. Aus den skizzierten Inszenierungen dieser kulturpolitischen Phase kann ein klarer Trend der Hauptmann-Rezeption in der DDR abgelesen werden: Hauptmann hatte die kulturpolitische Klammerfunktion, die ihm in der Nachkriegszeit, den 1950er und noch in den 1960er Jahren zukam, mit dem Verblassen des Humanismus-Paradigmas und der übergeordneten Veränderungen im sozialen wie kulturellen Feld der späten DDR verloren. Die ‚Chiffre Hauptmann’ verfügte nicht mehr über die Legitimations- und Integrationskraft, die einst ihren Wert ausmachte. Jubiläen trugen dazu bei, den ansonsten ‚vergessenen Hauptmann’ kurzzeitig in Erinnerung zu rufen. Die meisten Inszenierungen, die in diesen Kontexten unternommen wurden, legen wiederum – aufgrund der eingetretenen Distanz zur Nachkriegsmentalität – Zeugnis ab von einem Trend zur Entpolitisierung. Die beschriebene Betonung der Komödien-Elemente trug dieser Entwicklung Rechnung, die bedauerlicherweise mit einem rezeptionsschädigenden Verlust an interpretationsfähiger Inhaltssubstanz einherging.

3.6.

1982-1989: Der (kultur-)politische Zusammenbruch

3.6.1. Kulturpolitische Rahmenbedingungen Nach der in dieser Untersuchung gewählten Phasengliederung, brach für das „Drama DDR“1479 1982 der letzte Akt an: Dabei drängte sich wohl so manchem Beobachter der Eindruck auf, als ob die Spielleitung die Regie längst verloren hatte. Die Kulturpolitik dieser Zeit stellte sich als ein „ambivalentes Nebeneinander von theoretischer Öffnung, Entdogmatisierung, Aufweichungs- und Auflösungsprozessen […] bei gleichzeitigem Festhalten an tradierten weltanschaulichen und/oder fachlichen Deutungsmustern“1480 dar. Ob die Widersprüchlichkeiten ein Symptom der Gerontokratie im Politbüro war, sei dahingestellt. Sie hatte jedenfalls zur Folge, dass Verbindlichkeiten zur Seltenheit und sozialistische Worthülsen immer hohler wurden. Hinzu kam, dass man sich offenbar immer weniger mit Unruhestiftern auseinandersetzen wollte. Insgeheim schien man aus der Biermann-Affäre die Lehre gezogen zu haben, dass sich unbequeme Kultur1479

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Vgl. Friedrich Dieckmann, Geschichte als Drama. Die Temperatur der Revolution, in: Merkur 54 (2000), H. 1, S. 1-10, hier: 1, zit. nach: Ulrich Pfeil, Die DDR und der Westen 1949-1989, in: ders. (Hg.), Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen (1949-1989), Berlin 2001, S. 7-19, hier: 7. Saadhoff, Germanistik, S. 306.

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produzenten wesentlich einfacher loswerden ließen, wenn man ihnen ein Visum aushändigte, anstatt sie auf der weltanschaulichen Ebene zu bekämpfen. Der auf die eigene normative Kraft rekurrierende Vorwurf des Renegatentums, der in den ersten Jahrzehnten des ostdeutschen Teilstaats die große Gefahr eines unweigerlichen Karriereendes bedeutet hatte, verlor im letzten Jahrzehnt der Diktatur an steuernder Wirkung.1481 Widerstände wurden weniger weltanschaulich bekämpft und dafür vermehrt auf dem Wege de Ausbürgerung aus der Aufmerksamkeitszone der eigenen Bevölkerung entfernt. Auf diese staatlich praktizierte Weise konnte Günter Kunert mit Erlaubnis von Kurt Hager 1979 in die BRD übersiedeln, Kurt Bartsch wurde eines Dauervisums teilhaftig (1980), Armin MuellerStahl (1980) und viele andere ‚Kulturschaffende’ durften ausreisen oder genossen weitreichende Reisefreiheiten wie Heiner Müller. Dass Heiner Müller 1986 sogar mit dem Nationalpreis erster Klasse ausgezeichnet wurde, zeugt von jener widerspruchsvollen, diplomatisch-taktierenden Kulturpolitik der letzten Jahre.1482 Als weiteres Indiz des kulturpolitischen Wandels mag zudem der 100. Geburtstag Franz Kafkas gelten. In völligem Widerspruch zur einstigen Tabuisierung des Kunstfeindbilds wurde Kafkas Ehrentag 1983 u.a. mit einer Lesung in der Akademie der Künste der DDR begangen. Im Kontext der Kafka-Konferenz in Liblice 1963 (ČSSR, 27. – 28. Mai) hatte die Frage nach dem Umgang mit Kafka noch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Intellektuellen und Kulturpolitikern geführt.1483 Wurde Kafka damals zum Repräsentanten einer längst vergangenen Zeit erklärt, dessen Werk jungen Autoren keine Anregung bieten könne,1484 so wurde er nun als Kritiker der Moderne gewürdigt. Dass im November 1982 mit dem Tod Leonid Breschnews ein wahrer Todesreigen in der sowjetischen Führungsriege einsetzte – kurz nach dessen Nachfolger Juri Andropow (1984) starb wiederum dessen politischer Erbe Konstantin Tschernenko (1985) –, sorgte für jene personelle Dynamik, die im März 1985 Michail S. Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU werden ließ. Die brüchige Stabilität des Ostblocks brachte er mit seiner Politik neuen Stils und deren Leitbegriffen ‚Glasnost’ und ‚Perestroika’ endgültig ins Wanken. Die von Gorbatschow praktizierte Politik der Freisetzung wirkte sich auch im kulturellen Feld verjüngend aus. Insbesondere in der DDR wurden im Zuge der Autonomi1481 1482

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Vgl. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 301 f. Hammersthaler, Die Position, in: Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 151-261, hier: 185. Martina Langermann, „Faust oder Gregor Samsa?“ Kulturelle Tradierung im Zeichen der Sieger, in: LiteraturGesellschaft DDR, S. 173-213; vgl. insgesamt: Klaus Hermsdorf, Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten, Berlin 2007. Jäger, Kultur und Politik, S. 109.

264

sierung entstehende Freiräume – wenngleich vom MfS umfassend überwacht – in der Kunstszene ausgelotet. Einige Berühmtheit erlangten u.a. die ästhetischpolitischen Experimente des Regisseurs Frank Castorf, der seinen Beitrag dazu leistete, dass das Theater im Vorfeld der Wende zunehmend eine „antizipatorische Funktion“1485 erlangen konnte. Eine solcherart die politischen Tendenzen der Gegenwart weiterdenkende Funktion erfüllten – wie nachfolgend zu zeigen ist – einige der letzten Hauptmann-Inszenierungen in der DDR, etwa die Einsame Menschen-Inszenierung des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz/Zittau. Weitergehende Experimente hätten der Hauptmann-Rezeption der 1980er Jahre gut getan. Ob sie z.B. Die Weber, das „einstmals brisante, zeitgemäße Drama“1486 hätten retten können, bleibt fraglich. Selbst Eberhard Hilscher meinte im Rahmen der letzten Referentenkonferenz (Ostberlin, 13. März 1987), dass die Hungergestalten der Weber – um trotz der eingetretenen Distanz überhaupt noch zu berühren – „nun vielleicht schwarzmaskiert spielen müssten“1487. Wenn auch die im letzten DDR-Jahrzehnt zunehmenden „kritische[n] Vorstöße gegen das affirmative Erbeverständnis“1488 in Sachen Hauptmann nicht das wünschenswert gewesene Ausmaß erreichten, deutete sich aber auch hier in Ansätzen die Tendenz zur Emanzipation „von einer allzu offenkundig herrschaftssichernden Instrumentalisierung“1489 der Erberezeption an. Die Mitte der 1980er Jahre vonstatten gegangene „Aufsplitterung von ästhetischen Formen“1490, die unterschiedliche Modi der Abweichung beinhaltete, erschloss sich nicht jedem. Honecker, der das ‚neue Denken’ Gorbatschows ablehnte,1491 war unfähig, die um sich greifende Veränderung zu erkennen bzw. in ihrer systemstürzenden Wirkung zu reflektieren. Beispielsweise beschwor er noch im April 1986 gebetsmühlenhaft das ewig gleiche Dogma der sozialistischen Kunst: Dass Honecker auf dem XI. Parteitag der SED (17. – 21. April 1986) nur die veraltete Basissemantik zum Besten geben konnte, war ein weiteres

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Hammersthaler, Die Position, in: Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 151-261, hier: 213. Ebd., S. 6 f. Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier:7. Ehrlich, Die „gesellschaftliche Aneignung“, in: Bollenbeck/ La Presti (Hg.), Traditionsanspruch, S. 143-160, hier: 156. Bollenbeck/ La Presti, Einleitung, in: dies. (Hg.), Traditionsanspruch, S. 7-20, hier: 17. Hammersthaler, Die Position, in: Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 151-261, hier: 178 ff. Gerd-Rüdiger Stephan, Deutsch-deutsche Beziehungen vor dem Hintergrund von ‚Glasnost’ und ‚Perestroika’ (1982-1990), in: Pfeil (Hg.), Die DDR, S. 117-134, hier: 124 f.

265

Anzeichen für die „theoretische Leere in der Kulturpolitik“1492 im Besonderen und die Erstarrung des Systems im Allgemeinen: „Unser Leben verlangt eine sozialistisch-realistische Literatur und Kunst, die von Parteilichkeit, Volksverbundenheit und hohem sozialistischen Ideengehalt gekennzeichnet ist und den Werktätigen neue Anregungen für ihr Denken, Fühlen und Handeln vermittelt. In diesem Zusammenhang sei bekräftigt, daß Kunstwerke gebraucht werden, die den Sozialismus stärken, […].“1493 Dass den Kulturproduzenten mit Phrasen nicht mehr beizukommen war, hatte Hans-Joachim Hoffmann, der letzte Kulturminister der DDR, längst begriffen. Insgesamt eher liberal eingestellt, bemühte er sich, Kritik als Anregung aufzufassen. Kulturpolitik verstand er im Sinne Bechers als „eine besonders effektive Form der Bündnispolitik“1494, für die er angesichts der fundamentalen Systemkrise bereit war, einige Zugeständnisse zu machen. Die am sozialistischen Dogma orientierte „Suche nach einem gemeinsamen Nenner“1495 wollte aber auch er nicht aufgeben. Den von Hoffmann angestrebten Koalitionen fehlte es an jeglicher sozialer Basis. Zwischenzeitlich hatten die Verheißungen der westlichen Warenwelt, an der die DDR-Bürger über das Westfernsehen eine medial begrenzt partizipierten, und die bedrückende Realität der leeren Regale in DDR-Läden dafür gesorgt, dass die allgemeine Unzufriedenheit weiter anstieg. Milliardenkredite konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ‚Einholen’ – ganz zu Schweigen vom einst propagierten ‚Überholen’ – der BRD längst ein Wunschtraum ohne geringste Erfüllungschancen darstellte. Die Folgen der „ruinöse[n] Wirtschaftspolitik“1496 eines Günter Mittag trafen die DDR mit voller Härte. Seit 1984 nahmen Fluchtaktionen in westliche Botschaften zu.1497 Bei denen, die blieben, war der Wunsch nach einer ‚besseren DDR’ meist stärker als der Impuls in eine ungewisse Zukunft jenseits des eisernen Vorhangs aufzubrechen. Der hieraus erwachsende kollektive Wille zu einer politischen Veränderung des eigenen Landes sollte

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Saadhoff, Germanistik, S. 307. Honecker, Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag der SED, in ND (18.04.1986), zit. nach: Groth, Widersprüche, S. 151, Saadhoff, S. 307. Hans-Joachim Hoffmann, Das Sicherste ist die Veränderung [1988], zit. nach: Hammersthaler, Die Position, in: Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 151-261, hier: 186. Ebd. Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 305. Groth, Widersprüche, S. 149.

266

schließlich dazu beitragen, dass die zuvor in sich gespaltene Oppositionsbewegung ihre Kräfte bündelte.1498 Dass das ‚Drama DDR’ zu guter Letzt in ein seither von Geschichts- und Politikwissenschaftlern ausgiebig diskutiertes und dokumentiertes ‚Happy End’ mündete, ist an dieser Stelle nicht en detail zu rekapitulieren. Wichtig erscheint in Hinblick auf die Kulturpolitik und das Bühnengeschehen, dass einige Theater die Gunst der Stunde zu nutzen verstanden und – ähnlich der Kirchen – eine Ersatzöffentlichkeit boten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Ensemble des Staatstheaters Dresden, das im Oktober 1989 die ‚vierte Wand’ mit der kritischprovokativen Stellungnahme „Wir treten aus unseren Rollen heraus“1499 einriss.

3.6.2. Rezeptionsschwerpunkte Ein Stück, das auch in den 1980er Jahren nie gänzlich von den DDR-Bühnen verschwand, war Hauptmanns Die Ratten. An der Volksbühne am Luxemburgplatz feierte es in einer Inszenierung von Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering am 16. April 1985 Premiere. Beide Regisseure hatten sich einige Jahre zuvor (Spielzeit 1980/81) mit ihrer Biberpelz-Inszenierung als Hauptmann-Fachleute in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin hervorgetan. Wie beim Biberpelz setzten die Regisseure auch bei den Ratten auf „viel betuliche Genremalerei“, die von einem „adäquat naturalistisch[en]“ Bühnenbild noch betont wurde.1500 Die Inszenierung, die es auf vier Stunden Spieldauer brachte, zeichnete sich entsprechend durch „biedere Umständlichkeit“1501 aus. Wieder einmal handelte es sich also um eine herkömmliche Inszenierung, die primär den Unterhaltungswert des Stücks herausarbeiten wollte. Trotz oder gerade deshalb erwiesen sich Hauptmanns Ratten unter der Aufmerksamkeitskonstellation des nahen politischen Zusammenbruchs als unverwüstlich. Laut Presseberichten soll das Publikum bei der Premiere mit „sechs Minuten stürmische[m] Applaus“ und „ungewohnte[n] Bravo-Rufe[n]“ reagiert haben.1502 Die heitere Stimmung eines Tanzes am Abgrund charakterisierte bei Weitem nicht alle Inszenierungen in den Jahren vor 1989. Ganz im Gegenteil mach-

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Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 309 f. Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 143, 155. Horst Wenderoth, Bewährtes und Abgestandenes. Schauspielpremieren in Ostberlin, in: NZZ (15.05.1985). Ebd. Ebd.

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ten sich systemkritische Regisseure daran, Lethargie und soziale Friktion der Gesellschaft in ihren Arbeiten zu thematisieren. Gut zu der subkutan aufgewühlten Stimmungslage passte auch, dass in den letzten Jahren der DDR zwei Stücke Hauptmanns auf die Bühne zurück kehrten, deren Gemeinsamkeit in der Darstellung einer düster vorahnungsvollen Grundstimmung, der Vereinsamungsthematik und dem Kampf um Lebenschancen lag. Dabei handelte es sich um das Alterswerk Vor Sonnenuntergang und das Frühwerk Einsame Menschen. Man ist versucht, in der Wahl dieser Stücke eine Resonanz auf die Stimmungen und Sehnsüchte zu sehen, die in der letzten Phase der DDR zu gesellschaftlich treibenden Kräften wurden. Überschriften von Kritiken etc. scheinen den aktuellen Aussageimpetus zu bestätigen. Wie eine Mahnung liest sich die Premieren-Ankündigung zu den Einsamen Menschen in der Sächsischen Zeitung: „Starrheit im Denken führt zur Katastrophe“1503 – eine Erkenntnis, die unwillkürlich an Gorbatschows berühmt gewordenen Ausspruch („Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“) während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR erinnerte. Einsame Menschen, das zu den spät entdeckten Stücken in der DDR gehört – die DDR-Erstaufführung fand am 30. September 1962 in Rostock statt – wurde in dieser letzten Phase vom Staatstheater Schwerin (Spielzeit 1986 – 1988) und dem Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau (Spielzeit 1987 – 1989) gespielt. Die Görlitz-Zittauer Inszenierung1504 war bewusst im Kontext des 125. Geburtstags Hauptmanns verortet worden, aus dessen Anlass außerdem ein „kleine[r] literarische[r] Abend“ und eine Matinee veranstaltet wurden.1505 Die Rahmenveranstaltung stand unter dem Titel „Schritt in die Öffentlichkeit“ und bot dem Publikum „weniger bekannt[e] Text[e] von Gerhart Hauptmann, die das Umfeld der Entstehungszeit von Einsame Menschen näher beleuchten“.1506 Das Drama Einsame Menschen, das als „ein sensibles Stück, ein psychologisches Drama“1507 wahrgenommen wurde, vermochte scheinbar eine „sozialtherapeutische Funktion“1508 zu erfüllen. Laut Neuem Deutschland lieferte die Inszenierung genau das, was das Publikum vom Theater erwartete: nämlich „Lebenshilfe“1509. 1503

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M. Dänhardt, Vor der Premiere. Starrheit im Denken führt zur Katastrophe. Einsame Menschen am Gerhart-Hauptmann-Theater, in: SZ (20.10.1987). Zittauer Premiere: 23.10.1987, Görlitzer Premiere: 30.10.1987. Masch., Zwei größere Produktionen. Neues vom Schauspielensemble des GerhartHauptmann-Theaters, in: Union (13.10.1987). Ebd. Dänhardt, Vor der Premiere, in: SZ (20.10.1987). Hammersthaler, Die Position, in: Hasche/ Schölling/ Fiebach, Theater, S. 151-261, hier: 253. „Immer deutlicher wird die Erwartung des Zuschauers, von der Bühne herab eine Lebenshilfe zu erhalten, nicht im Sinne einer Patentlösung seiner Fragen, sondern viel eher als Denkanstoß, als Identifikationsmöglichkeit. Hier sind die zeitgenössische Dramatik

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Individuell wie auch gesellschaftlich unabdinglich erscheint in den Theaterkritiken die in Einsame Menschen vorexerzierte Auseinandersetzung mit den „weltanschauliche[n] und persönliche[n] Kompromisse[n]“1510 sowie mit „Fragen der Doppelmoral“1511. Die all diesen Fragen und Wertreflexionen übergeordnete „Suche nach der eigenen Identität“1512, insbesondere die dazu konsequente Ehrlichkeit, wurde als existenziell begriffen: „Vorgeführt wird, wie Scheinharmonie zur Katastrophe führt, weil sie unausgesprochene Konflikte verdrängt, nicht löst und sie so wie ein Krebsgeschwür wuchern läßt.“ 1513 Dass die Inszenierung einer Situation der schwelenden Konflikte eine für die DDR-Gesellschaft alles andere als realitätsferne Thematik darstellte, diese Perspektive vielmehr die Attraktivität der Einsamen Menschen in den 1980er Jahren ausmachte, wird in folgender Kritik der Sächsischen Zeitung deutlich: „Wie man miteinander umgeht, wie man das Neue befördern oder behindern kann, auch wie tolerant man ist, das sind Probleme, die nicht auf eine bestimmte Zeit begrenzt sind: Sie haben bei Hauptmann, unter anderen Vorzeichen zwar, ebenso eine Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft, wie heute für uns. Und so denken wir schon, daß man durch das Stück ein bißchen nachdenken kann und muß über unseren Alltag.“1514 Trotz oder gerade weil das Stück sich auf das „Leid von Menschen der Vergangenheit“ bezog, vermochte die Inszenierung, so die Sächsische Zeitung, „Wertvorstellungen unserer Gegenwart [zu] aktivier[en]“.1515 Ein antizipatorischkritischer Effekt, der der Intention des Regisseurs Reinhard Hellmann entsprach. Dieser hatte vor der Premiere die Aktualität des Stücks und die Wichtigkeit der Selbstreflexion betont. Laut Hellmann zeige Einsame Menschen zwar die „Tragödie einer bürgerlichen Familie“, doch werfe es „sehr interessante Fragen auf, die bis in unsere Zeit reichen, die wir auch heute stellen und beantworten müssen“.1516 Der Görlitz-Zittauer Einsame Menschen-Inszenierung gelang mit der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart aus Sicht der Kritiker ein „wür-

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gefordert, die Leistungen auf der Sprechbühne, aber auch in der Oper wie Ballett“ (-ger., Angemerkt. Lebenshilfe von der Bühne, in: Sächische Neueste Nachrichten [26.03.1982]. Heinz Arnold, Leidenschaftlicher Konflikt um Liebe und menschliches Leid. Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen am Hauptmann-Theater, in: SZ (29.10.1987). Dänhardt, Vor der Premiere, in: SZ (20.10.1987). Ebd. Ebd. Ebd. Arnold, Leidenschaftlicher Konflikt, in: SZ (29.10.1987). Zit. nach: M. Dänhardt, Vor der Premiere. Starrheit im Denken führt zur Katastrophe. Einsame Menschen am Gerhart-Hauptmann-Theater, in: SZ (20.10.1987).

269

dige[r] Beitrag zur 125. Wiederkehr des Geburtstages von Gerhart Hauptmann“1517. Die Inszenierung erreichte über den Umweg eines vermeintlichen Psychogramms der bürgerlichen Familie, was laut den Stellungnahmen von Hauptmann-Experten immer schwieriger wurde: Hauptmann und „sein Werk hier und heute lebendig werden zu lassen.“1518 Dieser Anspruch vermochte im zeitlichen Umfeld des 125. Geburtstags Gerhart Hauptmanns nochmals eine begrenzte Verbindlichkeit zu entfalten. Erstaunlicherweise wurde hierfür das Drama Vor Sonnenuntergang gewählt – vielleicht auch deshalb, weil bereits in seinem Titel das Leitthema vom Ende einer Ära anklingt. Das Stück wurde nicht nur am Geburtstag selbst (15. November 1987) im DDR-Radio gespielt, sondern in den Spielzeiten 1987/88 bis 1988/89 gleich von zwei DDR-Theatern: dem Landestheater Eisenach sowie dem Volkstheater Rostock. Da sich zu beiden Aufführungen leider kein Material auffinden ließ, kann über ihren inszenatorischen Aussagewert nur spekuliert werden. Zu vermuten ist jedoch, dass der verhaltene ‚Endzeitcharakter’ der Textvorlage herausgearbeitet und gemäß der aktuellen Erwartungshaltung des politisch zunehmend desillusionierten Publikums vorsichtig systemkritisch adressiert wurde.

III.

Hauptmann als deutsch-deutscher Grenzgänger

Zwar kann nicht die Rede davon sein, dass Gerhart Hauptmann wie etwa Heinrich Heine zu einem „Demonstrationsobjekt par excellence für die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen Ost und West“1519 oder gar zu einem „politischen Aktivposten“1520 geworden wäre, dennoch vermochte die unterschiedlich geartete Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Werk in den beiden deutschen Staaten zeitweilig zu polarisieren. Der Beitrag, den selbst höchste politische Kreise der DDR zu diesem deutsch-deutschen Dialog in Sachen Hauptmann leisteten, schien besonders in den 1960er Jahren nicht auf eine tolerante Koexistenz orientiert gewesen zu sein. So verwahrte sich Alexander Abusch im Hauptmann-Jahr 1962 vehement „gegen solche Entstellung des Hauptmann1517

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Arnold, Leidenschaftlicher Konflikt, in: SZ (29.10.1987); vgl. Dänhardt, Vor der Premiere, in: SZ (20.10.1987). Masch., Sein Werk ist wertvolles Kulturerbe. Gerhart-Hauptmann-Theater ehrt seinen Namenspatron zum 125. Geburtstag, in: SZ (27.10.1987). Burkhard Gutleben, Die deutsch-deutsche Heine-Forschung. Kontroversen und Konvergenzen 1949-1990, Frankfurt a.M. 1997, S. 9. Jost Hermand, Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht 1945-1975, Frankfurt a.M. 1975, S. 135.

270

Bildes, wie sie etwa der westdeutsche Literaturhistoriker Benno von Wiese versucht“1521 habe. Hinter den Erläuterungen von Wieses zur neoromantischen Prägung einiger Werke Hauptmanns witterte Abusch einen Enteignungsversuch.1522 Er sah in Wieses Einschätzung „nicht nur die zufällige Verirrung eines westdeutschen Professors“, sondern desavouierte dessen Interpretationsansatz als Schachzug der „klerikal-reaktionären Ideologen“.1523 Wie das Beispiel zeigt, war eine ausschließlich auf sachliche Fragen bezogene Literaturbetrachtung ohne direkte Einmischung der politischen Sphäre in jener Zeit kaum möglich. Bis Anfang der 1970er Jahre spielte der Anspruch, die bessere Erbe-Verwalterin bzw. -Vollstreckerin zu sein, im Falle Heines wie Hauptmanns eine entscheidende Rolle für das kulturelle Selbstbewusstsein der DDR. Nahm die DDR für sich in Anspruch, für die Kontinuität der humanistischen Tradition zu stehen, so warf sie im Gegenzug der BRD den Traditionsabbruch als zentrales Charakteristikum des ‚Imperialismus’ vor. Aus DDR-Sicht bestand deshalb kein Zweifel daran, dass der in der BRD gepflegte Umgang mit dem Erbe im Allgemeinen1524 und Hauptmann im Besonderen falsch und unwürdig sein musste: „Die Bedächtigkeit mit der verantwortliche Theaterschaffende unserer Republik an das Werk Hauptmanns herangehen, erscheint richtiger und würdiger, als eine auf kühne Neuerungen sinnende Kritik wahrhaben will. Die seit einiger Zeit den Westen überschwemmende apologetische Hauptmann-Propaganda sollte uns in unserer zielstrebigen sozialistischen Kulturarbeit, zu der auch die sachliche und kritische Aneignung des Hauptmann-Erbes gehört, nicht stören. Bedenken, ob wir nicht etwa schleunigst den Beweis zu erbringen hätten, daß wir ‚es besser machen’ 1521 1522

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Abusch, Größe, in: SuF, (1963), H. 1, S. 48-61, hier: 54. Vgl. Wiese, Benno von: Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. In: ders., Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf 1962. S. 268 - 283./ Benno von Wiese, Wirklichkeit und Drama in Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten, in: ders., Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Studien zur deutschen Literatur, Düsseldorf 1963, S. 215-231. Ebd. Aus DDR-Sicht ging in der BRD eine „Nihilierung der humanistischen Traditionen“ vonstatten, deren Ursache man vorwiegend in der „spätkapitalistischen Unkultur und amerikanisierten Lebensweise“ sehen wollte (Abusch, Gedanken über die Kulturdiskussion zum VIII. Parteitag, Juni 1971, Kultur [veröffentlicht in: Einheit, H. 6, 1971], Dok. 14, Rüß, Dokumente, S. 142-152, hier: 145). „Die prinzipielle, in seiner objektiven Struktur begründete Kulturfeindlichkeit des kapitalistischen Systems, das in Westdeutschland herrscht, rückt die imperialistische Gesellschaft in eine unversöhnliche Gegnerschaft zu allen progressiven, humanistischen Traditionen der Kultur, die das deutsche Bürgertum in seiner Aufstiegsepoche hervorbrachte. […] Der Gegensatz zwischen der in der DDR herrschenden sozialistischen Kultur, die die humanistischen Traditionen gesetzmäßig fortsetzt, und dem in der BRD herrschenden Kulturbetrieb des Imperialismus, der diese Traditionen ebenso gesetzmäßig zurücknimmt und verfälscht, ist in erster Linie das Ergebnis der Restauration des Kapitalismus in den Westzonen nach 1945 und der im Gefolge damit von der Bourgeoisie betriebenen Teilung Deutsch lands“ (Manfred Naumann, Das Erbe und die sozialistische Kultur [veröffentlicht in: Einheit, H. 3, 1971], Dok. 14, Rüß, Dokumente, S. 89-97, hier: 91).

271

können, bestehen nicht: auch hier hat der 13. August Klarheit geschaffen.“1525 Trotz der auch auf dem Gebiet der Kultur vollzogenen Abschirmung und vordergründigen Ablehnung eines ‚Wettrennens’ in Sachen Hauptmann reagierte man sensibel auf westliche ‚Überholungstendenzen’. Schließlich galt es den Verlust des Erben-Status, der als Legitimations- wie auch Kontinuitätserweis unerlässlich war, mit allen Mitteln zu verhindern. Aus einem Brief Eberhard Hilschers vom Januar 1968 an das Lektorat des Verlags der Nation spricht eben jene Furcht, vom Westen in der zur ureigenen Domäne erklärten Erbeaneignung ‚abgehängt’ zu werden. Dort stellte Hilscher den folgenden wissenschaftsstrategisch argumentierenden Vergleich bezüglich der deutsch-deutschen Hauptmann-Rezeption an: „Bedenken Sie: Von 1949 bis heute entstanden in der DDR nur 7 Dissertationen über den Dichter (die letzte 1959!!), während aus dem gleichen Zeitraum 42 westdeutsche Dissertationen zu vermerken sind. Der kleinen Bild-Biographie von Rohmer/Münch steht die reichhaltigere, auch technisch bessere von Ebermayer in W-Deutschland gegenüber. Wo man auch zu vergleichen anfängt – es ergibt niemals ein günstiges Bild für die DDR.“1526 Ein Jahr später erschien im Verlag der Nation Hilschers fast siebenhundert Seiten starke Abhandlung über Hauptmanns Leben und Werk. Dass Hilscher der eigenen Einschätzung nach ein sehr neutrales Verhältnis zu Hauptmann pflegte, geht übrigens aus dessen Ausführungen im Rahmen der Referentenkonferenz von 1987 hervor. Weil Hauptmann für ihn „nur kritisches Objekt“ war, er diesen „weder liebte noch haßte“ und er insgesamt „kein Gerhart-Hauptmann-Verehrer“ gewesen sei,1527 muss Hilscher andere Gründe für seine ‚Kampfansage’ an die westdeutsche Hauptmann-Rezeption gehabt haben. Seine Äußerung gegenüber dem Lektorat beruhte, so scheint es, weniger auf persönlichem Engagement in Sachen Hauptmann, denn auf quälender Enttäuschung darüber, dass die „Spezialfor-

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Rohmer, Hauptmanns Dramatik – Heute. Teil 1, in: TdZ (1962), H. 6, S. 63-71, hier: 64. Hilscher, Brief von an Dr. Margot Böttcher (Lektorat III Verlag der Nation) vom 09.01.1968 (SAPMO – BArch, DY 17/2360). Im Rahmen der Referentenkonferenz führte er die Aufrechnung fort: „Während in den Jahren 1952 bis 1959 an Hochschulen der DDR sieben Dissertationen entstanden, die sich mit Hauptmann beschäftigen, folgten um 1970 nur noch drei einschlägige Doktorarbeiten. Seitdem weitgehend Stille in der Spezialforschung unserer Republik“ (Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier: 3) Hilscher, Gerhart Hauptmann in unserer Zeit, in: Referentenkonferenz 1987, S. 2-26, hier: 2 f. Diese Haltung befähigte Hilscher zu manch kritisch-spottender Bemerkung, so bezeichnete er z.B. einige Episoden in der autobiografischen Prosa als „bombastischen Schmonzes“ (ebd., S. 19).

272

schung unserer Republik“1528 sich in dieser Konkurrenz-Disziplin eine Blöße geben musste. Im Lektorat missfiel die aufrechnende Gegenüberstellung, vielleicht auch deswegen, weil sie für die DDR ungünstig ausfiel. Etliche Änderungen verlangte der Verlag deshalb vor allem zu Hilschers Kapitel über „Hauptmanns Bedeutung für uns“, das – auch in der letztendlichen Druckfassung keineswegs ideologiefrei – die Systemkonkurrenz am Gegenstand der Hauptmann-Rezeption abzuarbeiten schien. Die verantwortliche Lektorin erklärte in Ihrem Antwortbrief vom Februar 1968, dass in jenem „nicht recht glücklich placiert[en]“ Kapitel über „Hauptmanns Bedeutung für uns“ ein „störender, falscher Ton mit [schwinge]“.1529 Dieser Misston, so die Lektorin, führe beim Leser zu dem Eindruck, „als konkurrierten die beiden deutschen Staaten in der Hauptmann-Pflege (nämlich in den Fragen: wer bringt die meisten Aufführungen, wer die meisten Ausgaben heraus, wer hat die größte Zahl von Festveranstaltungen aufzuweisen usw.). Auch in Ihrem [i.e. Hilschers] Begleitbrief klang es so, als hätten Sie sich in solchen Gedankengängen verfahren. […]“1530 Kontextualisiert man die Antwort im Zusammenhang des allgemeinen Erbeanspruchs, so wird klar, dass ein öffentlich dokumentiertes Konkurrenzverhalten jenseits ungünstiger Zahlenverhältnisse aus ideologischen Gründen abgelehnt werden musste, da die Akzeptanz einer agonalen Perspektive auf die deutschdeutschen Publikationszahlen den Alleinvertretungsanspruch der DDR indirekt in Frage gestellt hätte.1531 Wie Hans Daibers Rezension zu Hilschers Hauptmann-Biografie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung feststellen sollte, besaß die Konkurrenz aber auch einen durchaus positiven Hintergrund: Sie beweise, dass Gerhart Hauptmann „im geteilten Deutschland eine der wenigen verbindenden Persönlichkeiten geblieben“1532 sei. Schließlich handele es sich bei dem Ringen um die Erbeaneignung um eine „erfreuliche Ideal-Konkurrenz der Hauptmann-Pflege in Ost und West“, die mit dem Erscheinen der Centenarausgabe (1962) und dem Ankauf des Hauptmann-Nachlasses durch die Westberliner Staatsbibliothek (1969) ihren Anfang genommen habe.1533 Letzten Endes profitiere davon nicht nur Hauptmann, sondern, so Daiber, auch die beiden Staaten selbst. Aus dieser Perspektive er1528 1529 1530 1531

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Ebd., S. 3. Brief von Böttcher vom 02.02.1968 an Hilscher, S. 1 (SAPMO – BArch, DY 17/2360). Ebd. Vgl. insgesamt: La Presti, Bildungsbürgerliche Kontinuitäten, in: Bollenbeck/ Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 30-51. Hans Daiber, Für Leute, die guten Wollens sind. Eine umfassende Gerhart HauptmannBiographie von Eberhard Hilscher – Erschienen in Ost-Berlin, in: FAZ, (13.10.1970). Ebd.

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schien Hauptmann und die Beschäftigung mit seinem Werk gar als ein Medium der ideellen deutsch-deutschen Vereinigung: „Der Dichter hat diese gesamtdeutsche Aktivität dadurch ermöglicht, daß er niemals Partei ergriff. Hauptmann-Forscher und Hauptmann-Verehrer informieren einander über die Grenzen hinweg. Das Buch von Eberhard Hilscher ist eine Frucht dieser Einigkeit.“1534 Gleichwohl ließ sich Daiber zu einem Vergleich hinreißen und bescheinigte der „Hauptmann-Pflege in der DDR“ eine „schmale Basis“, die indirekt mit der Staatsideologie zusammenhänge.1535 Denn: „Zwar gibt es dort vier Erinnerungsstätten (Märkisches Museum in Ostberlin, Hauptmann-Archiv in Radebeul, Gedächtnisstätten in Kloster auf Hiddensee und in Erkner) und in der Bundesrepublik keine, aber die dortige Ideologie und die Haltung der Erben, die auf den Westen gesetzt haben, machen auch beim besten Willen Schwierigkeiten. Wie man es auch dreht: mit Hauptmann war und ist kein Staat zu machen, welcher auch immer.“1536 Der ‚Nachteil’, der Hilschers Auseinandersetzung mit Hauptmann anhafte, beeinträchtigte Daibers Einschätzung von dessen Darstellung nur bedingt. Zwar sei die „Wortwahl […] volksdemokratisch“, das „Urteil“ selbst jedoch „gesamtdeutsch akzeptabel“.1537 In Sachen Hauptmann schien die deutsche Einigung nach 1970 einfacher zu erreichen zu sein als auf dem politischen Parkett. Jedenfalls sparte man auf westdeutscher Seite nicht an Lob für Hilschers Darstellung. So war auch der Westberliner Hauptmann-Forscher Martin Machatzke von Hilschers Werk, das eine „Art literaturkundliche[s] Volksbuch“1538 sei, beeindruckt. Machatzke betrachtete es als eine „spezifische Leistung des Kulturlebens in der DDR“, deren Qualität er in einem Schreiben an Hilscher wie folgt lobte: „Ich gestehe Ihnen, dass der gewaltige Umfang und die erlesene typographische Repräsentation Ihrer Arbeit mich ehrlich überrascht haben.“1539 Benno von Wiese, der noch einige Jahre zuvor so scharf von Abusch angegriffen worden war, schrieb Hilscher, dass sein Buch „[a]ls Informationsquelle […] un-

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1539

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Martin Machatzke, Brief an Hilscher vom 01.04.1970, zit. nach: Hilscher, Aus Zuschriften über mein Gerhart Hauptmann-Buch, S. 2 (SAPMO – BArch, DY 17/2360). Ebd.

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schätzbar und unglaublich bewandert“1540 sei. Wenngleich er anmerkte, dass ihm die Darstellung „[i]n den Einzelheiten […] allerdings schwächer“1541 erschien, war der fachliche Dissens, im Gegensatz zum ideologischen, überbrückbar. In Hinblick auf die „weltanschaulichen Vorzeichen“, die das Hauptmann-Buch prägten, bemerkte von Wiese lediglich, dass er sich diesen „persönlich nicht anschließen“ könne.1542 Dass die Beschäftigung mit Hauptmann zuweilen dazu genutzt wurde, deutsch-deutsche Spannungen auszuagieren, kann ebenfalls am Beispiel Hilschers gezeigt werden. Anlässlich des 20. Todestages verfasste Hilscher eine Erinnerung an den Dichter, die im Neuen Deutschland erschien. Er rief Hauptmanns Leben und Werk ins Gedächtnis, wobei er sich in Bezug auf dessen Dasein in Nazi-Deutschland zu einem aktuellen Vergleich veranlasst sah: „Hauptmann war 1933 in Deutschland geblieben und erfuhr so die reaktionärste Form der Herrschaft des deutschen Imperialismus unmittelbar und mit zunehmendem Entsetzen. Sein Weltbild verdüsterte sich. Der Dichter geriet in eine ähnliche Situation wie heute viele humanistische bürgerliche Intellektuelle in Westdeutschland, die verzweifelt und betroffen das antidemokratische und antinationale Wesen des westdeutschen imperialistischen Staates hervorbrechen sehen.“1543 Hilscher beschwor Hauptmann in dem Zeitungsartikel als einen „Nothelfer bei der Verteidigung der Humanität“ und sprach davon, dass „[s]ein Ringen und sein Hoffen in den Kämpfen mit der imperialistischen Gewalt […] uns Vermächtnis“ sei.1544 Er konnte nicht ahnen, dass er selbst knapp 20 Jahre nach Erscheinen des Artikels Hauptmanns Rolle in der NS-Zeit völlig neu bewerten würde. Ausgerechnet sein Buch, für dessen Erscheinen die 125. Wiederkehr von Hauptmanns Geburtstag den Anlass bot, sollte die Wahrnehmung des ‚Dichterfürsten’ in der DDR grundlegend verändern. Über diese, auf Grundlage einer erweiterten Quellengrundlage 1987 erschienene Neuausgabe seiner Hauptmann-Biografie,1545 die in der BRD erst 1988 vom Frankfurter Athenäum Verlag herausgebracht wurde, war z.B. in der Süddeutschen Zeitung zu lesen:

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1541 1542 1543

1544 1545

Benno von Wiese, Brief an Hilscher vom 07.09.1970, zit. nach: Hilscher, Aus Zuschriften, S. 5 (SAPMO – BArch, DY 17/2360). Ebd. Ebd. Hilscher, Menschenachtung und Humanität. Zum 20. Todestag Gerhart Hauptmanns, in: ND (06.06.1966). Ebd. Hilscher, Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Mit bisher unpublizierten Materialien aus dem Manuskript-Nachlass des Dichters, Berlin (Ost) 1987.

275

„Nach Hilschers Ansicht seien die sogenannten ‚Repressions-Legenden’ in der gesamten Sekundärliteratur in der bisherigen Form ‚nicht mehr aufrechtzuerhalten’, denn im Hinblick auf das europäische Ansehen des Dichters hielten es die ‚faschistischen Machthaber bisweilen für sinnvoll, ihn als Aushängeschild zu benutzen.’ Die Forschung habe jahrzehntelang auf der ‚Textkenntnis von 1942 basiert und darum stagniert’.“1546 Zur Revision der „Repressions-Legenden“1547 hatte u.a. die Beobachtung geführt, dass Hauptmann im ‚Dritten Reich’ weiterhin zu den meistgespielten Autoren gehört hatte. Unzählige Indizien wiesen darauf hin, dass Hauptmanns Reputation als Volksdichter auch in der NS-Diktatur gepflegt wurde. Die Einsicht, die für die Hauptmann-Forschung der DDR eine Revolution bedeutete, signalisierte, dass die Dinge in Bewegung geraten waren. Dass die „DDR ihre offizielle Haltung zu Leben und Werk des bedeutendsten deutschen Vertreters des Naturalismus revidiert“, wurde in der BRD, wo man Hauptmann spätestens seit Brescius’ politischbiografischer Studie von 1976 kritischer sah, mit großem Erstaunen wahrgenommen. Hilschers Kommentar, „Wir müssen das korrigieren“, der von der Nachrichtenagentur ADN weitergegeben wurde, wurde als bemerkenswerter Fortschritt gewertet.1548 Das damalige Novum der Hauptmann-Forschung wurde dementsprechend als ein „Buch für Lernfähige“ bezeichnet, für alle jene also, „die sich nicht scheuen einzusehen, daß Gerhart Hauptmanns Leben und Werk ein sehr deutsches Phänomen war. Und vielleicht noch ist“1549. Wieder einmal hatte sich Gerhart Hauptmann damit als ein ganz besonderer Repräsentant Deutschlands erwiesen. Ein Schluss, zu dem der weitsichtige Essayist und Kulturanalytiker Jean Améry bereits 1963 gekommen war. Eingedenk Hauptmanns Verhalten, aber auch der Haltungen und Titel, die man ihm u.a. im Kontext der Trauerfeier zugeschrieben hatte, zog Améry folgendes Fazit über Hauptmann: „Es kann ihm gleichgültig sein. Er war nichts von all dem. Kein Kämpfer. Kein Rebell. Kein Held. Er war ein Dichter, sonst nichts. Und er war – im edelsten, besten, aber auch tragisch-verworrensten Sinne – der ewige Deutsche.“1550 1546

1547 1548

1549

1550

Nachlaßfunde korrigieren Gerhart Hauptmann-Bild, in: Süddeutsche Zeitung (16.02.1988). Hilscher, Gerhart Hauptmann, Berlin (Ost) 1987, S. 417. Vgl. Thomas Rietig, Gerhart Hauptmann. DDR revidiert ihre Haltung. Neues Material aus dem Nachlaß, in: Wiesbadener Kurier (22.02.1988). Arnim Juhre, Hauptmanns Behauptungen. Verdammt, verkannt, umstritten – Eberhard Hilscher forschte im Nachlaß des Dichters vom Biberpelz: ein Reiseführer durch Leben und Werk des Schlesiers aus Agnetendorf, durch mehr als achtzig Jahre deutscher Geschichte, in: Sonntagsblatt (Hamburg, 16.04.1988). Améry, Gerhart Hauptmann, S. 148.

276

IV.

Zusammenfassung

Hauptmann, der die „sozialistische Vulgärkritik“ in der Figur des Loth aus Vor Sonnenaufgang verewigt hatte, pflegte einmal die autoritäre Angriffslust marxistischer Interpretations- und Zugangsweisen zur Kunst als „[m]arxistische Bärentatzen-Kritik“ zu verspotten.1551 Wie gezeigt wurde, blieben in der DDR in kulturpolitisch schwierigen Zeiten, wie z.B. im Kontext des Formalismus-Streites, auch Werke Hauptmanns von jenen ‚Bärentatzen’ nicht verschont. Im Gegensatz zu den Werken anderer, zeitgenössischer Schriftsteller wurden sie jedoch von diesen machtgeleiteten Prankenhieben nur gestreift und nicht vollends zerschmettert. Wie am Beispiel der Leipziger Ratten-Inszenierung von 1950 gezeigt werden konnte, waren es höchste Autoritäten der DDR-Kulturpolitik und Literaturwissenschaft, die Hauptmanns Stellung im kulturellen Feld der damaligen Zeit gegen allzu heftige Angriffe verteidigten. Derart protegiert vermochte die HauptmannRezeption in den 1950er Jahren sogar von der Verunsicherung zu profitieren, die die Formalismus-Kampagne und die Propagierung des sozialistischen Realismus im kulturellen Feld anrichtete. Wie aus der Rezeptionsstatistik hervorgeht, erfreuten sich Hauptmanns Werke gerade in den Zeiten, in denen der Antimodernismus blühte und ideologische Übergriffe auf das kulturelle Feld besonders rigide exerziert wurden, großer Beliebtheit auf DDR-Bühnen. Das Fundament für die anfänglich sehr intensive Hauptmann-Rezeption in der DDR wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit gelegt. Maßgeblich war die hohe Meinung, die sowjetische Kulturoffiziere wie Alexander Dymschitz und Grigorij Weiss sowie der als Leiter der Informationsabteilung der SMAD, Sergej Tjulpanow, von Hauptmann hatten. Ihre Wertschätzung trug wesentlich dazu bei, dass Hauptmann wenige Monate vor seinem Tode von Johannes R. Becher, dem späteren ersten Kulturminister der DDR, zum Ehrenpräsidenten des frisch gegründeten Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands ernannt werden konnte. Der Dichterfürst wurde hierdurch zum Kronzeugen von Bechers Bündnispolitik wie auch der sozialistischen Aufbaubestrebungen. Hauptmanns Bereitschaftserklärung geriet in der Folgezeit zu einem Unterkapitel des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR. Auf die rezeptionsgeschichtlich zentrale Begegnung zwischen Hauptmann und Becher – in symbolhafter Begleitung sowjetischer Kulturoffiziere – wurde in späteren Reflexionen in Programmheften, 1551

Hauptmann, Notiz-Kalender 1889 bis 1891, hg. von Machatzke, Frankfurt a.M. u.a. 1982, S. 349 [notiert auf lose Blätter des Hinterspiegels von Hauptmanns Notiz-Kalender von 1891].

277

Zeitungsartikeln, Literaturgeschichtswerken, kulturpolitischen Verlautbarungen etc. immer wieder als das schlechthinnige Indiz der Zugehörigkeit Hauptmanns zur Wirksphäre des sozialistischen Humanismus rekurriert.1552 Die Trauerfeierlichkeiten für Hauptmann im Juni 1946, an denen mit Becher, Pieck und Tjulpanow die Polit-Prominenz der SBZ/DDR beteiligt war, markieren eine erste öffentliche Inszenierung der Inbesitznahme Hauptmanns für das ‚neue Deutschland’. Die im Kontext der Trauerfeierlichkeiten gehaltenen Reden besaßen bereits den Charakter von Rezeptionsvorgaben, denen nicht nur auf der Bühne, sondern auch mit Editionen und anderen Materialisationen der Verehrung Folge geleistet wurde. Die Inbesitznahme setzte sich fort in dem Umgang mit Hauptmanns Grab, den zu Gedenkstätten und Museen umgewandelten ehemaligen Wohnstätten des Dichters und materialisierte sich in zahlreichen Kanonisierungselementen wie Briefmarken, Münzen und Namensgebungen. Dass sich Hauptmanns Literaturikonenstatus der Weimarer Republik bis in die DDR fortsetzen sollte, war nicht zuletzt eine Begleiterscheinung der dort gepflegten Klassikerverehrung. Nicht nur die Art und Weise, wie Hauptmann, der ‚zweite Goethe’, in der SBZ umworben wurde und seine Ehrentage in der frühen DDR zelebriert wurden, signalisierte unverzichtbaren Bevölkerungsgruppen die Kontinuität ihrer bürgerlichen Werte. In der Zeit der so genannten Übergangsphase zum Sozialismus (1949 – 1961/62) besaßen die Inszenierungen Hauptmann’scher Werke selbst eine integrative Funktion. Unter Betonung ihrer Zugehörigkeit zur humanistischen Tradition verliehen Hauptmanns Stücke dem propagierten Ethos des antifaschistischen Neuanfangs ein vertrautes Gesicht. Die Integrationsfigur Hauptmann vermochte, die „Last des nationalen Legitimationsdefizits“1553 der SBZ/DDR qua ihrer allgemein anerkannten humanistischen Autorität ein wenig zu mildern. Gleichzeitig taugten gerade die sozialkritischen Werke Hauptmanns dazu, die politisch-affirmative Funktion des Theaters zu erfüllen. Im Zuge der planmäßigen Ideologisierung, insbesondere nach dem Bau der Mauer, wurde jene affirmative Indienstnahme der ‚Chiffre Hauptmann’ für

1552

1553

Als ein letztes Beispiel der Zuordnungsbemühungen sei hier auf die Beschreibung verwiesen, mit der in der Jungen Welt, dem „Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend“, Hauptmann vorgestellt wurde: „Jenes Dichters also, dem der Arbeiterführer Wilhelm Pieck 1946 beim Begräbnis die letzte Ehre erwies, wogegen der deutsche Kaiser Wilhelm II. Jahrzehnte zuvor seine Theaterloge kündigte, weil ihm Hauptmanns Weber missfielen. Diese Fakten aus dem Programmheft mögen dafür stehen, welche Klasse sich dem Werke des Dichters verbunden fühlt“ (Werner Pfelling, Mit Momenten großer Menschengestaltung. Gerhart Hauptmanns Berliner Tragikomödie Die Ratten in den Berliner Kammerspielen, in: JW [16.02.1977]). Ulrich Pfeil, Die DDR und der Westen 1949-1989, in: ders. (Hg.), Die DDR und der Westen. Transnationale Beziehungen (1949-1989), Berlin 2001, S. 7-19, hier: 13.

278

das das politische System der DDR zur übergeordneten Rezeptionsstrategie. Hauptmanns Werke, gesehen durch das „Prisma der Postulate des sozialistischen Realismus“1554, wurden als Negativfolie für den ‚Aufbau des Sozialismus’ genutzt: Anhand der in ihnen dokumentierten gesellschaftlichen Missstände am Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich der durch den Sozialismus angeblich erreichte gesellschaftliche Quantensprung und der propagierte technische Fortschritt hervorheben. Im Zuge der sich ausweitenden Systemkonkurrenz projizierten seriöse Sprecher die in Hauptmanns Stücken angeblich zutage tretende ‚Rückständigkeit’ des ‚imperialistischen’ Gesellschaftssystems gerne auch direkt auf die BRD. Zentrale Figuren von Hauptmann-Stücken gerieten hierbei oftmals zu Verkörperungen jener Gesellschaftsformen und Verhaltensweisen, die es aus sozialistischer Sicht zu bekämpfen galt: Beispielsweise wurde in der Figur des Loth aus Vor Sonnenaufgang der „Prototyp deutscher Misere“1555 gesehen, während man in Johannes Vockerat aus Einsame Menschen den „Prototyp bürgerlicher Lebensunfähigkeit“1556 erkennen wollte. Wenn auch der ‚Klassikerschutz’ in der DDR zu keiner Zeit gänzlich aufgehoben wurde, so wurden die dem Kulturerbe zugerechneten Werke gegen Ende der 1960er Jahre doch einer erneuten Überprüfung unterzogen. Hauptmanns Werke mussten ihre Volksverbundenheit, ihre Aktualität und ihren Aussagewert für Ulbrichts ‚sozialistische Menschengemeinschaft’ erneut unter Beweis stellen. Immer öfter wurden in Theaterkritiken seither Bedenken geäußert, wonach das – um Bechers Lebensmittelsymbolik der Kunst zu strapazieren1557 – Verfallsdatum der Hauptmann’schen Kulturprodukte längst abgelaufen sei. Schließlich, so wurde argumentiert, gehörten die dort thematisierten Probleme der Vergangenheit an. Die kritische Haltung verriet nicht nur die zunehmende Distanz zwischen Dichter und Publikum, sondern vielmehr einen kulturpolitischen Paradigmen- sowie gesellschaftlichen Generationenwechsel. Mit dieser Entwicklung ging ein kontinuierlicher Rückgang in der Bühnenpräsenz von Stücken Hauptmanns einher, die in der letzten der hier untersuchten Rezeptionsphasen ihren absoluten Tiefstand erreichte. Dieser Situation hatten Hauptmann-Experten der DDR im Zuge des sich in den 1970er Jahren aufweichenden Romantik-Verdikts versucht, auf bis dahin unerhörte Art und Weise entgegen zu steuern: Während diverser Referentenkon1554 1555

1556

1557

Śliwińska, Sozialistischer Realismus, S. 95. Christoph Funke, Die Tragödie des Mädchens Helene. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang im Dresdner Kleinen Haus, in: Der Morgen (02.04.1969). Helmut Ullrich, Szenen aus einer vergangenen Zeit. Gerhart Hauptmanns Einsame Menschen im Berliner Maxim Gorki Theater, in: NZ (18.01.1978). Vgl. Erläuterungen zu dieser politisch determinierten, pragmatischen Bedeutungsdimension von Kunst auf S. 87.

279

ferenzen sprachen sie Appelle aus, die Rezeptionskrise durch ‚Neuentdeckungen’ aus dem Hauptmann’schen Werk abzuwenden. Die Offenheit gegenüber neoromantischen Werken Hauptmanns in literatur- und theaterwissenschaftlichen Kreisen zog jedoch keine Hannele- oder Und Pippa tanzt-Inszenierungen auf DDRBühnen nach sich. Nur Jubiläen – wie etwa der 30. bzw. 35. Todestag (1976 bzw. 1981) sowie der 125. Geburtstag (1987) – ließen die Bühnenpräsenz von ‚klassischen’ Hauptmann-Stücken noch einmal kurzzeitig ansteigen. Schon Anfang der 1970er Jahre kristallisierten sich vor diesem Hintergrund der zurückgehenden Hauptmann-Rezeption im Wesentlichen zwei Inszenierungstendenzen heraus: Zum einen waren dies die hier als ‚herkömmlich’ bezeichneten Inszenierungen, die den Unterhaltungswert der Stücke, besonders des Biberpelz, zu steigern versuchten, dabei allerdings gravierende Einbußen an Hauptmann’schem Originalwert und Substanz in Kauf nahmen. Es zeugt vom erhöhten Entlastungs- und Ablenkungsbedürfnis in der späten DDR-Gesellschaft, dass derartige Aufführungen, z.T. untermalt mit spektakelhaften Darbietungen vom Publikum gerne besucht wurden. Entgegen der kompensatorischen Funktion, gab es allerdings einige Hauptmann-Inszenierungen mit kritisch-antizipatorischem Charakter. Wie etwa anhand der Schluck und Jau-Inszenierung des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz/Zittau (Spielzeit 1970/71) oder der Michael Kramer-Inszenierung des Deutschen Theaters (Spielzeit 1978/79) gezeigt werden konnte, boten Hauptmanns Werke durchaus vielfältige Anknüpfungspunkte für provokante Beleuchtungen der Gegenwart. Die Regisseure, die sich um eine gegenwartsadäquate Aneignung bemühten, schienen das Rezeptionsgebot der Zukunft begriffen zu haben, das im Kontext der skandalumwitterten WeberInszenierung des Staatsschauspiels Dresden (Spielzeit 2004/05) wie folgt formuliert wurde: „Das Theater wird an seine Grenzen gehen müssen, um Hauptmann die Treue zu halten.“1558 Die vielfältige und in ihrer Intensität wie auch Intentionalität stark variierende Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR umfassend abzubilden, wäre, mit Blick auf die Vielzahl der Inszenierungen, ein Unterfangen, das die Intention eines ‚Erstlingsversuchs’ verfehlen würde. Gezeigt werden sollten Tendenzen der Handhabung und Bewertung, paradigmatische Ver1558

Stefan Schnabel, d’r Mensch muß doch a eenziges Mal an Augenblick Luft kriegen. Notizen zu den Dresdener Webern, in: ders. (Red.)/ Holk Freytag, Gerhart Hauptmann, Die Weber, de werden noch fer’ne Quarkschnitte arbeiten, Programmheft des Staatsschauspiels Dresden, Spielzeit 2004/05, S. 9-18, hier: 14.

280

handlungen von Literatur und Politik im gesellschaftlichen Spannungsfeld der DDR, die das Theater, im Sinne Max Hermanns, als bedeutenden Kulturfaktor hervortreten lassen.

281

RIJK SUNIVERSITE IT G RONINGEN

„Gerhart Hauptmann ist bei uns zu Hause“ – Zur Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR

Proefschrift ter verkrijging van het doctoraat in de Letteren aan de Rijksuniversiteit Groningen op gezag van de Rector Magnificus, dr. F. Zwarts, in het openbaar te verdedigen op donderdag 11 december 2008 om 13:15 uur

door Petra Tallafuss geboren op 6 juli 1977 te Schwetzingen (Duitsland)

Promotor:

Prof. dr. W. Wende

Beoordelingscommissie:

Prof. dr. A. Visser Prof. dr. G. Helmes Prof. dr. H. W. H. Niebaum

283

Zweiter Teilband

284

V.

Anhang

1.

Abbildungen

Abb. 1: Gerhart Hauptmann, Gedächtnisfeier des Kulturbundes, Bezirksgruppe Chemnitz, Chemnitz 1946 (Berlin, DHM, Plakat, Inventar-Nr. P 90/2184).

285

Abb. 2: Staatstheater Dresden, Generalintendant Karl Görs, Spielzeit 1953/54, Gerhart Hauptmann: Die Weber, Dresden 1953 (THA DD), S. 17 f.

286

Abb. 3: Staatstheater Dresden, Generalintendant Karl Görs, Spielzeit 1953/54, Gerhart Hauptmann: Die Weber, Dresden 1953 (THA DD), S. 19 (Rückseite).

287

Abb. 4: Städtische Bühnen Erfurt, Die Weber, Spielzeit 1959/60, Intendant: Albrecht Delling (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner).

288

Abb. 5: Bühnen der Stadt Gera, Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold, Leitung: Heinz Schröder, Spielzeit 1976/77, Gerhart Hauptmann, Die Ratten, hg. von der Intendanz, Abteilung Dramaturgie, S. 10 (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner).

289

Abb. 6: Bühnen der Stadt Gera, Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold, Leitung: Heinz Schröder, Spielzeit 1976/77, Gerhart Hauptmann, Die Ratten, hg. von der Intendanz, Abteilung Dramaturgie, S. 1f. (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner).

290

Abb. 7: Kreistheater Karl-Marx-Stadt, Spielzeit 1953/54, Gerhart Hauptmann, Rose Bernd, Intendant: Edgar Schatte, Rückseite (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner).

291

Abb. 8: Volksbühne am Luxemburgplatz, Gerhart Hauptmann, Florian Geyer, Spielzeit 1962/63, Intendant: Wolfgang Heinz, Vorderseite (Programmheftsammlung des Gerhart Hauptmann Archivs Erkner).

292

Abb. 9: Ministerium für Kultur (Hg.), Horst Wessler (Gestalter), Gerhart Hauptmann Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik, VEB Graphische Werkstätten Berlin 1962 (Berlin, DHM, Plakat, Inventar-Nr. P 90/1620).

293

2.

Übersichten

2.1.

Spielzeit 1949/50 – 1952/53

Spielzeit

1952/53

1951/52

1950/51

1949/50

0

1

2

3

4

5

6

7

Anzahl der aufführenden Theater

Der Biberpelz

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenuntergang

294

2.2.

Spielzeit 1953/54 – 1963/64

1963/64

1962/63

1961/62

1960/61

1959/60

1958/59

1957/58

1956/57

1955/56

1954/55

1953/54 0

1

2

3

4

5

6

7

Der Biberpelz

Der rote Hahn

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenaufgang

Vor Sonnenuntergang

295

2.3.

Spielzeit 1964/65 – 1969/70

1969/70

1968/69

1967/68

1966/67

1965/66

1964/65

0

1

2

3

4

5

6

7

Der Biberpelz

Der rote Hahn

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenaufgang

Vor Sonnenuntergang

296

2.4.

Spielzeit 1970/71 – 1974/75

1974/75

1973/74

1972/73

1971/72

1970/71

0

1

2

3

4

5

6

7

Der Biberpelz

Der rote Hahn

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenaufgang

Vor Sonnenuntergang

297

2.5.

Spielzeit 1975/76 – 1980/81

1980/81

1979/80

1978/79

1977/78

1976/77

1975/76

0

1

2

3

4

5

6

7

Der Biberpelz

Der rote Hahn

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenaufgang

Vor Sonnenuntergang

298

2.6.

Spielzeit 1981/82 – 1988/89

1988/89

1987/88

1986/87

1985/86

1984/85

1983/84

1982/83

1981/82

0

1

2

3

4

5

6

7

Der Biberpelz

Der rote Hahn

Die Ratten

Die Weber

Einsame Menschen

Elga

Florian Geyer

Fuhrmann Henschel

Herbert Engelmann

Michael Kramer

Rose Bernd

Schluck und Jau

Vor Sonnenaufgang

Vor Sonnenuntergang

299

VI.

Verzeichnisse1

1.

Werkregister

Das Abenteuer meiner Autobiographischer Roman Jugend Entstehungszeit: 1929-1935 Die in Das Abenteuer meiner Jugend ausgebreiteten Erinnerungen aus der ersten Lebenshälfte Hauptmanns reichen von schlesischen Kindheitserlebnissen, über Armutserfahrungen der Lehrjahre, bis hin zu Begegnungen mit der Bildhauerei in Rom und schließlich dem Durchbruch als literarisches Nachwuchstalent.

1

Der Biberpelz

Diebskomödie Entstehungszeit: 1892 – 1893 UA: 21.09.1893, Berlin, Deutsches Theater Verortung: „irgendwo um Berlin“ z.Z. des Septennatskampfes (Ende der 1880er Jahre) Handlung: Um sich und ihrer Familie einen bescheidenen Wohlstand zu verschaffen, schreckt die Waschfrau Mutter Wolffen nicht davor zurück, kleine Diebstähle zu begehen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. So entwendet sie nicht nur das Feuerholz des Rentiers Krüger, sondern auch dessen neuen Pelzmantel, den sie regelrecht unter den Augen des Amtsvorstehers von Wehrhahn an den Schiffer Wulkow verschachert. Statt die Machenschaften der Gaunerin Wolffen zu durchschauen, verdächtigt von Wehrhahn unbescholtene Bürger politischer Umtriebe.

Der rote Hahn

Tragikomödie (Fortsetzung von Der Biberpelz) Entstehungszeit: 1900 – 1901 UA: 27.11.1901, Berlin, Deutsches Theater Verortung: „irgendwo in Berlin“, „Kampf um die Lex Heinze, Jahrhundertwende“ Handlung: Mutter Wolffen hat nach dem Tod ihres ersten Mannes den Schuhmachermeister und Polizeispion Fielitz geheiratet, mit dem sie ihr betrügerisches Treiben fortsetzt. Gemeinsam stecken sie ihre Werk- und Heimstätte in Brand. Obschon der Versicherungsbetrug offenkundig ist, lässt von Wehrhahn es zu, dass der behinderte Gustav, Sohn des ehemaligen preußischen Gendarmen Rauchhaupt, zum Sündenbock erklärt wird. Ungerührt von dessen Schicksal und selbst durch den eigenen Schwiegersohn, den Bauführer Schmarowski, um die letzten Ersparnisse gebracht, stirbt Mutter Wolffen.

Die AtridenTetralogie

Tragödie in vier Teilen Entstehungszeit: 1940 – 1943

Die Erläuterungen zu den behandelten Werken basieren auf der Centenarausgabe, Kindlers Neuem Literaturlexikon sowie Reclams Schauspielführer.

300

Iphigenie in Aulis

Agamemnons Tod

Elektra

Iphigenie in Delphi

UA: 15.11.1943, Wien, Burgtheater Iphigenie, durch deren Opfertod ein günstiger Verlauf der Schlacht gegen Troja von den Göttern erbeten werden sollte, wird von zwei Priesterinnen nach Tauris entführt. An die Stelle des klassischhumanistischen Griechenlandideals tritt hier eine in Krieg und Chaos gestürzte Zivilisation vor dem Abgrund. Entstehungszeit: 1942 UA: 10.09.1947, Berlin, Deutsches Theater, Kammerspiele Verortung: Demetertempel in den Bergen nahe bei Mykene Handlung: Der Einakter zeigt Agamemnons Ermordung durch Agisth und Klytämnestra. Entstehungszeit: 1944 UA: 10.09.1947, Berlin, Deutsches Theater, Kammerspiele Handlung: Der Einakter zeigt die Ermordung der Klytämnestra durch ihren Sohn Orest unter Hilfeleistung der Elektra. Entstehungszeit: 1940 UA: 15.11.1941, Berlin, Schauspielhaus Verortung: Apollon-Tempel zu Delphi Orest überführt das Heiligenbild der Artemis von Tauris nach Delphi und wird Nachfolger Agamemnons. Die wahnsinnig gewordene Elektra erfährt Heilung. Endgültige Sühne bringt jedoch erst Iphigenies freiwilliger Opfertod.

Die Finsternisse

Szenische Totenklage Entstehungszeit: 1937 UA: 05.07.1952, Göttingen, Studio Verortung: eine kleine schlesische Stadt; 1934 Handlung: Der Tod des jüdischen Kommerzienrates Joel wird nur mit einer kleinen, mitternächtlichen Trauerfeier gewürdigt, bei der – neben den engsten Verwandten – auch das Ehepaar Herberg zugegen ist. Die schwül-gewittrige Atmosphäre, die Visionen jüdischer Urväter und die Klagen der Trauergemeinde über das jüdische Schicksal künden von bevorstehenden Schrecknissen der NS-Zeit.

Die Ratten

Berliner Tragikomödie Entstehungszeit: 1909 – 1910 UA: 13.01.1911, Berlin, Lessingtheater Verortung: ehemalige Kavalleriekaserne in Berlin Handlung: Die Bewohner eines schäbigen Berliner Mietshaus versuchen trotz aller Brüche Illusionen eines besseren Lebens aufrecht zu erhalten: So verdingt sich der ehemalige Theaterdirektor Harro Hassenreuter

301

im Obergeschoss mit privaten Schauspielstunden, macht Jungschauspielerinnen Avancen und streitet sich mit dem Möchtegernschauspieler und Theologiestudenten Spitta. Die Frau des Maurerpoliers John schwatzt dem sitzengelassenen Dienstmädchen Pauline Piperkarcka deren Säugling ab, um ihn als eigenes Kind auszugeben. Damit hofft sie, das eigene Eheglück zu retten. Als Pauline das Kind zurückfordert, bringt Bruno Mechelke, der geisteskranke Bruder von Frau John, sie kurzerhand um. Den Konsequenzen ihrer Lügen entzieht sich Frau John durch Selbstmord. Die versunkene Glocke

Ein deutsches Märchendrama Entstehungszeit: 1896 UA: 02.12.1896, Hamburg, Deutsches Theater Handlung: Als die von ihm gegossene Glocke für eine Bergkapelle durch einen Sabotageakt von Waldgeistern im Bergsee versenkt wird, verliert der dabei schwer verletzte Glockengießer Heinrich seinen Lebensmut. Rautendelein, ein elbisches Wesen, das den Glockengießer pflegt, folgt diesem in die Menschenwelt. Ihr gelingt es, die Lebensfreude und den künstlerischen Schaffensdrang Heinrichs wiederzuerwecken. Im Bann der Schönheit Rautendeleins folgt Heinrich ihr in die Berge, wo er an einem Glockenspiel für einen heidnischen Tempel arbeitet. Als er vom Selbstmord seiner Frau erfährt, wendet sich Heinrich von Rautendelein ab. Bei seiner erneuten Rückkehr ist Rautendelein bereits vergeben, Heinrich stirbt in ihren Armen.

Die Weber

Schauspiel aus den vierziger Jahren Entstehungszeit: 1891 – 1892 UA: 26.02.1893, Berlin, Freie Bühne Verortung: Peterswaldau u.a. Ortschaften des Eulengebirges Handlung: Im Zuge der industriellen Revolution wächst das Elend der schlesischen Handweber. Der Lohn, den sie für ihre Ware vom Expedienten Pfeifer im Hause des Fabrikanten Dreißiger erhalten, reicht nicht aus, um Hunger und Armut zu lindern. Die aufrührerischen Parolen des Heimkehrers Moritz Jäger lösen deshalb einen Aufstand aus. Die aufständischen Weber randalieren im Haus Dreißigers und geraten in eine Auseinandersetzung mit dem Militär. Eine im Kampf verirrte Kugel trifft den alten Weber Hilse bei der Arbeit. Der fromme Hilse hatte sich geweigert, den Aufstand zu unterstützen.

Einsame Menschen

Drama Entstehungszeit: 1890 UA: 11.01.1891, Berlin, Freie Bühne Verortung: Friedrichshagen bei Berlin Handlung:

302

Obschon der junge Privatgelehrte Johannes Vockerat und seine Frau Käthe gerade ihr erstes Kind bekommen haben und in ihrem Landhaus bürgerlichen Wohlstand genießen, liegt ein Schatten über dem Familienglück. Einerseits kommt Vockerat mit seinem philosophischen Werk nicht voran, andererseits fehlt ihm eine ebenbürtige Partnerin, die ihm dann aber in der selbstbewussten Studentin Anna Mahr begegnet. Hin und her gerissen zwischen familiären Verpflichtungen und intellektueller Leidenschaft, entsagt Vockerat schließlich seinen Gefühlen für Anna und begeht im Müggelsee Selbstmord. Elga

Drama Entstehungszeit: 1896 UA: 04.03.1905, Berlin, Lessingtheater Verortung: ein abgelegenes Kloster Handlung: In Anlehnung an Grillparzers Novelle Das Kloster bei Sendomir (1827) erzählt das Drama der ehebrecherischen Elga. Als Elgas Gatte, Graf Starschenski, auf die nächtlichen Besuche seiner Frau hingewiesen wird, überrascht er sie und ihren Liebhaber. Zwar kann der Liebhaber unerkannt fliehen, ein Medaillon mit des Grafen Oginski und dessen Ähnlichkeit mit der eigenen Tochter wecken jedoch weiteres Misstrauen.

Festspiel in deutschen Festspiel zur Erinnerung an den Geist der Freiheitskriege der Jahre Reimen 1813, 1814 und 1815 Entstehungszeit: 1912 – 1913 UA: Jahrhundertfeier in Breslau, 1913 Handlung: Bei dem Festspiel in deutschen Reimen handelte es sich um eine Beschwörung der Befreiungskriege gegen Napoleon I., die aufgrund ihres pazifistischen Tenors den Protest des Kronprinzen Wilhelm von Preußen erregte und daraufhin abgesetzt wurde. Florian Geyer

Die Tragödie des Bauernkrieges Entstehungszeit: 1894 – 1895 UA: 04.01.1896, Berlin, Deutsches Theater Verortung: Schloss ‚Unserer Frauen Berg’ bei Würzburg Handlung: Der fränkische Ritter Florian Geyer wird im Bauernaufstand 1525 zum Anführer der Bauern. Dass diese jedoch uneins sind, in der Wahl ihres Anführers und ihrem Vorgehen, besiegelt ihren Untergang. Gegen Geyers Anweisung versuchen einige von ihnen, den Sitz der Adelspartei, das Schloss ‚Unserer Frauen Berg’ zu erstürmen und scheitern kläglich. Enttäuscht gibt Geyer seine Führerrolle auf, lässt sich aber in einer Notsituation wieder zum Führer überreden. Als die endgültige Niederlage feststeht, muss auch Geyer fliehen. Doch im Schloss seines Bruders, dem vermeintlichen Zu-

303

fluchtsort, trifft er auf seine Gegner. Geyer stirbt durch einen Pfeil aus dem Hinterhalt, da kein Ritter es wagte, sich ihm im Zweikampf zu stellen. Fuhrmann Henschel

Schauspiel Entstehungszeit: 1897 – 1898 UA: 05.11.1898, Berlin, Deutsches Theater Ort: Gasthof „Zum grauen Schwan“ in einem schlesischen Badeort, 1860er Jahre Handlung: Der Fuhrmann Wilhelm Henschel heiratet nach dem Tod seiner ersten Frau – entgegen dem auf dem Totenbett abgenommenen Versprechen – die Magd Hanne Schäl. Bald darauf stirbt das Kind aus erster Ehe, und Hanne Henschel beginnt, ihr wahres Gesicht zu zeigen: Nicht nur bringt sie ihren Mann durch Herrschsucht in Verruf, sie betrügt diesen sogar und vernachlässigt ihr eigenes uneheliches Kind. Als der gutgläubige Fuhrmann von den Machenschaften seiner Frau erfährt, begeht er, nach einem Wutanfall, Selbstmord.

Hanneles Himmelfahrt Traumdichtung Entstehungszeit: 1893 UA: 14.09.1893, Berlin, Königliches Schauspielhaus Ort: Armenhaus eines schlesischen Bergdorfes Handlung: Die Angst vor ihrem gewalttätigen Stiefvater treibt Hannele Mattern zum Selbstmordversuch, der missglückt, weil sie ein Waldarbeiter aus dem winterlichen See rettet. Vom geliebten Lehrer Gottwald wird das fiebernde Kind in ein Armenhaus gebracht. In seinen Fieberträumen erlebt Hannele beglückende Visionen vom Paradies, in denen die Figuren ihrer traurigen Realität mystisch tröstend gespiegelt sind. Herbert Engelmann

Drama Entstehungszeit: 1924; 1928; 1941 UA: 12.11.1962, Theater Putbus/ DDR Verortung: Berlin, um 1923 (Höhepunkt der Inflationszeit) Handlung: Herbert Engelmann ist gebrochen aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, für den er sich einst freiwillig gemeldet hatte. In der Pension von Frau Kurnick findet er nicht nur Unterschlupf, sondern auch die Liebe von Christa, der Tochter der Pensionswirtin. Doch Engelmann kommt mit der ‚Normalität’ nicht mehr zu recht: Der nach seiner Rückkehr begangene Mord an einem Geldbriefträger lässt den seelisch versehrten Engelmann nicht los und treibt ihn schließlich in den Selbstmord.

Magnus Garbe

Tragödie Entstehungszeit: 1914 – 1915 UA: 04.02.1956, Düsseldorf, Schauspielhaus

304

Verortung: eine reichsfreie Stadt im 16. Jahrhundert Handlung: Der Bürgermeister Magnus Garbe kann nicht verhindern, dass dominikanische Wandermönche seine Stadt mit ihren Predigten in Hexenangst und Denunziationswut versetzen. Unter den Opfern der üblen Nachrede und Folter sind schließlich auch Magnus Garbe und seine Frau Felicia, die von den hysterischen Stadtbewohnern verdächtigt wird, eine Hexe zu sein. Michael Kramer

Drama Entstehungszeit: 1900 UA: 21.12.1900, Berlin, Deutsches Theater Ort: eine Provinzialhauptstadt Handlung: Obschon Vater und Sohn sich der Kunst verpflichtet fühlen, könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Vater Michael Kramer ist Lehrer an einer königlichen Kunstschule, sein Sohn Arnold ist ein verspottetes Genie. Eine unglückliche Liebe lässt den Konflikt zwischen Arnold und der verständnislosen Umwelt eskalieren. Nach einem Streit mit einer spießbürgerlichen Stammtischgesellschaft nimmt sich Arnold das Leben. In der Trauerrede verteidigt Michael Kramer seinen Sohn und dessen Künstlerwürde.

Rose Bernd

Schauspiel Entstehungszeit: 1903 UA: 31.10.1903, Berlin, Deutsches Theater Handlung: Das Bauernmädchen Rose Bernd steht zwischen drei Männern: Dem verheirateten Erbscholtiseibesitzer Christoph Flamm, von dem sie schwanger wird, dem Maschinisten Streckmann, der ihr nachstellt, und dem Buchbinder Keil, den sie nach dem Willen ihres Vaters heiraten soll. Streckmann bedrängt Rose mit seinem Wissen über ihre Affäre mit Flamm und diffamiert Rose öffentlich. Roses Vater strengt einen Prozess an, um die Familie reinzuwaschen. Von allen verstoßen, sieht die verzweifelte, zu einem Meineid genötigte Rose am Ende keinen anderen Ausweg, als ihr neugeborenes Kind zu töten.

Schluck und Jau

Komödie Entstehungszeit: 1899 UA: 03.02.1900, Berlin, Deutsches Theater Handlung: Zur Belustigung des Fürsten Jon Rand und seiner gelangweilten Geliebten treibt der Höfling Karl ein böses Spiel mit den Landstreichern Schluck und Jau. Den bis zur Ohnmächtigkeit Betrunkenen wird eine neue Identität vorgegaukelt: So wird Jau von den Höflingen wie ein Fürst behandelt, Schluck dagegen muss in die Rolle der Fürstin schlüpfen. Bald hält Jau sein Fürstendasein für Realität und

305

beginnt, seine Macht zu missbrauchen. Nur eine erneute Täuschung eröffnet die Rückkehr in das alte Leben. Und Pippa tanzt!

Ein Glashüttenmärchen Entstehungszeit: 1905 UA: 19.01.1906, Berlin, Lessingtheater Verortung: im schlesischen Gebirge im Hochwinter Handlung: Pippa, Tochter eines italienischen Glastechnikers Tagliazoni, tanzt in einer Schenke vor den Gästen, während ihr Vater diese beim Kartenspiel zu betrügen versucht. Während der Falschspieler ertappt und erstochen wird, entführt der alte Huhn, ein ehemaliger Glasbläser, Pippa in seine Hütte. Hilfe versprechen Michel Hellriegel, ein reisender Handwerksbursche, als auch der Glashüttendirketor, der den mythischen Weisen Wann zu Rate zieht. Pippa und Hellriegel finden Unterschlupf bei Wann, werden dort jedoch vom alten Huhn gestellt. Während dieser und Pippa den Tod finden, erblindet Hellriegel im Zuge der Schlussauseinandersetzung.

Vor Sonnenaufgang

Soziales Drama Entstehungszeit: 1889 UA: 20.10.1889, Berlin, Freie Bühne Ort: in einem schlesischen Dorf Handlung: Der Bauer Krause hat durch die Entdeckung von Kohle auf seinem Boden Reichtum erlangt, der ihn und seine Familie immer stärker in Alkoholismus und Promiskuität abgleiten lässt. Der Sozialreformer Alfred Loth plant, in den Gruben Krauses Material über die Lebensverhältnisse der Arbeiter zu recherchieren, trifft indes aber in dem Ingenieur Hoffmann auf einen Jugendfreund. Auf Gewinn und Wohlstand orientiert, hat Hoffmann die schwer alkoholkranke Martha Krause geheiratet. Marthas Schwester Helene ist die einzig Gesunde in dieser degenerierten Familie. Ihre Hoffnungen auf ein neues Leben scheinen sich in der Begegnung mit Loth zu erfüllen. Doch als Loth vom Alkoholismus der Familie erfährt, den er als eine erbliche Belastung fürchtet, lässt er Helene zurück. Helene begeht daraufhin Selbstmord.

Vor Sonnenuntergang

Schauspiel Entstehungszeit: 1928; 1931 UA: 16.02.1932, Berlin, Deutsches Theater Verortung: „eine größere deutsche Stadt“ Handlung: Die Feier zum 70. Geburtstags des Kommerzienrates Matthias Clausen bringt die Abgründe in dessen Familie zutage: Seine Söhne Wolfgang, Egmont und Töchter Bettina und Ottilie missgönnen dem alten Herrn das Glück seines Lebensabends, das dieser in der Kindergärtnerin Inken Peters gefunden hat. Aus Angst, das Erbe zu verlieren, versuchen Clausens Kinder, Inken Peters und ihre Mutter

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zu vertreiben. Zuletzt wollen sie Clausen entmündigen lassen, worüber dieser vor Enttäuschung tot zusammenbricht. Winterballade

2.

Dramatische Dichtung Entstehungszeit: UA: 17.10.1917, Berlin, Deutsches Theater Verortung: Handlung: Drei schottische Söldner, darunter Sir Archie, warten in einem schwedischen Hafendorf auf eine Gelegenheit zur Heimreise. In einer Laune überfallen sie den Hof des Pfarrers Arne und töten alle Bewohner. Obwohl Archie sich zu Arnes Enkelin Berghild hingezogen fühlt, ersticht er auch sie im Gemetzel. Nur die kleine Elsalil, die Berghild zum Verwechseln ähnelt, überlebt. Ohne Erinnerung an das Geschehene wird sie wenig später Archies Geliebte. Von Reue und Visionen geplagt, geht Archie – während die anderen Söldner die Heimreise antreten und noch bevor Arnes Sohn die Gräueltat rächen kann – auf einem zugefrorenen See zugrunde.

Abkürzungsverzeichnis

AdK

Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik

ADN

Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst

AdW

Akademie der Wissenschaften der DDR

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte

ATBD

Arbeiter-Theater-Bund Deutschlands

BArch

Bundesarchiv

BE

Berliner Ensemble

BPRS

Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller

BT

Berliner Tageblatt

BZ

Berliner Zeitung

BZA

Berliner Zeitung am Abend

CA

Gerhart Hauptmann, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Egon Hass u.a., Band 1-11, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1962-1974 (Centenarausgabe)

DHM

Deutsches Historisches Museum, Berlin

DKB

Deutscher Kulturbund

DVJS

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

GAG

Göppinger Arbeiten zur Germanistik, hg. von Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher und Cornelius Sommer

GBA

Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter

307

Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Berlin, Weimar 1988-2000 GzVwK

Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse

IRTB

Internationaler Revolutionärer Theaterbund

IVRS

Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller

JSFWUB

Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau

JW

Junge Welt

LVZ

Leipziger Volkszeitung

NaZ

National-Zeitung

NDL

Neue deutsche Literatur

ND

Neues Deutschland

NÖSPL

Neues ökonomisches System der Planung und Leitung

NZ

Neue Zeit

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

PhP

Philologica Pragensia

Referenten-

GzVwK/ DKB, Konzeption für die Hauptmann-Referentenkonferenz

konferenz

am 25.05.1962 in Berlin, gezeichnet mit 14.04.1962 Thi/Ze [SAPMO –

1962

BArch, DY 27/167]).

Referenten-

Kulturbund der DDR (Präsidialrat, Zentrale Kommission Literatur),

konferenz

Gerhart Hauptmann und die Nachwelt. Arbeitsmaterial für die literatur-

1976

propagandistische Arbeit im Kulturbund der DDR. Beiträge der Referentenkonferenz zum 30. Todestag Gerhart Hauptmanns, o.O. Mai 1976.

Referenten-

Tschörtner, Heinz Dieter (Red.) / Kulturbund der DDR. Präsidalrat.

konferenz

Zentrale Kommission Literatur, Gerhart Hauptmann. Werk und Wir-

1987

kung. Beiträge der Referentenkonferenz zum 125. Geburtstag des Dichters (Berlin, 13. März 1987, Club der Kulturschaffenden ‚Johannes R. Becher’), Berlin (Ost) 1987.

RF

Rote Fahne

SAPMO –

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im

BArch

Bundesarchiv

SMAD

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

ST

Sächsisches Tageblatt

SuF

Sinn und Form. Beiträge zur Literatur

SZ

Sächsische Zeitung

ST

Sächsisches Tageblatt

ThA

Theaterarchiv

ThA DD

Theaterarchiv des Staatsschauspiels Dresden

ThA VB

Theaterarchiv der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin

TdZ

Theater der Zeit

TR

Tägliche Rundschau

308

UA

UA

WB

Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie

ZfS

Zeitschrift für Slawistik

ZK

Zentralkomitee

3.

Literaturverzeichnis

3. 1.

Primärliteratur2

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2

Unter Primärliteratur werden neben den ‚klassischen’ Primärtexten wie Werkausgaben, Briefsammlungen, Autobiografien etc. auch alle in der DDR erschienen Untersuchungen zu Gerhart Hauptmann angeführt. Diese Zuordnung ergibt sich aus der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung, die jene Texte vorrangig als Quellenmaterial zur Rezeptionsgeschichte, denn als Forschungsliteratur begreift.

309

Becher, Johannes R., Briefe an Johannes R. Becher. 1910-1958, hg. von Rolf Harder, Berlin, Weimar 1993. Becher, Johannes R., Bürgerlicher Sumpf – Revolutionärer Kampf, in: Das Wort 3 (07.13.02.1925). Bonsels, Waldemar, Das junge Deutschland und der große Krieg. Aus Anlass des Briefwechsels Romain Rollands mit Gerhart Hauptmann über den Krieg und die Kultur, 2. Auflage München, Wien 1914. Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 1999. Bourdieu, Pierre, Choses dites. Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992. Bredel, Willi, Der rote Wikinger. [Vortrag gehalten im Juni 1949 zum achtzigsten Geburtstag Martin Andersen Nexös in der Staatsoper Berlin. Erstmals erschienen in: ders., Sieben Dichter, Schwerin 1950], in: ders., Publizistik zur Literatur und Geschichte, Berlin, Weimar 1976 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben XIV), S. 374383. Blunck, Hans F., Umfrage: Wie denken Sie über Gerhart Hauptmann? In: Der Freihafen, 5 (1922), Heft 3, S. 1. Chapiro, Joseph, Gespräche mit Gerhart Hauptmann, Frankfurt a.M. 1996. Dymschitz, Alexander, Ein unvergeßlicher Frühling. Literarische Porträts und Erinnerungen, Berlin (Ost) 1970. Ebermayer, Erich, Eh’ ich’s vergesse... Erinnerungen an Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Klaus Mann, Gustaf Gründgens, Emil Jannings und Stefan Zweig, hg. und mit einem Vorwort von Dirk Heißerer, München 2005. Ebermayer, Erich, „... und morgen die ganze Welt“. Erinnerungen an Deutschlands dunkle Zeit, Bayreuth 1966. Ebermayer, Erich, Denn heute gehört uns Deutschland... Persönliches und politisches Tagebuch. Von der Machtergreifung bis zum 31. Dezember 1955, Hamburg, Wien 1959. Ehrlich, Lothar, Die „gesellschaftliche Aneignung“ der Weimarer Klassik in der DDR, in: Bollenbeck, Georg / La Presti, Thomas (Hg.), Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik II, Wiesbaden 2002, S. 143-160. Felsenstein, Walter, Theater muß immer etwas Totales sein. Briefe, Reden, Aufzeichnungen, Interviews, hg. von der Akademie der Künste der DDR, Berlin (Ost) 1986 (Schriften der Sektion Darstellende Kunst). Fleischer, Max, Der Breslauer Kunstschüler. Erinnerungen an die Jahre 1880-82, in: Walter Heynen (Hg.), Mit Gerhart Hauptmann. Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis, Berlin 1922, S. 11-16. Gerhart Hauptmann zum 80. Geburtstag am 15. November 1942, Breslau 1942.

310

Goebbels, Joseph, Die Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 2/III: Oktober 1932-März 1934, München 2006. Goebbels, Joseph, Die Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 1/I: Oktober 1923November 1925, München 2004. Goebbels, Joseph, Die Tagebücher. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte hg. von Elke Fröhlich, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Band 3/II: März 1936-Februar 1937, München 2001. Görsch, Horst, Gerhart Hauptmann und Johannes R. Becher, in: Referentenkonferenz 1987, S. 72-85. Gustavs, Arnold, Gerhart Hauptmann und Hiddensee. Kleine Erinnerungen. Mit Briefen von Gerhart und Margarete Hauptmann und einem Nachwort von Gustav Erdmann, Schwerin 1962. Hauptmann, Gerhart, Diarium 1917-1933, hg. von Machatzke, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980. Hauptmann, Gerhart, Auswahl für die Jugend. Ausgewählt und mit einer Einleitung versehen von H. D. Tschörtner, Berlin (Ost) 1962. Hauptmann, Gerhart, Um Volk und Geist. Ansprachen, Berlin 1932. Hauptmann, Gerhart, Notiz-Kalender 1889 bis 1891, hg. von Machatzke, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1982. Heynen, Walter (Hg.), Mit Gerhart Hauptmann. Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis, Berlin 1922. Klaus Hermsdorf, Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten, Berlin 2007 (Theater der Zeit).

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312

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313

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Studien

und

Vorträge

des

Internationalen

Gerhart-Hauptmann-

Symposiums Łódź 19.-21.9.1990, Würzburg 1991. Kuczyński, Krzysztof A. (Hg.), „... darf ich mein Schlesien allein lassen?!“ Gerhart Hauptmanns letzte Tage in Agnetendorf und ihr Reflex in der Publizistik, in: ders. / Sprengel, Peter (Hg.), Gerhart Hauptmann. Autor des 20. Jahrhunderts. Studien und

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